Mehr als Obergail - Das Magazin

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18 Raumplaner*innen und ein Journalist haben sich auf den Weg gemacht, um das ­Lesachtal zu erkunden. Sie sammeln und erzählen ­Geschichten, die zeigen, was ­dieses Tal ­einzigartig macht und wie Landleben f­ unktioniert.

Mehr als Obergail

Das Magazin



Mehr als Obergail

Das Magazin


Editorial 18 Raumplaner*innen und ein Journalist haben sich auf den Weg gemacht, um das ­Lesachtal zu erkunden. Sie sammeln und erzählen ­Geschichten, die zeigen, was ­dieses Tal ­einzigartig macht und wie Landleben f­ unktioniert. Ein ­Experiment. Wer nach Obergail möchte, muss entweder gut zu Fuß sein oder ein Auto haben. Jedenfalls erreicht man den Ort und unser Basislager nur über eine einzige Straße mit ziemlich vielen, ziemlich engen Kurven. Trotzdem kommen wir alle heil an. Die Straße bleibt allerdings nicht heil – das Unwetter der vergangenen Wochen hat den Hang rutschen lassen. Die Straße wird am Tag nach unserer Ankunft gesperrt, wir sind eingeschlossen. 18 Raumplaner*innen und ein Journalist werden nervös, unsere Gastgeber*innen Helene und Pepi bleiben ruhig. Wir positionieren Autos diesseits und jenseits der Sperre, bilden Fahrgemeinschaften – haben alle festes Schuhwerk, um den abgerutschten Hang zu passieren? Milch bekommen wir dort, Eier hat die Nachbarin, Brot können wir backen, Mehl gibt es nebenan. Und siehe da, alles funktioniert. Das Dorfleben funktioniert trotz aller Widrigkeiten. Aber wie genau? Wie funktioniert das Leben am Land, wer sind die Menschen, die das Rad am Laufen halten und was sind ihre Geschichten? Hier erzählen wir die Geschichten, die vielleicht für „mehr als Obergail“ stehen.



Inhalt 7

Leute, das war Obergail! Christoph Schattleitner

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1 Dorf. 28 Häuser. 65 Menschen. Und noch mehr Geschichten Katja Kreitner

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Wenn’s wirklich wichtig ist, dann lieber mit Friedl Philippe Kayser

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In der ATV-Sendung »Tal sucht Frau« geht es nicht darum, Single-Männern zu helfen. Lisa-Maria Homagk

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Frauen und die Gemeindepolitik Claudia Schaefers

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Leben nach dem Sturm: Lesachtaler*innen erzählen Antonia Schneider

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»Ohne Zuwanderung wird es nicht möglich sein« Tobias Reisenbichler und Luca Bierkle

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»Man macht weiter und bleibt optimistisch« Christoph Leiner

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Ich, die Raumplanerin, habe im Lesachtal nach Problemen bei der Mobilität gesucht und eines bei mir gefunden Valentina Kofler

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Tinder, Tinder, sag‘ mir, wie entstehen bei euch die Kinder? Lisa-Maria Homagk

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»Es ging um meine Kuh« Max Mutz

47

Ist das Lesachtal Europas naturbelassenstes Tal? Antonia Schneider

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6 Tage, 6 Täler Antonia Schneider

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Nachts im Tresor Max Mutz


58

Können Dörfer sterben? Gordon Kriwanek

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Postkarten »Lesachtal damals« Andreas Höbausz

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»Freitags ist Musikprobe, deshalb fahre ich freitags heim« Fabian Unterkofler

67

»Mein Mann sagt immer: Ohne dich wäre ich nicht da, wo ich heute bin.« Lisa-Maria Homagk

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Wer glaubt denn nicht an die Zukunft? Koloman Köck

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Über das Kulinarische Isabel Stumfol

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Hannes geht nicht ins Wirtshaus Tobias Reisenbichler und Luca Bierkle

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Warum im Kärntner Lesachtal Tirolerisch gesprochen wird. Silva Maringele

80

Was steckt hinter dem Label Slow Food-Region Gailtal/­Lesachtal? Andreas Höbausz

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Aufg‘spielt wird! Claudia Schaefers und Fabian Unterkofler

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Eine Tour durch Obergail Christoph Leiner

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Springen wollen – Ein kurzer Gedanke übers Geschichtenerzählen Gordon Kriwanek

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Mehr als Lehre Isabel Stumfol

92 Das Team in Obergail 94 Und die Geschichten gehen weiter … 98 Impressum


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Leute, das war Obergail! Text

Christoph Schattleitner Antonia Schneider

Fotos

Wie ich einmal eingeladen wurde, RaumplanungsStudierenden das journalistische Handwerk näher zu bringen, und dabei erkannte, was Journalismus eigentlich ist.

„Die Uni hat mir das Schreiben verdorben“, sagte jemand, als wir uns im Oktober 2018 das erste Mal in einem kleinen Saal der TU Wien trafen. „Ich habe nie gern geschrieben“, meinte jemand anders, „und ich“, warf jemand ein, „ich kann gar nicht schreiben!“. „Könnt ihr das bitte draußen besprechen? Hier wollen Leute schreiben“, sagt dann jemand, der genervt nach seinen Kopfhörern greift. Es ist 03:04 Uhr, draußen liegt Schnee, langsam zieht Nebel auf und die Nacht hüllt das Lesachtal, das wir von unserer Redaktion aus überblicken, in Dunkelheit. Noch gut 10 Leute hocken im großen Konferenzraum, in dem die produktive Unordnung eingezogen ist: Auf den Tischen stehen offenen Biere, aufgerissene Mannerschnitten, Pfefferminz-Bonbons, leere Kaffeetassen und volle Notizbücher. Es ist so viel passiert. Ich habe in den vergangenen Tagen mehrmals vergessen, dass ich mit

Leuten arbeite, die keine journalistische Ausbildung haben. Während sie bei der ersten von fünf theoretischen Einheiten auf der Uni nicht wussten, was „Redigieren“ bedeutet (das inhaltliche Feedback zu einem Text), recherchieren sie heute, rufen Bürgermeister und Tourismusobmänner an, stellen gute und richtige Fragen, entdecken Widersprüche in Aussagen, schicken Presseanfragen an Unternehmen und Künstler*innen, drehen noch einmal um, weil sie einen journalistischen Riecher entwickelt haben, porträtieren Senior*innen und berichten von ihren Ausflügen ins (nächtliche) Landleben. Und betrunken sagen sie dann so wunderschön reflektierte Sätze wie: „Aber wir müssen das doch machen. Die Leute von vor Ort werden das nie aufgreifen, obwohl es für sie wichtig ist.“ „Nach acht Jahren im Journalismus ist es für mich eine Wohltat, wieder mit so viel Idealismus konfrontiert zu werden.“

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Ich habe während der Exkursion – wir verbringen eine Woche in einer bäuerlichen Streusiedlung mit 65 Einwohner*innen im Lesachtal, Kärnten – unabsichtlich viel über Journalismus nachgedacht. Das Handwerk ist nämlich gar nicht so schwer. Die journalistische Methodik ist – verglichen mit wissenschaftlichen Methoden – sehr einfach zu vermitteln. Klar, manche mögen besser recherchieren können, kreativere Zugänge und Themen finden, die anderen verschlossen bleiben. Aber am Anfang steht das ehrliche Interesse, etwas Neues über diese Welt zu erfahren und danach das Recherchierte so zu erzählen, dass auch andere, die Leser*innen, klüger werden können.

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Und was diesen Punkt betrifft, bin ich unendlich beeindruckt von der „Mehr als Obergail“-Redaktion. Sie klopfen einfach einmal an jede Haustür, die in Obergail übrigens fast alle unabgeschlossen sind, tratschen im Bus mit Fahrer und Mitfahrer*innen, besuchen eine feuchtfröhliche Sitzung des lokalen Tourismusverbands (und kommen erst spät in der Nacht mit hart gewonnen Informationen zurück), begleiten einen Briefträger und

versumpfen bei billigem Bier an der Tankstelle, um von den Leuten dort zu erfahren, was das an sich sperrige Thema Mobilität für deren Alltag bedeutet. Und nachdem die Redakteur*innen wie Bienen ausgeflogen sind, schreiben und diskutieren sie. Die Überlegungen, die dabei entstehen, sind von blanker Schönheit. Welche Verantwortung habe ich als jemand, der Informationen und Zuschreibungen öffentlich macht? Wie wiege ich Persönlichkeitsrechte gegen das öffentliche Interesse, den Text zu publizieren, ab? Unter welchen Umständen darf ich Informationen gewinnen? Wen muss ich wie zu Wort kommen lassen? Und was ist eigentlich meine Aufgabe? Was richte ich mit meinem Text an? Nach acht Jahren im Journalismus ist es für mich eine Wohltat, wieder mit so viel Idealismus konfrontiert zu werden. „Wenn die wüssten, wie unromantisch die mediale Praxis in Wirklichkeit oft aussieht“, denke ich mir, wenn ich so mancher ethischer Überlegung lausche. Ihnen ist die mediale Welt noch immer fremd. Sie kennen das Rennen um Klicks nicht,


wissen nicht, warum Medienunternehmen so geil darauf sind, als Erster eine Information zu publizieren, warum Journalist*innen so geil darauf sind, zitiert zu werden. Und dieses Unwissen ist verdammt noch einmal schön. „Journalismus ist Dienst an und Aufgabe der Gesellschaft.“ „Fast alle eure Texte hätten in vielen österreichischen Medien erscheinen können. Aber das soll ja nicht unser Anspruch sein“, hat mein Journalismuslehrer damals gesagt, als wir unsere ersten Texte einreichten. Und ich möchte dieser Redaktion das Gleiche mit auf den Weg geben. Journalismus, der in einem kleinen, verzerrten Markt extremen wirtschaftlichen Zwängen unterworfen ist, darf für junge Erwachsene mit Anspruch nicht das Vorbild sein. Journalismus kann mehr. Journalismus ist Dienst an und Aufgabe der Gesellschaft.

sich so nennen. Das soll sicherstellen, dass diese gesellschaftlich wichtige Aufgabe, auch wirklich von der Gesellschaft (und nicht von ein paar Privilegierten oder vom Staat selbst) erfüllt wird. Und, liebe „Obergail“-Redaktion, ich weiß ja nicht, was ihr beruflich in eurem Leben vorhabt, aber lasst mich klar sein: In diesen Tagen ward ihr Journalist*innen, und zwar verdammt gute.

Das erinnert mich an die Diskussion, die ich bei meinem ehemaligen Arbeitgeber, VICE, öfter führen musste. „Das ist doch kein Journalismus“, sagten die alten Granden der Branche. Junge Leute, die unter anderem aus ihrer eigenen Lebensrealität berichten, würden nicht der hohen Zunft, in der alle davon träumen, einmal einen Leitartikel zu schreiben, angehören. Sich in die Untiefen des eigenen Umfelds niederzulassen, sei für diese edle Zunft unwürdig. Gut, man könnte einfach auf solche Menschen und die enge Definition des Journalismus-Begriffs scheißen (wie das mein ehemaliger Chef macht). Oder aber man entreißt diesen Begriff den medialen Eliten. „Journalist*in“ ist eine der wenigen Berufsbezeichnungen, die keiner Gewerbeberechtigung unterliegen. Jede*r darf

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1 Dorf. 28 Häuser. 65 Menschen. Und noch mehr Geschichten Fotos

Text Katja Kreitner Katja Kreitner und Antonia Schneider

In der kurzen Zeit von nur drei Tagen versuche ich, mit so vielen Bewohner*innen von Obergail wie möglich ins Gespräch zu kommen. Einfach an die Tür klopfen und mal schauen, wohin das Gespräch geht. Zwischen zwei ­Häusern oder in gemütlichen Stuben beim Kaffeetrinken – ganz egal wo. Überall werde ich mit offenen Ohren und Freundlichkeit empfangen und lerne den kleinen Ort so auf eine ganz direkte, persönliche Art kennen.


Obergail 1

Obergail 2

Der Stilbruch. Die Taktik. Die Weiterführung.

Die Bauern. Die Ställe. Das Originale.

 Fam. Unterluggauer: Vater (67), Mutter (70)  Obergail, Wien  Bauer/Klauenpfleger, Bäuerin/ Unterkunftsbetreiberin Der Rorerhof. Warum genau dieser Name für den ehemaligen Bauernhof gewählt wurde, konnte keine*r genauer erklären. Das Gebäude vereint sowohl das private Wohnhaus der Familie, als auch den Stall, welcher in Richtung Hang ausgerichtet ist. Im Zuge der Entdeckung des Lesachtals für den Tourismus wurde das Haus talseitig um 25 Betten erweitert. Diese Neuerung ist leicht durch den Materialwechsel von vergilbter Holzfassade zu verputztem Vorderbau erkennbar. Durch die geschickte Anpassung an die Form des Hanges und die Einarbeitung der Gebäude in diesen konnte die Familie den bisherigen Lawinen und Muren entgehen. Bereits zwei Lawinen und erst kürzlich stattgefundene Überschwemmungen durch den direkt angrenzenden Bach, konnten dem Hof nur wenig anhaben. Bereits seit 1840 ist der Hof im Besitz der Familie Unterluggauer. Durch die Übernahme und das Engagement des Sohnes, welcher direkt im Nachbarhaus wohnt, lebt der Hofbetrieb auch nach dieser Generation weiter.

 Fam. Obernosterer: Großvater (58), Vater (ca. 30), Mutter (ca. 30), Sohn (2), Sohn (1)  Obergail, Tirol  Bauer, Bauer/Holzlieferant, Bäuerin Der Letta-Hansel-Hof. Dieser Name setzt sich aus zwei Begriffen zusammen: einerseits aus der Lage in einem Lehmhang (Letta) und dem Vornamen Hans aus vergangenen Generationen. Von der Straßenseite aus ist das Gebäude zwischen den beiden Ställen klar ersichtlich, auf der Rückseite sieht dies etwas anders aus. Ein steiler Hang mit engem Pfad führt hinunter zum Eingang des Wohnhauses. Links befindet sich der Kuhstall, rechts der leerstehende Stall der Nachbarn (Obergail 3), welcher nur noch als Hackschnitzellager dient. Familie Obernosterer ist eine der wenigen Familien, die über keine Gästezimmer verfügt und sich zur Gänze auf die Landwirtschaft konzentriert. Das alte Bauernhaus ist bis auf die Aufstockung vor zwei Jahren zugunsten der jungen Generation noch im Originalzustand. Generationsübergreifend findet hier ein Leben als Vollerwerbsbauer statt.

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Obergail 3/5

Ein Bauernhof. Viele Umwandlungen. Ein Hotel.  Fam. Lanner: Großmutter (80), Vater (50), Mutter (44), Sohn (20), Tochter (18), Sohn (5)  Obergail, Irschen  Pensionistin/Gastronomin, Bauer/ Tourismusverbandvorsitzender, Bäuerin/ Gastronomin, Schüler*innen

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Der Letta-Nikale–Hof. Der Name setzt sich aus zwei Begriffen zusammen: einerseits aus der Lage in einem Lehmhang (Letta) und dem Namen Nikolaus, welcher in jeder bisherigen Generation vorkam. 1855 bestand das Gebäudeensemble aus einem großen Stall, dem Wohnhaus mit der untergebrachten Gastwirtschaft und dem Gästehaus. Ein Wunsch nach mehr Privatraum führte zu der Verlegung der Bewirtschaftungsräume in ein neues Gebäude um die Nutzung als ein reines Wohnhaus zu ermöglichen. Heute befinden sich auf dem Grundstück das Hotel „Wander Niki“ mit circa 40 Betten und Gastwirtschaft, das Privathaus und ein umgenutzter Stall, der heute als Garage dient. Ein Unwetter, welches das gesamte Dach abtrug, führte in den 70er Jahren dazu, dass das Haus um einen Stock erweitert wurde. Da das Hotel zur Haupteinnahmequelle wurde, gab die Familie die Viehhaltung auf und besitzt nun eine Herde von Damwild.

Gemeinsam führt der Mehrgenerationenhaushalt das Hotel, verkauft „Slow Food“, bietet Wandertouren an und prägt das Tal in seiner touristischen Form.


Obergail x (ohne Hausnummer)

Obergail 4

Das Neue. Die Generationen. Die Zusammenarbeit.

Das alte Haus. Der Umzug. Die Zukunft.

 Fam. Unterluggauer: Vater (31), Mutter (30), Tochter (5), Sohn (3), Sohn (1)  Obergail, St. Jakob  Bauer/Unterkunftsbesitzer, Bäuerin/ Kellnerin Namenlos. Das Gebäude der Familie Unterluggauer ist erst 2013 errichtet worden und somit das neueste im Ort Obergail. Um der Gefahr von abgehenden Muren zu entgehen, wurde das Haus in der gleichen Flucht wie das darüber liegende Elternhaus geplant. Talabwärts sind drei Stockwerke zu erkennen, durch das Bauen in den Hang hinein befindet sich im Hang zugewandten Teil eine höher gesetzte Garage. Von den anderen Wohnhäusern in Obergail unterscheidet sich der Neubau vor allem durch das verwendete Baumaterial. Während bei anderen Häusern Massivholz und Natursteine eingesetzt wurden, sieht man hier schlichten Putz. Die enge Verknüpfung zwischen den Generationen ist nicht nur durch die geographische Nähe vorhanden. Durch die Übernahme des elterlichen Hofes entsteht eine fortgeführte Zusammenarbeit zwischen Vater und Sohn. Die Ferienwohnungen im Elternhaus werden ebenfalls von allen Familienmitgliedern geführt.

 Fam. Strieder: Mann (66), Frau (61)  Maria Luggau, Obergail  Bauer/Unterkunftsinhaber, Bäuerin/ Unterkunftsinhaberin Der Letta-Matl-Hof. Dieser Name setzt sich aus zwei Begriffen zusammen: einerseits aus der Lage in einem Lehmhang (Letta) und dem Vornamen eines Vorfahrens – Matthias. Es gibt zwei Gebäude, welche mit diesen Namen versehen sind. Ursprünglich gab es nur jenes auf der rechten Straßenseite. Im Zuge des Baus von Gästezimmern vor etwa 40 Jahren wurde auf der anderen Straßenseite ein neues Haus errichtet. Dieses dient nun als private Unterkunft, das ältere Haus wurde weitervermietet. Im Gegensatz zu den meisten anderen Höfen im Ort arbeitet Familie Strieder mit Schafen statt mit Kühen. Da alle drei Kinder bereits weggezogen sind, ist noch unklar, wie es mit dem Hof weitergehen soll. Ein Funken Hoffnung auf eine Übergabe innerhalb der Familie besteht jedoch auch weiterhin.

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Obergail 6

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Zwei Gebäude. Eine Familie. Eine Baustelle.

Das Bauernhaus. Die Zurückgekommenen. Die Ruhe.

 Fam. Windbichler: Großmutter (88), Vater (59), Mutter (55), Sohn (28), Freundin (21)  Obergail  Pensionistin/ehemalige Landwirtin, Bürger­meister, Landwirtin/Gastronomin auf dem Bergbauernhof, Bauer/Tischer, Studentin/Aushilfe auf dem Bergbauernhof

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Der Eggelerhof. Der Name kommt von der eigenwilligen Positionierung des Hofes an der „Ecke“ (Eggeler) eines Hanges und des darauf befindlichen kleinen Platzes. Vor 1998 war das Gebäude ein Einhof. Das heißt, der vordere Teil des Hauses war ein Stall und alle Nutzungen waren in einem Gebäude untergebracht. Damals war nur der hintere Trakt für das Wohnen gedacht. In den folgenden Jahren wurde auch dieser Teil zur Wohnfläche umgebaut, um Platz für Ferienwohnungen und ein Stüberl zur Versorgung des leiblichen Wohls zu schaffen. Insgesamt haben bis zu 25 Besucher*innen Platz in dem hunderte Jahre alten Haus. In einem zweiten Gebäude gibt es den heutigen Stall mit Kühen, Schweinen und einer Ziege. Momentan wird an diesem zugebaut. Die unterschiedlichen Generationen sollen nun baulich getrennt werden, Vater und Mutter werden in die oberen Stockwerke dieses Gebäudes ziehen. Felician, ein junger Bauer, übernimmt im kommenden Jahr den Hof und wird diesen auch in Zukunft weiter erhalten.

 Frau, Mann (beide zwischen 50 und 60)  Klagenfurt  Pensionistin, Pensionist Der Letta-Matl-Hof 2.0. Der Name des Hofes hat denselben Hintergrund wie Hausnummer 4, da diese denselben Besitzer haben. Als das alte Bauernhaus leer stand, wurde es von Familie Strieder an die heutigen Bewohner*innen weitervermietet. Dieses ist bereits circa 200 Jahre alt und wurde aus regionalem Holz, Steinen aus dem Hang hinter dem Bauernhaus und Lehm erbaut. Die Bewohnerin kam vor einigen Jahren zurück nach Obergail – ihre Großeltern wohnten schon hier. Nach der Übernahme behielt das Haus seinen alten Charme und wurde auch innen wieder hergerichtet. Der alte freigestellte Stall wird noch von den ursprünglichen Besitzer*innen für die Schafe genutzt. Eine Wirtschaft zum Weitervererben und die damit verbundene Suche nach Nachfolger*innen gibt es hier nicht. Durch diese Tatsache kann die Pension mit Blick in das weite Tal genossen werden.


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Der Kåschte. Das Schicksal. Die Zukunft.

Die Ferienwohnungen. Das Rätsel. Der Hang.

 Fam. Stabentheiner: Großmutter (85), Vater (58), Mutter (48), Sohn (25), Sohn (23), Tochter (21), Tochter (20), Tochter (13)  Obergail, Klebas  Pensionistin, Bauer/Unterkunftsbetreiber, Bäuerin/Unterkunftsbetreiberin, Bauer, Bauer, Schüler*innen

 Fam. Obersnosterer/Ströbl: Vater (36), Mutter (36), Sohn (14), Sohn (5), Tochter (6), Sohn (2 Monate)  Obergail, Nostra  Forstwirt/Bauer, Bäuerin

Der Lahnerhof. Lahne bedeutet Lawine, wahrscheinlicher im Bezug auf diesen Hofnamen ist jedoch der Bezug auf das Wort lahnen. Dieses heißt anlehnen und spiegelt den architektonischen Umgang mit der Steigung des Hanges wieder. Ursprünglich bestand der Hof aus einem Stall, dem Wohnhaus und einem Kåschte (Kasten) – ein Steingebäude zur Speicherung des Kornes und der wertvollen Besitztümer. Im Laufe der Zeit wurde aus dem Privathaus das Gästehaus mit 20 Betten und der dazugehörigen Gastwirtschaft. Familie Stabentheiner vergrößerte den Kåschten und machte daraus ein Einfamilienhaus. Erst seit vier Generationen sind die Gebäude im Besitz der Familie, man merkt jedoch, dass sie genau auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Nicht immer war klar, ob die Familie in Obergail bleibt. In der vorigen Generation wurden nach finanziellen Schäden, einem Hausbrand und dem Verlust eines Großteils der Existenzgrundlage viele Gespräche darüber geführt, wegzuziehen. Sie blieben im Tal und heute ist klar, dass der Betrieb in der Familie weitergeführt wird.

