Ein Jahr ohne Elena

Elena ist 14 Jahre alt, als sie beschließt zu sterben. Wie lebt ihre Mutter nun mit dem Tod des Kindes?

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Illustration:
Alina Mosbacher
DATUM Ausgabe Dezember 2021

Nachrichteneingang.
Mama, ich kann nicht mehr.
Ich will nicht mehr.

Samstag, 2. Januar 2021, 15.33.
Absender: Elena. 

Es ist ihr erster Arbeitstag im neuen Jahr. Denise sitzt im Pausenraum des Pflegeheims, in dem sie arbeitet. Schwatzt mit einer Kollegin. Der Jahreswechsel, an dem sie mit Freunden – ein Glas Sekt in der Hand – auf das neue Jahrzehnt ­angestoßen hat, das unsägliche 20er- Jahr mit seiner Pandemie hinter sich lassend, ist erst zwei Tage her. Das Gefühl, eine harte Zeit überstanden zu haben, schwingt im Gläserklirren mit: ›Schlechter kann das neue Jahr nicht werden!‹ Ein Gedanke, den sie mit der Welt teilt, die ebenfalls glaubt, mit dem alten Jahr ginge auch das Virus. Lachen, Donauwalzer und das Gefühl im Bauch: ›Jetzt wird alles besser!‹

Denise ist 41 Jahre alt. Sie ist Mutter zweier Kinder, studiert neben ihrem Beruf als Heimassistentin an einer Fachhochschule. Sie ist geschieden und lebt mit ihrem Partner und ihren Kindern im idyllischen Vorort einer österreichischen Landeshauptstadt. Ein schmuckes altes Haus mit Teich und Schaukel im Garten, auf den Wiesen flattern Schmetterlinge, ein kleines Kirchlein, Berge am Horizont. Denise ist ein geselliger Mensch. Wenn sie lacht, dann tut sie das laut. Sie hat viel zu erzählen, hört zu, hat einen guten Spruch auf den Lippen und einen wachen Blick. Sie hat diese Aura, die Menschen oft haben, wenn sie berufsbedingt Leid als reale Größe kennen und nicht nur über Netflix. Die um den Wert von Zuwendung wissen und die ein Quäntchen mehr Kummer als andere verkraften, bevor es sie aus der Bahn wirft. Denise ist jemand, den man gern zur Freundin hätte.

Seit dem Tag, an dem die Nachricht kam, hält Denise kurz inne, wenn sie lacht, was nicht mehr oft, aber noch manchmal vorkommt: ›Darf ich das?‹, fragt sie sich dann. ›Jetzt, wo mein Kind tot ist.‹ 45 Tage nach ihrem 14. Geburtstag hat sich Denises Tochter Elena das Leben genommen. Gemessen egal an welcher Skala: das Schlimmste, was einem im Leben passieren kann. Allein der Gedanke an ein persönliches ›Was wäre, wenn…‹ ist so schmerzlich, dass das Gehirn anstatt eines Hypothesenkarussells bloß eine blanke Leinwand aufzieht. Die große Frage, die bleibt: Wie überlebt man den Suizid seines Kindes?

Im Pausenraum des Pflegeheims erstarrt Denise, die am zweiten Tag des neuen Jahres im unbefangenen Geplauder ihr Handy aus der Tasche zieht und den Nachrichteneingang öffnet, zu Stein. ›Was hast du denn?‹ fragt eine Kollegin. Denise reagiert nicht. Ihr Verstand kann sekundenlang nicht einordnen, was sie da liest. ›Ich glaub, Elena hat mir eine Abschiedsnachricht geschickt.‹ Die Polizei wird alarmiert. Der Beamte, der just in dem Moment an den Einsatzort eines Zugunglücks kommt, hört die Vermisstenmeldung über Funk. Er ist der erste, der die rosaroten Turnschuhe auf den Gleisen sieht und weiß, was das bedeutet. 

