Der Neuromantik tollster Ritter reitet

Auf seinem Goldfuchs in das flache Land

Hanns Heinz Ewers: Syringen (1898)Footnote 1

Neben dem Diskurs über neue Romantik, Nervenromantik und Neuromantik gibt es eine Romantik-Aneignung der Jahrhundertwende, die nicht in Zeitschriften oder Monographien geschieht, sondern ganz konkret in literarischen Texten. Nicht unabhängig, aber heuristisch getrennt vom Diskurs lässt sich eine Neoromantik als Textqualität beobachten, die auch diskursungeübten Lesern unmittelbar auffällt und literarischen Texten eingeschrieben sein kann. Zur Jahrhundertwende existiert eine enorme Anzahl solcher Texte in Prosa, Drama und Lyrik, so zum Beispiel, ganz exemplarisch, in Otto Julius Bierbaums Die Haare der heiligen Fringilla (1904):

Es lebten einmal (wer weiß, wie lange es her ist), durch das Band des heiligen Sakramentes der Ehe rechtmäßig und katholisch miteinander verbunden, in einem schönen Schlosse ein Prinz und eine Prinzessin. Den Prinzen wollen wir Flodoard, die Prinzessin aber Eulalia nennen, – denn wir haben uns in dem Taschenbuch der fürstlichen Häuser davon überzeugt, daß es keinen Prinzen Flodoard gibt, der mit einer Prinzessin Eulalia ehelich und katholisch verbunden wäre.Footnote 2

Ein solcher Märchenanfang, der sich selbst als Erzählung tituliert, wirft den Anker zur literarischen Romantik aus, indem er sich romantische Erzählverfahren intertextuell aneignet. Das einleitende „Es lebten einmal“ referiert auf die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, aber auch der folgende Motivkanon aus Prinzen, mittelalterlichen Schlössern und Zaubersprüchen lässt sich als Hinweis auf eine neoromantische Darstellungsstrategie ausmachen. Romantik ist zur Jahrhundertwende im historischen Archiv gespeichert und umfasst ein begrenztes Setting von Motiven und Schreibverfahren: Wird beides zur Konstitution eines literarischen Textes um 1900 aufgerufen, handelt es sich um einen neoromantischen Text.

So basal diese Ausgangsdiagnose erscheinen mag, so evident weist sie doch auf die Existenz eines neoromantischen Schreibprojekts hin, das sich – in der Regel – nicht in der Wiederholung der alten Romantik erprobt, sondern das Romantische um ein spezifisches Neo-, um eine Note der Jahrhundertwende ergänzt. Auch bei Bierbaum lässt sich diese Aktualisierung in Motiven und Verfahren greifen: Das „Taschenbuch der fürstlichen Häuser“ beispielsweise, das der Erzähler zur Überprüfung des Fiktionsgehalts seiner Figuren heranzieht, entspringt dem kulturellen Bestand der Jahrhundertwende und bricht produktiv mit der Romantik-Illusion. Gerade die Mixtur von altertümlich-romantischen Sujets mit radikalmodernen Topoi konstituiert hier ein spezifisch neoromantisches Verfahren, das für Bierbaums Texte charakteristisch ist: „Der Prinz hatte eine bange Empfindung, nicht unähnlich der, die auch Prinzen haben, wenn sie beim Zahnarzt sind und dieser die elektrische Bohrmaschine herbeizieht.“Footnote 3 An Beispielen wie diesem lässt sich der Anspruch, der im Diskurs so variantenreich formuliert wird, am konkreten Material greifen: Etwas Romantisches wird mit etwas Zeitgemäßem synthetisiert, und heraus kommt ein neoromantisches, zeitenverschränkendes Produkt.

Was aber markiert diese Literatur als jeweils ‚modern‘, was als ‚romantisch‘? Einerseits sind für die Beantwortung dieser Frage die Ergebnisse aus der Diskursanalyse unabdingbar: Zum Romantikwissen um 1900 zählen auch die Märchendramen Maurice Maeterlincks, dessen Name sich fest mit dem semantischen Bestand des Romantischen verbunden hat. Dasselbe gilt für Jens Peter Jacobsens Niels Lyhne, ebenso wie z. B. für Gerhart Hauptmanns Drama Hanneles Himmelfahrt (1893). Andererseits aber greift eine Analyse zu kurz, die lediglich Querverbindungen und Rezeptionslinien aufzeigen würde, die zwischen den einzelnen Texten um 1900 und ihren romantischen Vorlagen entstehen. Vielmehr existiert auch ein literaturwissenschaftlicher Kenntnisstand darüber, was ‚Romantik‘ als Forschungsgegenstand konstituiert, und zwar nicht aus einem Wissen des frühen 20. Jahrhunderts heraus, sondern auf dem Stand einer Analyse im 21. Jahrhundert. Eine Frage steht damit literatur-, aber auch kulturgeschichtlich im Raum, sobald Wiederaufnahmen von Romantik auftreten: Wie romantisch ist – in diesem Fall – die Neoromantik? Wie nahe kommt eine neoromantische Poetik den romantischen Textstrategien um 1800, an die sie ja explizit anknüpfen, und wo sind gegebenenfalls die Unterschiede?

An dieser Stelle kommt die Modelltheorie ins Spiel, wie sie oben dargelegt wurde: Ein Modell von Romantik, das für die folgenden Textanalysen als Vergleichskonstrukt herangezogen wird, behauptet keineswegs, nach zweihundert Jahren Forschungsgeschichte den letztgültigen Romantik-Schlüssel gefunden zu haben. Doch es bündelt auf dynamische Weise aktuelle Forschungsergebnisse über Romantik, auf die pragmatisch zugegriffen werden kann, sobald sie in einem Text relevant werden. Ein solcher Vorgang ist notwendig komplexitätsreduzierend sowie standortgebunden. Doch indem ein pointiertes Modell von Romantik als Folie herangezogen wird, das sich auf der Höhe des Forschungsstandes bewegt, werden strukturelle Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zwischen Romantik und Jahrhundertwende erst sichtbar und analysierbar. Nur so kann eine Transformationsanalyse literarischer Verfahren über die Rezeptionsforschung hinaus gelingen – und das zwischen zwei Epochen, deren ideelle Gemeinsamkeit von späteren Forschern wie auch von Zeitgenossen wiederholt behauptet wurde.Footnote 4

Die folgenden Analysen beginnen in der Regel damit, konkrete Motivreferenzen herauszuarbeiten, mit denen ein literarischer Text seine Aktualisierung von Romantik initiiert. Ob es romantische Mondnächte sind, in denen Figuren (wie in Heinrich Manns Mondnachtphantasien, 1887) optischen Täuschungen unterliegen; ob auffällige Substitute der romantischen blauen Blume auftauchen (u. a. in Ewers’ Die blauen Indianer, 1906); oder ob ein Erzähler schlicht alte Novalis-Bände sammelt und ihre Erzählweise nachahmt (wie in Hesses Der Novalis, 1900): Zuallererst müssen materiellere, intertextuelle Anlässe vorliegen, um eine Erzählung plausibel als einen neoromantischen Text zu kategorisieren. Ein Strukturvergleich ohne diese Motivreferenzen wäre möglich, aber historisch wenig valide: Da ein neoromantisches Schreiben in dieser Untersuchung mit dem zeitgenössischen Wissen über Romantik zusammengeführt wird, müssen die literarischen Texte selbst einen Bezug zur Romantik suchen und in einen eigenen, markiert neoromantischen Text transformieren. Zahlreiche Erzählungen der Jahrhundertwende unternehmen genau diese ausgestellte Wiederaufnahme, sodass der Romantik-Vergleich von den Texten selbst motiviert und legitimiert wird.Footnote 5 Neoromantik, und das trägt zu ihrem modischen Charakter bei, ist damit ein kulturgeschichtlich sichtbares Textphänomen, das auch die Sichtweise auf das Romantische postwendend verändert.

Neoromantische Literatur dieses Zeitraums aber, und hier kommt das wissenschaftliche Modell von Romantik ins Spiel, ruft keineswegs nur leere Motivhülsen auf, sondern sie importiert ein ganzes Motiv-, Wissens- und Verfahrenssetting, mit dem romantisches Schreiben auf eine eigenwillige Weise imitiert wird. Mithilfe eines Modells von Romantik, das sich – wie oben ausgeführt – auf die Säulen von Fragmentierung, Synthese und Kippfigur beruft,Footnote 6 sollen zwei weiterführende Operationen möglich werden: Einerseits treten idealiter Gemeinsamkeiten und Unterschiede hervor, die ein neoromantischer Text im Vergleich zur historischen Romantik strukturell übernimmt bzw. modifiziert. Andererseits sollen Gemeinsamkeiten innerhalb neoromantischer Literatur aufscheinen, da die Modellanalyse mit ihrem abstrahierenden Zugriff ähnliche Textbewegungen sammelt und homogenisiert. Als Ziel setzt sich das folgende Kapitel damit nichts Geringeres als ein erzählstrategisches Modell von Neoromantik, das den (als wesentlich aufgefassten) Unterschied zwischen Romantik und Neoromantik benennt.

Nachdem die obige Diskursanalyse bereits verschiedene Wissensbestände dieses Zeitraums im Querschnitt überblickt hat, kann der folgende, methodisch anspruchsvolle Modellvergleich nur stichprobenartig vorgehen. Für die qualitative Untersuchung kamen zahlreiche Autorinnen und Autoren infrage, die schon im Diskursteil auftauchten und allesamt im relevanten Zeitraum neoromantische Literatur produzierten. Drei Typen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern boten sich für eine vertiefende Analyse an, die sich in ihrem Verhältnis zur Neoromantik jeweils unterscheiden: erstens eine Gruppe prägender Akteure für den Neoromantik-Diskurs (z. B. Ricarda Huch, Julius Hart, Johannes Schlaf); zweitens besonders wirkmächtige Schriftsteller bis in die Gegenwart hinein, die mit Wiederaufnahmen aus der Romantik operieren (z. B. Hugo von Hofmannsthal, Gerhart Hauptmann, Rainer Maria Rilke); und drittens eine Reihe von Autorinnen und Autoren, die sich in ihrem unkonventionellen, experimentellen Ansatz im Umgang mit Neoromantik neu entdecken ließe (z. B. Paul Scheerbart, Otto Julius Bierbaum, Oskar Panizza). Wichtig ist mit Blick auf all diese Akteure, dass kein Autor als Ganzes zum Neoromantiker und keine Autorin ausschließlich zur Neoromantikerin erklärt werden soll. Stattdessen können nur bestimmte, manchmal aber zahlreiche ihrer Texte in ihrer neoromantischen Dimension hervortreten, sobald sie sich aktualisierend auf romantische Motive und Schreibverfahren beziehen.

Die folgende Auswahl legitimiert sich über das Argument, dass in ihr möglichst heterogene Facetten des Neoromantik-Profils beleuchtet werden. Zudem nehmen die ausgewählten Autoren einen jeweils stellvertretenden Charakter für eine von drei Spielarten neoromantischen Schreibens ein. Außer in ihrer Romantik-Aneignung haben Heinrich Mann, Hanns Heinz Ewers und Hermann Hesse zunächst wenig gemein. Gerade in ihren unterschiedlichen Neoromantiken aber sollen ihre frühen Erzählungen verschiedene Ausprägungen eines Phänomens greifbar machen, das sich möglicherweise doch als eine wiederkehrende Aneignung von Romantik um 1900 beschreiben lässt.

Die Erzählungen des jungen Heinrich Manns stehen prototypisch für eine frühe Phase neoromantischer Literaturproduktion, in der Maurice Maeterlinck, Jens Peter Jacobsen und Hermann Bahr gerade frisch entdeckt wurden. Der unbekanntere Hanns Heinz Ewers kann stellvertretend für eine späte Neoromantik betrachtet werden, die mit einem experimentellen Anspruch (neo-)schwarzromantische Texte produziert und in den 1900er Jahren eine gewisse Popularität genoß. Hermann Hesse schließlich publizierte genau um 1900 Erzählungen im Umfeld des Eugen-Diederichs-Verlags und ist wohl derjenige Autor, der mit neoromantischer Literatur das Bild von Romantik und Neuromantik bis in die heutige Zeit am nachhaltigsten prägte. Sollten sich gerade bei derart heterogenen Autoren Gemeinsamkeiten im Hinblick auf ein Modell von Neoromantik finden lassen, dann ist eine hohe Repräsentativität der Ergebnisse umso wahrscheinlicher.