Der Obermarfahof. Der Name Marfa kommt vom ersten Bewohner Maierhofer. Die nähere Beschreibung „Ober“ hängt mit der Lage des Gebäudes zusammen. Dieses steht ober dem Nachbarhaus (Obergail 10), welches den Hausnamen Untermarfa trägt. Früher gehörten insgesamt drei Häuser zusammen – eines ist im Laufe der Jahre jedoch abgebrannt. Als die vorherige Generation Ströbl in ein anderes Haus zog, diente das Gebäude als Raum für Ferienwohnungen. Mit der Übernahme der heutigen Generation wurden diese aufgegeben und das Haus fungiert nur noch als Privathaus, der für Kühe genutzte Stall steht nebenan. Seit wann genau hier gebaut wurde ist unklar, durch Neuerungen des Sockels sind lediglich neuere Jahreszahlen ersichtlich. Das Gebäude, welches gänzlich aus Vollholz gebaut wurde, ist jedoch mit Sicherheit älter als es hier ablesbar ist. Die letzten Unwetter habe zwar das alte Bauernhaus verschont, der erst vor drei Monaten gestaltete Hang im Garten rutschte jedoch ab. Nun liegt er als ein großer Steinhaufen im Garten und muss wieder hergerichtet werden.

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Ein Bauernhof. Ein Wandel. Ein Paar.

Die Teilung. Die Kapelle. Die Sicherheit.

 Fam. Windbichler/Klingesberger: Vater (35), Mutter (32), Tochter (4 Monate)  Oberösterreich, Obergail  Bergführer/Unterkunftsbetreiber, Sozial­pädagogin/Unterkunftsbetreiberin

 Fam. Guist: Urgroßvater (93), Großvater (64), Großmutter (62), Vater (38), Mutter (35), Sohn (10), Tochter (3)  Obergail, Kötschach  Betriebswirt/Skilehrer, Betriebswirtin/ Beraterin

Der Marferhof. Dieser Name besteht aus einer gekürzten Form des Namens der ersten Bewohner*innen Maierhofer und liegt etwas tiefer gesetzt auf der rechten Seite der Straße. Der heute in Hepi Lodge umbenannte Hof beinhaltet bis zu 21 Gästebetten. Bereits im 13. Jahrhundert wurde das Haus als Bauernhof erbaut und im Zuge des wachsenden Tourismus zu einem Gasthaus umgewandelt. Ein Zubau auf der damaligen Gebäudeseite des Stalles – noch heute sind die ehemaligen Fenster im Mauerwerk zu erkennen – vergrößerte das Gebäude in Richtung Norden. Nach fehlenden Nachfolger*innen zur Weiterführung des Gewerbes geriet das Haus in Vergessenheit und stand für mehrere Jahre leer. Nachdem die Jungfamilie das Haus renoviert hat, betreibt sie nun mittels kreativer neuer Ideen die Pension Hepi Lodge – zusammengesetzt aus den beiden Namen Helene und Pepi. Wandertouren, Holzbrillenbauworkshops, Yoga-Tagungen und anderes zeigen neue Wege im Dorf auf.

Der Bergbauernhof Eder Hias. Der Hof ist der erste, welchen man sieht, wenn man entlang der Straße nach Obergail kommt. Die vier bis zu 250 Jahre alten Gebäude umringen einen Hof, von dem aus alles überblickt werden kann. Früher gehörten auch noch weiter oben am Hang gelegene Gebäude zu diesem Hof. Durch eine Erbschaft wurden die Häuser jedoch untereinander aufgeteilt. Auf dem Bergbauernhof leben heute vier Generationen und arbeiten gemeinsam in der eigenen Landwirtschaft und den sechs Ferienwohnungen. Da eine kleine Kapelle ebenfalls auf dem Grundstück steht, kümmert sich die Familie auch um diese. Obwohl bereits heute klar ist, dass die Kinder den Hof einmal übernehmen werden, wird angedacht, sich ein zweites Standbein aufzubauen, um auch in Zukunft sicherzugehen. Gerade die vergangenen Sturmschäden haben gezeigt, dass es gut ist, abgesichert zu sein.


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Wenn’s wirklich wichtig ist, dann lieber mit Friedl Text & Foto

Philippe Kayser

Friedl ist Briefträger am Land und das heißt: Er liefert Briefe an den Stammtisch des Wirtshauses aus, hat keine Angst vor Hunden, aber vor Hähnen und weiß bei einigen Häusern, wo der Schlüssel versteckt liegt. Mein Tag als Lehrling beim routinierten Briefträger aus Klebas.


Das Treffen

Schon am Mittwoch hatte ich den ersten Kontakt mit Friedrich, der von jedem Friedl genannt wird. Wir warten darauf, dass die Umfahrungsstraße nach Maria Luggau wieder befahrbar ist, als uns ein gelber VW Caddy entgegengefahren kommt. Typisches Postauto eben. Sofort winke ich dem Fahrer zu und hoffe, dass er stehen bleibt, damit wir uns kurz unterhalten können. Ich erzähle ihm, dass ich im Rahmen eines Uni-Projekts einen Briefträger einen Tag lang begleiten möchte. Dagegen hätte er auf jeden Fall nichts, aber es liegt nicht in seiner Hand, das zu entscheiden, erklärt er mir. Einen Tag und gefühlte 30 Telefongespräche mit verschiedenen Postgeschäftsstellen und der Presseabteilung in Wien später, ist es dann soweit. Donnerstags treffe ich mich mit Friedl bei der SPAR-Filiale in Maria Luggau. Es ist 11:05 und Friedl sitzt bereits 5 Stunden im Auto. Sein Alltag

Bereits vor 6 Uhr verlässt Friedl sein Haus in Klebas, um nach Hermagor zu fahren. Nachdem er hier die Post abgeholt und sortiert hat, fährt er in Richtung Lesachtal, um die ersten Häuser abzuklappern. Schon nach kurzer Zeit ist deutlich zu erkennen, dass er einen klaren Plan im Kopf hat, wie die Häuser am effizientesten zu beliefern sind. Zuerst kommt Hausnummer 5, dann 43 gefolgt von 7. Straßennamen gibt es hier nicht, nur Hausnummern und Namen. Keine Umwege, kein Zeitverlust durch unnötiges Wenden und eine bemerkenswerte Struktur im Arbeitsverlauf. So schnell und doch kontrolliert, wie das kleine Nutzfahrzeug durch die Kurven gelenkt wird, kann ich nur von Glück reden, dass meine Reisekrankheit heute kein Problem darstellt. Jede Hauszufahrt wird vorwärts angefahren und rückwärts verlassen. Egal

wie eng oder steil, beide Fahrtrichtungen beherrscht er blind und in gleicher Geschwindigkeit. Rückwärtsfahren war noch nie schneller in meinem Leben. Unterschiede zum städtischen Alltag eines Postboten gibt es sicherlich. Der eindeutigste: Im Dorf landet nur die Hälfte der Post im Briefkasten. Das Besondere

Einige Häuser im Lesachtal haben keinen Briefkasten. Warum auch? Das Vertrauen zum Postboten ist so groß, dass die Haustüren alle offen sind. Ohne Briefkasten an der Hauswand wird die Post einfach in den Eingangsflur gelegt. Auf meine Frage, was er macht, wenn die Tür verschlossen ist, antwortet er grinsend: “Kein Problem, ich weiß eh, wo der Haustürschlüssel liegt, ne”. Die Bank vor der Haustür oder der Teppich dienen Friedl auch als alternative Ablagestation. Auf dem Weg zum letzten Haus in Sankt Lorenzen ist die Straße durch abgesägte Bäume versperrt. Friedl lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, denn er kennt das Straßennetz wie seine linke Westentasche. Er versucht es über die andere Seite. Hier versperrt ein Auto den Weg. Kein Problem. Der gelbe Caddy wird geschickt in das Feld gelenkt. Matsch und Schlamm sind keine Hindernisse für die Postboten hier im Lesachtal. Das letzte Hindernis: ein sehr steiler, mit Schnee und Pampe versehener Hang. Ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen wird die Anhebung angesteuert. Der hintere Teil des Autos schwingt nach rechts und nach links aus. Die Reifen drehen durch. Die Anlaufgeschwindigkeit reicht dann doch aus, um uns über den Berg zu bringen. Auch das letzte Haus bekommt seine Post. Als später ein anderes Fahrzeug die Anreise zum letzten Bauernhof verhindert, sagt Friedl lässig: “Ich weiß eh wo der Bauer später im Wirtshaus sitzen

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wird. Ich bringe ihm den Brief später vorbei”. Nachdem wir schon auf dem Heimweg sind, treffen wir den Bauern auf seinem Trecker. Es wird kurz getratscht und der Herr steckt sich seinen Brief ein. Typischer Alltag im Lesachtal. Was hat sich verändert

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Als Friedl vor 30 Jahren angefangen hat, gab es in jedem Dorf einen eigenen Briefträger. Die Anzahl der Häuser war übersichtlich. So blieb genug Zeit, um hier auf einen Kaffee und dort auf ein Stück Kuchen eingeladen zu werden. Heute kann er sich diese Zeit aufgrund der höheren Anzahl an Häusern nicht mehr nehmen. Durch diesen Zeitdruck hat er keine Zeit mehr, um zweimal zu klingeln. Auch um seinen landwirtschaftlichen Betrieb konnte er sich neben der Arbeit nicht kümmern. Diesen hat er wegen Zeitmangel verpachtet. Friedl erzählt mir, dass es in den 80er-Jahren noch üblich war, junge Küken mit der Post zu verschicken. Heute ist das undenkbar. Mit den neuen Regelungen der EU ist das heute nicht mehr genehmigt, meint Friedl. Auch der persönliche Kontakt zu der Bevölkerung ist nicht mehr der gleiche seitdem das gesamte Lesachtal nur noch von zwei Briefträgern beliefert wird. Die Freundlichkeit ist jedoch geblieben. Jeder Lesachtaler und jede Lesachtalerin, dem/der wir begegnen lächelt uns zu und begrüßt uns freundlich. Mehrmals wird Friedl auf seinen “neuen Lehrling” angesprochen. Wir beide grinsen und fragen, wie es ihnen geht. Dann fahren wir weiter. An einem Tag legt er ungefähr 200 Kilometer zurück. Zu Fuß, wie zu seinen Anfangszeiten, unvorstellbar. Sein verfeindetes Tier ist: der Hahn

Auch das Klischee vom Briefträger, der vom Hund gebissen wird, trifft nicht auf Friedl zu. Sein verfeindetes Tier ist: der

Hahn. Als wir beim Friseur stehen, geht Friedl an einem riesigen klaffenden Schäferhund vorbei, um die Post zum Haus zu bringen. Als ich ihn frage, ob er schon einmal gebissen wurde, erklärt er mir, dass er beim Job keine Angst vor Hunden habe, eher von Hähnen. Vor einigen Jahren hat sich nämlich ein Hahn öfters von hinten hinterhältig an ihn herangeschlichen und ihn attackiert. Der Schluss

Ich erzähle Friedl von der hepi Lodge, in der wir übernachten. “Obergail 10”, bemerkt er sofort. Das ist tatsächlich die Adresse unserer Unterkunft und sie liegt nicht einmal in seinem Liefergebiet. Der Tag mit Friedl hat mir gezeigt, dass der Alltag des Dorf-Postboten mittlerweile genauso, wenn nicht sogar stressiger ist als der des Briefträgers in der Großstadt. Jedoch gibt es meiner Meinung nach viele Unterschiede: Friedl fährt täglich an wunderschönen Landschaftsbildern/Landschaften vorbei. Wo immer er Leute antrifft, wird er begrüßt. Das Vertrauen, das ihm gegenüber erbracht wird, kann ich in der Stadt nicht wiederfinden – und natürlich auch nicht den Hahn. Außerdem hat er im Dorf die Rolle des Überbringers von Informationen von der ganzen Welt bis hin zum Nachbarn. Ich bin dankbar, diese Erfahrung mit Friedl gemacht zu haben. Dieser Tag hat mir erlaubt, einen Einblick in das Alltagsleben von Lesachtal zu bekommen, nämlich durch das Fenster des gelben Postautos.


In der ATV-Sendung »Tal sucht Frau« geht es nicht darum, Single-Männern zu helfen. Text

Lisa-Maria Homagk

„In das Tal ohne Frauen soll endlich Liebe einziehen!“, schreibt ATV. Aber nachdem ich mich vor Ort im Lesachtal umgehört habe, zweifle ich daran, dass es dem Privatsender wirklich darum geht. Ein Kommentar. Ich schreibe über die Liebe. Die Liebe im Tal, wo man sie sucht und wie man sie findet. Im Vorfeld habe ich alles gesichtet, was das Internet hergibt. Fast nur nackte Zahlen, Statistiken, eine Liste mit den Eheschließungen der letzten Jahre und jede Menge Links zu möglicherweise interessanten Zeitungsartikeln, YouTube-Videos, Facebook-Seiten und -Gruppen. Vor Ort sollen endlich Menschen, Gesichter, Geschichten und Emotionen dazu kommen. Unterwegs zwischen zwei Interviews nähern wir uns mit unserem kleinen Peugeot einem Bagger und zwei Männern, die jede Menge Holz sägen, stapeln und bewegen. Wir müssen kurz warten, bis der Weg frei ist. Während wir warten und ich von meinen ersten echten Eindrücken vom Land- und Liebesleben erzähle, klopft einer der beiden Männer an das Fahrerfenster. Wir begrüßen uns,

stellen uns und unser Projekt kurz vor, schütteln die Hände. Der Mann wünscht viel Erfolg und alles Gute und wir fahren weiter. In meinem Kopf rattert es, die Stimme habe ich doch schon gehört. Ist das Robert? Robert aus der ATV-Sendung Tal sucht Frau? Dick eingepackt und mit Mütze hätte ich ihn fast nicht erkannt, aber die Stimme und die Art zu sprechen – unverwechselbar. Wir drehen um. Unbedingt muss ich mit ihm sprechen. Ich steige aus und frage einfach nach: „Kennt ihr die Sendung?“ „Ja, da hab’ ich mitgemacht!“, verkündet Robert – er ist es wirklich – freudig und ich denke mir: Nur am Land kann es möglich sein, dass ich zufällig mitten am Weg von Nirgendwo nach Irgendwo ausgerechnet ihm begegne.

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Foto © 2019 ATV Privat TV GmbH & Co KG (https://www.atv.at/tal-sucht-frau-staffel-1/)

Robert ist 41 Jahre alt und kommt aus Birnbaum im Lesachtal, Kärnten. Seinen Hof hat er schon vor langer Zeit aufgegeben. Er arbeitet – je nach Saison – am Lift oder im Wald. Er liebt die Natur und das Landleben. Aus dem Lesachtal würde er durchaus wegziehen, aber ein Leben in geschlossenen Räumen könne er sich nicht vorstellen, er „muss draußen arbeiten“. Dass er sich noch immer eine Partnerin wünscht und diesbezüglich sehr genaue Vorstellungen vor allem zu ihrer Größe („1,60 bis 1,80“) und ihrem Körperbau („knackig“) hat, erzählt er mir ebenso direkt und offen wie in der TV-Show Tal sucht Frau. Auch betont er heute wie damals, dass er keine Städterin und dezidiert „keine Wienerin“ sucht, die Herkunft sei ihm aber egal – „aus Kärnten, Österreich oder Europa“.

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Wahrscheinlich ist es gewollt, dass die selbsternannte „Romantik-Serie“ fast genauso heißt, wie die – meiner Meinung nach fragwürdige, aber ganz sicher bekannte – Dokusoap mit fröhlicher Moderatorin, in der Landwirte (und auch Landwirtinnen) eine/n Partner*in suchen. 2013 ist das Lesachtal in einer ersten

Pilotsendung mit zwei Folgen nun als „Tal ohne Frauen“, so die Produktionsbeschreibung, Schauplatz einer inszenierten Balz. Offensichtlich ist der erste Versuch erfolgreich. Fraglich ist allerdings, für wen. Für die Kandidaten oder doch eher für den Privatsender ATV? Im Folgejahr wird jedenfalls eine zweite Staffel mit sechs Folgen produziert. Die erste Staffel dreht sich um die fünf Lesachtaler Thomas (22), Hans (50), Hansjörg (35), Walter (39) und eben Robert (36). Die Teilnehmer werden kurz vorgestellt. Sodann wird ein Dutzend lediger Frauen zu einem großen Get-together im Gasthaus eingefahren und auf die Kandidaten losgelassen. Nach einem ersten Kennenlernen werden die Favoritinnen zu Dates, zum Kegeln, Kochen, Schwimmen oder Schlittenfahren eingeladen. Am Schluss treffen alle Teilnehmer*innen zu einer gemeinsamen Abschlussrunde erneut im Gasthaus zusammen. „Enttäuschungen, erste Liebesgeständnisse und Revierkämpfe“, so heißt es auf der ATV-Webseite, werden inszeniert. Viele Szenen sind so eindeutig geskriptet, dass ich nur den Kopf schütteln


kann. Auf ausgefallene Alliterationen (wie diese) wird zwar dankenswerterweise verzichtet, zielsicher werden die Kandidaten aber auf plakative Eigenarten reduziert und dem Publikum präsentiert. Hans sucht eine Köchin, Walter teilt gleich drei brünetten Interessentinnen mit, er suche eine Blondine: „Aber das kann man ja färben“. Robert wird als ewiger Junggeselle dargestellt, der gläubig ist, „aber auch viel Wert auf die weltlichen Gelüste“ legt. Die überdeutliche Zurschaustellung dieser Gelüste zieht sich als unangenehmer roter Faden durch die ganze Sendung. Ich kann es mir kaum anschauen und werde es sicher auch kein zweites Mal tun. Dabei geht es auch ganz anders. In der ORF-Sendung Liebesg’schichten und Heiratssachen besucht Journalistin Elizabeth T. Spira Alleinstehende oft mit einem tragischen Schicksal und herzergreifenden Lebensgeschichten, die über ihr Format eine Lebenspartnerschaft suchen. Jede/r Kandidat*in bekommt ausreichend Sendezeit, damit deren Persönlichkeit in verschiedenen Facetten gezeigt werden kann. Es werden keine einzelnen Zitate ohne Kontext herausgepickt und als Aufhänger für groteske Szenen verwendet. Es gibt keinen Offtext, die Fragen der Moderatorin sind ebenso zu hören wie die direkte Reaktion der Teilnehmer*innen und eine meist ungekürzte Antwort. Der Unterhaltungswert der Sendung liegt nicht in der Zurschaustellung eines Schicksals oder einer wie auch immer gearteten Persönlichkeit, sondern in der Hoffnung darauf und Freude darüber, dass manchmal aussichtslos erscheinende Fälle doch noch eine Chance auf die Liebe erhalten. Kurz: Spira glaubt man eher, dass sie sich der Sache – und nicht der Quote – verpflichtet fühlt. Und auch wenn ich der Aufarbeitung von

Schicksalen zu jeglichen Unterhaltungszwecken grundsätzlich kritisch gegenüberstehe, erscheint es mir bei diesem Format so, als sei ein sensibler Umgang mit Menschen und Geschichten gelungen. Zurück zu Robert und seiner Geschichte. Warum war ausgerechnet er einer von fünf Kandidaten bei Tal sucht Frau? Über die Gemeinde wurden Interessenten für das Format gesucht, Robert meldete sich daraufhin. Mehrmals kam das Fernsehteam zu ihm, an mehreren Tagen wurde bei ihm daheim, in der Gastwirtschaft, im Schwimmbad und draußen in der Natur gedreht. Zuerst nur mit ihm, später mit den Frauen. Ich frage Robert: „Sind die Frauen geblieben?“ Er verneint, leider seien alle wieder abgereist, keine sei im Tal geblieben. Die Sendung und die Dreharbeiten haben ihm trotzdem Spaß gemacht. Er scheint froh über die gewonnenen Erfahrungen, über die unterhaltsame Zeit während der Dreharbeiten. Sein Kollege neben ihm erzählt währenddessen meinen Mitfahrern, ATV habe sich mit der Sendung über Robert lustig gemacht. Ich bin froh, dass ich ihn, einen optimistischen, lebenslustigen und offenen Menschen getroffen und erfahren habe, dass er positiv auf die Sendung und die Dreharbeiten zurückblickt. Und das, obwohl er seine große Liebe noch immer nicht gefunden hat. Trotzdem bleibt ein fader Beigeschmack und ich entscheide mich dazu, die Show und ihre Kandidaten nicht in meiner Geschichte zur Liebe im Lesachtal und am Land zu thematisieren und stattdessen diesen persönlichen Kommentar zu formulieren. Die Sendung ist mittlerweile ausgelaufen – solange bis wieder ein Dorf, ein Tal, ein Ort gesucht und gefunden wird, in dem ein Sender Menschen, aber vor allem sich selbst zu irgendetwas verhelfen will.