Elena ist 14 Jahre alt, als sie beschließt zu sterben. Ihr Suizid ist kein Unfall, er folgt keiner überhasteten Entscheidung, keinem Streit, er hat nichts mit Pubertät oder Zorn zu tun. Er ist Konsequenz eines ›Ich kann nicht mehr‹ und eines ›Ich will nicht mehr‹, die das Kind, seit es denken kann, mit sich herumträgt. Er folgt dem Gefühl, mutterseelenallein zu sein, nirgendwo hinzupassen und nirgends dazuzugehören. Von klein auf quälen Elena diese Gedanken. Oft ist sie traurig und zu Tode betrübt, so dass sie kaum aus dem Bett kommt. Dann wieder energiegeladen, fröhlich und stark. Ihre Freundschaften sind oberflächlich, sie hat Stimmungsschwankungen und Schwierigkeiten damit, andere näher an sich heranzulassen. Zu Hause gibt es oft Streit. Es sei schwierig gewesen mit Elena, meint Denise. Das Mädchen reagierte oft unvorhersehbar, manchmal aggressiv und wütend. Dann wieder lieb. ›Als würde man einen Schalter umlegen.‹ Die beiden finden oft keinen Zugang  zueinander. Auch das Verhältnis zu ihrem Vater ist holprig. Sie hat kaum Kontakt. Denise macht sich Sorgen, als ihr bewusst wird, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmt. Als das Kind zehn Jahre alt ist, sucht sie Hilfe. Fortan geht Elena zur Therapie, die sie irgendwann ohne das Wissen der Mutter abbricht. Dann fällt das Mädchen durch das Netz.

Im ersten Stock liegt das Kinderzimmer. Vor dem Fenster der Garten. Am Schreibtisch liegen bunte Zeichnungen, über dem Bett die Regenbogenfahne, neben der Tür steht ein Klavier, auf dem Notenzettel liegen: ›Für Elise‹ und ›Lovely‹ von Billie Eilish. Im Bücherregal steht die gesamte Ausgabe der ›Schule der magischen Tiere‹ und ›Gregs Tagebuch‹, ein Schwarz-Weiß-Bild, das Elena als Säugling zeigt. Fotografiert im Studio: Ihr Papa hält das Baby, das süß und speckig ist und nicht viel größer als sein Unterarm. Daneben ein Bild von Elena im Kindergarten: Ein gestrickter Rollkragenpulli mit Rentiermotiven, ein ordentlich gekämmter Seitenscheitel, der Mund ein kleines Lachen und kugelrunde, tiefbraune Augen.

Das Zimmer sieht aus wie damals, als Elena es zum letzten Mal verlassen hat. Denise sitzt oft hier am Schreibtisch, blickt aus dem Fenster und fragt sich, was ihr Kind wohl gedacht hat, in den Stunden, in denen es selbst hier gesessen ist.

Wie macht man weiter? Wie überlebt man diesen Schicksalsschlag? Es ist August, sieben Monate nach Elenas Tod. Denise sitzt am Teich, sieht ihrer Katze zu, die versucht, eine Libelle zu fangen, aber zu langsam ist. Die Trauer ist hinterlistig und brutal. Sie ist ein Zentnergewicht, das Tag um Tag, Nacht um Nacht, Minute um Minute und Sekunde um Sekunde tief und schwer an Denises Herz zieht. Die Momente, in denen sie leichter atmet – Pausen, die ihr die Trauer gewährt – sind heimtückisch. Sie verleiten dazu, kurz locker zu lassen, das Schutzschild zu senken und aus der Deckung zu gehen. Dann reicht ein Lied im Autoradio, und die tiefe Traurigkeit schlägt aus dem Hinterhalt zu, mit voller Wucht, so dass die Dämme brechen. Düfte sind besonders tückisch. Es ist nicht lange her, da hatte Denise aus dem Nichts den Geruch ihrer Tochter in der Nase: ›Mein Kind ist heimgekommen!‹ dachte ihr gemartertes Gehirn eine Millisekunde lang, bis sie die Realität einholte. ›Es ist ein Albtraum‹, sagt sie.