Dass in dieser Untersuchung keine Dramen zur Analyse herangezogen werden, obwohl sie um 1900 einen wichtigen Teil neoromantischer Literaturproduktion ausmachen,Footnote 7 hat einen methodischen Hintergrund: In den Forschungen zur historischen Romantik spielen Dramen nach wie vor eine vergleichsweise untergeordnete Rolle, sodass ein literarischer Vergleich im Bereich der romantischen Prosa auf ein ungleich breiteres, wissenschaftlich besser aufbereitetes Feld zurückgreifen kann. In der Lyrik sind neoromantische Aktualisierungsprozesse auf ähnliche Weise, hier aufgrund ihrer gattungstypologischen Verdichtung, aufwendiger zu rekonstruieren (und damit schwerer zu greifen), was nicht bedeutet, dass es keine neoromantische Lyrik in diesem Zeitraum gäbe.Footnote 8 Um die Vergleichbarkeit der einzelnen Texte untereinander zu gewährleisten, beschränkt sich die folgende Untersuchung auf neoromantische Prosa, die ebenfalls – wie entgegen mancher Forschungspositionen zu zeigen sein wird – zur Jahrhundertwende weit verbreitet war.Footnote 9 Damit werden im Folgenden jeweils drei kürzere Erzählungen eines Autors nebeneinander gestellt, ohne zu postulieren, Neoromantik sei ein primär narratives Phänomen. Ergänzende Gattungen kommen in den folgenden Analysen ins Spiel, sobald sie repräsentative Ergebnisse über eine bestimmte (neoromantische) Werkphase der drei Autoren belegen, stützen oder kontrastieren.

Eine weitere Erläuterung zielt auf die Anordnung der drei Autoren, die nicht chronologisch, sondern textanalytisch motiviert ist: Zwar steht Hermann Hesse mit seinem Werk zeitlich genau in der mittleren Phase der neoromantischen Literaturproduktion, analytisch jedoch vollzieht sich bei ihm eine besonders markante Veränderung der Romantik, die einen erzählstrukturellen Endpunkt des neoromantischen Schreibens ausmacht. Hesses Peter Camenzind (1904), der den Auftakt für weitere Romane Hesses nach ähnlichem Muster liefert, beschließt damit zugleich das erzählstrategische Ende der Neoromantik in dieser Untersuchung.

Neoromantik und Gender. Bemerkungen zum literarhistorischen Ort der Autorinnen

Etwas ausführlicher soll an dieser Stelle, noch bevor es in die textanalytische Präzisierung geht, über den gendertheoretischen Status dieser Auswahl reflektiert werden. Ein Fall aus der jüngeren literaturwissenschaftlichen Debatte kann hierbei Aufschluss liefern: Als Philip Ajouri seine Einführung in die Literatur um 1900 (2009) veröffentlichte, erntete er eine harsche Kritik aus der gendertheoretisch geschulten Literaturwissenschaft. „Da Ajouris fast vollständige Nichtbeachtung […] der zeitgenössischen Literatinnen die literarische Epoche um 1900 ganz grundsätzlich verzeichnet“, so urteilt der Rezensent, „kann die hier auszusprechende Empfehlung nur lauten: Lassen Sie die Finger von diesem Buch.“Footnote 10 Ungeachtet der polemischen Schärfe dieses Verrisses zeichnet sich hier eine ernstzunehmende Forschungsfrage ab, die im Fall der literarischen Landschaft um 1900 besonders brisant ist: Gewisse Merkmale literarischen Schreibens, und zwar gerade diejenigen, die in der Forschung als prägend für die Kultur um 1900 herausgearbeitet wurden, lassen sich bei Autorinnen häufig nur über Umwege nachweisen. Präziser gefasst, scheinen es gerade die phantastisch-märchenhaften Elemente zu sein, die Autorinnen um 1900 vergleichsweise vorsichtig benutzten; sodass sich auch jenseits zusammenfassender Überblicksdarstellungen kaum eine einschlägige Autorin des Symbolismus, der Dekadenz oder eben der Neoromantik etabliert hätte.

Das Beispiel Ricarda Huch führt es eindrücklich vor: Einerseits tritt sie im literarischen Diskurs als präzise Kennerin und aktive Fortschreiberin der historischen Romantik auf, was sie nicht nur in ihren beiden Romantik-Büchern, sondern auch in kritischen Einwänden gegen Maurice Maeterlinck und die aufkeimende Neoromantik artikuliert.Footnote 11 Andererseits vermeidet sie in ihren literarischen Texten aus diesem Zeitraum, vor allem in thematisch naheliegenden Prosatexten wie Haduvig im Kreuzgang (1897) oder Aus der Triumphgasse (1901), allzu explizite Referenzen auf die Romantik, um stattdessen einen historisch breiteren Referenzteppich auszulegen.Footnote 12 Selbstredend lassen sich auf einer unterschwelligen Ebene auch hier strukturelle Analogien zwischen ihren Prosawerken und deren romantischen Vorläufern (z. B. Benedikte Naubert, Walter Scott, Achim von Arnim) herausarbeiten. Damit liefe man aber Gefahr, eine offensichtliche und diskurshistorische Auffälligkeit zu übersehen: Ricarda Huch vermeidet es geradezu, in ihrer literarischen Strategie offensiv an die Romantik anzuknüpfen; und sie versteckt klare Verweise stattdessen in einem komplexeren, eklektizistisch reicherem Anspielungsraum. Für Autorinnen birgt es offenbar Nachteile, im kulturellen Bewusstsein der 1890er und 1900er Jahre, allzu märchenhaft und phantastisch zu schreiben.Footnote 13

Das legt eine Hypothese nahe, die auch diese Arbeit vertreten möchte: Das symbolische Kapital einer aufkeimenden Neoromantik, mit dem junge Autoren ihre Literatur feldtheoretisch aufwerten, steht für Autorinnen dieses Zeitraums nicht in vergleichbarer Weise zur Verfügung. Vielmehr scheint ihnen ‚Romantisches‘ sogar zu schaden: Zu den wenigen Autorinnen, die erkennbar neoromantische Literatur produziert haben, zählt Elsa Bernstein, die u. a. in ihrem Libretto Königskinder (1894) einen internationalen Erfolg für eine bekannte Märchenoper Humperdincks vorbereitete. Obwohl Autorinnen zu diesem Zeitpunkt unter bestimmten Bedingungen ihren Eigennamen publizistisch anführen konnten (z. B. Gabriele Reuter; Agnes Miegel; auch die Wiederentdeckung Annette von Droste-Hülshoffs fällt in diesen Zeitraum), blieb Elsa Bernstein mit ihrer avancierten Strategie zwischen Psychologie und Märchenzitat anonym. Auch ihre Novellen (Madonna, 1894) und Dramen (Dämmerung, 1893) publizierte sie unter dem Namen Ernst Rosmer.Footnote 14

Damit wäre es historisch verdrehend, die Neoromantik als ein genderneutrales Phänomen darzustellen. Im Rahmen dieser Untersuchung konnte kaum eine Autorin ausgemacht werden, die genau dieses ‚trendige‘ Moment, das die Neoromantik für einen überschaubaren Zeitraum ausmacht, auf literarischer Ebene für sich aufgriff.Footnote 15 Die Texte von Autorinnen fallen vielmehr durch eine gegenläufige Bewegung auf: Bei Bernstein und Huch beispielsweise dominiert eine realistisch grundierte Psychologisierung, genauer: eine materialgestützte Objektivierung innerer und/oder geschichtlicher Vorgänge, die weitestgehend ohne Märchenverdacht auskommt. Sie knüpfen stärker an die experimentellen Milieustudien des Naturalismus an, der im deutschsprachigen Raum wohl erst bei den Autorinnen um 1900 zu einer breitenwirksamen, durchschlagenden Form gefunden hat. Helene Voigt-Diederichs zum Beispiel, als Ehefrau von Eugen Diederichs (in diesem Zeitraum, 1898–1911) und als enge Vertraute Hermann Hesses durchaus dem Neoromantik-Diskurs nahestehend, wird aufgrund ihrer lokalen Sujets gemeinhin als ‚Heimatdichterin‘ abgewertet; ihre Textstrategie wäre möglicherweise als Weiterführung naturalistischer Milieu-Experimente neu zu verorten.Footnote 16

Man kann die Werke von Autorinnen um 1900 somit auch als alternative Spielart einer Überwindung des Naturalismus verstehen, die einen anderen Akzent als die Neoromantik betont: Sie führen den Naturalismus weniger in eine phantastisch grundierte ‚Mystik der Nerven‘ fort; sondern verfeinern ihn stattdessen in eine Richtung detailpsychologischer Subjekt- und Milieustudien. In diesem Kontext lässt sich auch die literaturgeschichtliche ‚Modernität‘ von Autorinnen wie Gabriele Reuter, Helene Böhlau und Clara Viebig diskutieren, analog zu einigen unentdeckten Akteurinnen wie Marie Netter, die ebenfalls einem (variierten) Naturalismus nahesteht.Footnote 17 ‚Neoromantisch‘ hingegen sind die Textstrategien dieser Autorinnen nur in seltenen Fällen: Sie vermeiden Referenzen auf romantische Intertexte eher, als dass sie in ihren Texten eine ästhetisch innovierende Rolle spielen würden.

Selbstredend handelt es sich hierbei keineswegs um eine irgendwie biologisch grundierte Andersartigkeit weiblichen Schreibens; sondern ausschließlich um eine sozialhistorisch-kontextuelle Situation, in der die Unterschiede zwischen Autorinnen und Autoren, in Rückkopplung mit dem literarischen Feld, auf besondere Weise forciert werden.Footnote 18 Eine der Besonderheiten, welche die kulturgeschichtliche Konstellation um 1900 prägen, lässt sich in einer grundsätzlichen Lust am Typologisieren greifen, die das literarische Feld aus den (biologischen) Wissenschaften adaptiert. Radikale Geschlechterklassifikationen wie Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (1900), die entsprechende Gegenentwürfe provoziert haben,Footnote 19 wirken ebenso ins literarische Feld hinein wie Nietzsches virile Übermensch-Theorie, die teilweise auch unter Autorinnen zu überzeugten Proklamationen einer Polarität der Geschlechter führte.Footnote 20

Gleichzeitig aber sind literarische Texte auch der Ort, um einen solchen Klassifikationismus ästhetisch zu unterminieren (bzw. mindestens experimentell zu variieren). Indem Autoren plötzlich vermehrt ‚romantisch‘ und Autorinnen verstärkt ‚naturalistisch‘ schreiben, kehren sie einige gender-Konnotationen um, die sich an diese Schlagwörter im literarischen Feld geknüpft haben. Auch hier dominiert ein synthetisches Interesse: Das künstlerische Genie, so beschreibt es Ricarda Huch in ihren Romantik-Büchern, setze sich aus einem ‚mannweiblichen‘ Mischtypus zusammen, in dem eine ‚männliche‘ und eine ‚weibliche‘ Seite wie „durch eine Feder“ miteinander verbunden seien (RO 105). Es erscheint ästhetisch offenbar produktiv, wenn Autorinnen und Autoren die Grenzen ihres ‚Typus‘ überschreiten und sich, in einer Art cross-gender-Experiment, den literarischen Strategien der (diskursiv proklamierten) Gegenseite annehmen.Footnote 21 Somit grundiert die Kultur der Jahrhundertwende mit Blick auf Inszenierungen und Transformationen von Geschlechterrollen einerseits ein hoher Normierungs- und Typologisierungsdruck, der aber andererseits im literarischen Feld eine experimentelle Invertierung erfährt.