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Frauen und die Gemeindepolitik Text

Claudia Schaefers

In einem Gemeinderat, irgendwo in Österreich, sitzen ausschließlich Männer. Der Bürgermeister weist die Verantwortung von sich; er habe sich aktiv auf die Suche nach Frauen begeben. Seine einzige Kandidatin, Elisa F., habe ihm dann aber doch abgesagt, weil sie sich am Werbefoto nicht gefallen haben soll. Wir haben bei ihr nachgefragt. Der Bürgermeister erzählt

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Bei einem Besuch in einem Dorf in Oberkärnten erfahren wir, dass die örtliche Politik von 20 männlichen Mitgliedern gemacht wird, aufgeteilt in den Funktionen als Gemeinderäte, Gemeindevorstände und dem Bürgermeister. Wo bleiben die ganzen Frauen, fragen wir uns. In einem Gesprächsabend mit Leuten aus der Gemeinde erfahren wir die Geschichte einer einzigen Frau, die gemeindepolitisch aktiv sein wollte. Der Bürgermeister sagt, er habe sich sehr bemüht Frauen in den Gemeinderat zu bekommen, aber keine bekommen. Der Grund für das generelle Fehlen von Frauen sei, dass „es eine Frau sein muss, welche die Akzeptanz hat und geeignet ist für das Geschäft. Um des Frauenwillens allein ist es zu wenig.“ Wir fragen nach, ob die ganze Gemeinde keine Frau hat, deren Akzeptanz in der Gemeindebevölkerung hoch genug ist. Es wirkt so, als müsste eine Frau Attribute haben, die nach einem klassischen

Rollenverständnis eher Männern zugeschrieben werden, um Erfolg zu haben. Der Bürgermeister erzählt, es habe eine engagierte Frau gegeben, aber die habe dann auch abgesagt in den Gemeindevorstand zu gehen, bevor das Gruppenfoto erscheinen sollte. Ihr habe das Foto nicht gefallen, „da war sie zu wenig schön drauf, das gefällt ihr nicht, da ist sie nicht attraktiv“. Dann war sie wieder weg. Nachdem der Gesprächsabend beendet ist, treten interne Diskussionen auf. Keiner bei uns kann sich vorstellen, dass Elisa F. nur aufgrund eines Fotos nicht mehr als Gemeindevorstand kandidieren möchte, da muss es eine Vorgeschichte geben. Im Folgenden wurde recherchiert und die betreffende Person konnte ausfindig gemacht werden. Aufgrund der von ihr geschilderten Geschehnisse in dieser Angelegenheit wird beschlossen, zum Schutz und zur Wahrung ihrer Anonymität, die Person nicht namentlich zu nennen, sondern sie als Elisa F. zu bezeichnen.


Gemeinden mit Bürgermeisterinnen 2017, Österreichweit Quelle: genderatlas.at

Was Elisa F. dazu sagt

Elisa F., die gewillt war, sich in der Politik zu beteiligen, erzählt, dass sie schon früher an Dorfprojekten in der Gemeinde aktiv war und daraufhin auf Bitten entschied, in die Politik einzusteigen. Ihr Ziel war es, die Situation und Grundstimmung, die im Dorf und Tal vorherrscht, zu verändern; sie wollte was bewegen. „Es weht ein rauer politischer Wind in diesen Zeiten“ sagt sie, dem muss entgegengetreten werden. Wenn dann aber Stärke bewiesen wird seitens einer Frau, kann es ihr passieren, dass sie bekriegt, persönlich angegriffen und auch beleidigt wird. „Frauen im Amt müssten sich Respekt und Anerkennung zudem viel härter erarbeiten als Männer. Es werde – anders als bei Männern – viel genauer hingeschaut“ meint Maria Skazel, Ortschefin von St. Peter im Sulmtal im Standard–Interview. Nach Elisa F.‘s Schilderung geschah ihr gegenüber Ähnliches. Es war eine Gutwillenssache ihrerseits, sich für die Gemeinde zu engagieren, die zunichte gemacht wurde. „Es bringt nichts, es ist zu männerdominiert. Nur als Quotenfrau bin ich mir zu schade! Die Energie kann ich in

meinem Betrieb besser verwenden; das war auch ein Selbstschutz, ich habe meine Arbeit auf das Ehrenamt verlegt, wo es fruchtet.“ Dass ihr so viele negative Reaktionen und verbale Angriffe aus der Gemeinde entgegen kamen, führte zu ihrem Rückzug aus der Politik. „Nicht, weil mir das Foto nicht gefallen hat, sondern weil ich so viel Gegenwind bekommen habe vom Dorf. Das Foto war nur die Spitze des Eisberges, das hat mit meiner Entscheidung nichts zu tun.“ So sieht die Situation in Gesamtösterreich aus

Ist Elisa F. ein Einzelfall? Ein Studienkollege erzählt von einem ähnlichen Fallbeispiel. Im Bezirk Gmunden im Salzkammergut, saß eine Freundin von ihm im Gemeinderat. Die Frauenquote sei generell nicht so schlecht gewesen, aber alle aktiven Männer sind um die 50 Jahre und älter. Als junge Frau dort teilzuhaben und ernstgenommen zu werden, hat nicht funktioniert. So habe sie nach einem halben Jahr das Amt wieder niedergelegt. Hier war der Generationen- und Interessenunterschied zu groß. Schaut

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man auf Gesamt-Österreich, so zeigt sich eine eklatante Situation. So gibt es mehr Bürgermeister in Österreich, die Josef mit Vornamen heißen, als es Bürgermeisterinnen gibt, wie Der Standard berichtete. Das muss man sich mal überlegen, das ist doch absurd! Das Verhältnis von Bürgermeistern zu Bürgermeisterinnen weist eine Quote von nur 7,6 % weiblicher Ortschefinnen gegenüber ihren männlichen Kollegen für das Jahr 2017 auf, was unter genderatlas.at anschaulich visualisiert wurde. Somit stellt Elisa F. keine Ausnahme dar. Das Problem ist, dass sich kaum Frauen im ländlichen Raum in der Politik engagieren. Sie sind im Vergleich zu den Männern überdurchschnittlich hoch gebildet und können keine Zukunftsperspektiven auf dem Land für sich erkennen. Folglich wandern viele ab und ziehen in die Städte. Diese Frauen wären aber so wichtig im ländlichen Raum, damit dieser von ihrem Know-How als hochqualifizierte Arbeitskräfte profitieren und wachsen kann. Nicht zuletzt kann damit die Nachkommenschaft gesichert werden. Die Bundesanstalt für Bergbauernfragen erklärt, dass „gemeinhin angenommen wurde, dass Frauen ein geringeres Interesse an der Politik haben“ und das Klischee der unpolitischen Frau für zu lange Zeit verwendet wurde, um das Phänomen zu erklären. Einen aussagekräftigen Erklärungsansatz hingegen bietet das sogenannte „Magische Dreieck“ der politischen Beteiligung. Hierbei werden „sozioökonomische und institutionelle Faktoren sowie die politische Kultur eines Landes als Ursachen für diese Situation angeführt.“ Diese stehen jeweils in einer komplexen Beziehung zueinander. Als weitere Argumente wird die Sozialstrukturthese genannt. Diese besagt, dass Frauen viel seltener in

ehrenamtlichen und beruflichen Führungspositionen sind und es somit unwahrscheinlicher ist, ein politisches Mandat zu erlangen. Die Diskriminierungsthese hingegen erklärt das Phänomen dadurch, „dass Frauen in Parteien bewusst von wichtigen Ämtern und Mandaten – old-boys-networks – ausgeschlossen werden“. Es ist anzunehmen, dass eine Kombination aller drei Thesen auf den Fall der Elisa F. zutrifft. Das kann dagegen getan werden

Also wie kann nun die teilweise nur marginal vorhandene politische Repräsentanz von Frauen im ländlichen Raum erhöht werden? Wie können Frauen für Politik am Land motiviert werden? Dazu benötigt es ein starkes Empowerment für die Frauen! Die Bundesanstalt für Bergbauernfragen hat den Anspruch an einer Erhöhung der deskriptiven (standing for) und substanziellen (acting for) Repräsentation der Frauen. Das bedeutet, dass sie sowohl für sich selbst einstehen müssen, als auch andere für sie. Oft wird das Argument geliefert, dass die Wähler*innen bestimmen, wer regiert. Stimmt. Wenn keine Frauen zur Wahl stehen, können sie folglich auch nicht gewählt werden. Deswegen darf Frauen nicht das Gefühl gegeben werden – auch durch einen solchen Fall wie den der Elisa F. – dass sie mit Anfeindungen rechnen können, sobald sie sich engagieren. Es darf nicht behauptet werden, sie hätten nicht genug Akzeptanz in der Gemeinde, dass sie für die Politik nicht geeignet sind aufgrund ihres Wesens. Das erweckt den Anschein, Frauen würden nur aufgenommen und akzeptiert werden, wenn sie jene Eigenschaften aufweisen, die in einem klassischen Rollenverständnis Männern zugesprochen werden, z.B. ein resoluter Auftritt und Durchsetzungsfähigkeit. Auch deshalb steht der Mann in


der Verantwortung geeignete Diskursräume zu schaffen, in denen sich Frauen einbringen wollen. Es bedarf einer Änderung auf vielen Ebenen und bei vielen Akteur*innen, damit es gute Chancen gibt der Abwärtsspirale des Bevölkerungsschwun des entgegenzuwirken und das Landsterben zu verhindern. „Die Zukunft des Landes ist weiblich“ skandiert der Masterplan Ländlicher Raum. Das Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus empfiehlt diesbezüglich in seinem Masterplan: » Die gezielte Förderung von Frauen in der Politik und in regionalen Projekten stärkt die weibliche Zuwanderung bzw. Rückkehr und verbessert die Situation von Frauen und die Innovationskraft. » Eine attraktive Infrastruktur, qualifizierte Arbeitsplätze und zeitgemäße Rahmenbedingungen erhöhen für Frauen und junge Familien die Attraktivität ländlicher Regionen. » Dass Kindererziehung als gemeinsame Aufgabe der Eltern zu betonen ist und nicht nur der Frauen. Der Ausbau der Kinderbetreuung, u.a. durch neue Betreuungskonzepte, erleichtert die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

sind erreichbare Umschulungs- und Weiterbildungsangebote von großer Bedeutung. Fazit

Dies ist nur eine Auflistung allgemeiner Ziele aus einem Masterplan. Mein Appell an die Bürgermeister*innen, die Gemeindevertretungen, die Gemeinderäte und Regionen ist, darüber hinaus zu denken. Jede*r muss genau hinschauen, genau die spezifischen Probleme und Potentiale des Ortes identifizieren. So können angelehnt an die aufgelisteten Empfehlungen eigene Lösungen definiert werden, die über das Allgemeine hinausgehen. Es bedarf noch vieler weiterer Strategieansätze und Ideen zur finalen Lösungsfindung. Diese müssen alsbald gefunden und in die Tat umgesetzt werden. So ein Fall wie jener der Elisa F. berührt, macht wütend und traurig. Es besteht die Gefahr, dass Angst, Frust und resultierende Gleichgültigkeit hervorgerufen werden und deshalb dürfen solche Fälle nicht wieder vorkommen. Denn jede*r von uns, besonders die Männer unter uns, brauchen uns Frauen.

» Dass die Ergänzung der Wirtschaftskraft mit den weiblichen Potentialen die Innovationskraft stärkt und neue Arbeitsplätze schafft. » Dass zur Vermeidung von Abwanderung aufgrund fehlender höherer Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten neue Wege, insbesondere im Bildungsbereich, notwendig sind. Auch für Berufswiedereinsteiger*innen

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Leben nach dem Sturm: Lesachtaler*innen erzählen Text & Fotos

Antonia Schneider

Drei Wochen vor dem Beginn unserer Exkursion sitzen wir ungläubig vor Medienberichten. Unser Ziel, das Lesachtal, ist „von der Außenwelt abgeschnitten“. Wir sehen Bilder von gebrochenen Dämmen, abgedeckten Häusern, umgestürzten Bäumen. Wird es überhaupt eine passierbare Straße geben? Vor Ort erkennen wir jedoch, dass die Bevölkerung einen ganz eigenen Weg gefunden hat, um mit dem schwierigen Thema umzugehen. „Die letzten drei Wochen waren die schwersten meines Lebens“, sagt Johann Windbichler. Der Sturm und die damit verbundenen Schäden stellen ihn vor seine bisher größte Herausforderung als Lesachtaler Bürgermeister (ÖVP). Wenn er von der Wucht spricht, mit dem der Sturm das Tal getroffen hat, erzählt er gerne von der Buche in Birnbaum. 500 Jahre überdauerte sie an dieser Stelle, unzählige Generationen zogen an ihr vorbei, suchten Schutz vor Regen und Sonne unter dem dichten Blätterdach. Ende Oktober unterlag sie dem Extremwetter, das über Oberkärnten wütete. „Kärntner Katastrophengebiet“, so beschreiben Medien wie die „Wiener Zeitung“ oder das „Gailtal Journal“ das Tal.

Die Bundesstraße zwischen St. Lorenzen und Maria Luggau war auf einer Länge von vier Metern abgerutscht. Die Stromversorgung wurde einige Tage unterbrochen, da Fichten auf die Stromleitungen in die Gailschlucht gestürzt waren. Dazu kamen zahlreiche Muren. Speziell die Forstwirtschaft im Tal hat es hart getroffen. Vom Auto aus sehen wir Bäume, die im Wald liegen wie Mikadostäbe. Windbichler glaubte früher nicht wirklich an den Klimawandel, erklärt er. Davon ist heute nichts mehr zu merken. So warnt er den versammelten Lesachtaler Tourismusverband bei einer Sitzung: „Der Mensch macht mit seiner Gier dadurch das Leben kommender Generationen viel schwieriger“. Was mehrfach von Lesachtaler*innen kritisiert wird, ist, dass die Medien das Ausmaß des Sturms aufgeblasen haben. Speziell den Umstand, dass die einzige Straße eine Zeit lang gesperrt war, hätten zu weit weniger Unbehagen in der Bevölkerung geführt, als Schlagzeilen wie „Lesachtal ist von der Außenwelt abgeschnitten“ erahnen lassen. „Wir kennen das eh aus dem Winter, einige Zeit abgeschnitten zu sein, oder ohne Strom leben zu

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müssen“ sagt ein junger Lesachtaler aus Liesing. „Für die Kinder ist das sogar ein Highlight, wenn man mal bei Kerzenlicht Abend essen muss,“ lacht sein Tischnachbar. Die Lesachtaler*innen sind vorbereitet: Die meisten Häuser haben Holzöfen, zusätzliche Dieselaggregate und Nahrungsmittelvorräte für mindestens eine Woche. Besonders wichtig sind die informellen Netzwerke, die besonders in Krisenzeiten zu schnellen und unkomplizierten Lösungen helfen. Das erlebten wir, als wir nach nur einem Tag in Obergail selbst abgeschnitten wurden. Die Brücke zwischen Obergail und Liesing wurde wegen Bauarbeiten tagsüber geschlossen. Nach der anfänglichen Verunsicherung fanden wir eine Lösung: Wir positionieren Autos diesseits und jenseits der Sperre und mit tatkräftiger Unterstützung unserer Gastfamilie Helene & Pepi, die uns hin und her fuhren, konnte die Fortbewegung im Tal fast einschränkungsfrei stattfinden.

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Die Stimmung der letzten Woche wird von der Bevölkerung als positiv beschrieben. „Alle haben zusammengehalten und geholfen“, erzählt Windbichler stolz über seine Gemeinde. Insbesondere die Freiwilligen Feuerwehren, vier Stück im Lesachtal, haben maßgeblich unterstützt. Die Ehrenamtlichkeit hat aber auch seine Grenzen. Windbichler erwartet nun Unterstützung von außen. Neben Mitteln aus dem Katastrophenfonds, die von der Bundesregierung zur Verfügung gestellt werden, sammelten auch viele Organisationen, Vereine und Privatpersonen für die Lesachtaler*innen. Dieser Gelder müssen nun so verteilt werden, dass sie wirklich bei den Bedürftigen ankommen und dafür eingesetzt werden, das Tal schnellstmöglich in den Ursprungszustand zurückzuversetzen.

Die Wanderwege sind das große Kapital des Sommertourismus‘ im Lesachtal und wurden schwer beschädigt. Das wird bei einem Spaziergang im Wald sehr deutlich. Bald ist der Weg von umgefallenen Bäumen versperrt, in einem anderen Waldstück ist eine Brücke eingebrochen. Auch die Loipe in Sankt Lorenzen ist in Mitleidenschaft geraten. Bei der Hauptversammlung der Touristiker*innen des Lesachtals wird das hitzig diskutiert. Wie schnell kann man diese Schäden beseitigen? Neben den direkten wirtschaftlichen Schäden macht man sich speziell über den Imageschaden des Lesachtals Sorgen. Wer möchte seinen Urlaub in einem Tal verbringen, das in letzter Zeit nur als Katastrophengebiet medial behandelt wurde? Das Lesachtal räumt auf. „Wir wissen, was zu tun ist, und das können wir auch,“ erzählt eine junge Obergailerin. Erst vor kurzem habe sie einen kleinen Bagger gekauft und der kommt jetzt richtig zum Einsatz. In Obergail sieht man immer wieder abgerutschte Hänge. „Wir sind hier aufgewachsen, wir wissen wie man die entwurzelten Bäume aus dem Wald holt und die Hänge wieder stabilisiert, es wird einige Zeit dauern, aber wir schaffen das.“ Spricht man heute mit den Bewohner*innen des Lesachtals, merkt man, dass jede und jeder seine persönliche Sturmgeschichte mit sich herumträgt. Die letzten Wochen waren nicht einfach für die Gemeinde, aber ans Aufgeben denkt niemand. Im Lesachtal haben wir alle gelernt, dass Zusammenhalt und eine ordentliche Portion Improvisationstalent dich durch jede Krise bringen.



»Ohne Zuwanderung wird es nicht möglich sein« Text & Foto

Tobias Reisenbichler und Luca Bierkle

Die Gemeinde Lesachtal kämpft wie viele andere ländliche Gemeinden mit Abwanderung und sinkenden Geburtenzahlen. Wir haben Bürgermeister Johann Windbichler (ÖVP) zu Strategien und Möglichkeiten befragt, wie der gegenwärtigen Schrumpfung entgegengewirkt werden kann und die Potenziale von Zuzug aus anderen Gesellschaftsschichten und Kulturkreisen diskutiert. Ein Interview.

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Mehr als Obergail (MaO) Provokant gefragt: Kann es sein, dass bei jungen, weltoffenen Menschen eher ein Fluchtreflex einsetzt, wenn man kulturell nur auf Heimatverbundenheit und Tradition setzt? Johann Windbichler (JW) Da ist sicher irgendwas dran. Tradition und auch der Glaube spielen hier eine große Rolle. Gewisse Klischees, die es hier einfach gibt, spielen sicher eine Rolle. Und wenn Leute studieren gehen und in anderen Gesellschaftsschichten mit involviert werden, kommen bei ihnen gewisse Gedanken auf: „Die Spinner dort. Das was ich machen will, geht dort nicht“. Die Enge des Tals spielt da sicher bei der Weltoffenheit eine

Rolle. Auch, weil man in dem Tal immer schon unter schwierigsten Bedingungen gelebt hat, ist man bei Veränderungen vorsichtiger geworden. MaO Ist für ein Tal wie das Lesachtal Zuwanderung aus allen Bevölkerungsgruppen wichtig? JW Ja sicher, die größten Probleme, die wir hier haben, sind die Abwanderung und die sinkenden Geburtenzahlen. Wir haben viel zu wenig Kinder. In Maria Luggau wurde seit drei Jahren kein Kind geboren. Wo sollen wir einmal die Leute herbekommen, die die Strukturen aufrechterhalten? Wir haben heute schon das Problem, dass den Betrieben die


Lehrlinge und die Facharbeiter fehlen. Da braucht es Zuwanderung! Ohne Zuwanderung wird es nicht möglich sein, das aufrechtzuhalten. MaO Glauben Sie, dass eine Familie aus dem Ausland, die ins Lesachtal zieht, gut aufgenommen wird? JW Ich seh‘ das von zwei Seiten. Wir erleben zum Beispiel, dass deutsche Familien kommen. Gleicher Sprachraum, Kleidung und Glaubensrichtung. Da bedarf es auch den Willen dieser Familien, sich in unsere gewachsene Gesellschaft zu integrieren. Die kommen und sagen: Jetzt sind wir da und zeigen euch, wie es besser geht! Im Lesachtal sind ja fast zwei Drittel untereinander verwandt. Die haben ja Jahrhunderte lang untereinander geheiratet. Da sind Strukturen und Netzwerke in alle Richtungen entstanden. Und da hineinzukommen ist schwierig. Es gibt aber auch ganz positive Beispiele, wo die Integration wunderbar funktioniert. So hat etwa eine junge Frau einen Bergbauern geheiratet und heute ist sie eine tolle Bäuerin.

MaO Und wenn diese Familie aus Syrien kommen würde? JW Ich seh‘ es immer von der menschlichen Seite. Die Flüchtlinge gehen ja nicht freiwillig, die müssen gehen. Entweder wegen Krieg oder wegen Trockenheit. Der Islam wird politisch am meisten missbraucht, ist aber auch am anfälligsten für Extremismus. Aber ich sage, wenn jemand in so ein Tal kommt wie bei uns, erwartet man schon, dass er sich auch a bissl integriert. Dass er nicht sagt: Man muss das jetzt irgendwie so oder so machen. Wenn er dann auch bei der Blasmusik mitspielt, bei der Feuerwehr hilft oder zur Erhaltung unserer Landschaft beiträgt, dann glaub ich, dass er schon akzeptiert wird. Wie war das 2015, als MaO die Flüchtlingskrise war. Die Gemeinde Gitschtal hat 15 Flüchtlinge aufgenommen, war das bei Ihnen auch ein Thema? JW Ja freilich. Es haben sich zum Teil Familien gemeldet, die Flüchtlinge unterbringen wollten. Auch ich als Bürgermeister wurde vom damaligen Innenminister kontaktiert, ob wir Flüchtlinge

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aufnehmen können. Wir haben unsere Grundbereitschaft bekundet, wenn die Rahmenbedingungen in der Betreuung geschaffen werden. MaO Welche Rahmenbedingungen meinen Sie? JW Ohne irgendwelche Betreuung kann ich keine Familie aus Syrien in einen Bergbauernhof reinsetzen. Die müssen ein bisschen integriert werden, auch in das gesellschaftliche Leben. Aber die Flüchtlinge haben immer eher zu zentralen Räumen tendiert. Bis Kötschach-Mauthen sind sie gekommen, aber nicht bis in ein so abseitiges Tal. MaO Was sind die Sorgen und Ängste der Lesachtaler*innen in Bezug auf muslimische Zuwanderung? JW Wenn die Kirchenglocken nicht mehr läuten dürfen, wenn der Muezzin runterruft von irgendeinem Turm, dann entstehen diese Probleme. Wenn so Parallelgesellschaften wie in den Städten entstehen. Das ganze Zuwanderungsthema, gerade im muslimischen Bereich, hat eine gewisse Emotion. Das spüren wir überall. Wir haben ein katholisches Kulturgut. Wir leben in einer christlich, katholisch geprägten Gesellschaft. Es gibt gewisse Ängste, wie zum Beispiel, dass es irgendwann keinen Kirchturm mehr geben wird, sondern eine Moschee. Es werden starke Emotionen geschürt. Wir sind eine über Jahrhunderte geprägte Kultur und sicher sind wir für diese Ängste anfälliger, als ein liberaleres, städtisches Publikum. 34

MaO

Vielen Dank für das Gespräch.