Die ersten Wochen und Monate nach Elenas Tod erlebt Denise wie in Watte gepackt. Schlafen kann sie nur mit Tabletten, besonders nachts holen sie ihre Gedanken ein. Sie hat weniger schlechte Tage und schlechte. Tage, an denen sie nicht aus dem Bett kommt, an denen sie vor ihrem Lebensgefährten steht – die Tränen laufen unkontrolliert – und sie nichts als ›Ich kann nicht‹ sagen kann. Neben dem Schmerz über ihren Verlust quält sie die ersten Wochen auch das ›Warum?‹. Ihre Gedanken drehen sich im Kreis. Ein ewiges ›Was wäre gewesen, wenn …?‹. Das verzweifelte Festmachenwollen eines Punktes, an dem sie und ihr Kind falsch abgebogen sind. Ein Punkt, der sich nie greifen lässt. Der sich verflüchtigt, jedes Mal, just bevor sie meint, ihn zu fassen. 

Auf der Suche nach Antworten spinnt ihr Gehirn unaufhörlich Gedanken. Strang um Strang, im Dauerlauf. Kein Buch, das sie ablenkt, kein Film, kein Gespräch, kein Ortswechsel. Denise funktioniert für ihren Sohn und ihren Lebensgefährten. ›Wenn ich die beiden nicht hätte‹, sagt sie am Teich sitzend, ringsum zwitschern die Vögel, ›weiß ich nicht, ob ich noch da wäre.‹

Die Diagnose psychischer Erkrankungen ist bei Minderjährigen oft schwierig: Wo hört eine vorübergehende, entwicklungsbedingte Schwierigkeit auf, die oft mit der Pubertät einhergeht, wo fängt ein behandlungsbedürftiges Problem an? Elena ist kein Einzelfall. Seit Ausbruch der Pandemie gibt es einen deutlichen Anstieg psychischer Symptome bei Jugendlichen, wie eine Studie der Donau-Universität Krems aus dem März 2021 zeigt: 56 Prozent der untersuchten Teenager leiden unter einer depressiven Symptomatik, die Hälfte unter Ängsten, ein Viertel unter Schlafstörung, und 16 Prozent haben suizidale Gedanken. Im Jahr 2020 nahmen sich drei Jugendliche im Alter zwischen zehn und 15 Jahren das Leben. 2019 war es einer.

›Die Häufigkeit von depressiven Symptomen, Angstsymptomen, aber auch Schlafstörungen hat sich mittlerweile verfünf- bis verzehnfacht, Tendenz steigend‹, erklärt Studienleiter Christoph Pieh. ›Die Ergebnisse sind besorgniserregend. Insbesondere, dass so ein hoher Anteil an Jugendlichen aktuell suizidale Gedanken hat.‹ Demgegenüber stehen medizinische Einrichtungen, die seit Jahren überlastet sind. Zu wenige Betten, kein Platz.

Im September, vier Monate vor ihrem Tod, zwei Monate vor ihrem 14. Geburtstag, vertraut sich Elena ihrem Zeichenlehrer an. Sie spiele mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen. Denise trifft diese Wendung unerwartet, als sie von der Schule darüber informiert wird. Von dem Vorhaben ihrer Tochter ahnte sie nichts, obwohl sie meint, ihr Kind aufgrund seiner Vorgeschichte gut im Auge zu haben. ›Wesensveränderungen beobachten, sich Hilfe holen und auf keinen Fall lockerlassen‹, rät sie anderen Eltern, die sich in ähnlichen Situationen wiederfinden. ›Ich habe bei Elena nicht gemerkt, was sie vorhat.‹ Vielleicht, so mutmaßt Denise, hätte es Elena geholfen, eine Anlaufstelle aufzusuchen, bei der sie ihre Gedanken anonym hätte deponieren können. Ohne gleich dem System oder den eigenen Eltern ausgeliefert zu sein.

Kurz darauf lässt Elena sich selbst in eine psychiatrische Anstalt einweisen. Aber sie bleibt nicht lang. Die Ärzte können sie nicht zum Aufenthalt zwingen, zu Hause einigen sich Denise und ihre Tochter darauf, dass das Mädchen in eine betreute Einrichtung für Jugendliche mit psychischen Problemen ziehen soll. Ein harter Schnitt, aber der Abstand, so meinen beide in ihrer Ratlosigkeit, würde Elena guttun. Die betreuten WGs in ihrem Bundesland sind heillos überlastet. Der frühestmögliche Termin für Elenas Umzug: Ende Jänner. Das ist zu spät. Am 2. Jänner nimmt Elena sich das Leben.