Die Neoromantik lässt sich damit am ehesten als eine populäre Literaturstrategie unter Männern verstehen, die sich Konnotationen von Weiblichkeit aneignen – nicht zuletzt, um die Konventionen des eigenen Typus zu durchbrechen und so eine außergewöhnliche, pseudo-geniale Perspektive einzunehmen. Ihr haftet damit gendertheoretisch eine gewisse Ambiguität an, die allerdings auf eine spezifische Weise kalibriert ist: Soziologisch schreiben hier die Männer, die sich ästhetisch an weiblich konnotierten Inhalten erproben. Da die vorliegende Studie sich darum bemüht, ein möglichst diskursnahes und historisch valides Profil der Neoromantik zu rekonstruieren, greift sie sich im Folgenden drei männliche Autoren heraus, bei denen diese Romantik-Aneignung besonders offensiv und diskursnah geschieht. An diesen Beispielen tritt die Virulenz, aber auch die Virilität des neoromantischen Schreibens in diesen Jahrzehnten charakteristisch hervor.

3.1 Rätselhafte Sensationen: Der junge Heinrich Mann als Neoromantiker

Als die erste Erzählsammlung des jungen Heinrich Mann mit dem Titel Das Wunderbare und andere Novellen erscheint, verfasst ein Redakteur mit dem Kürzel „F.M.F.“ eine positive Rezension über den noch unbekannten Autor im Berner Bund. Die früheste Rezension zu einem Text Heinrich Manns überhaupt akzentuiert seine „Neuromantik“:

Der Verfasser ist Romantiker, wie Eichendorff und E.T.A. Hoffmann es waren, aber er ist dabei doch ein echter Moderner, der die berechtigten Anforderungen der naturalistischen Schule nirgends verletzt, obschon seine Ziele eher idealistische sind. […] Wäre der Autor schon so berühmt, wie er es zu werden verdient, so könnte ein Studierender einmal wohl eine Vergleichung dieser Neuromantik Heinrich Manns mit Eichendorff zum Gegenstande einer Doktordissertation machen.Footnote 22

Heute ist er so berühmt, und tatsächlich kann der zitierte Befund über die Forschung hinaus immer noch überraschen: Die Karriere Heinrich Manns beginnt mit einer Emphase für eine Neoromantik der Jahrhundertwende, die er nicht nur in einem programmatischen Essay mit dem Titel Neue Romantik (1892), sondern vor allem in seinen frühen Novellen erzählerisch ausgestaltet. Von der Jugenderzählung Mondnachtphantasien über Contessina bis zu Das Wunderbare: Zahlreiche Texte des frühen Heinrich Mann knüpfen explizit an die Motive und Textverfahren der historischen Romantik an, um sie zugleich um eine neue, spezifisch ‚moderne‘ Note zu ergänzen. Denn die Aufgabe der zeitgenössischen Literatur liegt für den jungen Autor darin, so der Romantik-Essay, „die kommende Romantik zeitgemäß zu machen“.Footnote 23

Der frühe Heinrich Mann betritt also als Neoromantiker par excellence die literarische Bühne. Auch in der gegenwärtigen Öffentlichkeit häufen sich die Bemühungen, den Autor nach einigen politischen Vereinnahmungen als einen gescheiterten Romantiker neu zu erfinden. „Heinrich Mann war der allerletzte Romantiker, ein in das 20. Jahrhundert verirrter Taugenichts“,Footnote 24 so charakterisiert ihn Manfred Flügge in seiner Biographie, und er stellt Mann darin als einen „Träumer“ und notorisch „Unzeitgemäße[n]“ vor, der sich weniger an der Vernunft denn an phantastischen Traumwelten orientierte.Footnote 25 Hier lässt sich ein vorsichtiger Einspruch formulieren: Zwar trägt der kurze Essay über Neue Romantik von 1892 in einem ersten Entwurf noch den Titel „Die ewige Romantik“,Footnote 26 allzu lange hält Manns Begeisterung für das Romantische aber nicht an. Schon in den 1900er Jahren distanziert er sich radikal von seinem neoromantischen Frühwerk, sodass es bald auch romantische Märchen sind, die Manns berühmteste Figur, den Tyrannen Diederich Heßling, zu einem wilhelminischen Untertanen sozialisieren.Footnote 27 Die schärfste Kritik an der Romantik findet sich in der späten Retrospektive Ein Zeitalter wird besichtigt (1946):

Das Lebensgefühl der deutschen Romantiker ist das niedrigste, das eine Literatur haben kann. Das kommt nur vor, wo, mit oder ohne Nötigung, falsch gehandelt wurde. […] Zaubermärchen, altdeutsche Maskierung, künstliche Verzückung, ein grundloser Tiefsinn, wer soll das fortsetzen? Diese Dichter schreiben wie die letzten Menschen.Footnote 28

Romantik steht beim späten Heinrich Mann nun für „das niedrigste Lebensgefühl“: Im Taugenichts-Deutschtum der Romantiker beginne ein „verhängnisvolle[r] Fanatismus nationaler Geltung“, der unweigerlich in die historische Katastrophe führe.Footnote 29

Das Verhältnis zur Romantik zeigt damit auf einen eklatanten, vielleicht sogar auf den sichtbarsten Bruch im Werk Heinrich Manns. Die Forschung notiert diesen Befund seit den Anfängen, in der Regel aber fungiert der Hinweis auf seine frühe Neoromantik als ein unkonkretes, nicht selten diffamierendes Schlagwort.Footnote 30 Dabei ist dieser Aspekt des Frühwerks auch deshalb brisant, weil er sich mit einer „Leiche im Keller“ des Autors berührt: Seit wenigen Jahren liegt die kritische Gesamtausgabe der frühen Publizistik vor, in der die nationalistischen sowie antisemitischen Essays des jungen Heinrich Mann erstmals in ihrem ganzen Umfang aufbereitet werden.Footnote 31 Schnell zeigt sich, dass auch die neoromantischen Novellen um Das Wunderbare (1894) in genau jenem Zeitraum entstanden, in dem Mann als Redakteur bei der kulturkonservativen Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert angestellt war.Footnote 32 Umgekehrt verschwindet eine antisemitische Tendenz aus den Texten, wie Rolf Thiede und zuletzt Volker Riedel gezeigt haben, im Zuge seiner Arbeit an der Göttinnen-Trilogie um 1902, die sich auch als eine Abwendung von neoromantischen Textverfahren lesen lässt.Footnote 33 Was kann also der Fokus auf die vergessene Neoromantik zum frühen Heinrich Mann beitragen, und was trägt der frühe Heinrich Mann zum Verständnis der Neoromantik bei?Footnote 34

3.1.1 „Die kommende Romantik zeitgemäß zu machen“: Der Essay über Neue Romantik (1892)

Heinrich Manns Beschäftigung mit der Neoromantik fällt in die früheste Phase des Diskurses (1890–1896), in der ein noch kleiner Kreis moderner Autoren den Reiz der Bahr’schen „Nervenromantik“ zu entdecken beginnt.Footnote 35 Im Jahr 1892 erklärt er in dem straffen Essay über Neue Romantik:

Und die Aufgabe einer solchen literarischen Interimsperiode, wie der Naturalismus eine war, scheint nach diesem zu sein: die kommende Romantik zeitgemäß zu machen. […] Ob die Handlungen und das Schicksal eines Menschen das Ergebniß seiner Anlagen und der auf ihn einwirkenden Umstände sind, ist ihr [der neuen Romantik, R.S.] an sich gleichgültig; sie ist nur darauf bedacht, aus der bestehenden Abhängigkeit des Menschenlebens von unberechenbaren Factoren eine Tragik von möglichst intensiver Nervenwirkung herauszuziehen. Auch der neueste Zeitgeist […] dient der Romantik nur dazu, Sensationen zu wecken, das Endziel all ihrer Bestrebungen.Footnote 36

Einen Abdruck auf den Nerven zu hinterlassen, auch: „Gefühlswerthe“ zu einem undefinierbaren Naturzusammenhang zu evozieren, darin liegt für den jungen Heinrich Mann die Aufgabe einer neuen Romantik. Dabei muss auch das provokative Moment hervorgehoben werden, das zu diesem Zeitpunkt in der Ausrufung einer gefühlsträchtigen Romantik liegt, während ein Großteil des literarischen Berlins noch mit der Aneignung des französischen Naturalismus experimentiert.

Bei genauerem Blick beschreibt Heinrich Mann auf knappem Raum zugleich einen entscheidenden Paradigmenwechsel, der sich so weder bei Hermann Bahr noch bei Leo Berg finden lässt. Der Essay über Neue Romantik akzentuiert eine performative Aufgabe der Literatur nach dem Naturalismus: Nicht mehr die Rekonstruktion eines Milieus soll durch die Literatur geleistet werden, denn ein solches Milieu ist in der Realität überkomplex und immer auch durchdrungen von „unberechenbaren Factoren“. Stattdessen wirken die Texte der kommenden Romantik nun selbst auf die Nerven ihrer Leser zurück. Damit beschreibe die Literatur nicht mehr deskriptiv das „Thatsachenmaterial aus der concreten Praxis des Lebens (documents humains)“, was Hippolyte Taine noch einschlägig für den Naturalismus forderte (und in diesem Sinne von Mann zitiert wird).Footnote 37 Vielmehr greift sie performativ in den Naturzusammenhang ein und verändert das Subjekt im Milieu selbst, da auch ein literarischer Text einen Abdruck auf den Nerven hinterlässt. Kurz: Die Literatur vollzieht nicht mehr die überkomplexen Prägungen eines Subjekts nach, sondern sie wird selbst zu einer Determinante im Umfeld von Milieu und Naturzusammenhang.

Romantik und Naturalismus stellen dementsprechend für Heinrich Mann keine oppositionellen Kategorien dar, sondern bedingen sich in einer geschichtlichen Abfolge gegenseitig. Heinrich Mann eröffnet seinen Essay folgendermaßen:

Vielleicht wird man einmal dahin gelangen, die jetzt noch so sehr betonte Gegenüberstellung von Realismus und Romantik gänzlich fallen zu lassen. Es ist jedenfalls noch nicht das letzte Wort darüber gesprochen, wie viel Spätromantik im sogenannten Naturalismus steckt.Footnote 38

An dieser Stelle lässt sich noch einmal die typische Homogenisierung von Naturalismus und Realismus greifen, die sich bereits als eine der Voraussetzungen für neue Romantik herausgestellt hat.Footnote 39 Mann behandelt den Poetischen Realismus und „de[n] sogenannte[n] Naturalismus“ fast synonym (genauer: hyponym), und beide Stilrichtungen bekommen Ähnlichkeiten zur Spätromantik zugeschrieben: Neben vagen Analogien wie einer gemeinsamen „Lust […] zu ‚malen‘“Footnote 40 benennt Mann konkret die „mystische Personification“ der Erde in Zolas La Terre (1887) und der Eisenbahn in La Bête Humaine (1890), wie sie auch die jüngere Forschung hervorgehoben hat.Footnote 41 Damit spezifiziert er in wissenschaftlichem Duktus die Thesen Hermann Bahrs, die er früh aufgreift und dem er sich in dieser Zeit „einigermaßen geistesverwandt“ fühlt.Footnote 42 Vor allem aber steht Mann unter dem Eindruck einer weiteren Lektüre: Begeistert liest er die Märchendramen Maurice Maeterlincks von Februar bis März 1892 im französischen Original und übersetzt privat seine Gedichte.Footnote 43

Heinrich Manns Essay zur Neuen Romantik (1892) wurde häufig als Beschreibung seiner eigenen Poetik gelesen, ist aber – vor allem anderen – eine ausführliche Rezension von Maeterlincks Pelléas et Mélisande (1892), mit der er sich bei der Berliner Zeitschrift Die Gegenwart bewirbt.Footnote 44 „Die Geschehnisse […] sind äußerlich einfach“, lobt er Maeterlincks neuestes Drama, doch in „gelegentlichen, scheinbar bedeutungslosen Aeußerungen gelangt viel der allerfeinsten Psychologie zum Ausdruck“.Footnote 45 Es ist eine simpel auftretende, verständliche Sprache, die Mann beschreibt und durch deren vermeintliche Oberfläche immer wieder eine psychologische Tiefenstruktur hervorblitze. So wirkt auch der emotionale Ausbruch der Figur Golaud auf Mann „bewunderungswürdig wegen der seltsam intensiven, greifbaren Sprache, die hier der rasenden Leidenschaft verliehen ist“.Footnote 46 Das „märchenhaft[e]“ Setting von Schloss, Grotte und einem verwunschenen Brunnen erkennt Heinrich Mann als nachrangig an, ein anderer Aspekt scheint ihm für die neue Romantik zentraler: „Aber die Empfindungen der Menschen sind modern, und noch mehr: sie sind modern behandelt.“Footnote 47