»Man macht weiter und bleibt optimistisch« Text

Christoph Leiner

Maria hat ihr ganzes Leben der Fortführung des elterlichen Bauernhofes verschrieben. Jedoch möchte keines ihrer Kinder den Betrieb übernehmen. Sie hofft dennoch, dass es irgendwie weitergehen wird. Ein Porträt. Nach einem kurzen Rundgang durch die kleine Ortschaft Obergail komme ich beim Hof mit der Hausnummer 4 an. Architektonisch fügt es sich hervorragend in das hiesige Ortsbild ein. Auf einer kleinen Tafel neben dem Eingang steht gut leserlich „Haus Strieder“. Ich läute an und mir wird sogleich die Tür von der Besitzerin geöffnet. Maria Strieder, die 61-Jährige gebürtige Obergailerin, bittet mich mit einem freundlichen Lächeln hinein. Die Schuhe soll ich anbehalten, einen Teppich gibt es im Vorraum ja nicht. Sie führt mich in ein aufgeräumtes Zimmer, das aus einem Küchen- und einem Speiseteil besteht. Sowie ich am Esstisch Platz nehme und aus dem Fenster schaue, fällt mir der wunderschöne Ausblick auf die Landschaft auf. Wälder, Wiesen, das Gebirge und einzelne Gebäude, die sich perfekt in das Gelände einzufügen scheinen. Die optimale Szenerie für ein entspanntes Interview mit Kuchen und Saft. Maria kennt alle Familien in Obergail. Es wird im Dorf eine sehr freundschaftliche Beziehung mit allen Nachbarn gepflegt, erzählt sie. Die Hilfsbereitschaft und das Gemeinschaftsbewusstsein seien

hier noch sehr stark ausgeprägt. Wenn etwas kaputt geht, kann man jederzeit die Nachbarn fragen, ob man sich entsprechendes Gerät ausborgen kann. Man könne nach Absprache auch mal mit den Nachbarn im Auto mitfahren. Ein Leben ohne Auto kann sich Maria in Obergail sowieso nicht vorstellen. Das Auto ist im Dorf ein notwendiges Transportmittel, um die täglichen Besorgungen zu tätigen. Die SPAR-Filiale im nahegelegenen Ort Klebas wird mangels Alternativen besonders oft besucht. Für Maria ist das eigene Auto ein Ausdruck von Freiheit. Längere Ausflüge mit dem Auto führen sie meistens nach Kötschach-Mauthen und Lienz, wenn mal Kleidungsstücke, Elektrogeräte oder Werkzeuge gekauft werden müssen. Diese Besorgungen werden dann oft in Form von „Urlaubstagen“ mit ihrem Mann erledigt. Für sie ist das eine Auszeit vom Hofalltag. Auf die Frage, wie denn bei ihr ein typischer Tagesablauf aussieht, lacht sie. Den typischen Tagesablauf gäbe es bei ihr nicht wirklich. Sie versuche, jeden Tag individuell zu gestalten. Ein paar tägliche Rituale gibt es dann aber doch. So

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müssen jeden Tag in der Früh die Schafe im Stall gefüttert werden. Die sollen ihr ja noch länger erhalten bleiben. Vor allem wegen der Wolle, die sie immer mal wieder zur Spinnerei bringt, um sie anschließend verkaufen zu können. Früher gab es im Stall auch Kühe, erinnert sie sich. Diese seien später aber durch die pflegeleichteren Schafe ersetzt worden, weil Maria damals noch davon ausgegangen ist, dass der Sohn den landwirtschaftlichen Betrieb übernimmt – und sie wollte ihm dadurch etwas Arbeit ersparen. Nachdem die Tiere versorgt sind, widmet sich Maria meist dem Haushalt. Neben Putzen, Aufräumen und Essen Kochen, müssen bei Bedarf auch die Wohnungen für die Gäste vorbereitet werden. Diese sollen die Zimmer schließlich in einem ordentlichen Zustand vorfinden. Ihre Stammgäste kommen hauptsächlich aus Deutschland. Die Vermietung erfolgt fast ausschließlich über ihre Homepage, die einer ihrer Söhne für sie erstellt hat. „Mein Sohn kennt sich mit so technischen Sachen viel besser aus als ich. Der hat schließlich studiert“, erklärt sie mir. Maria hat zwei Söhne und eine Tochter. Alle sind bereits erwachsen, alle sind aus Obergail abgewandert und haben sich anderswo eine eigene Existenz geschaffen. Als ich sie genauer nach ihren Kindern befragen möchte, fällt mir ihre veränderte Tonlage auf. Anscheinend bedauert sie es, dass alle fortgegangen und sie und ihr Mann alleine zurückgeblieben sind.

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Darauf angesprochen, was aus dem Betrieb einmal werden wird, wenn keines der Kinder ihn übernehmen will, hält Maria kurz inne und muss nachdenken. Das muss für sie ein schwieriges Gesprächsthema sein. Immerhin geht es dabei um den Fortbestand einer Existenz, die sie

zusammen mit dem Lebenspartner über viele Jahre hinweg aufgebaut und gepflegt hat. Eines ist für sie ohne Wenn und Aber klar: der Betrieb wird nicht an Fremde übergeben. Dafür verbindet sie zu viel mit diesem Haus. Aber Maria ist und bleibt optimistisch: „Wer weiß, was sich in Zukunft noch alles ergeben wird. Man macht weiter und hofft auf das Beste.“ Eine, wie ich finde, löbliche Einstellung, die sie ziemlich gut beschreibt. Tatsächlich muss Maria sich schon früh in ihrem Leben ein gewisses Durchhaltevermögen aneignen. Der Vater stirbt als sie erst ein Jahr alt ist. Zu dieser Zeit gibt es die Ferienwohnungen noch nicht, die werden erst einige Jahre später in einem separaten Haus dazu gebaut. Der Haupterwerb kommt von der Viehhaltung. Die Mutter wird zwar durch den Onkel so gut wie möglich unterstützt, aber für Maria ist schon früh klar, dass die Führung des Hofes irgendwann auf sie übertragen wird. Sie hat als kleines Mädchen anfangs noch den Wunsch, in die Welt hinauszugehen, die Verantwortung gegenüber der Mutter hält sie aber letztlich in Obergail. Als der Onkel, der sie immer dazu gedrängt hat am Hof zu bleiben, stirbt, ist sie die einzige, die der Mutter noch mit der harten Landarbeit hilft. Schließlich übernimmt sie den Hof, den ihre Eltern für sie geschaffen haben. Heute sagt sie, dass ihr Werdegang schon von Anfang an vorgezeichnet war. Aber sie akzeptiert es, weil sie das schätzt, was sie hat. Knapp 50 Minuten sind vergangen, der Kuchen ist gegessen und der Saft ausgetrunken. Ich breche auf mit dem Wissen, wie viel dieser Hof Maria bedeutet. Ich verabschiede mich und hoffe, dass sich ihr Optimismus auszahlen wird und ihr Hof, ihr Lebenswerk, von fähigen Händen fortgeführt wird.


Ich, die Raumplanerin, habe im Lesachtal nach Problemen bei der Mobilität gesucht und eines bei mir gefunden Text & Foto

Valentina Kofler

Ich wollte im Lesachtal mobil sein und die damit verbundenen Probleme erörtern. Vor Ort begegnete ich vielen Menschen und hörte ihnen zu. Die Probleme, die ich erwartete, kamen in keiner einzigen Erzählung vor. In diesen Tagen lernte ich mehr über Mobilität als in meinem ganzen Studium. Natürlich habe ich meine Anreise akribisch geplant: Seit einiger Zeit schon setze ich mich im Raumplanungsstudium mit Verkehrsthemen auseinander und weiß, wie schwierig es ist, gerade im ländlichen Raum von A nach B zu kommen – vor allem, wenn man kein Auto hat. Kärnten ist für mich schon abgelegen, das Lesachtal der hinterste Winkel; vielleicht der entfernteste Ort Österreichs, vom Westen her nur über Italien zu erreichen. Darum gleiche ich die Routenvorschläge aller mir bekannten Navigations- und Routing-Apps miteinander ab und schaffe es im Geiste überraschend einfach ins Lesachtal: Der Zug von Wien fährt weit nach Kärnten rein, es gibt Busverbindungen und für die letzte Etappe zu unserer Unterkunft sogar einen

Last-Mile-Service: ein „Bahnhofshuttle“ bringt Gäste in ganz Kärnten von Zugoder Busstation direkt zur Unterkunft. Easy. Schaff ich. Dann kam die Mure und riss die Straße weg – die einzige nach Obergail, wenn man wie ich von Lienz kommt. Meine Anreise erwies sich als guter Anlass, um das Thema persönlich zu erfahren. Keiner konnte uns sagen, wie tief wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins Tal vorstoßen können würden. In Tassenbach wechseln wir am Bahnhof, der an Lieblosigkeit nicht zu überbieten war, von der S-Bahn in den Bus. Dieser ist leer, und der Busfahrer nicht sehr zuversichtlich: „Bis Luggau, vielleicht“. Auf der vierzigminütigen Strecke durch Osttirol steigen

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nur zwei Langläuferinnen zu, die von der Loipe den halben Kilometer zurück ins Hotel fahren wollen. Ansonsten fährt der Bus leer durch das Alpenpanorama, und das anscheinend öfters. Gerade in dünn besiedelten Gegenden finden öffentliche Verkehrsangebote meist nicht genug Nachfrage. Auch diese Buslinie ist an die Schulzeiten – und damit an die einzige nennenswerte Nutzer*innengruppe – angepasst. Am Wochenende fährt er nur zwei Mal, im Sommer eigentlich gar nicht.

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Obwohl er sich sicher ist, dass es kein Durchkommen geben würde, setzt uns der Busfahrer an der provisorischen Endstation in Maria Luggau ab und weist uns den Weg, der eigentlich keiner mehr war: „Glei da vorne hört die Straße auf!“ Noch einmal betont er, wie „wahnsinnig Scheißdreck“ das Unwetter und die daraus resultierende Verkehrssituation sei. Ich sah mein Experiment, während unserer Exkursion im Lesachtal mobil zu sein, den Bach runter gehen. Ich sah verwaiste Haltestellen, unerreichbare Nahversorger, ich sah mich festsitzen, ich sah das ganze Lesachtal festsitzen. Auch ohne Unwetter

hatte das Lesachtal ein immenses Mobilitätsproblem. Dachte ich . Mobilität am Land ist eine harte Nuss für die Raumplanung

Den ersten Lesachtalern begegne ich hinter der Straßensperre, wo sie gerade Asphalt auf eine Forststraße walzen, um sie befahrbar zu machen. Man kommt also eh durch, irgendwie. Anders als der Busfahrer sind sie optimistisch, wir kommen gleich ins Gespräch. Auch die vielen anderen Menschen, denen ich in den nächsten Tagen begegne, sind offen und hilfsbereit. Drei Tage lang hörte ich ihnen zu. Die Probleme, die ich erwartete, kamen in keiner einzigen Erzählung vor. In diesen Tagen lernte ich mehr über Mobilität als in meinem ganzen Studium. Ich bin zwar nicht auf die erwarteten Probleme gestoßen, aber das heißt nicht, dass es nicht sehr wohl welche gibt: Die Distanzen sind im ländlichen Raum groß, die Siedlungsdichte gering, die Angebote des öffentlichen Verkehrs oft mangelhaft, Infrastrukturen nicht vorhanden, Frequenzen zu niedrig. Der Ausbau ist selbst in den größeren regionalen Zentren schwierig, und so ist die Abhängigkeit


vom eigenen Auto hoch. Vor allem junge Leute, alleinverdienende Frauen und ältere Menschen sind dadurch von „Mobilitätsarmut“ betroffen. Unabhängig mobil zu sein ist teuer. Verbesserte oder auf den konkreten Bedarf zugeschnittene Angebote im öffentlichen Verkehr kosten auch den Gemeinden Geld und müssen sich rechnen, also gut angenommen und ausreichend genutzt werden. Die größten Herausforderungen sind eine sinnvolle Taktung, um lange Warteund Umsteigezeiten zu vermeiden, und die Erreichbarkeit. Wenn es schwieriger ist, überhaupt zu Bus oder Bahn zu kommen, steigt jede*r lieber ins Auto. Die Bahnverbindung zwischen Hermagor und Kötschach-Mauthen wurde aus diesem Grund kürzlich eingestellt. Die Zwischenstationen lagen zum Teil bis zu fünf Kilometer von den Wohnorten entfernt. Ideen, mit dem Dilemma zwischen Angebot und Auslastung umzugehen, gibt es einige. Anrufsammeltaxis gehören wohl zu den bekanntesten Beispielen (halb-) öffentlichen Verkehrs am Land, Bürgerbusse, Mobilitätsvereine, Mitfahrbankerln. Auch Car-Sharing, das man eher aus Großstädten kennt, kann funktionieren. Kleine Initiativen von innen statt großer Konzepte von oben

Seit 2017 gibt es in der Region Hermagor gemeinschaftlich geteilte Elektro-Autos, sieben von neun geplanten Standorten sind schon mit Fahrzeugen bestückt. Keiner davon befindet sich im Lesachtal. Die Projektleiterin Daniela Schelch hat mir erklärt, warum nicht – und auch, warum auch das kein unlösbares Problem ist. Während die anderen Gemeinden im Bezirk Hermagor eine Bevölkerungsdichte von 22-34 Einwohnern*innen/km² (EW/

km²) aufweisen, sind es im Lesachtal nicht einmal 7 EW/km². Wie weit die vier Hauptorte voneinander entfernt liegen, erfahre ich bei meinem Versuch, mobil zu sein, am eigenen Leib. Noch verstreuter liegen die Bauernhöfe an den Hängen. Egal, wo im Lesachtal man das Sharing-Fahrzeug stationiert, es hätte nur eine Handvoll Lesachtaler*innen bequem Zugang dazu. Das sind zu wenige, um das Konzept zu tragen. Daniela hat aber schon weiter gedacht – der Lösungsansatz, den sie im Sinn hat, ist so einfach wie genial: Kleine Cluster aus benachbarten Menschen teilen sich ein Fahrzeug, das zugleich Teil des regionalen Fuhrparks ist. Statt des großen Autohauses, das derzeit den Fuhrpark stellt, werden so die Nutzer*innen selbst zu Vermieter*innen. Ob so ein Konzept funktionieren kann, hängt von den Leuten ab; die Initiative müsste „von innen“ kommen. Ich möchte wissen, ob sich jemand vorstellen kann, das eigene Auto mit anderen zu teilen, wenn es nicht benötigt wird (was auf die meisten Fahrzeuge die meiste Zeit zutrifft) und suche die Nachbarn unserer Gastgeber am Lahner-Hof auf, vor deren Stadl ein Elektro-Auto parkt. Das Kennzeichen „COOL 1“ verleitet mich dazu, in einem der Söhne den Besitzer zu vermuten, doch tatsächlich wird das Auto von der ganzen Familie genutzt – so oft wie möglich ersetzt es das „alte Auto“. Bis Lienz und retour reicht der Akku leicht. Das einzige, was „besser sein könnte“ sind die langen Ladezeiten ohne hauseigenen Starkstrom-Anschluss und die unbegreiflich schlechten Scheinwerfer. „Als hätt‘s nur a Kerze vorne drin“, mit der sich die engen, dunklen Kehren nicht weit genug ausleuchten lassen. Bei Kaffee und Keksen unterbreite ich der Mutter die Cluster-Idee. „Jaa…“, sagt sie,

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und man sieht deutlich, wie sich die Vorstellung durch ihren Kopf arbeitet. Ihrem Mann würde das halt gar nicht gefallen, wenn andere Leute Kratzer reinmachen würden. Aber ja, sagt sie noch einmal, diesmal fester, und ihre Augen funkeln dabei. Als ihr Mann reinkommt, erzählt sie ihm gleich von „meiner guten Idee“. Auch seine Augen funkeln, an die Kratzer scheint er nicht zu denken. … und wer nicht Autofahren kann?

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Die jüngste Tochter vom Lahner-Hof wäre eine von denen, die selbst von dieser guten Idee nichts hätten. Ohne Führerschein bleibt nur der öffentliche Verkehr. Den Weg zur Bundesstraße, wo der Bus stehen bleibt, geht sie jeden Tag. Auch ich mache mich auf den Weg, um mit dem Bus nach Kötschach-Mauthen zu fahren. Schon nach zwei Kehren bekomme ich die böse Vorahnung eines Muskelkaters, der Weg aus Obergail führt weit hinunter zum Bach, dann in zähen Kurven wieder bergauf. Unsere Gastgeberin Helene hatte meinem Kollegen Max und mir klare Instruktionen gegeben, wo wir die Haltestelle finden würden („drüben oben rechts“). Dort warten wir lange. Einem Auto, das uns ortsüblich mitnehmen könnte, begegnen wir in der ganzen Stunde nicht. Fast hätten wir den Bus übersehen, der sich als Transporter-Van voller Schulkinder entpuppt. Erst als der Fahrer Michael uns versichert, dass er der „normale Bus“ sei, schieben wir uns zu den Kindern auf die Rückbank. Auch auf dieser Seite von Maria Luggau deckt der öffentliche Verkehr nur das absolute Minimum – den Schülertransport – ab. Später steigt noch eine ältere Frau zu; nur, weil sie sich verletzt hat und nicht selbst fahren kann. Aber auch das ist eigentlich kein Problem, sofern man sich die Zeit nehmen kann, sich nach dem Busfahrplan zu richten.

In Kötschach-Mauthen erwartet uns der neue Mobilitätsknoten, von dem ich in den regionalen Zeitung en gelesen habe: Das sei der Dreh- und Angelpunkt der Region, der die Mobilität um ein Vielfaches aufwerte, hieß es da. Der Umstieg vom Auto auf umweltverträgliche Verkehrsmittel soll erleichtert werden, der Knoten ist also Umschlagplatz für Züge, Busse, Fahrräder, Autos, unkompliziert und schnell wird das praktischste Fahrzeug gewählt. Ich weiß nicht, ob ich eher verwirrt oder enttäuscht war, als ich aus dem Bus stieg, der kein Bus war, und den Mobilitätsknoten sah, der kein Mobilitätsknoten war. Wie ein Ufo stand eine mittelgroße Bushaltestelle, halb Glas, halb Holz, im Nebel. Die Ödnis dieses Ortes war endzeitlich; die Uhr drüben am verwaisten Bahnhofshäuschen hatte keine Zeiger mehr. Ein Bursch kam herangeschlendert und fragte Michael, wann er wieder „eini“ fahre. Die digitale Fahrplanauskunft – das Herzstück des Mobilitätsknotens – beachtet er nicht. „Um dreiviertel!“, antwortet der Fahrer. „Dann hol i ma no was zum Essen“, meint der vielleicht 15-Jährige und spaziert wieder davon. Den Rucksack lässt er an der Haltestelle liegen. Die Fahrt zurück nach Sankt Lorenzen würde die letzte an diesem Tag sein, denn auch die Schulen waren schon aus. Und danach? Dann nimmt einen der Bruder nach der Arbeit mit, oder die Freundin bringt einen hinauf ins Tal; irgendjemand wird sich finden. Alles gut im Lesachtal?

Ich dachte, ich müsste hierherkommen, um das größte Problem der Mobilität zu definieren und dann die perfekte Lösung zu implementieren. Ich kenne die Statistiken: zu wenige Zugverbindungen, zu hohe Abhängigkeit vom eigenen Auto. Ich kenne aber nicht die alltägliche Realität der Land- und Talbewohner*innen:


Nicht einmal, wenn alles lahm liegt, wenn durch Murenabgänge und Stürme die Straßen nicht mehr befahrbar sind, nicht einmal dann sitzt man hier fest. Da wird dann schnell ein Forstweg asphaltiert, der ist zwar offiziell noch nicht freigegeben, aber man fährt trotzdem schon darauf („passts halt auf die Schuhsohlen auf, der Asphalt is noch recht warm!“). Der Schulbus wird kurzerhand durch kleinere Autos ersetzt, auch Pepi, unser Gastgeber, bietet seine Hilfe an. Man spricht sich ab, man arrangiert sich, aber ohne je zu resignieren. Von Chaos keine Spur. Auch das Teilen ist keine Idee, die ich ins Tal bringen hätte müssen. Mit Autos macht man’s informell, mit Landmaschinen im „Maschinenring“, und Lebensmittel werden unter Nachbarn schon seit Jahrzehnten getauscht. Bei vielen Dingen hilft man sich sowieso gegenseitig aus, vielleicht geht es deshalb bei der Mobilität so verblüffend einfach von der Hand. Während andere Regionen und Gemeinden Projekte zu organisierten Fahrgemeinschaften managen und steuern (versuchen), improvisieren die Lesachtaler*innen. Ein vorgegebenes Regelwerk hätte vielleicht gar nicht denselben Erfolg wie das spontane Aushelfen, das Vorher-kurz-Absprechen, die Solidarität, die tief verankert ist in der Mentalität. Natürlich gibt es die Probleme, die ich erwartet habe – und in manchen Fällen sind sie sogar schlimmer, als ich erwartet habe. Der Bus ist ein Auto, am Mobilitätsknoten kommt nur vier Mal am Tag ein Bus vorbei, Züge gar nicht. Die guten Rezepte für Mobilitätslösungen, die in anderen Regionen und Gemeinden erfolgreich sind, scheitern hier an allem Möglichen. Und trotzdem: Man ist hier mobil. Ein Problem sieht nur, wer zu eng denkt, wer unflexibel und einfallslos ist. So wie ich. Wo ich wohne, kommt alle

drei Minute eine U-Bahn. Ich muss mir nichts überlegen; ich muss die Ideen nicht haben, die einen im Lesachtal vom Fleck bringen. Den Lesachertaler*innen fallen sie scheinbar mühelos ein: nicht nur jetzt, wo die Straße gesperrt ist, sondern auch für die Zukunft. Ich habe die Menschen, die ich getroffen habe, als unglaublich aufgeschlossen und offen empfunden. Die Frage, was das größte Problem in der Mobilität sei, konnte mir niemand beantworten: Sie sehen die Probleme einfach nicht als Problem. Als ich drei Tage nach meiner Ankunft im Lesachtal am frühen Abend in Sankt Lorenzen den letzten Bus zurück nach Obergail verpasse, bleibt die Panik aus. Eine Zeitlang stehe ich an der Bushaltestelle. Ein vorbeifahrendes Auto verlangsamt, die jungen Leute bleiben ein paar Meter weiter kurz stehen. Vielleicht hätten sie mich mitgenommen. Für mich entsteht in diesem kurzen Moment ein Überangebot an Mobilitätsmöglichkeiten. Ich winke den Wagen weiter, denn ich habe bereits einen Freund angerufen, der gleich da ist, um mich abzuholen. Das macht man hier so, und ich hab’s jetzt auch verstanden. Nachtrag: während ich diesen Text geschrieben habe, kam mir ein Zitat von Nietzsche unter: Er vergleicht darin Schafe, Gelehrte und „Alpentalbewohner“ und wie sich ihre Selbstwahrnehmungen auf ihre Lebensqualität auswirken. Der Alpentalbewohner sei dabei der klare Gewinner; „er verstünde, seine Geschichte im positiven Sinne zu deuten“. Das bringt meinen Beitrag auf den Punkt. (Danke an alle, die trotzdem bis hierher gelesen haben.)