Es ist der Schmerz, der an Denises Kräften zehrt. Sie bräuchte Ruhe, um sich ihm zu stellen, doch die bekommt sie nicht. Trauernden Angehörigen werden Steine in den Weg gelegt, die längst jemand hätte wegräumen sollen: ›Bis zu zwei Arbeitstage Sonderurlaub‹ stehen der verwaisten Mutter laut Gesetz zum Betrauern ihres Kindes zu. Vor April wird Denise nicht in der Lage sein, an ihre Arbeit zu denken. Geschweige denn, sie auszuführen. Das bedeutet ein bürokratisches Hickhack aus Anträgen und Untersuchungen. Ein permanentes Sich-Erklären.

Die Noten von Elenas Bruder, der zu diesem Zeitpunkt in die zweite Klasse eines Gymnasiums geht, rasseln in den Keller. Die Lehrer sind mit der Situation überfordert: Wie mit einem zwölfjährigen Buben umgehen, der gerade seine Schwester verloren hat? Denise stößt im Lehrkörper auf Unverständnis. Die Pädagoginnen sind auf solche Extremsituationen nicht vorbereitet. Es liegt an der Mutter, Lösungen zu finden.

Und dann ist da noch die Bestattung. Es gibt Menschen, die mit dem Leichnam eines Angehörigen nicht in Kontakt kommen wollen. Und es gibt Menschen, für die ein letzter Blick essenziell ist, um den Tod zu begreifen. Vermutlich aus falscher Rücksichtnahme der Bestattung darf Denise ihr Kind nicht mehr sehen. Das macht es schwer, das ›Nicht-mehr-Sein‹ ihrer Tochter als etwas Endgültiges zu verstehen, und es lässt Raum für einen Zweifel, an dem sich unwiderstehliche Hoffnung nährt: ›Vielleicht war sie es gar nicht?‹ Ein letztes Mal ihre Hand zu berühren, und sei es nur der kleine Finger, hätte es für Denise leichter gemacht. 

Es sind auch wir alle, die Denise Steine in den Weg legen. Die Gesellschaft und ihr Umgang mit Menschen, die jemand Geliebten nach einem Suizid verloren haben. Bekannte, die die Straßenseite wechseln, um sie nicht grüßen, nicht mit ihr sprechen zu müssen. Freunde, die sich zurückziehen, weil sie nicht wissen, wie auf Denise reagieren. Die Frage ›Wie geht es dir?‹ verschwindet aus ihrem Leben. Sie sehnt sich danach, sie gestellt zu bekommen. ›Keiner fragt mich mehr. Alle meinen es zu wissen.‹ 

Angehörige von Menschen, die den Freitod wählen, haben oft mit gesellschaftlichen Stigmata zu kämpfen. Speziell, wenn die Verstorbenen so jung sind. Wurde alles getan, um dem Kind zu helfen? Was haben die Eltern falsch gemacht? Neben den unterschwelligen Vorwürfen sind es auch gedankenlose Unachtsamkeiten, die Denise bis in ihre Träume verfolgen: Der Moment, in dem ihr der Notar nach einem letzten Gespräch wortlos die persönlichen Gegenstände, die ihr Kind am Unfallort bei sich trug, überreicht, hallt lange nach. Geldtasche und Telefon verschmutzt und vom Unfall gezeichnet in einem transparenten Frischhaltebeutel.

Jeden Tag kämpft Denise gegen die Macht der Gewohnheit. Es gibt kleine Momente, in denen sie vergisst, dass ihre Tochter nicht mehr da ist: Im Frühsommer steht ein Einkauf an. Denise will Badehosen und -anzüge für die Kinder besorgen. Sie sucht einen Bikini für Elena aus. Erst an der Kassa fällt es ihr ein. Elenas Lieblingssüßigkeit landet wie selbstverständlich im Einkaufswagen, um dann wochenlang im Vorratsschrank zu liegen. Elena war die Einzige, die sie gerne gegessen hat. 