Mit dieser Simplizität in Dramaturgie und Sprache liefert Maeterlincks Textur zugleich ein Gegenstück zu Paul Bourget, dessen analysierende Prosa die eigentlich prägende Lektüreerfahrung des jungen Heinrich Mann darstellt.Footnote 48 In beiden Schreibtechniken erkennt er, so ein früher Brief an Ludwig Ewers, zwei „verschiedene Ausdrucksweisen derselben Grundforderung […]: Wahrheit und natürliche Fortentwicklung auch in der Dichtung“.Footnote 49 Der Neue Romantik-Essay behauptet einen solchen gemeinsamen Nenner zwischen Maeterlinck und Bourget in der jüngsten Literatur, wobei Mann auf knappem Raum zu einem gegenwartsdiagnostischen Rundumschlag ausholt: „Die ganz neue Basis, auf welcher […] alle moderne Kunst ruht, ist die Naturerkenntniß. Die einzige allgemein gültige Parole von Alt und Neu wäre: Hier freier Wille – hier Naturbestimmung.“Footnote 50 Diese dichte Formel lässt sich auflösen: Im Anschluss an Darwin endet die Erkenntnis von Natur, so Heinrich Mann, zwangsläufig in der Einsicht eines allumfassenden Determinismus, in die „Naturbestimmung“. Sie ist das neue Element der modernen Kultur, das einem „freie[n] Willen“, wie ihn noch die ‚alte‘ Romantik hervorgebracht hat, kritisch entgegensteht. Der freie Wille ist für Heinrich Mann also passé; ausgehebelt von einem naturalistischen Entwicklungsgesetz, welches das Individuum abhängig von Milieu und zahlreichen unbestimmbaren Faktoren hinterlässt. Eine Neoromantik soll nun Gefühle zu dieser neuen, eigentlich fatalen Weltsituation erzeugen.

Zum einen handelt es sich auch hier um die literarische Diagnose Maeterlincks, auf dessen fatalistische Märchendramen diese Annahmen tatsächlich zutreffen.Footnote 51 Wie stark Manns eigene Poetik zum anderen von Maeterlinck inspiriert ist, zeigt ein weiterer Brief an Ewers, nachdem dieser einen Märchenversuch zur Lektüre eingesandt hat.

Über Dein „Romantisches Märchen“ kann ich nur in Betreff seines Verhältnisses zu Maeterlinck sprechen. Ich verstehe als einzigen Zweck der neuen Romantik: Sensationen zu wecken. […] Diese romantisch-suggestiven Menschen für sich genommen, und abgesehen von den Wirkungen, die sie auf uns hervorbringen, dennoch natürlich und ganz menschlich erscheinen zu lassen, ohne den Märchenapparat der alten Romantik – das ist ja eben die Kunst! Dies ist übrigens meine persönliche Auffassung der Maeterlinckschen Romantik, wie ich sie noch nirgend bestätigt gefunden. Du brauchst Dich daher nicht daran zu kehren.Footnote 52

Mann selbst probiert dieses Verfahren zuerst in der kleinen Erzählung mit dem Titel Wald- und Wiesenmärchen (1892), das nur einen Monat nach dem Romantik-Essay in der Berliner National-Zeitung veröffentlicht wird. Es handelt sich hierbei um die erste Publikation in einem nationalistischen Organ, was Mann vor Ludwig Ewers mit einem guten Honorar begründet.Footnote 53 Allerdings ist die Verschränkung von Romantik und deutscher Nation schon im Romantik-Essay greifbar: „[D]iese Romantik“, schreibt Heinrich Mann abschließend, könnte „vielleicht ein geeigneter Anlaß werden, die Entwickelung der Literatur einmal wieder auf deutschen Boden zu verpflanzen“.Footnote 54 Neoromantik verspricht demnach einen deutschkulturellen Vorteil in der zukünftigen Kulturentwicklung – wenn auch in einem internationalen Wettstreit, in dem das literarische Frankreich nach wie vor die Impulse setzt.Footnote 55 „Die Tendenzen aber liegen in der Luft“, so Heinrich Mann an Ludwig Ewers. „Du kannst sie überall im öffentlichen Leben greifen.“Footnote 56

Neoromantik ist somit eine von zwei dominanten Erzählvarianten des frühen Heinrich Mann, mit der er vor allem in der Kurzprosa der 1890er Jahre experimentiert. Als zentrales Merkmal seiner „Maeterlinckschen Romantik“ fungiert die Darstellung subjektiv-psychologischer Prozesse in einer „greifbaren Sprache“,Footnote 57 die ohne die konkrete Benennung von Gefühlen, Umständen oder Phänomenen auskommt. In den Sprechakten selbst entfaltet sich „viel der allerfeinsten Psychologie“, die sich zwischen den Zeilen artikuliere.Footnote 58 Zugleich transportiert Maeterlincks Drama für Mann eine erkenntniskritische Haltung: Milieu und Naturzusammenhang können in ihrer Komplexität niemals rational erschlossen werden, weshalb das Individuum „das Räthselhafte alles Geschehens“ hinnehmen muss.Footnote 59 Neoromantik habe deshalb die Funktion, „unerklärliche Lücken im Natürlichen zu finden, ohne Unnatürliches in den für ihre Erkenntniß leeren Raum einfügen zu wollen“.Footnote 60 Jedes wunderbare Element eines Textes müsse somit immer auch eine realistische Lesart zulassen, die das Wunderbare als Motivation eines Textes potenziell negiert. In seiner gerafften Form lässt der Essay damit programmatische Analogien zu einer Kippfigur zwischen Behauptung und Widerruf durchscheinen, wie sie auch das Modell von historischer Romantik annimmt – was aber noch nichts über die genuin literarische Umsetzung beim frühen Heinrich Mann aussagt.

Mit dem Jahr 1902 wird sich Mann schließlich explizit von aller Neoromantik abwenden: Um die Distanz öffentlich greifbar zu machen, publiziert er eine zweite, diesmal ausnehmend kritische Rezension über Maeterlinck:

Monna Vanna, das neue Stück von Maeterlinck, hat am Sonntag im Schauspielhaus zu München seine erste deutsche Aufführung erlebt – man könnte auch sagen erlitten, denn sie war nach Spiel und Auffassung wenig würdig der großen Zeit, die der Dichter wachruft. Es ist die Renaissance. […] Maeterlinck, dessen schwere, mystische Stimmung man ehemals genießen durfte, ohne sich viel dabei zu denken, ist jetzt verständlich geworden – allzu verständlich. […] [D]as alles sind Hilfsmittel, um einer Philosophie der Schwäche zum Siege zu helfen.Footnote 61

Spätestens hier muss dem jungen Heinrich Mann ein Gespür für kommende Modetendenzen attestiert werden. Als Maeterlincks Monna Vanna (1902) erscheint, sitzt er selbst bereits am dritten Teil seiner Göttinnen-Trilogie, in der er eine „hysterische Renaissance“ literarisch verarbeitet.Footnote 62 „Ich habe keine blaue Romantik erfinden wollen, sondern eine Wirklichkeit, intensiver gesehen, als man sie sieht“, bewirbt er das fertige Werk im Jahr 1903.Footnote 63 Heinrich Mann wird von nun an keine neoromantischen Texte mehr publizieren: Mit dem Jahr 1902 ist Mann vollständig aus diesem Diskursfeld ausgetreten.Footnote 64

3.1.2 Nur Narren warten auf Antwort: Mondnachtphantasien (1889) aus dem Jugendwerk

Fragt man nun nach neoromantischem Erzählen als Form- und Strukturphänomen in Manns frühen Texten, sticht eine bislang nahezu unbeachtete Novelle hervor, die sich explizit mit der Aktualisierung von Romantik beschäftigt. Die Erzählung Mondnachtphantasien aus dem Jugendwerk, die der 18-jährige Autor im Jahr 1889 am Timmendorfer Strand schreibt und in Lübeck beendet, blieb zeitlebens und bis in die späten 1970er Jahre unveröffentlicht.Footnote 65 Dabei nimmt der Text schon im ersten Absatz vorweg, was wenige Jahre später zu einer internationalen Debatte avanciert:

Die Geschichte, die ich jetzt erzählen will, klingt leider sehr unwahrscheinlich, ja beinahe romantisch. Während ich mir die Feder spitze – ich will diesen althergebrachten Ausdruck beibehalten; nur muß man sich statt des Olimschen Gänsekiels ein Faber-Crayon No. 2 denken –, also: während ich mir die Feder spitze und mich auf den „Ritt ins alte romantische Land“ vorbereite,Footnote 66 höre ich wie in weiter Ferne die Wasser der Schelde rauschen, eines Stromes, den man, abgesehen von geographischen Jugenderinnerungen, aus dem „Lohengrin“ kennt, kaum wohl aus der Arnimschen „Isabella von Ägypten“, einer der schönsten Blüten der Romantik. (MP 581)

Ganz explizit aktualisiert der Text romantische Topoi um ‚moderne‘, zeitgenössische Elemente: Der Faber-Markenstift ersetzt eine veraltete Schreibfeder, und auch die Schelde wird nicht als geographischer Fluss behandelt, sondern vielmehr als ein literarischer Topos aus Wagners Lohengrin und Arnims Isabella von Ägypten. Der heterodiegetische Erzähler versetzt sich in eine ausgestellt romantische Stimmung, die sich zusätzlich in traditionalistischen Formulierungen („höre ich wie in weitere Ferne die Wasser der Schelde rauschen“) und verschachtelten Satzkonstruktionen äußert.

Nachdem er die kurze Szene an der Schelde aus Arnims Novelle paraphrasiert, bringt der Erzähler das Anliegen seines Textes auf den Punkt:

Zigeuner spielen auch in meiner Geschichte eine Hauptrolle, nur muß man sie sich ins Moderne übertragen denken, ebenso wie man statt des Rauschens der Schelde vorerst mit dem Plätschern einer Fontäne vorliebnehmen muss. (MP 581)

Noch vor einem öffentlichen Diskurs über neue Romantik formuliert die Novelle damit ein neoromantisches Programm: Eine romantische Geschichte soll „ins Moderne übertragen“ werden, wodurch die pathetisch aufgeladene Schelde zu einem profanen Brunnen herabgestuft wird. Es ist ein ironischer Duktus, mit dem sich der heitere Erzähler das Romantische als Tradition aneignet und auf marginale Alltagsgegenstände überträgt. Allerdings sind die konkreten intertextuellen Spuren dieses Beginns irreführend: Der Faden, der zu Arnims Isabella von Ägypten ausgeworfen wird, verläuft gänzlich im Sande, und auch die Ankündigung von „Zigeuner[n]“ bleibt uneingelöst.Footnote 67

Auf diese Weise beginnt die Geschichte des Barons von Borkenkamp, der im Zuge eines Mondscheinspaziergangs – denn „er war Schwärmer und Idealist“ (MP 582) – eines Nachts beobachtet, wie eine Marmorstatue vor seinen Augen zum Leben erwacht. Nachdem sich die weibliche Gestalt zur Hälfte in einen Hirsch verwandelt, gesteht sie dem verblüfften Baron, dass sie die vergessene „Ahnfrau“ seines Adelsgeschlechts sei (MP 582) und durch einen unglücklichen Zufall mit einem Fluch belegt wurde. Um den Bann zu brechen, müsse sich der Baron schlicht seines „gesamten Barvermögens“ (MP 586) entledigen. Wie verzaubert stellt der junge Mann einen Scheck über 500.000 Gulden aus und steckt ihn der zauberischen Statue zu. Kaum ist diese romantische „Mondnachtphantasie[]“ vorüber (MP 587), muss der Baron wenige Tage später erkennen, dass er von dem Vicomte Lavallant ganz profan betrogen wurde – und zwar durch die Hypnosefähigkeiten seiner Verbündeten Lätitia, die sich in einer Papp-Marmorstatue versteckt hielt.