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Tinder, Tinder, sag‘ mir, wie entstehen bei euch die Kinder? Text & Screenshots

Lisa-Maria Homagk

Ich habe auf der Dating-App einige Männer aus dem Lesachtal gefragt, wo und wie sie nach der Liebe suchen. Das sind ihre Antworten.

Ich würde sagen: Letzteres – auf den Punkt gebracht.

„Hab ich gesehen. Ist mir egal“, wird er sich gedacht haben. ­Danke für nichts, Max. Weiter im Text.

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Wer Fragen stellt, muss mit Gegenfragen rechnen.

Ok.

Wow, das geht schnell. Ein erster Ansatz. Meilensteine einer traditionellen Liebesgeschichte.

Kleinstadt – Großstadt – Tal. Überall kann man die „große Liebe“ finden und überall funktioniert es doch irgendwie gleich. Man muss nur wissen, wie.

Auch hier: Trotz Online-Dating spielt doch die echte Begegnung eine Rolle. Nur ist das Setting am Land vielleicht ein anderes als in der Stadt.

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Und die Entfernung: Man muss definitiv ins Auto steigen.

Alles relativ.

Ganz so einfach ist es also ­w irklich nicht.

Zu den Akademikern und Karrierefrauen würde ich gerne mehr wissen – ein Date gibt es trotzdem nicht, sorry. 44


Gern geschehen. Und vielen Dank.

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»Es ging um meine Kuh« Hörspiel Max Mutz

Sagen und Geschichten aus dem Lesachtal, gesammelt und niedergeschrieben von den Schüler*innen der 2. ­K lasse der Hauptschule Lesachtal im Schuljahr 2000/2001, unter den ­A nleitungen von Hans Guggenberger und Edith ­Unterguggenberger. „Es ging um meine Kuh“ – gelesen von ­Max Mutz.

Das Hörspiel zum Anhören auf dem „Mehr als Obergail“-Blog


Ist das Lesachtal Europas naturbelassenstes Tal? Text & Foto

Antonia Schneider

„Willkommen im naturbelassensten Tal Europas”, heißt es auf der Homepage des Lesachtaler Tourismusverbands. Aber stimmt das? Und was bedeutet das für Tourismus und Umwelt? Eine Überlegung. Ich fahre durch das Lesachtal und sehe Wiesen, Wirtschaftswälder und Bauernhöfe. Es ist eine kleinteilige und gut gepflegte Kulturlandschaft. Keine Wildnis. Das Land im Tal wird schon seit vielen Jahrhunderten bearbeitet. Es wird gemäht, eingezäunt, Holz geschlägert, aufgeforstet, das Gelände geebnet, Böschungen befestigt, und doch wird es das „naturbelassenste Tal Europas“ genannt. Der Titel weckt mein Interesse. Ganz Europa? Und wer vergibt solche Titel überhaupt? Bei der Internetrecherche wird mir klar, der Ursprung dieser Bezeichnung liegt 27 Jahre zurück. Auf der Stuttgarter Ferienmesse CMT fand damals die Verleihung dieses Titels statt. Eine Urkunde kann mir niemand zeigen. Auf Nachfrage bei der Pressestelle der Stuttgarter Messe erfahre ich, dass die Messe selbst den Titel nicht

vergeben hat: „Das muss von Ausstellern oder Verbänden ausgegangen sein“, erklärt Pressesprecher Axel Recht. Die Originalbezeichnung war damals „umweltfreundlichste und naturbelassenste Alpengemeinde Europas“. Das sind beeindruckende Superlative für das Lesachtal. Von lokalen Touristikern erfahre ich, dass die Auswahl damals von unabhängigen Journalist*innen getroffen wurde, die von der Natürlichkeit des Tales beeindruckt waren. Journalist*innen, keine Biolog*innen oder Umweltexpert*innen. Kritische Stimmen in der Gemeinde bezweifeln, ob diese Auszeichnung jemals wissenschaftlich fundiert oder zumindest kriteriengeleitet getroffen wurde. Das Auswahlverfahren ist heute nicht mehr nachzuvollziehen und trotzdem wirbt das Lesachtal seit Jahrzehnten konsequent mit diesem Slogan.

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Im Duden steht unter dem Wort naturbelassen: „in seiner natürlichen Substanz unverändert; in seinem natürlichen Zustand belassen“. Ich denke dabei eher an die wilden Urwälder Rumäniens als an die fast schon ordentliche Landschaft des Lesachtals. Durch die Karpaten streifen Bären und Wölfe. Die möchte man hier in Oberkärnten eigentlich nicht. Wenn diese Tiere den Gemeindebereich durchqueren, verursacht das einen großen Aufschrei der Jäger*innen und Bäuer*innenschaft, die sich Sorgen um ihre Wild- und Tierbestände machen. Man erzählte mir auch von Gästen*innen, die aus Angst vor Wildtieren ihre Zimmerbuchung wieder storniert hatten. Als Reaktion auf Sichtungen fordern diese Gruppen medial immer öfter Abschussfreigaben. Es erweckt bei mir den Eindruck, dass man im Lesachtal zwar Natur möchte, aber nur die ungefährliche, bunte und tourismusverträgliche Natur. Der Natur zuliebe sollte man die Bewirtschaftung des Tals jedoch nicht aufgeben. Im Studium habe ich gelernt, dass die Gegend sonst in kürzester Zeit vom Wald zurückerobert werden würde und dabei ginge der Reichtum an verschiedenen Lebensräumen, speziell der Wiesen, verloren. Das Lesachtal hat meiner Meinung nach wenig echte Wildnis, wenig Landschaft, deren Entwicklung gänzlich der Natur überlassen ist. Das ist jedoch keine Schwäche. Die Stärke des Lesachtals liegt in seiner Kulturlandschaft und der umweltverträglichen Landwirtschaft.

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Im Gespräch mit Lesachtaler*innen erkenne ich, stolzer als auf die „unberührte Natur ihres Tals“ sind sie darauf, die Landschaft so zu nutzen, dass ein harmonisches Zusammenleben zwischen Mensch und Natur gelingt. Meistens zumindest. Die Landwirtschaft ist kleinteilig. Es gibt eine klare Absage an den Bau eines

Wasserkraftwerks an der Gail. Der Fluss durchs Lesachtal ist und bleibt unverbaut. Bewusst hält man Abstand zum Massentourismus, die Bettenzahl wird nicht unbegrenzt erweitert und es gibt keinen Skilift. Im Winter geht man stattdessen Langlaufen oder macht Schneeschuhwanderungen. Der naturnah orientierte Tourismus, der sich daraus ergibt, hat im Lesachtal Erfolg. Der Titel „Das naturbelassenste Tal Europas“ trug maßgeblich dazu bei, schrieb Rainer Schauer bereits 1995 im in der Zeit erschienenen Artikel „Segen der Langsamkeit“. Im Lesachtal wird die Ländlichkeit immer mehr als Chance erkannt. Das ist jedoch mit Naturbelassenheit nicht gleichzusetzen. Zu behaupten, dass das Lesachtal rein naturbelassen sei, nimmt seinen Bewohner*innen die Möglichkeit auf Mitgestaltung. Landschaft ist nicht statisch, sie verändert sich durch die Nutzung und wird so vielerorts mehr durch den Menschen als durch die Natur geprägt. Die Lesachtaler*innen können stolz sein auf die Landschaft, die sie mitgestalten. Jedoch tragen sie dadurch auch eine Verantwortung, diese zu schützen und weiterzuentwickeln.


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6 Tage, 6 Täler

Der Schnee schmilzt und verlässt als Nebel das Tal. Ausblick aus meinem Zimmerfenster.

1. Tag

Fotos von Antonia Schneider


2. Tag


3. Tag


4. Tag


5. Tag


6. Tag


Nachts im Tresor Text

Max Mutz

Fragt man nach den Ausgehmöglichkeiten zwischen Kötschach-Mauthen bis Untertilliach, so wird einem ausnahmslos der „Tresor“ empfohlen. Mit der Schließung des Musicpubs* fällt nun ein bedeutender Anlaufpunkt für Jugendliche weg. Max Mutz erklärt die Hintergründe. Das Gebäude im Herzen St. Lorenzens ist schon seit einer Ewigkeit im Besitz der Familie Salcher. Im ersten Stockwerk betreiben sie ein Gasthaus, in den darüber liegenden Stockwerken eine Pension. Die Räumlichkeiten im Erdgeschoss beherbergen zuerst die örtliche Poststation, dann eine Raiffeisen-Filiale. Als diese aufgelöst wird, ergreift Leo Salcher die Chance und beginnt mit der Gestaltung eines Lokals nach seinen Vorstellungen.

Außer dem Tresor erinnert heute kaum noch etwas an die ehemalige Bank. Der im Eingangsbereich stehende Tresen und der übrig gebliebene Safe sind die einzigen Hinweise auf die vergangene Nutzung. In den späten 90er Jahren hat Leo viele Veränderungen geschaffen. Stolz zählt er auf: „Schallisolierung, eine Dämmung fürs Licht und eine Entlüftungsanlage hab‘ ich eingebaut.“ Höhenflüge und Talfahrten

Leo Salcher hat in Graz studiert und ist dort zum leidenschaftlichen Pub-Besucher geworden. Discos haben ihm noch nie zugesagt und bei der Heimkehr denkt er sich: „Mensch, das wär‘ doch was, so ein Pub fürs Lesachtal!“.

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Seine Vision: einen Ort fürs Zusammenkommen schaffen und gute Musik spielen. 1996 eröffnet er, gemeinsam mit seinem Vater, den Musicpub Tresor. Seinen Namen verdankt das Lokal einem Stahltresor aus dem Raiffeisen-Bankbetrieb, viel zu massiv, um ihn weg zu bewegen.

Mitte der 90er Jahre in St. Lorenzen: Leo liebt Rockmusik, ist aber auch offen für alles Neue. Für den Musicpub Tresor will er schon immer ganz verschiedene Musikstile, die man so im Lesachtal nicht kennt, welche, wie er sagt, “aber irgendwie da her passen“. Zuerst spielt er Schallplatten, dann CDs und zuletzt MP3s ab. Die Abende sind wild. Leo erinnert sich: „Da kam es schon mal vor, dass wir ‚oben ohne‘ getanzt und mit Sodawasser rumgespritzt haben. Es gab Feuershows am Tresen, bis fast die Decke brannte und einmal sogar eine Stripperin.“


Auch das Zusammenkommen funktioniert gut. Leo lernt seine Frau im Tresor kennen und seine Schwester ihren Mann. Da war das Lokal fast so etwas wie eine Heiratsvermittlung. Bei der Jugend im Lesachtal war der Musicpub schon immer beliebt, auch als Spielwiese, um Grenzen auszuloten. Lautstärkeregler werden heimlich aufgedreht, es wird randaliert und Bier in die Steckdosen geschüttet, um Stromausfälle zu verursachen. Es ist nicht so, dass alle Abende schlecht waren. Es gab solche und solche, aber wohl fast alle waren extrem: eines Abends hinterlässt ihm jemand einen Scheißhaufen auf dem Parkplatz, mit einem rosaroten Tanga garniert. 2000er Jahre im Tresor: Nach und nach wird es zu viel für Betreiber Leo. Er übt schon immer Kritik am Niveaulosen, dem Koma- und Kampfsaufen und beschließt Personal einzustellen, statt immer selbst hinterm Tresen zu stehen. Die Strategie scheint zunächst aufzugehen, das Team ist engagiert, die Umsätze stimmen. Mit der Zeit entstehen jedoch Probleme mit den Mitarbeiter*innen: Es wird falsch abgerechnet, das Lokal nicht rechtzeitig geöffnet und die Sperrstunde maßlos überzogen. Eines Morgens entdeckt Leo auf der seit Ewigkeiten offen stehenden Tür der Herrentoilette die Aufschrift: „Der tote Vogel hinter der Tür ist schon seit 5 Wochen hier“. Leo schließt die Toilettentür, beseitigt das tote Tier und merkt, wie ihm das Ganze entglitten ist. September 2018: Der Musicpub Tresor schließt. Leo ist klar geworden: Er hält das so nicht mehr aus. Nach 22 Jahren Betrieb wird er nun umbauen und sich nochmal neu aufstellen, um klarere Regeln zu schaffen und ein größeres Publikum ansprechen.

Mario R., Gründer der Facebook-Gruppe „Freunde, denen Musicpub Tresor Lesachtal gefällt“, beschreibt diesen Wendepunkt so: „Leider gibt es den Tresor in dieser Art, wie wir ihn kannten, nicht mehr. Der Besitzer hat sich entschieden, daraus eine Art Lounge-Bar für seine Hausgäste zu machen. Früher war es jedoch DER Treffpunkt im Lesachtal für Jung und Alt aus der ganzen Welt. Es war immer Treffpunkt der Lesachtaler Jugend. Musik wurde quer durch gespielt. Mit der Schließung des Tresors fällt meiner Meinung nach ein wichtiger Bestandteil des Lesachtales weg.“ Wann der Tresor wieder öffnet, ist unklar. Für Leo steht aber fest: Er möchte, dass die Leute wieder auf das Lokal schauen und wünscht sich besonders für die Jungen, dass wieder mehr diskutiert wird. Für die Zukunft des Tresors plant Leo ein Lokal für alle, gute Musik und gediegene Abende. Seine Vorstellung von früheren Sperrstunden und auch älterem Publikum gefällt jedoch nicht allen. Für die Lesachtaler Jugendszene fällt damit ein wichtiger Anlaufpunkt weg. Die Geschichte ist noch nicht vorbei, er möchte jetzt nur etwas anders machen. Leos Lieblingssong ist: “I can’t stand losing you” von The Police. *Musicpub ist eine Wortkreation von Leo Salcher. Sie beschreibt eine Bar mit entspannter Atmosphäre, in der gute Musik gespielt wird.

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Können Dörfer sterben? Text

Gordon Kriwanek

Ganz ähnlich wie sich der Mann in „Ein Haus in Spanien“ fragt, ob man Dinge lieben kann, frage ich mich, ob Dörfer sterben können. Eine ­Meditation.


1. Der namenlose Protagonist in John Maxwell Coetzees Geschichte „Ein Haus in Spanien“ ärgert sich. Was ihn störe, sei der leichtfertige Gebrauch von Sprache. Er hat auch ein Beispiel parat. Freunde des Mannes sagen, sie hätten sich in ein Haus verliebt. Aber wie kann man sich in etwas verlieben, das die Liebe nicht erwidern kann? Geht nicht die Bedeutung von Liebe, von wahrer Liebe verloren, wenn man sein Herz an Dinge verschenkt? 2. Coetzees schmales Büchlein begleitet mich in meinem Rucksack auf einen Fußmarsch durchs verschneite Kärntner Lesachtal. Die hochgelegene Straße ist eng und kurvenreich und durch einen schweren Sturm, der sich vor knapp drei Wochen ereignete, teilweise zerstört. In regelmäßigen Abständen fahren Laster voll Schutt an mir vorbei. Während ich gehe, versinke ich in eine tiefe Meditation über „Ein Haus in Spanien“ und die Verwendung von Sprache und Sprachbildern in der Raumplanung und Architektur. 3. Wie auch viele andere ländliche Gegenden in der Welt, kämpft die Gemeinde Lesachtal, sprich jener obere Abschnitt des Gailtals, der die Ortschaften Maria Luggau, Sankt Lorenzen, Liesing, Birnbaum und Sankt Jakob umfasst, mit der Abwanderung der Bevölkerung. Lebten (laut Statistik Austria) Anfang 2001 noch 1.549 Menschen im Tal, waren es Anfang 2018 nur noch 1.318 Menschen, was einem Bevölkerungsrückgang von 14,9 Prozent entspricht. Sollte irgendwann, in wenigen Jahrzehnten vielleicht, die Einwohnerzahl erst auf 1.000, dann auf 800 Menschen und drunter gefallen

sein, wird man womöglich vom Dorfsterben in Lesachtal sprechen – so wie man heute vom Dorfsterben in Pfafflar (Tirol), Speisendorf (Niederösterreich), Murau (Steiermark) oder Unterlaussa (Oberösterreich) spricht, um nur ein paar Orte zu nennen. In ähnlicher Weise wie sich der 4. Mann in „Ein Haus in Spanien“ fragt, ob man Dinge lieben kann, frage ich mich, ob Dörfer sterben können. Natürlich wurden Dörfer von Menschen aufgegeben, verlassen und/oder zerstört, aber heißt das, dass sie gestorben sind? Müssten wir nicht – wenn es das heißt – uns viel stärker als bisher in der raumplanerischen und architektonischen Praxis mit Begriffen wie Endlichkeit, Sterbehilfe, Erlösung, Verlust und Trauer auseinandersetzen? 5. Sollte jemand befürchten, ich wolle hier den Oberlehrer alter Schule spielen, der über den richtigen sprachlichen Ausdruck wacht, der kann beruhigt sein: Sprache und alles, was sich aus ihr ergibt, lebt von überraschenden Verbindungen, Wortneuschöpfungen und Bedeutungsverschiebungen von Wörtern. Zu einer lebendigen Sprache gehört allerdings auch – und das mag für manche Ohren nicht unbedingt neu, inspirierend oder mitreißend klingen –, dass man diesen Veränderungen, Stichwort Liebe, Stichwort Dorfsterben, in ihrem Wirken nachspürt, sie ernsthaft durchdenkt und ausformuliert, gerade auch in den Disziplinen Raumplanung und Architektur, die beide durch Sprache unsere Vorstellungen von der gebauten und gestalteten Umwelt prägen.

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Postkarten »Lesachtal damals«

Foto-Auswahl Andreas Höbausz

Eine Reise von Maria Luggau nach St. Jakob mittels ­A nsichtskarten aus den Jahren 1906 – 1940.

Maria Luggau, 1928

Maria Luggau, 1910

Die Bilder entstammen dem Ansichtskartenportal der Österreichischen Nationalbibliothek.


St. Lorenzen, 1940

Maria Luggau, 1940

Maria Luggau, 1931


Birnbaum, 1924

Kornat, 1906

Nostra, 1933


St. Jakob im Lesachtal, 1936

St. Jakob im Lesachtal, 1928

Birnbaum, 1939


© Orig. Leasachtola OLMFÄTT

»Freitags ist Musikprobe, deshalb fahre ich freitags heim« Text

Fabian Unterkofler

Sebastian Lanner von der Blasmusikgruppe „Olmfätt“ ist in Liesing im Lesachtal verwurzelt, obwohl er dort weder aufgewachsen ist, noch dort wohnt. Ein Porträt.


Donnerstag, 17.00 Uhr. Am Telefon ist Sebastian Lanner, der sich aufgrund seines Studiums in Innsbruck befindet. Ursprünglich kommt er aus Grafendorf im Gailtal, aber nach eigener Aussage fühlt er sich in Liesing zu Hause, wo auch viele seiner Verwandten wohnen. Der 23-Jährige ist Mitbegründer, Mitglied und Manager der Lesachtaler Blasmusikgruppe „Olmfätt“. Die elfköpfige Formation, bestehend aus neun Musikanten und zwei Marketenderinnen (= korrekte Bezeichnung der „Schnapsmädchen“), wurde im Jahr 2015 gegründet. Alle Mitglieder sind nebenbei bei der Trachtenkapelle Liesing, einer der vier Musikkapellen in der Gemeinde. Sebastian ist sogar im Vorstand, und daneben noch Obmann des Jugendvereins. Etwa 10 bis 15 Auftritte stehen bei „Olmfätt“ in der Sommersaison an. Die Gruppe spielt traditionelle Blasmusik – von Egerlandklängen bis zur Österreichischen Marschmusik ist alles dabei. Ihr Repertoire beinhaltet auch zeitgemäße Schlager: „Hast du unser neues Video gesehen, Christzenzia? Muss ich dir sonst schicken!“ sagt Sebastian in einem vielversprechenden Ton. Man versteht schnell: Die Musik ist seine große Leidenschaft. Damit ist er kein Einzelfall in seiner Heimat. Das Tal hat eine tief verwurzelte Verbindung zur Musik, die weit in die Geschichte zurückreicht. Als der Bischof von Caorle im 15. Jh. zur Kirchenweihe ins Lesachtal kam, haben seine Schriftführer angeblich von begabten Zither- und Harfenspielern berichtet, wie ich in einem Gespräch mitbekommen habe. Lesachtal und Musik, das gehört zusammen wie Pech und Schwefel, wie Marianne und Michael. Die Musik liegt wohl in den Genen der Talbewohner*innen. Die Worte des Bürgermeisters lassen dies zumindest vermuten: „Der Lesachtaler ist kein

Wirtschaftler, sondern Musiker.“ Heute sei jede/r Lesachtaler*in bei ein oder zwei Vereinen dabei, meint Sebastian. Es gibt den gemischten Chor, den Kirchenchor, die Feuerwehr, den Jugendverein. Und eben vier Musikkapellen. Und zahlreiche Musikformationen, eine davon: „Olmfätt“. Auf die Frage, wieso er weggegangen ist, sagt er, es sei eh normal, dass jeder nach der Schule mit 13 oder 14 weggeht. Die Jungen müssen nach Villach in die Schule, oder Hermagor oder Lienz oder Klagenfurt. Das sind alles Orte, für die mehr als zwei Stunden Pendeln pro Tag drauf gehen. Viele Mädels und Burschen müssen für die Ausbildung wegziehen. Sebastian selbst ist nach Villach gezogen und hat die HAK gemacht. Danach sei es irgendwie schleichend gelaufen, und er ist nach Innsbruck gegangen, um Wirtschaftswissenschaften zu studieren. „Das war keine Grundsatzentscheidung ‚Weggehen oder Dableiben‘, sondern eher unbewusst.“ Ein wesentlicher Faktor, der die Teenager zum Wegziehen drängt, ist nicht nur die räumliche Abgeschiedenheit, sondern wohl auch die Mobilität vor Ort. Mit den Öffis braucht man bis Villach durch das viele Umsteigen etwa drei Stunden, obwohl es nur 100 km entfernt ist. Auch nach Lienz ist es zu weit zum Pendeln. So ergibt sich die Situation, dass die ganzen Jungspunde der Musikkapellen unter der Woche weg sind. Aufgrund dieser Tatsache finden die Musikproben nur am Freitag oder Samstag abends statt. „Freitags ist Musikprobe, und deshalb fahre ich freitags heim“, sagt Sebastian. So wie ihm geht es wohl vielen seiner Kollegen*innen. Die Musik sei ein wesentlicher Grund, dass die Jugend am Tal hängt, bekräftigt der Bürgermeister. Einen besonderen Stellenwert hat

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die generationsübergreifende Besetzung über alle Vereine hinweg – sei es bei den Musikkapellen, den Chören, oder eben den kleinen Musikformationen. Bevor Sebastian nach Innsbruck gegangen ist, hat er ein Jahr lang das Konservatorium in Klagenfurt besucht. Seine Bandkollegen haben auch alle eine höhere musikalische Ausbildung. Die sind auch noch in anderen kulturellen Vereinigungen aktiv, wie zum Beispiel dem Stadttheater Klagenfurt. Was ich raushören kann: Es geht beim Vereinsleben nicht nur um die Musik oder die Kultur an sich. Musik machen könnte man überall auf der Welt. Mindestens genauso wichtig dabei ist der soziale Aspekt. Das Zusammenkommen bei den Proben, die Tratschereien beim Biertrinken nach den Proben, das Beisammen mit den Freunden. „Wenn das soziale Umfeld wegfällt, wird es die Musik wahrscheinlich auch“, sagt Sebastian. Soziales Zusammenleben funktioniert gerade im überschaubaren Lesachtal gut: Sebastian kriegt alles mit, was im Dorf und sogar in den Nachbardörfern passiert. „Man kennt eigentlich alle zwischen Obertilliach und St. Jakob.“ Das Weggehen bedeutet für Sebastian keine Einschränkung im gesellschaftlichen Leben. Im Gegenteil: Es hat auch positive Seiten für die Gemeinde. Wenn die Bevölkerung immer nur im Tal bleibt, würde man auch nie eine Ansicht von außen haben, meint der junge Student. Man komme nicht auf neue Ideen, wenn man sich immer nur mit den gleichen Leuten trifft.