Es dauert Wochen, bis Denise die Kraft findet, Elenas Handy abzumelden. Als wäre das Mädchen erreichbar, solange das Freizeichen klingelt. Die Schuhe im Vorhaus, die Zahnbürste am Waschbeckenrand, die fleckigen T-Shirts im Wäschekorb – langsam verschwinden Elenas Spuren.

In den kommenden Monaten stehen für Denise viele erste Male an. Ostern ohne Elena, Geburtstag ohne Elena, Urlaub ohne Elena. Ihr ist es ein Bedürfnis, über ihr Kind zu sprechen, es in eigenen und den Geschichten anderer weiterleben zu lassen. Oft lenken ihre Gesprächspartner ab. Denise klammert sich an die Erinnerung und hat Angst zu vergessen. Sie archiviert Sprachnachrichten und druckt Chat-Verläufe aus. Sie ertappt sich dabei, wieder laut zu lachen, aber es ist ein mechanischer, oberflächlicher Vorgang, der nichts Erlösendes mit sich bringt.

Langsam beginnt sie, sich an neue Situationen heranzuwagen. Sie besucht eine Selbsthilfegruppe, die Begegnungen geben ihr Kraft. Über die ›Plattform für verwaiste Eltern‹ kommt sie an einen Therapieplatz, der auch für Menschen mit niedrigerem Einkommen leistbar ist. Ohne Hilfe – das erkennt sie bald – ist der Tod eines Kindes nicht zu bewältigen. Sie beginnt zu verstehen, wohin sie will. Und wohin nicht. Ein essenzieller Gedanke manifestiert sich in ihrem Gehirn: Ich hatte ein Leben vor Elena und eines mit ihr. Jetzt muss es eines ohne sie geben. Wenn Denise Sätze wie diesen sagt, blickt sie einem direkt ins Gesicht. Kein Zaudern. Auch nicht, wenn sie sagt: ›Mein Kind wollte nicht leben, aber ich will es!‹ 

In ihr neues Leben geht Denise tief verwundet. Fast ein Jahr nach Elenas Tod blutet der Einschnitt mal stärker, mal weniger stark. Der Heilprozess ist schmerzhaft, eine Narbe noch lange nicht in Sicht. Denise hat sich verändert. ›Ich steh über der Baumgrenze‹, sagt sie und zitiert dabei ein Mitglied ihrer Selbsthilfegruppe. Ihr Blick auf das Leben ist heute ein anderer. Es fällt ihr leichter, wichtigen Dingen mehr Raum zu geben. Sie nicht ewig vor sich herzuschieben, während man sich zu oft und zu lange mit Unwichtigem aufhält. Kleinigkeiten tangieren sie nicht mehr, es dauert, bis sie eine Schwierigkeit als Problem definiert. Eine Schürfwunde verliert an Relevanz, wenn einem gerade die Hand abgehackt wurde.

Eines der letzten Fotos zeigt Elena, wie sie in einem Maisfeld hockt. Ein hübsches Mädchen, schulterlanges, braunes Haar mit pinken Strähnen, eine große, runde Brille mit schmalem Rand, wie sie grad alle auf Instagram tragen, die Herausforderung im Blick. Die kugelrunden, braunen Augen sind ihr geblieben. Links und rechts ragen Maishalme in den grauen Himmel. 

Drei Wochen vor ihrem 15. Geburtstag findet endlich das Begräbnis statt. Auf dem Friedhof der kleinen Kirche, die man von ihrem Elternhaus aus sieht. Der Grabstein ist eine Maßanfertigung, ihn zu bekommen hat lange gedauert. Elenas Urne ist rosarot, Denise legt einen langen Brief und Familienfotos in das Gefäß, bevor es beigesetzt wird. Sie will, dass Elena weiß, dass sie nicht allein ist. 

Zum Abschied lassen Elenas Freunde und ihre Familie Luftballons mit kleinen Nachrichten steigen. Denise schreibt: ›In Liebe, Mama‹. Sie wird jeden Tag zum Grab hinaufgehen. Die Inschrift – Elenas Name, ihr Geburts- und Todestag – wird sie zum Weinen bringen. Aber sie muss hierherkommen und eine Kerze anzünden. Elena mochte die Dunkelheit nicht. •