Bis zur Auflösung dieses Betrugsfalls evoziert die Erzählung tatsächlich eine phantastische Unsicherheit darüber, ob dem Baron eine magische „Waldnymphe“ in der Statue erscheint oder ob er einer somnambulen Wahrnehmungstäuschung unterliegt – „einem Traum, […] geträumt unter dem Einflusse des heute ganz besonders klaren Mondes“ (MP 587).Footnote 68 Ein solches Changieren zwischen zwei Deutungsoptionen entspricht dem erzählstrategischen Modell von Romantik, das in diesem Fall ein wunderbares Erlebnis mit einem möglichen Täuschungsversuch kontrastiert. Die Romantik lässt sich in diesem Text auf jeglicher Textebene greifen: Motivisch lehnen sich die Mondnachtphantasien vor allem an Eichendorffs Marmorbild (1818) und an zahlreiche Hoffmann-Erzählungen an, in denen Marmorstatuen, optische Täuschungen und changierende Perspektiven zum festen Motivbestand gehören.Footnote 69 Auch auf Verfahrensebene imitiert der heterodiegetische Erzähler spätromantische Texte wie E.T.A. Hoffmanns Kater Murr (1819/1821), indem er aus ironischer Distanz zahlreiche Kommentare zur Handlung einfließen lässt.

Die harsche Kritik am Romantischen jedoch, die der Erzähler formuliert, erinnert bereits an die Reisebilder Heinrich Heines. An einer signifikanten Stelle schweift der Erzähler exemplarisch zu einem Nebenschauplatz ab, um anschließend folgende Erläuterung einzuschieben:

Wenn ich […] es vorgezogen habe, mich in diesen vielleicht etwas zu weitschweifigen […] Auseinandersetzungen zu ergehen, so möge man dies entschuldigen: Erstens, weil der Baron […] es für gestattet, ja geboten hielt, sich in den Zustand der bedauernswertesten Sehnsüchtelei hineinzufaseln, Liebesszenen jedoch in jeder erdenklichen Weise schon zu oft und zu ausgiebig geschildert sind, um noch irgendwelches Interesse zu wecken; sodann, zweitens, jedoch in Anbetracht dessen, daß wir es speziell in diesem Falle, wie ich mich erinnere schon erwähnt zu haben, mit einem Schwärmer und Idealsten der allerhimmelblausten Art zu tun haben. (MP 589 f.)

Die „Sehnsüchtelei“ des Barons wird vom Erzähler als „bedauernswert[]“ diffamiert, und auch darüber hinaus bewertet er romantische Liebesszenen aller Art als uninteressant und auserzählt. Hier offenbart die Erzählung ihre rhetorische Ironie mit sarkastischer Note: Obwohl die Mondnachtphantasien selbst eine ausgestellt romantische Geschichte erzählen, werden alle romantischen Elemente zusätzlich mit einer abwertenden, geradezu boshaften Semantik unterlegt. In diesem Sinne reflektiert der Erzähler in seinem Exkurs weiter:

Was aber ein solcher [Schwärmer wie Borkenkamp, R.S.] nach dem Genusse mehrerer Flaschen Sekt sowie einer Vision angesichts des leuchtenden Vollmondes […] mitzuteilen für angebracht hält, das entzieht sich durch eine allzu empfindliche Unverständlichkeit der Mitteilung sogar in einer so romantischen Geschichte wie die vorliegende. (MP 590)

Tatsächlich hegt der Erzähler für die Romantik keinerlei Sympathie. Erst an dieser späten Stelle lässt er durchscheinen, dass der Baron während seiner Mondnachtphantasie stark alkoholisiert war, und in ausufernden, verschachtelten Satzkonstruktionen imitiert der Erzähler einen unnötigen Überschwang künstlerischer Artistik. Heinrich Manns früheste Neoromantik unternimmt hier eine Parodie: Der Erzähler ahmt die literarische Spätromantik Eichendorffs, Hoffmanns und Heines nach, um sowohl ihre Topoi als auch ihre Schreibverfahren für eine zeitgenössische Leserschaft als überholt auszuweisen. Romantische Figuren erscheinen in diesem Text, inklusive seines Erzählers, als lächerlich.

Allerdings existieren im aristokratischen Milieu der erzählten Zeit noch einige Unzeitgemäße, die sich mithilfe von Romantik austricksen lassen. „War’s vielleicht der Mond“, fragt der Erzähler nach der Vision des Barons, „mit seinem ganzen verbrauchten tausendjährigen Zauber, den er doch immer wieder mit Erfolg anwendet, um arme aufgeregte Menschenkinder zum besten zu haben“? (MP 590) Der Text liefert hierzu eine klare Antwort, die den Gültigkeitsbereich des Modells von Romantik übersteigt: „Nein, das war wohl nicht möglich, denn es war heute ein trüber Himmel“ (MP 590 f.). Anders als in einer romantischen Erzählung bleiben an dem weltlichen Gehalt des Täuschungsmanövers in der Pappstatue keinerlei Zweifel offen, denn der Vicomte Lavallant bekennt sich offen zu seinen Taten. „Sehen Sie“, gesteht er, „es ist eine Liebhaberei von mir, solche für die Welt und das Leben unbrauchbare Idealisten, wie Sie einer sind, zu bekehren“. (MP 595) Vor dem Baron präsentiert sich der Vicomte entsprechend als Missionar:

[„V]or der Lächerlichkeit wollte ich Sie ja behüten […], Sie von der Ihnen nur hinderlichen Last der Illusionen befreien. Denn zum Idealismus gehört heutzutage Geld, und für einen Idealisten, der – wie Sie in diesem Augenblicke – vis-à-vis de rien sich befindet, gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder er schießt sich tot, oder er nimmt Vernunft an…“ (MP 598)

Schon in diesem frühen Text taucht ein Grundproblem des jungen Heinrich Mann auf, das am Gegenstand der Romantik immer wieder verhandelt wird: Ein romantischer Idealismus, auch: ein schwärmerisches Leben für die Kunst, ist mit den Anforderungen der modernen Welt nicht vereinbar und lässt sich höchstens mit einem gesicherten Einkommen verfolgen. Der betrügerische Vicomte bekehrt den träumerischen Idealisten Borkenkamp zu einem brutalen Realismus, was die Erzählung gleich doppelt unterstreicht: In einem Epilog am „Ostseebad[] T.“ (MP 598) findet sich der Baron nun selbst am Spieltisch ein, wo er ein armes Mädchen um ihr letztes Geld für die kranke Mutter betrügt. Das romantische Schwärmen wird in der modernen Welt, daran lässt die Erzählung keinen Zweifel, ad absurdum geführt.

Nach diesem Muster lässt sich die Betrugsgeschichte auch poetologisch lesen: Sowohl der Erzähler wie auch der betrügerische Vicomte nutzen die Romantik erfolgreich als Trick, um den Baron von Borkenkamp wie auch die Leser an der Nase herumzuführen. Eine solche Neoromantik greift die literarische Romantik auf, um eine überholte literarische Tradition einmal mehr gegen die Wand zu fahren. Es handelt sich bei den Mondnachtphantasien somit um eine Parodie auf Romantik: Im Stil Heinrich Heines erzählt der Text eine Hoffmann’sche Groteske, die weniger mit Verweisen auf Arnims Isabella von Ägypten als mit markanten Motiven aus dem Werk Eichendorffs unterlegt ist.Footnote 70 Es ist die späte bis späteste Romantik, die Mann erzählerisch aufgreift und die als Trias aus Heine, Eichendorff und E.T.A. Hoffmann sein frühes Romantik-Modell dominiert.

Die intertextuelle Nähe zu Heine zeigt sich besonders markant in einer abschließenden Szene, in welcher der Baron gefragt wird, ob er „wirklich Vernunft angenommen und alle unnötigen Illusionen über Bord geworfen“ habe (MP 600). Der Text antwortet mit der Schilderung einer Strandszenerie:

Ruhig und groß lag die See, wie im Schlummer; und der Mond, der sich in ihr spiegelte mit glitzernd-goldigem Schein – das war vielleicht ein schöner Traum, den sie [die See, R.S.] träumte? … Aber der Mond verschwindet hinter grauen Wolken, und das Meer wird erwachen und grollend fragen, wohin der Traum entschwunden, der ihm eben noch gelächelt. Und es wird nur sein eigenes Rauschen vernehmen und das des Windes, und droben am dunklen Nachthimmel

…fliehen die Wolken,

Es blinken die Sterne, gleichgültig und kalt,

Und ein Narr wartet auf Antwort. (MP 601)

Selbst das Meer, jener Ort der romantischen Sehnsucht schlechthin, wird am Ende dieser Erzählung als träumerischer Narr ausgewiesen. Bei der eingerückten Textstelle handelt es sich um ein Zitat des Heine-Gedichts Fragen aus dem Buch der Lieder (1827).Footnote 71 Im direkten Vergleich zeigt sich wiederum ein Unterschied zwischen den Mondnachtphantasien und Heines Lyrik: Während die ergebnisoffenen Fragen bei Heine noch von einem Subjekt formuliert werden, das schwärmerisch auf das Meer blickt, haben sich die Figuren bei Heinrich Mann bereits von der Strandszene abgewandt, sodass nur noch der artistische Erzähler seine allegorische Naturdeutung ausbreitet. Tatsächlich hat sich auch der Baron bereits in die skrupellose Welt des Geldes integriert, sodass die romantische Mondnacht über dem Meer nur noch den Erzähler interessiert, nicht aber die Figuren. Wo Heines Fragen unbeantwortet bleiben, unterstreicht die subjektentbundene Natur in den Mondnachtphantasien noch einmal die ständige Enttäuschung romantischer Schwärmer – sodass der abschließende Vers in diesem Kontext keine Offenheit anbietet, sondern jeden Mondsüchtigen als anfälligen Narren abwertet. Der Text übernimmt damit die rhetorische, nicht aber die romantische Ironie Heinrich Heines.Footnote 72

Um eine aussichtsreiche Weiterführung romantischer Textverfahren handelt es sich bei dieser Erzählung somit (noch) nicht. Die Aktualisierung von Romantik wird vielmehr dazu eingesetzt, um Romantik als alte, unzeitgemäße Lebensform zurück ins Archiv zu verbannen. Ein doppelter Boden im Sinne einer Kippfigur zwischen Behauptung und Widerruf ist in dieser Erzählung – trotz der rhetorischen Ironie – nicht nachzuweisen. Heinrich Heine ist für Mann in diesem Zeitraum zwar, so der Titel einer anderen Erzählung, Der große Moderne (1891) – seine Heine-Rezeption aber fokussiert auf die „destruktive Tendenz“ Heines, sodass er ihn vor allem als Skeptiker und weniger als Romantiker interpretiert.Footnote 73 Manns Erzählung aus dem Jugendwerk ist damit noch keineswegs typisch für die Neoromantik seiner kommenden Texte, führt aber auf besondere Weise vor, was sich innerhalb weniger Jahre durch eine diskursive Verschiebung verändern wird: Die radikale Abwertung weicht schon bald einer produktiven Neubewertung, wobei sich manche Akzente in Manns Romantik-Aneignung transformieren, andere Aspekte aber auch auf bezeichnende Weise wiederkehren.

3.1.3 Verborgene Unendlichkeit: Das Wunderbare (1896) und die weiße Winde

Die wohl wichtigste Erzählung des frühen Heinrich Mann, Das Wunderbare, entsteht von Oktober bis November 1894 und wird erstmals 1896 in der Kunstzeitschrift Pan veröffentlicht, dessen Originaltext noch deutliche Spuren seiner frühen Auseinandersetzung mit der neuen Romantik nach Bahr, Maeterlinck und Co. trägt.Footnote 74 Auch die Forschung räumt der Novelle bei der Betrachtung des Frühwerks einen Sonderstatus sein, zumeist unter Berufung auf die stark veränderte Fassung letzter Hand (1917),Footnote 75 wobei den intertextuellen Bezügen auf die Romantik einschlägig Renate Werner nachgegangen ist.Footnote 76 Als eine neoromantische Erzählung aber, die ein Modell von Romantik nicht einfach epigonal aufgreifen, sondern produktiv aktualisieren möchte, führt der Erstdruck des Wunderbaren unmittelbar in den Kern der Mann’schen Poetik, die zugleich als belastbares Beispiel einer Frühphase neoromantischen Schreibens gelten kann.