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Abgesehen von der kulturellen Tradition, über die man sich im Ort wohl wenig Sorgen machen muss, tut die Gemeinde einiges, um die Jugend im Dorf zu halten. Wenn man sich die Bevölkerungsentwicklung anschaut, muss sie das wohl auch. Die Einwohnerzahl lag Anfang des

20. Jahrhundert – für mich überraschend – über der 2.000-Marke. Heute sind es 1.300 Einwohner. Der Trend des Bevölkerungsrückgangs setzt sich auch in den aktuellen Jahren fort. Tradition alleine kann die Gemeinde also auch nicht vor der Schrumpfung retten. Die Lebensgrundlage muss passen. So unterstützt die Gemeinde seit Neuestem die Jungen beim Wohnungsbau, oder hat in den Glasfaserausbau investiert. Damit wird sie den Anforderungen der heutigen jungen Generation gerecht. Der Bürgermeister meint sogar, so könnten die Jungen von zuhause aus viel fürs Studium machen, oder dann in der Arbeitswelt auch beispielsweise Homeoffice. Auch Sebastian handhabt es zurzeit so mit seinem Nebenjob. Seine Eltern haben eine Werbeagentur in Hermagor, wo er als Grafiker tätig ist. Heutzutage gebe es Jobs, da müsse man nicht immer physisch anwesend sein. „Und über Skype ist natürlich auch viel möglich. Also so ein klares Arbeitsverhältnis, wo man immer eine Sache macht, das gibt’s in zehn Jahren sowieso nicht mehr.“ Sebastian macht jetzt erstmal den Bachelor fertig. Wie es dann weitergeht, weiß er nicht genau. Laut ihm könne es schon passieren, dass er – auch unverhofft – gute Jobangebote in irgendeiner Stadt bekommt. „Dann kommt halt die Grundsatzentscheidung: Gehst du wieder heim nach dem Studieren oder bleibst du und machst den Job?“ Grundsätzlich möchte er es ähnlich weiterführen, wie er es bis jetzt handhabt. Nicht allzu weit weg leben, um immer wieder herkommen zu können. Er möchte sich die nächsten Jahre noch die Möglichkeit bewahren, Sachen auszuprobieren. Wenn dann aber Kind und Kegel sein Leben dominieren, sieht die Sache anders aus: „Irgendwann will ich hier sesshaft werden.“


»Mein Mann sagt immer: Ohne dich wäre ich nicht da, wo ich heute bin.« Text

Lisa-Maria Homagk Barbara Christler

Fotos

Babsi Christler ist Mutter, Pferdewirtin und Reitlehrerin. Sie ist eine, die anpackt und den Hof ihres Mannes im Lesachtal am Laufen hält. Genau dafür liebt sie ihr Mann. Lisa-Maria Homagk hat die Geschichte aus Babsis Sicht aufgeschrieben.


Meinen Mann Robert habe ich mit 24 Jahren über meinen Bruder kennengelernt. Er hat damals für ihn gearbeitet und mein Bruder wollte mich von Anfang an mit ihm verkuppeln. Während meiner Lehre habe ich sehr wenig verdient, aber zum Glück konnte ich bei meinem Bruder wohnen. Dafür habe ich ihn im Haushalt unterstützt und die Buchhaltung für ihn erledigt. Robert kam immer wieder zum Kaffeetrinken vorbei. Ich erinnere mich noch an sein uraltes Handy und dass ich ihm unbedingt ein neues andrehen wollte. Dabei sind wir ins Gespräch gekommen. Im Winter 2008/2009 war dann das Lesachtal zugeschneit. Ich wusste, dass er dort wohnt und habe ihn angerufen und gefragt, wie es bei ihm aussieht. Er sagte: „Hast du ein Blatt Papier? Halt dir das vor’s Gesicht, dann weißt du, wie es hier aussieht.“ Das hat mir gefallen. Unsere Beziehung hat sich ganz langsam aufgebaut. Den Hof hatte Robert bereits vor unserem Kennenlernen von seinen Eltern übernommen. Seine Geschwister waren alle schon weg. Nach einigen ersten Treffen hat mich Robert auf seinen Hof eingeladen. Gleich bei meinem ersten Besuch habe ich mit angepackt. Das hat mir nichts ausgemacht, ich war noch nie faul und habe auch zu Hause immer mitgeholfen.

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Im Sommer sind wir dann gemeinsam in den Urlaub nach Kroatien gefahren. An eine Situation erinnere ich mich ganz besonders: Wir saßen beim Essen oft mit einem älteren Ehepaar zusammen, das sich gegenseitig mit „Mama“ und „Papa“ angesprochen hat. Wir haben uns ausgemalt, dass wir später auch eine Familie haben und so miteinander reden werden. Und so ist es ja auch gekommen. Das war unsere erste und einzige gemeinsame Reise.

Heute verbringen wir unseren Urlaub und unsere freie Zeit am liebsten mit den Kindern auf dem Bauernhof. Nach dem Abschluss meiner Lehre als Pferdewirtschaftsarbeiterin bin ich zu Robert auf seinen Hof gezogen. Im Dorf haben sie schon geredet: „Der Robert findet keine Bäuerin mehr.“ Vielleicht wurde ich gerade deswegen von allen freundlich aufgenommen, besonders von meinem Schwiegervater, der inzwischen leider verstorben ist. Ich musste ihm versprechen, dass ich bleibe. Ich habe mich schnell eingelebt und die Führung von Haushalt und Hof übernommen, während Robert seiner Arbeit als Waldarbeiter nachgeht. Oft ist er von früh morgens bis abends weg. Darüber habe ich mich nie beschwert. Mir war es immer lieber, er hat Arbeit. Jeder hat seine Aufgaben. Am Sonntag verbringen wir unsere freie Zeit gemeinsam. Selbst Holzhacken ist dann keine lästige Arbeit für uns; wir genießen einfach die Zeit zu zweit, auch wenn wir arbeiten. Die Liebe war von Anfang an da, aber bis heute wächst sie und wird immer größer. Natürlich hatten wir auch Höhen und Tiefen, aber wir haben alles überwunden. Nach der Geburt unseres Sohnes Thomas haben wir im Sommer 2013 standesamtlich geheiratet. Da war ich hochschwanger mit unserer Tochter Vanessa. Es war eine schöne Feier mit unseren Familien. Mit Babybauch wollte ich nicht kirchlich heiraten. Über die Jahre haben wir den Hof immer wieder erweitert. Mein Traum war es immer, einen Pferdestall zu haben und mit Kindern als Reitlehrerin zu arbeiten. Robert hat mir das alles ermöglicht und ist stolz auf mich. Wir haben auch eine neue Werkstatt gebaut und ich habe ihn dazu ermutigt, neue Maschinen und einen


Bagger anzuschaffen. Die Investitionen waren gut für uns und für unseren Hof. Mein Mann sagt immer: „Ohne dich wäre ich nicht da, wo ich heute bin“. Er schätzt mich so, wie ich bin und ich ihn. Wir unterstützen uns immer gegenseitig.

Barbara (Babsi) Christler, 34, ist in ­A nnaberg-Lungötz im Salzburger Land ­g eboren und gemeinsam mit fünf ­G eschwistern aufgewachsen. Heute lebt sie mit ihrem Mann Robert, 38, ihren zwei Kindern, 5 und 7, Kühen, Pferden, Katzen und einem Hund etwa 200 km weiter südlich auf einem Hof in Ladstatt im Lesachtal.

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Wer glaubt denn nicht an die Zukunft? Text

Koloman Köck

1993 filmt der ORF im Lesachtal. Die Reportage trägt den Titel „Wer glaubt noch an die Zukunft?“ und deutet damit eine fehlende Perspektive für das Lesachtal an. Ich sage, 25 Jahre später gibt es weiterhin Hoffnung. „Es geht immer weiter“. Diese Aussage begleitet mich seit meinem ersten Tag im Lesachtal. Im Gespräch mit Menschen aus der Gegend ist ein vorsichtiger Optimismus spürbar. Seit der ORF-Reportage über das Lesachtal aus dem Jahr 1993 unter dem Titel „Wer glaubt noch an die Zukunft?“ sind 25 Jahre vergangen. Ein Vierteljahrhundert. Was hat sich seitdem getan? Was hat sich verändert, was ist gleichgeblieben? Es ist Zeit für eine Bestandsaufnahme und einen Vergleich mit damals.

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Die Situation im Lesachtal wirkt auf den ersten Blick gleich. Und doch ist sie anders. Die Probleme und Herausforderungen sind geblieben. Die Region ist eine Abwanderungsregion und sie ist überaltert. Die Ortschaften Pallas und Assing waren bereits 1993 charakteristische Beispiele hierfür und sind es noch heute. Sie bilden eine lose Ansammlung von Gehöften auf der Sonnenseite des Lesachtals. 18 Menschen leben hier aktuell laut Bevölkerungsstatistik. Es ist ein Leben auf über 1.200 Metern Seehöhe.

Ein Leben unter ganz besonderen und gleichzeitig selbstverständlichen Bedingungen. Mich beeindrucken vor allem das imposante Bergpanorama und die idyllische Hofarchitektur. Man könnte sich darin gedanklich verlieren, doch in Schönheit sterben kann und will hier niemand. Bei einer Fahrt bis ans obere Ende der schmalen Zufahrtsstraße hat mir die Begegnung mit Bewohner*innen einen Blick in ihr heutiges Leben und einen Vergleich mit der Vergangenheit ermöglicht. Hannes und Herta schneiden und schlichten gerade Brennholz für den Winter, als ich sie vor ihrem Hof in Assing antreffe. Die Lesachtaler*innen sind für mich ein fleißiges Völkchen. „Gehst du wandern?“, werde ich mit leicht skeptischem Unterton gefragt. Hier hinauf verirrt sich niemand einfach so zufällig. Hannes erzählt mir, dass er an diesem Ort aufgewachsen ist und den Hof seiner Familie nach der Verunglückung seines Vaters bereits in jungen Jahren übernommen hat. Das war vor gut 40 Jahren. „Unser Hof ist der höchstgelegene im Lesachtal.“


Ich befinde mich mittlerweile auf 1.400 Metern Seehöhe. Hannes und Herta wirken für mich auf den ersten Blick in sich gekehrter als so manch andere Lesachtaler*innen, die mir bisher begegnet sind. Man könnte aber auch einfach von Bodenständigkeit und Gelassenheit sprechen. Auf ihre Heimat und ihren Besitz scheinen sie stolz zu sein. „Was glaubst du, wie alt der Hof ist?“, fragt mich Hannes. Er führt mich schließlich zu einem alten Holztrambalken mit der Jahreszahl 1786. Es wird nicht das letzte Detail sein, das mich im Lesachtal fasziniert. Die beiden Ortschaften Pallas und Assing und ihre Bewohner*innen stehen sinnbildlich für die traditionelle Bedeutung des Bergbauerntums im Lesachtal. Vor 25 Jahren war das Bergbauernleben allerdings noch allgegenwärtiger als heute. Die damals 73-Jährige Josefine etwa war ob der fehlenden Nachfolge auf ihrem Hof besorgt. Zur Seite bei der täglichen Bewirtschaftung stand ihr nur mehr ihr älterer Bruder. „Sie hat dort unten gewohnt“ antwortet mir Hannes auf meine Frage nach Josefine. Ihr Hof steht heute leer, ein Gebäudeteil ist gar eingestürzt. Bei einem Außenstehenden, einem Nicht-Lesachtaler wie mir, hinterlässt dieses Schicksal einen prägenden Eindruck. Für die Bergbewohner*innen in Pallas und Assing geht der Alltag trotzdem weiter. So wie das Gelände, die Naturgewalten und die damit verbundenen Herausforderungen als selbstverständlich angesehen werden, werden Abwanderung und Tod im Tal als vermeintlicher Lauf der Dinge akzeptiert. Aber es geht immer weiter. Auch auf dem Hof von Hannes und Herta. Außer einer Handvoll Hühner gibt es dort mittlerweile kein Vieh mehr. Sie führen ein beschauliches Leben

und scheinen mit dem zufrieden, was sie haben. Warum auch nicht, schließlich wohnen sie auf der Sonnenseite. Mario ist auch jemand, der die Lebensbedingungen im Lesachtal und die Erfordernisse des Bergbauerndaseins gut kennt. Der Hof seiner Familie liegt zwar nicht so exponiert wie andere in der Umgebung, sondern unten im Ort Maria Luggau. Dennoch bewirtschaftet auch er mehrere Wiesen und Wälder in höheren Lagen. „In meiner Kindheit und Jugend haben wir das Heu noch händisch ins Tal gebracht. Heute erleichtert die Technik vieles“, erzählt mir Mario. Muli und Motorsense sind heute die besten Freunde des modernen Landwirtes im Lesachtal. Mario kann sich noch gut an die 1993 gedrehte Reportage erinnern. Er kam darin als junger 21-Jähriger Mann vor, der beim händischen Heu Einfahren am Berg gezeigt wurde. Es gehört für ihn fast schon zur Routine, interessierten Besucher*innen und Journalist*innen über seine Heimat und sein Leben zu berichten und sie herumzuführen. „Zu uns kommen pro Jahr oft zwei bis drei Kamerateams“, meint er gelassen. Seine Familie scheint aufgrund ihrer unterschiedlichen Standbeine und ihres Wissens über die Handwerke und Traditionen der Region viel für das Fernsehen herzugeben. Zum Erwerb aus der Landwirtschaft kommt die Vermietung von Ferienwohnungen hinzu – wie so oft im Lesachtal. Zudem ist Mario begeisterter Bergführer. Zu seinen jährlichen Highlights gehört die einmonatige Arbeit beim Heliskiing im russischen Kamtschatka. Beiläufig erwähnt Mario eine Ausbildung der Religionspädagogik aus früheren Jahren. Mario erfüllt gewisse Erwartungen über das ländliche Leben im Lesachtal und überrascht zugleich.

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Im Lesachtal spricht die Frage des Bleibens oder Gehens definitiv auch heute eine zentrale Rolle. Von Mario erfahre ich, dass jene junge Frau, die in der Reportage von 1993 unsicher war, ob sie nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester im Lesachtal bleiben kann, heute in Salzburg lebt. Meist sind es die Männer, die es leichter haben, im Tal zu bleiben. Viele von ihnen übernehmen die Höfe von ihren Eltern und führen damit ein bekanntes und über Generationen erprobtes Lebenskonzept weiter. Felician ist mit seinen 28 Jahren dabei, eben jenen Weg zu gehen. Ich habe ihn eines Abends bei ihm zu Hause besucht und mit ihm über sein Leben in Obergail und seine Zukunftspläne gesprochen. Im nächsten Jahr wird er den Hof der Familie übernehmen. Man kann ihn auch jetzt schon voller Tatenkraft bei der alltäglichen Arbeit beobachten. Vater Hans wurde 1993 als Regionalbetreuer in der Reportrage befragt, seit 2015 ist er Bürgermeister der Gemeinde Lesachtal. „Wir können nur überleben, wenn die Jugend im Tal bleibt“, gibt Hans zu verstehen. Er versuche deshalb einiges, um den jungen Menschen Anreize zu bieten und dadurch für eine positivere Stimmung zu sorgen. „Wenn alle jammern, dass man nicht im Tal bleiben kann und abwandern muss – weil es keine Arbeitsplätze und Möglichkeiten gibt oder weil die Politik nichts tut – dann führt das zu einer negativen Spirale.“

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Die Zukunft des Lesachtals könnte verstärkt in lokalem Engagement und individuellen Initiativen mutiger Bewohner*innen liegen. Hans‘ Tochter Helene und ihr Freund Pepi sind solche Charaktere, die dem Tal meiner Meinung nach zusätzlichen Schwung geben könnten. Sie stammt aus Obergail, er aus Oberösterreich. Beide

studierten auswärts und fanden durch ihre Beziehung schließlich bewusst den Weg zurück ins Lesachtal. Heute verfolgen sie ein ähnliches Erwerbsmodell wie viele andere vor Ort – sie vermieten Zimmer. Bei einem persönlichen Gespräch stellen sich Helene und Pepi jedoch darüber hinaus für mich als besonders aufgeschlossene und innovativ denkende Menschen dar. „Einfach mal probieren“, meint Helene am Ende zu mir. Die Lesachtaler*innen erscheinen insgesamt wie Menschen, die oftmals flexibel handeln müssen. Gerade der Umgang mit den Nachwirkungen des Unwetters im November 2018 zeigt dies bildhaft auf. Diese Tugend könnte in Zukunft noch viel stärker genutzt und neu interpretiert werden. Neue Ideen sind gefragt. Es geht dabei jedoch nicht um radikale Umbrüche oder die Frage, welches Lebensmodell „besser“ ist. Alte Traditionen können auch weiterhin ein wichtiger Anknüpfungspunkt sein. Meiner Meinung nach muss gemeinsam gedacht und gehandelt werden. Es geht immer weiter.


Über das Kulinarische Text

Isabel Stumfol

Sibylla, Gordon und Philip, erzählt doch mal was über die Kasnudel! Sibylla:

Die Kasnudel heißt hier Kasnudel und Schlipfkrapfen zugleich. Heute haben wir sie mit Roggenmehl gemacht. Mit einem ganz fluschigem Mehl, was dann eine gewisse Herausforderung bei Krendeln war; also dem kunstvollen Modellieren des Randes der Nudel. Wir haben eine ganz fordistische Nudelproduktiosnsstraße in der Küche eingerichtet: 1. Station: Knöderl für Fülle machen. 2. Station: den Teig auswalken und mit Knöderlfülle füllen 3. Station: das Krendeln*. Das ist die aufwendigste Phase, da braucht man schon zwei bis drei Leute. 4. Station: das Kochen Stammcrew in der Küche waren vier Personen und dann waren noch punktuell Praktikant*innen da. Chef war der Philip, der reichlich Erfahrung mit der Großproduktion von Kasnudeln mitgebracht hat. Seine Oma hat ihm einige Geheimnisse

verraten. Einmal hätte er fast Kasnudeln für den Dalai Lama gekocht. Das hat sich dann super zusammengefügt mit der Schlipfkrapfenkenntnis von der Helene. Die krendelt in Windeseile, ganz gleichmäßig und haltbar. Weil die große Gefahr ist ja, dass die Nudel beim Kochen aufgeht. Eine ist uns aufgegangen. Die hat einen ganz dramatischen Namen, als ob sie gestorben wär. Da müssen wir den Philip fragen, wie die heißt. Philip: Die Opfernudel.

Noch ein paar Daten: Um 18 Uhr hat der Philip zu Kochen begonnen. Um Mitternacht wurde die erste Nudel gegessen. Die letzte Nudel um 4 Uhr früh. Ab 10 Uhr hat der Philip bei den Nachbar*innen Mehl, Butter, Topfen, Erdäpfel, Minze und Eier zusammengeholt. 160 Kasnudeln und 25 vegane Ohne-Kas-Nudeln, also 185 Nudeln, wurden gekrandelt und gegessen.

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*Gordon erklärt das Krendeln in einem ­Youtube-Video.


Hannes geht nicht ins Wirtshaus Text & Foto

Tobias Reisenbichler und Luca Bierkle

Hannes, Mitte 60, ist irgendwo auf einem der Berge im Lesachtal, Kärnten aufgewachsen. Mit 14 Jahren verlässt er das Land und zieht in die Stadt. Er wohnt und arbeitet in Klagenfurt, Wien, Mailand und im Elsass. Dort will er die Welt verändern, die Welt verstehen und ­kennenlernen. 40 Jahre später kehrt er an den Ort seiner Geburt zurück. Für Hannes zählt die Eigenständigkeit, die Unabhängigkeit. Die „oberflächliche“ Gemeinschaft im Dorf lehnt er ab. Mehr als Obergail (MaO) Was hat Sie wieder da hergeführt? Hannes (H)Ich habe die Städte, also die Kultur, den Stress, den Verkehr und das Burnout hinter mir gelassen und bin wieder dahin zurück, wo ich eigentlich aufgewachsen bin.

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Wie, glauben Sie, läuft MaO der Alltag der anderen Bewohner*innen des Tals ab? Du musst innovativ sein, egal H ob im Fremdenverkehr oder auch im Handwerk, dazu ein Bauernhof als Hobby und dir wird hier wenig fehlen. Wenn du nur am Bauernhof arbeitest und keinen Nebenerwerb hast, dann wirst du so enden wie der da oben. Die machen nur Landwirtschaft. Die haben drei Kühe. Früher waren es fünf. Bald wahrscheinlich nur mehr zwei.

MaO Warum, glauben Sie, werden die da oben bald nur mehr zwei Kühe haben? H Für die, die nur wie früher ihre Kühe füttern und melken, sonst aber nichts tun, ist es schwer. Wenn du da rauf gehst, die haben eine Küche, da ist ein Herd drinnen, der mit Holz beheizt wird. Nie ausgemalt und die Wände schwarz vom Ruß. So wie damals in meiner Kindheit. Eine Frau hat er keine gekriegt, oder keine wollen, was weiß ich. Wenn der da oben stirbt, dann ist es aus, dann ist es wieder einer weniger. So verschwindet einer nach dem anderen. Dann kommt irgendein Wiener oder ein Deutscher und sagt, da oben gefällts mir, die 200.000 oder 300.000 Euro investiere ich, dann habe ich meine Ranch da oben.


MaO Das klingt ziemlich traurig bzw. einsam. Wie gestaltet sich das Sozialleben in der Gemeinde? H Zwischen 30 und 50 Prozent der Leute sind in Vereinen. Die Vereine und der Pfarrer versuchen einen möglichst großen Anteil der Bevölkerung an sich zu ziehen. Zugespitzt sind die Frauen beim Gesangsverein, die Männer bei der freiwilligen Feuerwehr oder im Wirtshaus. Sie gehen nicht ins MaO Wirtshaus? Nein, ich mach das nicht. Weil H es sind immer dieselben Typen dort. Dasselbe Gespräch. Sie brauchen irgendeinen Bösen, über den sie herziehen können und je mehr ihnen einfällt, desto lustiger wird’s. Ich bin schon ein Außenseiter hier, mir ist das aber egal. MaO Mit lustiger meinen Sie betrunkener? H Ja, die Leute gehen ins Wirtshaus, trinken vier, fünf oder zehn Bier, reden deppad und ab und zu machen sie halt Blasmusik. Das ist ihr ganzes Leben.

MaO Sind das dann nur ältere Leute oder kommt da Jung und Alt zusammen? H Jung und Alt ist eine Riege*, das Alter spielt dabei keine Rolle. Viele Junge gehen aber ins Gymnasium nach Hermagor oder Klagenfurt. Die Gescheiten bleiben dann in der Stadt, weil sie sagen, ich geh da nicht mehr zurück. Und die machen irgendwo Karriere, egal wo, ob an der Universität oder im Beruf. Die anderen, die nicht so gescheit sind, die gehen ins Gasthaus. Ganz einfach. Die Zukunft? MaO H Wer hierherziehen will, muss irgendwie Individualist** sein und wer große Karrierepläne hat, ist hier natürlich fehl am Platz. Ob jung oder alt spielt dabei keine Rolle. Es ist natürlich auch immer so, dass wenn sich einer bemüht oder clever genug ist, dass es egal ist, ob er in der Stadt oder am Land lebt. Der macht sowohl in der Stadt als auch hier sein Ding. * eine Vereinsabteilung ** jemand, der einen persönlichen Lebensstil entwickelt hat und sich dadurch von anderen abhebt.

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Vortl geleime Solder Tscherfl mutzat klipfrig


Warum im Kärntner Lesachtal Tirolerisch gesprochen wird. Text & Foto

Silva Maringele

Von den Eigenheiten der Lesachtaler Mundart und wie sie die Identität und den Zusammenhalt der Menschen beeinflusst. Eine Spurensuche. Der historische Eggelerhof von Familie Windbichler ist kaum zu übersehen. Er thront auf einer Anhöhe inmitten der kleinen Ortschaft Obergail. In der mit hellem Holz vertäfelten Küche wartet die liebevoll angerichtete Morende, die Jause, schon darauf gegessen zu werden. Die Eckbank ist gerade groß genug für die fünfköpfige Familie. Felician Windbichler, der 28-jährige Sohn, kommt zur Tür herein. Auf die Frage nach typischen Lesachtaler Wörtern reagiert er zuerst ratlos. Stattdessen erzählt Felician mir, dass sein außergewöhnlicher Name aus Nordtirol kommt. Der Heilige Felician ist Kirchenpatron in Fieberbrunn, dort kommen seine Vorfahren ursprünglich her. Sofort fällt auf, dass der geborene Lesachtaler keinen kärntnerischen Dialekt spricht. Sind die Nordtiroler Wurzeln im Stammbaum der Grund dafür? Herkunft der Lesachtaler Mundart

Heinz Dieter Pohl, ein Wiener Sprachwissenschaftler, hat sich auf Grund seines Schwerpunktes der slawischen Philologie (Wissenschaft von den slawischen Sprachen) intensiv mit der slawisch beeinflussten Kärntner Mundart beschäftigt. Ihm zufolge gehört das Lesachtal zwar

geografisch zu Oberkärnten, die Mundart sei aber kein echter Kärntner Dialekt. Sie sei eher zu Tirol gehörig. Diese Tatsache lässt sich über die Siedlungsgeschichte des Lesachtals begründen. Das Tal wurde Mitte des achten Jahrhunderts vom Südtiroler Pustertal her besiedelt. Die Pustertaler brachten nicht nur ihre Baukultur mit, sondern auch ihre Sprache. Der slawische Name Lesachtal ist trotz der vollständigen Germanisierung im 14. Jahrhundert erhalten. Er bedeutet so viel wie bei den Waldleuten. Dialekt schafft Identität

Felician und sein Vater Hans Windbichler können sich stärker mit der potschasnen Lebensweise, der gemächlichen Kärntner Mentalität, identifizieren, als mit der „zackigen Tiroler Art“. Das fremd klingende Wort ist eines der letzten Relikte, das noch von den slawischen Siedlern übriggeblieben ist. Trotz der sprachlichen Diskrepanz zu ihrem Bundesland, sehen sich viele Lesachtaler eindeutig als Kärntner „Durch die Gäste hat man sich angepasst, weil die einen nicht verstanden haben. Und in der Stadt, in München draußen

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Deutsch

Lesachtalerisch

Kärntnerisch

Nordtirolerisch

Osttirolerisch

Hügel Hang hinauf hinunter Kehrschaufel

Bichl Rane aufn oachn Bochtgrutte

Muggl Roam, Ran aufe awe x

Bichl Ruane aui, aufi achi, oi Kerhwandl

Bichl Ra(a)ne auchn acha Bochtgrutte

oder in Villach habe ich mit den Wörtern auch nichts anfangen können. Weil das verstehen sie nicht und dann verwendet man die Wörter auch nicht.“

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Auch der starke gesellschaftliche Zusammenhalt innerhalb des Lesachtals, der nach dem verheerenden Unwetter vor wenigen Wochen besonders wichtig war, lässt sich laut der Sprachwissenschaftlerin Mag. Dr. Regina M. Unterguggenberger, die selbst in der Gemeinde Lesachtal aufgewachsen ist, zum Teil auf die gemeinsame Sprache zurückführen. Im Dialekt lassen sich feine Nuancen leichter ausdrücken, als in der deutschen Hochsprache. Das stärkt das gemeinsame Verständnis und somit auch die Identität. Die sprachliche Gemeinsamkeit verbindet mit dem angrenzenden Tirol. Sebastian Lanner, ein Mitbegründer der traditionsbewussten Lesachtaler Musikgruppe Olmfätt, meint, dass sie in den letzten Jahren sogar gewachsen sei. Immer mehr Lesachtaler*innen pendeln zum Arbeiten ins wirtschaftlich stärkere Osttirol oder gehen in Lienz zur Schule, seit der letzte große Arbeitgeber in Kötschach-Mauthen vor zwei Jahren seine Tore geschlossen hat. Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Dort, in der Gemeinde am Rande des Lesachtals, hat die geografische Nähe zu Osttirol fast keine Spuren hinterlassen – es

wird Kärntnerisch gesprochen. Unterguggenberger erklärt, dass die Sprachgrenze in Mattling liegt. Westlich davon, in Richtung Maria Luggau, wird ein Tiroler Akzent gesprochen. Östlich von Mattling werden die Vokale länger gezogen, was typisch für das Kärntnerische ist. Die einzige Gemeinsamkeit, die die Lesachtaler mit der Kärntner Mundart hat, ist die Aussprache des mittelhochdeutschen ei. Dort wird dieser Doppellaut wie ein langgezogenes a ausgesprochen. In Tirol hingegen spricht man ei wie oa aus. Als Beispiel dafür nennt Unterguggenberger das Wort heim: in Tirol geht man hoam, in Kärnten (und im Lesachtal) haam. Bedrohte Mundart

Auch die Sprachforscherin kennt Felician Windbichler, der inmitten der Lesachtaler-Sprachinsel aufgewachsen ist. „Viele junge Leute wollen durch das Verwenden von Anglizismen hip sein.“, meint sie. Die Familie Windbichler sei eine der „vielen Familien, in denen bewusst mit Dialekt und Bodenständigkeit umgegangen wird.“ Das hat Felician offensichtlich geprägt. Er hat sichtlich Freude daran die ursprüngliche Mundart zu pflegen. Jung-Sein und Mundart reden ist also kein Widerspruch. Auch sein Vater Hans bestätigt, dass Felician der Dialekt-Spezialist des Hauses sei. Während seiner vielen Behördengänge als Bürgermeister, sei seine Mundart schon ein wenig mit dem


Kärntnerischen und der deutschen Hochsprache verschwommen. Diese Erfahrung teilen auch andere Obergailer, die längere Zeit außerhalb ihrer Heimat verbracht haben. „Durch die Gäste hat man sich angepasst, weil die einen nicht verstanden haben. Und in der Stadt, in München draußen oder in Villach habe ich mit den Wörtern auch nichts anfangen können. Weil das verstehen sie nicht und dann verwendet man die Wörter auch nicht.“, meint Herr Unterluggauer vom Rohrer Hof. Ist der Tourismus das der Anfang vom Ende für die einzigartige Lesachtaler Mundart? Die Hüterin eines Wortschatzes Regina Unterguggenberger sieht die Lesachtaler Mundart nicht als vom Aussterben bedroht an. Sprachen sind einem ständigen Wandel unterzogen. Die Digitalisierung und die Globalisierung haben zwar einen beschleunigenden Effekt auf die Entwicklung, vor 200 Jahren haben sich Sprachen aber genauso verändert. „Natürlich geht ein Teil des Dialektes verloren, aber auch nicht schneller als woanders“, meint sie in einem Telefongespräch.

Zurück zum Eggelerhof, dem Ursprung der Spurensuche. Nach ein wenig Bedenkzeit sprudeln die einzigartigen Lesachtaler Dialektwörter nahezu aus den Windbichlern – Vortl, geleime, Solder, Tscherfl, mutzat, klipfrig. Es scheint, als wäre der ursprüngliche Wortschatz noch sehr reichhaltig vorhanden und das sogar generationenübergreifend. Dialekte sind nicht zwingend an administrative Grenzen gebunden. Sie entstehen über Jahrhunderte hinweg und werden von denjenigen weitergetragen und -entwickelt, die sich mit ihnen identifizieren und im alltäglichen Leben verwenden. Dialekt schafft Zusammenhalt. Die Lesachtaler Mundart zählt sprachwissenschaftlich zum Tiroler Dialekt, obwohl das Lesachtal geografisch in Kärnten liegt. Auch die Slawischen Siedler hinterließen dort sprachliche Spuren, die noch immer in manchen Wörtern zu finden sind. Kennen Sie Lesachtaler Wörter? Fällt Ihnen ein Lesachtaler Wort mit slawischem Ursprung ein? Testen Sie ihr Wissen im Online-Quiz.

Online-Quiz

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Was steckt hinter dem Label Slow Food-Region Gailtal/­Lesachtal? Text & Foto

Andreas Höbausz

Schafft die Slow Food-Marke nachhaltigen Tourismus in der Region, oder handelt es sich nur um ein Marketing Label? Ich habe mich vor Ort umgehört. Jede Region ist eine Marke

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Es ist heutzutage wohl kaum möglich, Urlaub in einer Region zu machen, die nicht von den Verantwortlichen vor Ort vermarktet wird. Egal, ob in der Radreiseregion, Nationalparkregion, Weinbauregion Neusiedlersee, der Via Culinaria, Sportwelt, Skiregion Salzburgerland oder einer der 113 Genussregionen in Österreich. Das Lesachtal wird auf unterschiedlichste Weise vermarktet: Mit dem „naturbelassensten Tal Europas“, „Landschaft des Jahres“ oder „schönstes Hochtal der Alpen“ steht dabei die Landschaft im Vordergrund. Vor drei Jahren wurde das Lesachtal in die Gemeinschaft der Slow Food-Regionen aufgenommen. Der Obmann des Tourismusverbands Nikolaus Lanner (Wander-Niki) erzählt mir, dass die die Slow Food-Idee vor allem bei den klein strukturierten Bauernhöfen auf fruchtbaren Boden stieß. Traditionelle Handarbeit, regionale Lebensmittelproduktion

sowie das Kochen und Backen nach alten Rezepten hätten schon länger einen hohen Stellenwert in der Region, erklärt er. Und viele dieser Strukturen konnten problemlos in das Slow Food-Travel-Konzept übernommen werden. Die Region hat die Philosophie schon gelebt, da habe es noch gar kein Label dafür gegeben. Was bei der Tourismussitzung passiert ist

Um das Konzept näher kennenzulernen, besuche ich mit meiner Kollegin Antonia die Sitzung des Tourismusverbands Lesachtal. Gleich zu Beginn werden wir allen Teilnehmenden vorgestellt. Und ich komme ins Gespräch mit Leo Salcher, der das „Gasthof zur Post“ und eine Fleischerei betreibt (und früher die Bar „Tresor“ schupfte). Er erzählt, dass er „Slow Food“ nicht wirklich traut. Angeblich, sagt er, wollten die Slow-Food-Restaurants sein Fleisch nicht; es sei zu teuer.


An dieser Stelle schaltet sich eine Frau, Andrea Unterguggenberger, in das Gespräch ein. Die Philosophie hinter „Slow Food“ sei gut, nur die Marke schrecke viele ab, meint sie. Ein englischer Titel passe nicht, um die Regionalität von Produkten zu unterstreichen. Viele störe auch, dass die Anforderungen, um als „Slow Food“ bezeichnet zu werden, sehr hoch seien und deshalb ein sehr exklusiver Club von teilnehmenden Betrieben entstehe (was man meiner Meinung nach auch als Qualitätsiegel auslegen könnte). Bevor wir drei uns einig werden können, klopft jemand mit der Faust auf den Tisch. Die Sitzung beginnt. Mein Resümee

Nach allem, was ich über „Slow Food“ gelesen und gehört habe, muss ich sagen: Das Konzept hinter dem Label scheint ein gutes zu sein, um die Region nachhaltig in die Zukunft zu führen. Aber: Nur „Slow Food“ oder eine anderes Label wird die Region nicht voran­t reiben. Es bedarf

vor allem des Willens der Leute vor Ort, die Region zum Erfolg zu führen. Ich glaube, dass die Lesachtaler Verantwortlichen fähig und willig sind, das Thema voranzutreiben. „Slow Food“ ist auch deshalb ein gutes Vorbild, weil es die regionalen Betriebe miteinander vernetzt. Wenn sie dann auch noch – wie im Lesachtal – die Philosophie leben, können sie Gästen einen authentischen Urlaub bieten.

Bei dem Begriff „Slow Food“ ist einmal zwischen der Slow Food-Philosophie und der gleichnamigen Non-Profit-Organisation zu unterscheiden. Die Organisation konzentriert sich auf die Vermarktung der teilnehmenden Regionen, die Philosophie beschäftigt sich mit der traditionellen und nicht industrialisierten Produktion von Lebensmitteln. Einzigartige und besonders gute Lebensmittel werden in die Arche des Geschmacks, eine Liste mit besonders schützenswerten Schmankerln, eingetragen und zertifiziert. Slow Food wurde in Italien als Gegenbewegung zur Globalisierung der Nahrungsmittelproduktion und einem aufkommenden Fastfood-Trend gegründet. Die Vermarktung und Organisation übernehmen lokale Akteur*innen, sogenannte Convinien.

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Aufg‘spielt wird! Text & Video und

Claudia Schaefers Fabian Unterkofler

Das Lesachtal im äußersten Süden Kärntens ist nicht nur geographisch nahe an Slowenien, sondern zum Teil auch kulturell. Der weitum bekannte Oberkrainerstil, welche vom legendären Komponisten Slavko Avsenik und seine Original Oberkrainer geprägt wurden, hat auch die Musik im Lesachtal bereits seit einigen Jahrzehnten maßgeblich beeinflusst. Der Stil zeichnet sich aus durch meist schwungvolle Stücke und der typischen Instrumentenbesetzung (Trompete, Klarinette, Bariton, Akkordeon, Gitarre), in der die Trompete und die Klarinette (meist in der Terz dazu) die Stimmführung übernehmen. Die Volksmusikakademie als Institution des Kärntner Bildungswerks hat sich der Sicherung des kulturellen Austauschs verschrieben. Der Standort der Akademie ist nicht etwa zufällig gewählt. Sie befindet sich am Schnittpunkt

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dreier Kulturen, der kärntnerischen, tirolerischen und eben der slowenischen, sowie ihren jeweiligen musikalischen Einflüssen. Jede*r aus Obergail spielt ein Musikinstrument, wird uns oft erzählt. Dass auch viele Leute aus dem gesamten Lesachtal und den angrenzenden Gebieten überdurchschnittlich musikalisch sind, können wir spätestens nach unserem Besuch in der Volksmusikakademie in Liesing bestätigen. Das gemeinsame Musizieren bringt Jung und Alt über die Landesgrenzen hinweg zusammen. Bei unserem Besuch fand gerade die Veranstaltung Auf den Spuren der Oberkrainermusik statt. Wir haben bei den Proben zugehört, Fragen gestellt und selbst ausprobiert.

Claudia und Fabian haben die Volksmusikakademie in Liesing besucht, Fragen gestellt und durften einige Musikinstrumente ausprobieren. QR zum Video.


Eine Tour durch Obergail Text & Fotos

Christoph Leiner

Ich habe eine Wandertour durch das überschaubare Örtchen Obergail unternommen und dabei meine persönlichen Eindrücke dokumentiert. Es ist erstaunlich, was ich im Rahmen meiner kurzen Dorfbegehung alles gesehen und erlebt habe. Begleitet mich auf meinem Fußmarsch durch Obergail! Ich starte beim alten Bauernhaus „Hepi Lodge“. Nach nur wenigen Schritten wandert mein Blick instinktiv Richtung Tal. Der Ausblick von hier ist atemberaubend schön. Zurzeit sind Teile der Landschaft noch mit Schnee bedeckt, dieser gibt der Szenerie ein ganz individuelles Muster. Einige landwirtschaftliche Flächen ziehen sich zwischen den großflächigen Wäldern auf. Das Tal sieht wie ein großer Fleckenteppich aus, der zwischen den Bergen verläuft und nur durch wenige Gebäude und Straßen unterbrochen wird. Natur pur.

Ausblick Richtung Tal von der „Hepi Lodge“ aus

Typische Siedlungsstruktur in Obergail

Ich gehe weiter die schmale Straße entlang in Richtung des nahegelegenen Wanderhofs „Eggeler“. Man erkennt sofort, dass Obergail wie eine typische Streusiedlung strukturiert ist. Die meisten Höfe stehen einige Gehminuten voneinander entfernt. Dazwischen erstrecken sich nur Wiesen, Hügel und Wälder. Kein Vergleich zur baulichen Dichte der Großstädte. Das macht aber nichts, denn während meines Fußmarschs von Hof zu Hof kann ich das mich umgebende Gelände noch viel besser wahrnehmen. Es

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herrscht eine sehr ruhige, romantische Atmosphäre in dem kleinen Örtchen. Am „Eggeler-Hof“ angekommen, fällt mir der bauernhoftypische Geruch auf. Hier werden bestimmt Tiere gehalten. Meine Vermutung wird auch prompt bestätigt, als mir Felician Windbichler, der hiesige Bürgermeistersohn, stolz seinen Stall zeigt. Links von mir sind neun stattliche Kühe aufgereiht, rechts sehen mich zwei kleine Kälber mit großen Augen an. Das kleinere Kalb ist noch sehr verspielt. Als ich es streicheln will, versucht es sofort, meine Hand abzulecken. Dann springt es aufgeregt im Kreis und trifft das andere Kalb fast mit den Hufen. Daneben liegt völlig teilnahmslos eine scheinbar ältere Ziege, die mich nur eines kurzen Blickes würdigt.

durch Obergail fort. Sogleich springt mir eine große Tafel ins Blickfeld, auf der die freundliche Nachricht „Grüß Gott in Obergail“ steht. Ich fühle mich in dem Ort einfach willkommen, was vor allem auch der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Obergailer*innen geschuldet ist. Alle grüßen mich und wenn ich auf eine/n Obergailer*in zugehe, werde ich gleich gefragt, wie man mir denn weiterhelfen könne.

Tafel am Ortseingang von Obergail

Eine Rechtskurve weiter erwartet mich ein kleines „Bildstöckl“.

Die Kühe am „Eggeler-Hof“

Das Obergailer „Bildstöckl“

84 Ein Kalb schleckt meinen Rucksack ab

Ich gehe den Weg, den ich zum „Eggeler-Hof“ hochgegangen bin, wieder zurück und setze meine Erkundungstour

Wenig später sehe ich dann auch einige Schäden, die der Sturm in den letzten Wochen angerichtet hat. Ein Teil der oberen Straße ist regelrecht abgebrochen und den Hang hinuntergerutscht. Durch die Abtragung des Erdreiches wurden bei ein paar Bäumen die Wurzeln freigelegt. Trotz der Sturmschäden lässt man sich in Obergail aber nicht unterkriegen.


„Das Leben geht immer weiter. Jammern bringt einen auch keinen Schritt nach vorn“, so ein gebürtiger Obergailer.

Ein „moderner“ Hof in Obergail

Sturmschäden in Obergail

Das Alpenhotel „Wanderniki“ habe ich gerade hinter mir gelassen. Hangabwärts, hinter einem hohen Zaun, steht eine Gruppe Rotwild. Aufmerksam schauen mich die Tiere aus der Entfernung an, während ich vorbeigehe. Sie lassen mich nicht aus den Augen. Mein Blick hingegen schweift über zugeschneite Wiesen, hohe Bäume, einen kleinen Bach, der leise vor sich hin plätschert, bis zu einem Haus, das sich architektonisch doch etwas von den übrigen Gehöften unterscheidet, die ich bisher in der Ortschaft gesehen habe. Es wirkt moderner. Ich sehe, wie eine junge Mutter mit ihrem kleinen Kind und dem Hund vom Haus weg auf einen Spaziergang geht.