Der Rahmenerzähler der Novelle, ein junger Künstler, besucht nach langer Zeit seine frühere Heimatstadt. Dort wohnt sein Schulfreund Siegmund Rohde, der sich nach einer gemeinsamen, schwärmerischen und künstlerischen Jugend nun einem „bürgerliche[n] Glück“ zugewandt hat (WB 203). Bei einem Wein erläutert Rohde, mittlerweile Familienvater und Rechtsanwalt, den Grund für seinen Lebenswandel und trägt dem Erzähler seine ausführliche (Binnen-)Geschichte vor, die er folgendermaßen einleitet:

„Ich habe mich des Idealen ein wenig entwöhnt. Man muß das Wunderbare nicht zum Alltäglichen machen […] So nenne ich es jetzt gern. Ich meine das, was man nicht kennt und woran man nicht denkt in der bürgerlichen Gewöhnlichkeit, in der man alles genau kennt und weiß. Ich meine das Ferne, Sinnlose, fast Unmögliche, bloß Geträumte und dessen man sich, auch wenn man es erlebt hat, nur wie an einen Traum erinnert.“ (WB 195)

Schon in dieser Exposition ist das Hauptthema der Mondnachtphantasien wieder aufgegriffen: Ein ehemaliger Idealist wandelt sich, ähnlich dem Baron von Borkenkamp, zu einem pragmatischen Realisten (hier: einem ‚Bürger‘), und im Mittelpunkt der folgenden Binnengeschichte stehen die Umstände, wie es dazu kommen konnte. Im Folgenden wird zuerst rekonstruiert, weshalb diese Erzählung historisch begründet als neoromantisch gelten darf; um anschließend zu analysieren, wie das modellhaft Romantische in diesem Text modifiziert wird.

Neoromantische Elemente im Wunderbaren

Bei einem Spaziergang in einer italienischen Landschaft, wo sich der kränkliche Rohde zur Kur aufhält, kommt er von den üblichen Wegen ab und trifft nach einer ziellosen Naturwanderung auf eine blasse Frauengestalt, mit der er eine unbestimmte, längere Zeit in einem Landhaus verlebt. Dabei lässt der Text prinzipiell offen, ob es sich bei der Frau um eine reale Gestalt, um eine subjektive Imagination oder gar um ein Gespenst handelt, da die Erscheinung immer unwirklichere Züge annimmt. Schon die erste Begegnung mit der femme fragile, die auf den Namen „Lydia“ hört (WB 201),Footnote 77 gibt Anlass zu berechtigtem Zweifel an ihrer Existenz:

Ich hatte mich weiter vorgebeugt und hielt ihren Blick aus, fast ohne ihn zu fühlen, als sei sie nur ein Traum. Und ich war kaum überrascht. Hatte ich doch, ohne es recht zu wissen, meinen Blütentraum fortgesponnen und See und Garten und Haus belebt mit Allem, was ich wünschen mochte […]. Sie war die Seele der Landschaft selbst. Ich hatte sie fast erwartet. (WB 197)

„Es war, als hätt der Himmel / die Erde still geküßt“:Footnote 78 Das wohl prominenteste Verfahren der deutschen Romantik, die konjunktivische Schilderung einer Figurenwahrnehmung, findet sich in der Wunderbaren-Novelle geradezu inflationär eingesetzt. Die dominante Verfahrensvorlage dieses Textes liefert Eichendorffs Erzählung Das Marmorbild (1818): „Florio stand in blühende Träume versunken, es war ihm, als hätte er die schöne Lautenspielerin schon lange gekannt und nur in der Zerstreuung seines Lebens wieder vergessen und verloren“.Footnote 79 Romantische Konjunktivierungsstrategien wie diese eignet sich der Binnenerzähler Rohde im Wunderbaren an, sodass statt Heine in dieser Novelle Eichendorff die stilistische Vorlage liefert. Der ontologische Status des Erlebten zwischen Potentialis oder Irrealis bleibt in beiden Fällen, ganz im Sinne des Modells von Romantik, unentscheidbar.Footnote 80

Wie in den Mondnachtphantasien bedient sich der Text zudem konkreter romantischer Motive, allen voran einem wiederkehrenden Symbol der „weiße[n] Winde“ (WB 196). Hier ist die Aktualisierung von Romantik in nuce greifbar: Es ist nicht die blaue Blume des Novalis, die eine geradezu wilde Sehnsucht hervorruft, sondern stattdessen entdeckt Rohde eine weiße Winde, die sich durch ihre Sanftheit und vor allem durch allumfassende Präsenz auszeichnet. Die ruhige Winde nämlich, die in Analogie zur blassen Frauengestalt steht, umschließt die gesamte Umgebung:

Die Blüte, an die ich denke, […] ist noch so viel heller und zarter. Man wagt sie nicht zu berühren. Sie erträgt nur den Kuß eines südlichen Lichtes. Sie windet sich, zahllos und endlos, zwischen stillem Grün, im weiten Bogen über den blauen See. […] [W]ie roter Edelstein flimmern die Granatblüten, der See glänzt demantklar. Aber mild und mäßigend legt sich über all die Helligkeit der Schleier der Blüten, deren Weiß einen Hauch aller Farben in sich trägt. (WB 195)

Tatsächlich kann die weiße Winde, anschließend an Lea Ritter-Santini, als das charakteristische Substitut einer blauen Blume zur Jahrhundertwende beschrieben werden:Footnote 81 Das Chaos der Farben vereint sie in einem allumfassenden Weiß, sie ist kränklich und zart, und vor allem müssen die Figuren nichts unternehmen, um sie zu finden. Ganz von selbst schlängelt sie sich durch die Landschaft, sodass auch Rohde exakt jenen Weg über Felsen, Granatblüten und See durchlaufen wird, wie ihn die weiße Winde in dieser Schilderung vorgibt.Footnote 82 So gelangt er nur mithilfe seiner Intuition zu der gespenstischen Frauengestalt, ohne sie überhaupt gesucht zu haben. Erst in der voranschreitenden Krankheit und in zunehmender Passivität öffnet sich Rohde eine wunderbare Welt, in der er sich entbunden von „Raum und Zeit“ (WB 200) und zugleich „vertraut wie eine Heimat“ fühlt. (WB 198)

An dieser Stelle greift zugleich der zeitgenössische Diskurs über Neoromantik in die Erzählung ein. In Rohdes somnambulen Erlebnis blitzt ein unterschwelliger Determinismus hervor, dem sich die Figuren nicht visuell oder begrifflich, sondern ausschließlich über „Gefühlswerthe“ und Erlebnisse annähern.Footnote 83 Es ist das Programm Maurice Maeterlincks, das Heinrich Mann in die Gattung der Novelle überführt: Da die Welt „von unberechenbaren Factoren“ abhängig sei, so beschreibt es Mann in seinem Essay über Neue Romantik,Footnote 84 sind es nicht die rationalen Begriffe, sondern die intuitiven Gefühle, die als Mittel der Welterkenntnis aufgewertet werden. „Man hatte das Wunderbare ganz erfaßt, weil man den Begriff des Wunderbaren ganz verloren hatte“, so lautet die Sentenz, die Rohde am Ende seiner Erzählung formuliert (WB 204).Footnote 85 Ein solches Programm ist zugleich mit einem Modell von Romantik vereinbar, wie es die literarischen Texte zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwerfen: Hinter dem rationalen Erkennen gibt es einen „archimedischen Punkt“, etwas Wunderbares, das die Sehnsucht der Idealisten weckt, sich aber nicht mit analytischen Begriffen fassen lässt.Footnote 86

Wo die Romantik um 1800 nun die ‚progressive Universalpoesie‘ als Mittel zur Erkenntnis einsetzt, geht Manns Erzählung einen markanten Schritt weiter. Die Radikalisierung des romantischen Modells zeigt sich in einer poetologischen Szene, in der die Frauengestalt ein Zeichenheft auf den Beinen Rohdes erblickt. Sie fragt:

„– Zeichnen Sie hier?“

„– Ich habe nicht einmal den Versuch gemacht.“

„– Nicht wahr? […] – Auch wenn ich’s vermöchte, würde ich das nicht wiedergeben mögen. Es bleibt dann nicht mehr ganz. Man müßte es zerlegen, um zu erfahren, wie die Wirkung entsteht. Ich will es nicht wissen, ich liebe es so hinzunehmen, wie es sich offenbart.“ (WB 197)Footnote 87

In diesem Dialog formuliert die blasse Frauengestalt nicht nur eine Kritik an der analytischen Wissenschaft und ihrer Zergliederung (nach dem Vorbild Bourgets). Gleichzeitig spricht die femme fragile auch der Ästhetik ihre Funktion ab: Nicht einmal in der künstlerischen Produktion lässt sich der Zauber der weißen Winde abbilden, weshalb Rohde und die gespenstische Lydia in ihrer Idylle weder zeichnen noch musizieren können.Footnote 88 Eine solche Kunstskepsis richtet sich selbstreferentiell gegen die Novelle selbst, die sich ja ebenfalls an einer Schilderung der weißen Winde probiert: „Wie soll ich nun erzählen, auf welche Weise ich sie vergessen habe?“ (WB 203), fragt Rohde den Rahmenerzähler am Ende seiner Geschichte, ohne eine belastbare Antwort zu erhalten.Footnote 89 Das Erlebnis der weißen Winde kann nicht erzählt werden, so lautet die Diagnose, und doch führt die Novelle in Form eines Binnengesprächs genau dieses unmögliche Unterfangen vor. Hier liegt eine „Kippfigur von Behauptung und Widerruf“ vor, romantische Ironie also,Footnote 90 mit der trotz aller Gefühlswirkung berechtigte Zweifel an den Schilderungen Rohdes verbleiben.

Es handelt sich bei Das Wunderbare damit, bleibt man zunächst textinhärent auf Beschreibungsebene, um eine neoromantische Erzählung, die an romantische Topoi intertextuell anknüpft, um die progressive Universalpoesie um eine trostlose Funktionslosigkeit künstlerischer Darstellung zu ersetzen. In letzter Konsequenz wendet sich schließlich auch Rohde von dem Idealismus seiner früheren Lebensform ab:

Das Wunderbare! Zuweilen hege ich Zweifel, aber dann meine ich doch wieder, es sei besser, ein einziges Mal von seinem vollen mystischen Schein getroffen zu sein, als die andere Art, wie ihr Andern den gemeinsamen Idealen unserer Jugend näher zu kommen sucht. (WB 204)

Die unendliche Annäherung der Romantik funktioniert damit für Rohde nicht mehr: Hat man einmal tatsächlich hinter den Schleier der gewöhnlichen Wahrnehmung geblickt, wie es dem kränklichen Rohde in seiner Jugendepisode gelang, dann stellt sich die idealistische Sinnsuche als ein gefährlicher Irrweg heraus. Die romantische Erkenntnis führt hier direkt in den Tod, und wem es gelingt, den Naturgeheimnissen nahe zu kommen, der muss entweder sterben oder, wenn er sich retten will, künstlerisch verstummen. Wunderbare Kunsterfahrung und das bürgerliche Leben stellen zwei kategorial getrennte Bereiche dar, zwischen denen ein Oszillieren im Sinne der historischen Romantik nicht mehr möglich erscheint. Der Rahmenerzähler berichtet nun von diesem Erlebnis aus zweiter Hand, womit ein gebrochener Schein dieser Naturwahrheit immerhin in sein eigenes, dialogisch angelegtes Kunstwerk herüberleuchtet. Die Erfüllung des künstlerisch-romantischen Strebens ist beim frühen Heinrich Mann allerdings nur im Tod zu finden.

Veränderungen des romantischen Modells im Wunderbaren

Mithilfe des Modells von Romantik lassen sich die Modifikation im Wunderbaren noch präziser beschreiben: Wie haben sich die drei heuristischen Säulen des Romantischen (Fragmentierung, Synthese und Kippfigur) genau verändert, sodass auch der Poesie ihre Fähigkeit abgesprochen wird, sich produktiv an etwas ‚Absolutes‘ anzunähern? In Manns Wunderbarem findet sich ein entscheidender Unterschied zu den Versprechen der literarischen Romantik realisiert, den es in seinen Details genauer zu beschreiben gilt.

Von modernen Fragmentierungs- und Entwurzelungserfahrungen wissen sowohl Rahmen- als auch Binnenerzähler wiederholt zu berichten. „Ich selbst war ein Fremder, dem das Unmögliche zustoßen konnte, ohne daß es mich in Verwunderung setzte“ (WB 198 f.), klagt Rohde während seines Übergangs in die Traumlandschaft; und auch der namenlose Rahmenerzähler eröffnet den Text mit einer Diagnose, die seine Rückkehr in die Heimatstadt beschreibt: „[I]ch war dort fremd geworden“ (WB 193). Fragmentierungserfahrungen werden deutlich artikuliert und gestalten sich in hohem Maße äquivalent zu romantischen Texten (z. B. zu Novalis’ Heinrich von Ofterdingen), wie sich auch in der Begründung illustriert, weshalb Rohde in seinem kränklichen Zustand aufbricht: „Fand ich mich dann gelegentlich wie durch Zufall wieder zum Hause zurück, so war es mir eher unerwünscht. Es war, als suchte ich etwas Fremdes, das ich ahnte und nicht fand.“ (WB 195) Eine bedrückende ‚Fremde‘ ist hier Ausgangsproblem und Sehnsuchtsort zugleich, wobei Rohde durch die Hoffnung auf eine noch unbekannte Erlösungserfahrung angetrieben wird. Diese unbestimmte Sehnsucht als Folge einer Fragmentierungsdiagnose deckt sich mit dem Erzählmodell von Romantik um 1800; nur dass sich Rohde, nachdem er seine abenteuerliche Bildungsreise beendet hat, schließlich geläutert einem „bürgerliche[n] Glück“ ohne Idealismen zuwendet (WB 203).

Ein entscheidender Aspekt verändert sich, sobald die strukturelle Anlage der Erlösungsvisionen (Synthesen) in den Blick rückt. Ganz im Sinne romantischer Texte erlebt Rohde seinen Übergang in die stille Naturlandschaft zunächst als Transzendierung des eigenen Ichs: „Und obwohl der Raum, in dem wir uns bewegten, im Grunde nur klein war, so war es doch nicht anders, als wandelten wir, Seite an Seite in unendliche Weiten fort.“ (WB 200) Die „Seelen“ Lydias und Rohdes verschmelzen zunehmend miteinander (WB 198) und nähern sich in einem fortschreitenden Schwächeprozess gleichzeitig dem Tod an, was Rohde objektiv als beängstigende, subjektiv aber als wohltuende Erfahrung beschreibt: „Lebte ich doch nur von ihrer Seele und ganz in den in den Rätseln ihres Wesens eingeschlossen, die für mich keine waren. Ich kannte sie, weil ich mit ihr eins war.“ (WB 201) Zwei Gradunterschiede zeigen sich in Verschmelzungsszenarien dieser Art: Zum einen verspricht Rohdes Übergang in den Tod tatsächlich eine Aufhebung seiner subjektiven Entwurzelung. Zum anderen aber wird immer wieder die Enge bzw. der hermetisch abgeschottete Bereich beschrieben, ein „im Grunde nur klein[er]“ Raum (WB 200), in den die Figuren gemeinsam abtauchen, um anschließend zusammen in der Unendlichkeit zu verschwinden. So auch laut folgender Formulierung:

Sie [Lydia, R.S.] hatte sich hierher zurückgezogen, in einen künstlichen unweltlichen Kreis, für den die Verhältnisse des Lebens der Andern nicht mehr galten und dessen Grenzen bereits in die ewige Leere hinüberflossen. Ihr Dasein berührte sich schon hier, wo man langsamer oder schneller, ohne das Bewusstsein der Zeit lebte, mit der Unendlichkeit. (WB 201)

Der erlösende Raum, den Rohde in seinem gespenstischen Erlebnis mit Lydia beschreibt, bleibt strikt getrennt von allen „Verhältnisse[n] des Lebens“; die idyllische Landschaft erscheint ihm vielmehr „künstlich[]“ und „unweltlich[]“. Die Integration in den wunderbaren Binnenraum beschreibt Rohde damit als eine neue Entwurzelungsstrategie: Die Annäherung an die Unendlichkeit mit Lydia gleicht einem Herabsteigen in einen abgeschotteten, toten Winkel der Diegese, der von einem geselligen ‚Leben‘ weitestmöglich entfernt liegt. Die Erlösungsutopie Rohdes ist damit zu keinem Zeitpunkt allumfassend oder auch oszillierend: Im Zuge einer Grenzüberschreitung gelingt ihm lediglich ein kurzer Blick in einen exklusiven Ort mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, an den sich Rohde zunehmend assimiliert. Etwas ‚Absolutes‘, verstanden als verbindender Deutungshorizont für eine partikularisierte Gesellschaft, findet sich dort aber nicht: Die lebendigen Menschen bleiben von diesem Raum notwendig abgetrennt, mit ihnen gibt es keinerlei Schnittmengen.

Das Absolute findet sich im Wunderbaren also nur in einem abgeriegelten Teilbereich und besitzt ausschließlich Gültigkeit innerhalb dieses Raumes. In der Romantik ist das in der Regel nicht derart radikal: Hier finden Figuren wie Christian in Tiecks Runenberg ebenfalls ein potenzielles Naturgeheimnis in den Bergen, das aber anschließend wieder mit der Gesellschaft konfrontiert wird und alle Wahrnehmungen der Figur in einem anderen, doppelten Licht erscheinen lässt.Footnote 91 Rohde jedoch kann seine wunderbaren Erfahrungen nicht aus dem toten Winkel hinaus exportieren: Sobald er sich von Lydia räumlich entfernt, verliert er auch den Kontakt zur Unendlichkeit. „Denn seltsamer als alles Andere ist, daß ich sie vergaß, und dennoch so natürlich“ (WB 203). Die Abschottung einzelner Binnenräume ist im Wunderbaren – im Vergleich zur Romantik – hermetisch radikaler und eine Verschmelzung der Räume in einer Synthese völlig unmöglich.

In gleichem Maße, wie Rohdes Erfahrung absoluter Letztbegründbarkeit nur in einer abgeriegelten Sphäre stattfindet, bringt auch die neoromantische Kippfigur im Vergleich mit ihrer modellhaften Vorlage nicht alle Aspekte des Textes ins Wanken. Hier ist der Schluss der Rahmenerzählung aufschlussreich, den Mann in späteren Überarbeitungen aus dem Text streichen wird. Der Rahmenerzähler endet darin mit folgenden Worten:

Nun wandte er [Rohde, R.S.] sich, um bei mir eine Bestätigung zu suchen. Und ich begriff die ganze Wahrheit seiner Erzählung, als ich in diesem energischen Gesicht eines arbeitsamen Mannes die Augen sah, die für die Minute noch einmal so geworden waren, wie ich sie manchmal in seinem Knabengesichte gesehen, Augen eines begeisterten Mystikers. Und ohne seiner Erzählung nachzugrübeln, dachte ich nur, daß er, der sie erlebt, ein glücklicher Sterblicher sei. (WB 204)

Schließlich sind es nicht die Worte, sondern die „Augen“ Rohdes, die dem Rahmenerzähler „die ganze Wahrheit“ seiner Geschichte aufschließen. Durch diesen finalen Blick erfährt Rohdes irrationales Erlebnis eine externe Legitimation: Auch der Erzähler erspürt hier etwas, was sich nicht einmal in künstlerische Worte übersetzen lässt, und er bestätigt damit den ‚mystischen‘ Gehalt des Erlebnisses. Es geht im Text dieser Erstfassung weniger darum, das Beschriebene in einem Vexierspiel von Behauptung und Widerruf zu relativieren oder neu zu perspektivieren. Sondern: Hier wird ein Erkenntnismodus jenseits des rationalen Begreifens inszeniert, der zwar zu kippfigurähnlichen Effekten in der Wahrnehmung führen kann, dessen ontologischer Status aber, als höhere Einsicht in die Tiefengeheimnisse des Lebens, nur unterstrichen werden soll. Der mystische Zauber der Erzählung packt am Ende auch den Rahmenerzähler; und auch er verabschiedet sich schließlich davon, dem Gehörten „nachzugrübeln“, um sich ganz auf die prärationale Evidenz seines Gesamteindrucks zu beschränken. Rohdes beinahe tödliche Annäherung an das Unendliche wird also durch einen zweiten Gewährsmann bestätigt.

Dennoch finden sich auf einer anderen Ebene kippfigurhafte Strukturen: Ob Lydia tatsächlich menschlich war, ob sie ein Gespenst oder eventuell nur einen Fiebertraum innerhalb Rohdes langer Krankheit darstellte, lässt sich nicht mit Sicherheit rational evaluieren. Fraglos aber bleibt, dass Rohde die Geschichte „erlebt“ hat (WB 194, 204). „Ich phantasiere nicht und es ist keine Ideallandschaft, die ich beschreibe. Es ist ein Erlebnis“ (WB 195), versichert er zu Beginn seiner Erzählung. Sowohl die Vorherrschaft des Irrationalen im künstlerischen Raum, in dem zergliedernde Worte nicht mehr gelten, als auch die Unvereinbarkeit dieser Sphäre mit einem bürgerlichen ‚Leben‘ werden mithilfe der Rahmenstruktur letztlich kohärent unterstrichen. Innerhalb der wörtlichen Wiedergabe der Erzählung bleiben schließlich Rätsel offen, ohne dass eine tiefere „Wahrheit“ des Erlebnisses vom Text angezweifelt würde (WB 204).

Mithilfe des Modells zeigt sich also, dass Manns neoromantische Erzählung die konstitutiven Aspekte des Romantischen dezent, aber folgenreich modifiziert. Wo in der Romantik subjektive Transzendierungsvisionen inszeniert werden, deren Gültigkeit notwendig an das Individuum und seine Perspektive gebunden bleiben (und deshalb ironisch changieren), taucht Rohde im Wunderbaren in einen toten Winkel der Landschaft ein, um dort unzweifelhaft eine Annäherung an das Unendliche zu erleben. Was genau dort passiert, bleibt in Teilen rätselhaft; doch die Gesamtanlage der Erzählung betreibt einigen Aufwand, um die kippfigurhaften Zweifel an dem Erlebnis zu marginalisieren und Rohdes gewonnene Erkenntnisse als gültig zu belegen. Das Romantische, so scheint es mit Blick auf das Wunderbare, findet sich nun an leblosen, abgelegenen und zugleich künstlichen Orten; und es hat seine Funktion für das gesellige Leben vollständig verloren. Selbst eine neoromantische Erzählung (wie Manns Das Wunderbare), die sich in Teilen dialogisch dem Wahrheitsgehalt eines mystischen Jugenderlebnisses anzunähern versucht, kann Rohdes Unendlichkeitserfahrung nur unzureichend wiedergeben; und sie endet schließlich, ohne belastbaren Widerspruch zuzulassen, in einer Tendenz zum bekehrenden Monolog.

3.1.4 Die Jagd nach dem blauen Falter: Contessina (1894) als Kontrafaktur

Eine letzte Novelle des frühen Heinrich Mann kann eine weitere Note zum Verständnis des neoromantischen Schreibens hinzufügen – und mit Blick auf die Aktualisierung von Romantik handelt es sich bei Contessina (1894) um die komplexeste seiner frühen Erzählungen.Footnote 92 Dass der frühe Heinrich Mann seine Neoromantik um 1894 für eine Entdeckung von literarhistorischem Rang hält, zeigt sich nicht zuletzt in dem Umstand, dass er die Geschichte um Das Wunderbare gleich doppelt verfasst: Wenige Monate vor dem Wunderbaren entsteht die Novelle Contessina, worin die Erzählperspektive – statt auf einen männlichen Künstler – auf eine weibliche femme fragile fokalisiert, die auf einem märchenhaften Schloss von einem Kunstprofessor besucht wird.