Mein Spaziergang endet schließlich beim „Mühlenstüberl“. Das ist eine Hofschenke, die sich am Dorfrand befindet. Hier werde ich erstmal eine kurze Pause einlegen, bevor es wieder zurück zur „Hepi Lodge“ geht. Meine ersten Eindrücke, die ich von Obergail gewinnen konnte, stimmen mich sehr positiv. Der Ort liegt zwar recht abgelegen, aber dafür finde ich hier eine unvergleichbar schöne Landschaft, eine ruhige und entspannte Dorfatmosphäre, und auch das Gemeinschaftsbewusstsein scheint hier sehr stark ausgeprägt zu sein. Obergail ist einen Besuch wert. Auf jeden Fall.

Das „Mühlenstüberl“

85 Eine Gruppe Rotwild


Springen wollen – Ein kurzer Gedanke übers Geschichtenerzählen Text

Gordon Kriwanek

Wer auf der Bundesstraße 111 aus westlicher Richtung nach Obergail will, überquert kurz vor Sankt Lorenzen die Radegundbrücke, die sich hoch und weit über das tiefste Seitental des Lesachtals, den Radegundgraben, spannt.


Zwei Fahrspuren und ein Fußweg führen von der einen Seite zur anderen. Im November 2018 ging ich den Fußweg ab, was mich zum Thema dieses Textes bringt. Vielleicht geht es Ihnen wie mir: Fast jedes Mal, wenn ich mich auf einer Brücke (oder auf einem Balkon) befinde, überfällt mich der Gedanke, in die Tiefe springen zu wollen, ganz gleich, wie ich mich eigentlich fühle. Ich hasse diesen Gedanken. Und ich fürchte mich in diesen Momenten vor mir selbst. Ich habe Angst davor, meine Hände auf Geländer zu legen und hinunterzuschauen. Was, wenn ein Ruck durch meinen Körper geht, der allem ein Ende setzt? Ich möchte nicht sterben, erst recht nicht auf eine Weise, die durch die Zerschmetterung meines Körpers herbeigeführt wird – und doch ist da dieser Drang, für den es auch Namen gibt, Ruf der Leere im Deutschen, Call of the Void im Englischen und L‘ appel du vide im Französischen. Wie erklärt sich also dieser Gedanke? Eine US-amerikanische Studie aus dem Jahr 2012 legt nahe, dass mein Gehirn mir einen Streich spielt. Kurz gesagt, erfindet es eine mehr oder weniger reelle Gefahr, nämlich die Absicht sich über ein Geländer zu stürzen, um zwei widersprüchliche Wahrnehmungen – die Angst vor dem Abgrund bei gleichzeitigem sicheren Stand – zu einer konsistenten Geschichte zu verdichten. Tatsächlich funktioniert unser Gehirn genauso. Es bastelt sich aus unseren Empfindungen, Absichten, Wünschen, Gedanken, und so weiter und so fort, passende Geschichten.

Wenn es dir nicht gut geht, nimm Hilfe in Anspruch. Schicke diese Links einem Freund oder einer Freundin, wenn du glaubst, ihm oder ihr könnte das in der Situation als Betroffener oder Angehöriger helfen. Kriseninterventionszentrum, finanziert durch öffentliche Stellen und Spenden: Montag bis Freitag, 10 bis 17 Uhr unter 01/406 95 95, sowie Beratung – persönlich oder via Mail – und psychotherapeutische Intervention unter www.kriseninterventionszentrum.at. Telefonseelsorge der katholischen und evangelischen Kirchen in Österreich: Rund um die Uhr, gebührenfrei und vertraulich unter der Nummer 142 sowie www.telefonseelsorge.at. Suizid-Prävention des österreichischen Gesundheits ministeriums: Erste-Hilfe-Tipps, Notfallkontakte und Hilfsangebote in den Bundesländern unter www.suizid-praevention.gv.at.

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Storytelling fĂźr die Raumplanung


Mehr als Lehre Text

Isabel Stumfol

Eine Universität geht nach Obergail und dann passiert etwas, das ich als gute Lehre bezeichne. Ein Erklärungsversuch aus meiner Perspektive. Mein Lieblingsplatz in Obergail ist weder drinnen noch draußen. Er ist einer jener Zwischenräume, die so schwer zu fassen sind. Vorne sehe ich die Straße raus aus dem Tal, sehe das Haus vom Bürgermeister, rieche den Stall, höre den Wind. Hinten wärmt mich das Haus. Ich spüre im Rücken das Gewusel, den Arbeitseifer, die Neugierde, höre den Geschirrspüler rauschen, rieche das Abendessen. Ähnlich geht es meinen Gedanken. Sie rasen von drinnen nach draußen, von draußen nach Wien und dann wieder zurück nach Obergail, wo sie vom Großen wieder ins Detail gehen. Die schwarze Druckerpatrone ist leer. Vor 5 Tagen kamen wir in Obergail an. Vor 7 Wochen habe ich die Studierenden das erste Mal gesehen. Vor 14 Wochen fand sich das Lehrendenteam zusammen. Vor 20 Wochen kritzelte ich die ersten Ideen dazu in mein Notizbuch. Und heute stehe ich vor Hepi’s Haustür, lehne an den geschlichteten Holzscheiten, die bunten Einladungen flattern im Wind und kann es kaum fassen: Etwas ist passiert. Aber was ist passiert? Eine Idee verwandelt sich in eine Lehrveranstaltung. Eine Lehrveranstaltung in ein Projekt. „Mehr als Obergail“ ist geboren. Und die Studierenden werden gepackt von einer

Motivation, die sie Nächte durchmachen lässt. Sie sprechen von erweiterten Horizonten, neuen Sichtweisen und geänderten persönlichen Zukunftsperspektiven. Sie hätten so viel gelernt und ich kaufe ihnen das ab. Wie kann Lehre auf einer Universität gestaltet werden, dass so etwas passiert? Über das und noch viel mehr mache ich mir Gedanken, als eine der Lehrenden im Team. Ein Erklärungsversuch aus meiner Perspektive. Über Lehre am Land

Die schwarze Druckerpatrone ist wichtig. Sie passt genau in den Drucker, den ich von zuhause zur Uni getragen habe und den der Tobias und die Claudia im Auto nach Obergail mittransportiert haben. In Spittal an der Drau wurde er in der Nacht extra aus dem Auto geholt, weil die Temperaturen unter Null gefallen sind. Zu groß war die Angst vor einer gefrorenen Druckerelektronik. Die schwarze Druckerpatrone ist wichtig, denn damit drucken wir auf buntem Papier die Einladungen für unseren „Leseabend voller Lesachtaler Geschichten“. Dieser ist der Abschluss unserer Exkursion und gleichzeitig Auftakt vieler Zukunftsgeschichten. Zukunftsgeschichten, die bei den Lesachtaler*innen entstehen, bei den Studierenden und bei allen, die inspiriert wurden durch unsere gesammelten Geschichten.

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Die schwarze Druckerpatrone ist wichtig, weil es wichtig ist, dass die Studierenden bei ihren Außeneinsätzen, Interviews, Begehungen, Fahrten, dem Gegenüber etwas in die Hand drücken können mit einer gleichzeitig ausgesprochenen Einladung. Etwas Gedrucktes erzeugt Verbindlichkeit, Ernsthaftigkeit und unterstreicht unsere Absicht: Die schwarze Druckerpatrone ist so wichtig, weil wir damit die Texte drucken, die die Studierenden geschrieben haben. Nacheinander setzen sie sich in den großblumig gemusterten Sessel, daneben steht eine Leselampe mit gehäkeltem Lampenschirm. Sie lesen. Die Gäste bekommen die Geschichten vorgelesen, die sie betreffen, geschrieben aus anderen Perspektiven. Und da passiert etwas: Zusammen wird gelacht, gespannt gelauscht, heimlich gegrinst, der Kopf geschüttelt oder es wird gleich protestiert. Die Geschichten bieten den Stoff dazu. Sie erzeugen Emotionen. Sie erzeugen Betroffenheit. Sie machen Informationen verständlich. Sie behandeln die großen Probleme der Welt im Kleinen. An Beispielen. An Persönlichem.

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Geschichten haben eine unglaubliche Macht. Storytelling nennen wir es in der Lehrveranstaltung und beschäftigen uns auch theoretisch damit. Mit Storytelling meinen wir, Geschichten zu finden und zu schreiben, die gleichzeitig Hirn und Herz ansprechen. Damit eine Geschichte funktioniert, braucht es eine Sprache und einen Schreibstil, die verständlich sind. Raumplaner*innen können das nicht immer. In dieser Lehrveranstaltung nehmen wir uns journalistisches Schreiben, Recherchieren, Bauen von Spannungsbögen und viel mehr als Vorbilder. Dieses Wissen um die Macht von Geschichten verknüpfen wir mit Raumplanung.

Wir lernen durchs Tun, durchs Reden und durchs Miteinander.

Bei einer internen Weiterbildung, welche die Konzeption von Lehrveranstaltungen zum Thema hatte, habe ich gelernt, dass es sehr wichtig ist, dass die Studierenden zu Beginn des Semesters von den Lehrenden erfahren, wie sie zu ihrer gewünschten Note kommen. Die Kriterien zur Leistungsbeurteilung müssen stehen. Und die können nur stehen, wenn das Endprodukt klar ist. Das kann beispielsweise eine Prüfung sein, eine Seminararbeit, ein Entwurf, die ausreichende Anwesenheit oder Mitarbeit. „Freut mich, dass ihr euch für diese Lehrveranstaltung interessiert. Ein aufregendes Semester steht vor uns. Was zum Schluss rauskommt, kann ich euch heute nicht sagen“, das waren vielleicht meine ersten Worte an die Studierenden. Mir ist klar, dass das Unsicherheit erzeugen kann. Nicht jede*r kann damit umgehen. Ich versuche anders Sicherheiten zu schaffen. Meine Prinzipien in der Lehre sind: »»Transparenz »»Selbstorganisation / Teamgeist »»Freude am Tun / Experimentierwille / ­Flexibilität »»Lernen / Wissenszuwachs durch Aktionsforschung und durch das Zusammenkommen mit Menschen Eine Exkursion aufs Land erzeugt Aufmerksamkeit. Eine Exkursion in die Stadt nur manchmal. Ob wir „Ortsgespräch“ waren, traue ich mich nicht zu beurteilen, aber wir sind aufgefallen. 19 Personen ziehen nach Obergail, spazieren die Wege entlang, klopfen an Haustüren, grüßen freudig jede*n, die/der vorbeikommt, stellen Fragen, sind kritisch, geben Konter, telefonieren herum und fotografieren spät Nachts den Sternenhimmel mit Berg.


Die Studierenden sind also „im Feld“ und mittendrin. Sie forschen nicht im stillen Kämmerchen, nein, sie sind draußen und haben eine Wirkung. Dieses Wissen darum verstärkt sich auf der Exkursion. Sie lernen durch das Reden mit den Menschen vor Ort. Sie lernen, wie wichtig gute Fragen sind, Authentizität, selbstbewusstes Auftreten und dass es manchmal hilft, wenn man etwas Persönliches von sich preisgibt, da man auch Persönliches von anderen erfahren will. Abends diskutieren wir dann über Objektivität in der Raumplanung, im Journalismus und in der Forschung.

Organisationsstruktur der Universität Bescheid wissen. Ich erzähle über meine Anstellung, über meine Projekte, über meine Kolleg*innen. Jeder*m ist klar, wie viel Geld wir von der Uni zugeschossen bekommen und wie viel wir für was ausgeben. “Ich hab den geilsten Job der Welt”, geht mir durch den Kopf, während ich über das Tal blicke. Jeden Tag lerne ich was dazu, als Raumplanerin, als Lehrende, als Mensch. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich auf der Universität den Raum dazu habe und coole, fitte Leute um mich rum.

Die Studierenden verarbeiten das Gesehene, Gehörte und Erlebte zeitnah in Texte und sind dabei nicht allein. Die räumliche Nähe und die Redaktionsrollen füttern den Teamgeist. Es herrscht eine inspirierende, kreative Stimmung – und Chaos. Aber jenes Chaos, das durch Arbeiten entsteht. Aufräumen würde die Stimmung zerstören. Die Studierenden haben sich eingerichtet und den Raum angeeignet. Sie wohnen und arbeiten dort. Luca sagt: Die Freude am Tun, die Motivation, das Lachen, das Beisammensein, das Erleben von Abenteuern, Erfolgserlebnisse, direktes Feedback und Raum zur Gestaltung sind meiner Meinung nach jene “soften” Faktoren, die so wichtig sind in der universitären Lehre. Damit das entsteht, müssen Studierende die Möglichkeit haben, die Lehrveranstaltung mitzugestalten – auch auf organisatorischer Ebene. Die Lehrenden müssen offen, mutig und flexibel sein, darauf zu reagieren und diesen Willen zur Selbstorganisation der Studierenden zuzulassen. In der Lehre geht es auch um Vertrauen.

Zum Formalen der Lehrveranstaltung: Die Exkursion, die uns nach Obergail geführt hat, ist Teil eines Konzeptmoduls. Dafür bekommen die Studierenden 6 Ects. 3 davon für die Exkursion und die anderen 3 für die dazu passende Vorlesungsübung. 1 Ects entspricht laut Definition 25 Echtstunden im Semester. Das Modul trägt den Titel „Geschichten vom Land – Storytelling für die Raumplanung“.

Vertrauen kann durch Ehrlichkeit und Transparenz entstehen. Mir ist es wichtig, dass die Studierenden um die

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Das Team Christoph Leiner Luca Bierkle

Gordon Kriwanek Tobias Reisenbichler

Philippe Kayser

Claudia Schaefers Katja Kreitner

Sibylla Zech Antonia Schneider


in Obergail Christoph Schattleitner Koloman Kรถck

Philip Krassnitzer

Max Mutz Valentina Kofler Isabel Stumfol

Fabian Unterkofler

Silva Maringele Lisa-Maria Homagk

Andreas Hรถbauz Pepi Klingesberger


Foto: Antonia Schneider

Und die Geschichten gehen weiter …

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Wir haben eingeladen. Eingeladen zu einem Abend voller Lesachtaler Geschichten. Stattgefunden hat dieser bunte Abend am 24. November 2018 in Obergail in der Hepi Lodge. Die bunten Einladungen haben sich schnell verbreitet und so waren die zwei Lesesäle voll mit interessiertem Publikum. Bekannte und neue Gesichter, Weitangereiste und Nachbar*innen lauschten den Geschichten. Manchmal war es ganz leise im Raum, man traute sich kaum zu atmen, so konzentriert war die Stimmung. Manchmal wurde laut gelacht oder Köpfe geschüttelt. Und manchmal zog es uns eine Gänsehaut auf. Eine Gänsehaut und feuchte Augen, denn wir haben so viel erlebt hier, so tolle Menschen kennengelernt. Die Gespräche, Diskussionen und das Malen von Zukunftsbildern für die Region dauerte noch tief in die Nacht hinein. Ein Abend, der uns für immer in Erinnerung bleiben wird.

Foto: Antonia Schneider

Der Leseabend in Obergail

Der Leseabend in Wien

Wir haben nochmal eingeladen. Diesmal in Wien. Und diesmal trug die Veranstaltung den Titel: „Mehr als Obergail! Ein Lese-, Diskussions- und Musikabend“. Am 21. Jänner 2019 hat das stattgefunden im Gürtellokal „Kramladen“. Begonnen haben wir mit dem Vorlesen unserer Geschichten. Dazwischen gab es jazzige Live-Musik. Dann haben wir eine unserer


Obergailer Zukunftsgeschichte vorgetragen. Und dann gab es eine Diskussion zum Thema „Was kann Storytelling?“ Diskutiert haben Christina Pausackl (Journalistin bei Profil), Gaby Berauschek (vom Wiener Magistrat 18: Stadtentwicklung und Stadtplanung), Ian Banerjee (Stadtforscher und Storyteller an der TU Wien) und Lisa-Maria, Gordon, Isabel (vom Obergail-Team). Das Lokal war gesteckt voll. Es war warm und kuschelig, während draußen eine kalte Jännernacht tobte. Wir haben extra den Raum dekoriert, so wie wir es in der Hepi-Lodge und in Obergail gelernt haben: mit Liebe zum Detail.

Der Staatspreis für exzellente Lehre

Und dann ist noch der „Ars Docendi“ passiert. Das Lehrenden-Team, also Isabel, Sibylla, Christoph und Philip, wurde von einer internationalen Jury als eine der besten Einreichungen auf die Shortlist für den „Ars Docendi 2019“, den Staatspreis für exzellente Lehre, gesetzt. Die Kategorie nennt sich: „Lernergebnisorientierte Prüfungskultur und deren Verankerung in der Lehrveranstaltung“. Damit gehört die Lehrveranstaltung „Geschichten vom Land – Storytelling für die Raumplanung“, also die Lehrveranstaltung, in der diese Geschichten und dieses Magazin entstanden sind, zu den besten 15 Lehrveranstaltungen aus allen österreichischen Universitäten, Fachhochschulen und pädagogischen Hochschulen. Die Preisverleihung fand am 24. Juni 2019 statt. Prunkvoll war es und viele Hände wurden geschüttelt. Sibylla, Christoph und Isabel, herausgeputzt und mit Lachgesichtern, bevorzugen es dann doch legerer und haben sich draußen auf den Stiegen der Akademie der Wissenschaften noch lange Geschichten erzählt.

Foto: Isabel Stumfol

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Foto: Antonia Schneider

Antonia, Silva, Katja und Philippe vom Obergail-Team haben gemeinsam mit dem Bildungszentrum Lesachtal bei einer Projektausschreibung der Architekturstiftung Österreich eingereicht und gewonnen. Dadurch wurde ihnen ein Projekt im Sommersemester 2019 finanziert, das den Titel „Mehr als ein Hof – Gemeinsam Lesachtaler Baukultur entdecken“ trägt. Gemeinsam mit Schüler*innen besichtigten sie Häuser und Höfe im Lesachtal, sprachen über die Architektur und Baukultur, dokumentierten mit Fotos, veranstalteten eine Fotoausstellung und produzierten daraus Postkarten. Es gibt auch eine tolle Publikation dazu: www.architekturstiftung.at.

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Grafik: Laura Heym

Das Schulprojekt „Mehr als ein Hof“

Wir kommen wieder!

Und es geht weiter. Es geht bis in die Zukunft weiter. Von 8. bis 17. November 2019 werden wir wieder mit einem Team in Obergail sein. Wieder im Rahmen einer Lehrveranstaltung des Instituts für Raumplanung an der Technischen Uni Wien. Diesmal kommen 17 Raumplaner*innen und eine Zukunfts-Designerin nach Obergail, wieder in die Hepi-Lodge. Und diesmal beschäftigen wir uns mit der Zukunft des ländlichen Raumes und produzieren Lesachtaler Zukunftsgeschichten. Wir können es kaum erwarten, bald wieder in Obergail zu sein! Ihr hört von uns!



Impressum Team Luca Bierkle – CTO Lisa-Maria Homagk – Chefredakteurin Andreas Höbauz – CTO Philippe Kayser – Art Director Philip Krassnitzer – Lehrender Valentina Kofler – Textchefin Koloman Köck – Grafiker Katja Kreitner – Chefin vom Dienst Gordon Kriwanek – Lektor Christoph Leiner – Lektor Silva Maringele – Schriftführerin Max Mutz – Chefredakteur Tobias Reisenbichler – Map Manager Claudia Schaefers – Wohlfühlmanagerin Christoph Schattleitner – Lehrender & Journalist Antonia Schneider – Fotografin Isabel Stumfol – Lehrende & Projekt-Koordination Fabian Unterkofler – Lektor Sibylla Zech – Lehrende

Internet www.mehralsobergail.at Magazinlayout Arnold Oskars Coverfotos Antonia Schneider Herausgeber Institut für Raumplanung Fakultät für Architektur und Raumplanung TU Wien Wien + Obergail, November 2019

Die Texte sind im Rahmen einer Lehrveranstaltung des Instituts für Raumplanung an der Technischen Universität Wien von Studierenden und Lehrenden auf einer Exkursion ins Lesachtal vom 20. bis 25. November 2018 entstanden.


Finanziert durch das Institut für Raumplanung, Fakultät für Architektur und Raumplanung an der TU Wien und Crowdfunding (raumpioniere.at): Christoph Oberluggauer Martin Windbichler Anonym Helene Windbichler Katja Kreitner Renate Pliem Anonym Anonym Hildegard Pölzgutter Karl Reiner Anonym Anonym Veronika Schaefers Raimund Fleischmann Peter Bleier Thomas Roeser Sibylla Zech Andreas Mader Andreas Recht Renate Maringele Anonym Ülkü Selamcı Stefan Groh Thomas Kothmiller-Uhl Isabel Stumfol Anonym Anna-Lena Recht Birte Jahnke Silva Maringele david hudelist Elvira Windbichler Janina Schwark Luzian Burgstaller Dominik Jahnke Simone Matouch Eric Smit Patrick Jaritz Sonja Seebacher

Christina Kirchmair Viktor Gruber Markus Ogris-Linder Dominik Schwarz Heimo Neuhold Stefan Klingler Elke Homagk Lisa Homagk Hans Guggenberger Elisabeth Leitner Barbara Feller Richard Steger Felix Junger Hans Kof ler Anonym Marlene Fuchs Valentina Kof ler Geli Salzmann Sandra Haberl Florian Pühringer Kevin Krassnitzer Fabian Dorner Luca Bierkle Anonym Anonym Manuel Oberaufner Petra Hirschler Anonym Jacques Kayser Kolo K Werner Tschirk Sarah Bilgeri Anonym Christoph Gerster Simon Wagner Ph K Lisa Wachitz Anonym




www.mehralsobergail.at

Obergail ist ein Ortsteil von Liesing. Liesing ist ein Ortsteil von Lesachtal. Lesachtal liegt in Oberkärnten. Oberkärnten in Österreich. 65 Menschen leben in Obergail. Die Streusiedlung besteht aus 28 Gebäuden. Obergail ist die Homebase der Redaktion.

Wir wohnen und arbeiten hier. Starten hier unsere Außeneinsätze. Laden Menschen ein und werden eingeladen. Bewandern und befahren die Straßen und Wege. Klopfen an Türen. Telefonieren und organisieren. Holen Milch nebenan. Kochen in großen Töpfen. Basteln Kasnudeln. Genießen die Aussicht, die Dunkelheit, die Stille, die frische Luft. Wir leben und arbeiten hier.

Hier sammeln und erzählen wir die Geschichten, die vielleicht für „mehr als Obergail“ stehen.


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