Die junge Contessina trägt den Namen Elena, und wieder spielt die Geschichte in Italien, diesmal noch deutlicher in der Nähe von Florenz.Footnote 93 Beide Texte stehen in einem Verhältnis der Kontrafaktur zueinander: Sie behandeln dasselbe Problem anhand analoger Semantiken, allerdings verschiebt sich die Erzählperspektive in diesem Fall auf die märchenhafte Contessina, die in der italienischen Provinz auf einem einsamen Schloss lebt. Zwar erhielt Das Wunderbare in der Forschung (und vom Autor) die zentrale Aufmerksamkeit; mit Blick auf die Modellierung von Romantik aber ist Contessina nicht nur zeitlich vorgelagert, sondern unterzieht Motive und Textverfahren von Romantik einer mindestens ebenso streng komponierten, in diesem Zusammenhang sogar aufschlussreicheren Aktualisierung.

Die junge Contessina, Hauptfigur der Novelle, ist die letzte Nachkommin eines alten italienischen Adelsgeschlechts. Schwach und dem „Leben“ entrückt, wohnt sie gemeinsam mit ihrer Mutter auf einem verlassenen Schloss, auf dem sich die „Mama“ nach dem Tod ihres Mannes „mit seinen Bildern eingeschlossen“ hat (CO 65). Überhaupt hängen im gesamten Schloss Gemälde von dem übermächtigen Vater. Als Contessina fünfzehn Jahre alt wird, bestellt die Mutter einen Bildhauer aus Florenz auf das Anwesen: Er soll eine lebensgroße Marmorstatue des Vaters anfertigen, die im Zimmer der Contessina aufgestellt wird – als Erinnerung an den Ahnherren des Hauses, den „Letzte[n] […] unseres Geschlechts“ (CO 66).

Neoromantische Elemente in Contessina

Was macht diese Erzählung zunächst einmal zu einem neoromantischen Text? Ähnlich konkret wie im Wunderbaren greift Contessina auf romantische Topoi zurück, wobei die Motive aus der historischen Romantik nicht nur wiederholt, sondern um neue Akzente angereichert werden. Die Novelle beginnt mit einer Strandwanderung der kindlichen Contessina, woran sich eine romantische Naturschilderung nach dem Vorbild Eichendorffs anschließt:

Contessina läßt den Blick über die Berge, jenseits des Pinienwaldes, weit dahinten zu ihrer Rechten, schweifen, wo die Blendung der schon gegen Mittag steigenden Sonne weniger stark ist. Im Weiterwandern schaut sie in versteckte Täler, in schmale Hohlwege hinein, deren lauschende grüne Stille von dem mattsilbernen Band eines kleinen Kanals durchzogen wird. (CO 64)

Schon die Schilderung dieser Naturszene lässt erahnen, dass sich im Blick Contessinas nicht die Perspektive des frohen Wandersmanns aus Eichendorffs Taugenichts (1823) wiederholt: Die Sonne blendet das schmächtige Kind, und statt rauschender „Bächlein“ und lustiger „Lerchen“Footnote 94 sucht ihr Auge vielmehr die „lauschende grüne Stille“ und ruhige, versteckte Orte in der Landschaft (CO 64). Die Natur wird in Contessinas Blick förmlich entzaubert, was der Text konkret ausformuliert:

Doch in Contessinas große dunkle Augen tritt nichts von der Stimmung der Landschaft ein, auf der sie ruhen, so wenig von ihrem inneren Schweigen wie von ihrem lauten Glanze. Ohne gerade traurig zu sein, sind sie ein wenig teilnahmslos, die Augen des kleinen Mädchens, für ein Alter, in dem auch der unbedeutendste Gegenstand ein ganz frisches Interesse erregte. (CO 64)

Die dunklen Augen des Mädchens werden zu einem zentralen Motiv der Erzählung, womit der Text an einen zweiten Topos der Romantik anknüpft: Optische Verirrungen gehören zum Verfahrenskatalog romantischer Prosa, wobei die Visualität der Romantik in der Regel auf eine Differenz zwischen optischen Erscheinungen und den subjektiven Bedingungen ihres Erblickens aufmerksam macht.Footnote 95 „Sollte er seinen Augen trauen?“, fragt der Erzähler in Ludwig Tiecks Erzählung Liebeszauber auf idealtypische Weise, „[w]ar es kein Blendwerk der Nacht, welches ihm seine eigne Einbildung gespenstisch vorüber geführt hatte?“Footnote 96 Die Augen der Contessina aber sind leer und entzaubert, in diesem „seltsamen Ausdruck des übergroßen schwarzen Auges“ regt sich nichts. „Es fehlt darin das Zittern und Glänzen von Hoffnungen, in einem Alter, wo alles uns Hoffnungen macht.“ (CO 64)

Romantik wird mit Blick auf die Contessina als etwas Abwesendes aufgerufen, als ein Mangel, der in ihrem Alter eigentlich vorhanden sein sollte. Der Erzähler aber leuchtet ihr ungewöhnliches Verhalten mithilfe romantischer Topoi aus und stellt damit an Contessina gerade die Umkehrung romantischer Prinzipien zur Schau: So verwandeln sich die realen Geschichten, welche die Mutter gelegentlich von ihrer Jugend in Florenz berichtet, in den Ohren der Tochter zu Märchenstunden.

Im Halbdunkel des weiten Gemaches, weit in die Arme der Mutter gelehnt, läßt Contessina sich einlullen von den Erzählungen, die wie Märchen klingen. Aber in das behagliche Dämmern ihrer kleinen Kindergedanken schleicht sich, unmerklich und unverstanden, die Ahnung, daß sie selbst das alles, wovon sie hört, nie, nie erleben und besitzen werde. Und doch ist dies eine Ahnung, die Kindern beim Anhören von Märchen nicht zu kommen pflegt. (CO 66)

Die Funktion des romantischen Kindermärchens wird hier umgedreht: Die Contessina flüchtet nicht in wunderbare, märchenhafte Welten, sondern ausgerechnet die reale Welt dient ihr als ein unerreichbarer, faszinierender Raum, dem sie selbst entrückt bleibt. Der Text betreibt viel Aufwand, um vorzuführen: Die Contessina ist eine „Fee“ (CO 77) in der zeitgenössischen italienischen Provinz, die sich nach einem profanen Realismus sehnt – ähnlich den Elfen in Ludwig Tiecks Erzählung aus dem Phantasus.Footnote 97

In diesem Sinne überbieten sich die Verweise auf die scheiternde Romantik, sobald Contessina in ihrem Alltag und ihrer Physiognomie vorgestellt wird. In einer Szene beschreibt der Erzähler, wie das Mädchen auf ihrem Zimmer eine umgekehrte Ekphrasis vornimmt, jenes vor allem bei E.T.A. Hoffmann beliebte Verfahren der literarischen Bildbeschreibung:

Es kommt vor, daß sie vor ihrem Spiegel stehenbleibt, vor dem reizenden weißen Rokokospiegel, den Mama ihr geschenkt hat, und in ihrem Gesichte die Züge heraussucht und mit dem spitzen Finger nachzieht, die sich denen Mamas ähnlich herauszubilden scheinen. […] Es ist ihr fast, als müsse sie darum auch Mamas mattes und freudloses Leben fortführen. (CO 69)

Contessina zeichnet ihr eigenes Bild im Spiegel nach, was als eigentlich künstlerisches Verfahren dazu führt, dass sie die biologische Abstammung von ihrer Mutter erkennt. Für die märchenhafte Contessina auf dem Schloss erweist sich gerade ihre biologische Disposition als das phantastische Moment, das sie in Form von Vererbungslehre und Sexualität vor unlösbare Probleme stellt. Das Wissen um eine naturwissenschaftliche Genetik ergänzt hier das Romantische, ohne mit ihm in Konflikt zu geraten: „Die Mutter […] und die Contessina, sie sind der Nachhall des letzten Akkordes von einem alten Liede, das nun beendet ist“ (CO 66), so kombiniert der Erzähler Vererbungslehre und Romantik im aristokratischen Milieu.

Der Wissensbestand über Romantik umfasst in dieser Novelle nicht nur die historische, sondern auch die neue Romantik, die sich Motiven und Verfahren von Maeterlincks Dramen bedient. Das Schloss inmitten eines Parks sowie der Brunnen sind als Schauplätze direkt aus dem Märchendrama Pelléas et Mélisande (1892) geborgt, das Mann im Romantik-Essay noch eigenständig rezensierte. Die allgemeinverständliche Sprache, die Mann bei Maeterlinck lobt und streckenweise in seinem eigenen Text verfolgt,Footnote 98 stellt sich der Contessina in der Novelle aber auch als narratives Problem: „Und wer spräche denn eigentlich ihre Sprache, die ihr so recht verständlich wäre“, fragt der Erzähler (CO 68), und das junge Mädchen erkennt ihre Sprachbarriere zuerst im Aufeinandertreffen mit arbeitenden Fischern im Dorf. „[S]ie fühlt, daß diese Menschen einer anderen Rasse angehören als sie selbst, daß sie eine Sprache reden, die, wenn sie die gleichen Laute wie die ihrige hat, doch ihr fremd sind“ (CO 68). In der Contessina-Novelle treten also verschiedene Literaturströmungen gegeneinander an: Die Contessina selbst bewegt sich in einem aristokratischen Milieu, das nicht nur motivisch, sondern auch lexikalisch an Maeterlinck und die französische Décadence angelehnt ist.Footnote 99 Vokabeln des Wohlstands wie ein „schattiges Boudoir“ und die „Loggia“ gehören auf dem italienischen Schloss ebenso zum Alltagsjargon wie der „Mistral“ oder die „Pineta“ (CO 65). Das derbe Milieu des zeitgenössischen Naturalismus hingegen taucht in den Figuren der Arbeiter und Fischer auf, auch wenn sie mit ihren Dialekten hier nicht zu Wort kommen: Sie bleiben Menschen einer anderen „Rasse“, ohne eigenen Sprachanteil (CO 68). Für Contessina, auf welche die Novelle größtenteils fokalisiert, bleibt die naturalistische Formensprache unzugänglich.

All diese Verweise auf die neue und historische Romantik kulminieren in einem aufgeladenen Symbol, das analog zur weißen Winde im Wunderbaren platziert ist. In einem raren Moment der Lebendigkeit verfolgt die kindliche Contessina einen „blauen Falter“ im Wald, was in der Katastrophe endet:

Mit trippelnden, des Laufens ungewohnten Schritten sprang sie die Lichtung hinab, sprang mit Lachen und Jauchzen einem blauen Falter nach. Da erstarb ihr plötzlich der Ton im Munde, es war bei dem runden steinernen Brunnen, der die Mitte der Lichtung einnimmt, wo die Kleine bewußtlos hingefallen war. (CO 66 f.)

Die körperliche Anstrengung überfordert Contessina bis zur Ohnmacht, sodass sie anschließend ihrer Mutter erzählt, ihr „Schutzengel“ habe dort am Brunnen „einen Augenblick seine Hand von mir gezogen“ (CO 67). Funktional analog, aber semantisch entgegengesetzt zur „weiße[n] Winde“ (WB 196) kombiniert der blaue Falter gezielt mehrere Implikationen: Zum einen verweist er auf eine Beweglichkeit und Dynamik, auf die chaotische Lebendigkeit in der Natur, die Contessina gerade fehlt. Sobald sie sich dem Falter in sportlicher Betätigung annähert, erleidet sie einen körperlichen Zusammenbruch, sodass ihr der Schmetterling wieder entschwindet.

Zum anderen zeigt der Falter mit seinem Flügelschlag auch auf den ‚Wind‘, der als „Mistral“ (CO 65) von Contessina gemieden und vom Bildhauer später euphorisch besungen wird. ‚Sturm‘ und ‚Wind‘ durchweben als Leitmotive die Erzählung: „Wie das Leben ist eine Harfe das Meer / Die nur der Sturm zu spielen weiß –“, so rezitiert der Bildhauer eigene Verse am Strand (CO 74).Footnote 100 So ordnet sich noch ein drittes Symbol in die Äquivalenzreihe ein, nämlich das ‚brausende Meer‘, von dem der Falter (neben der romantischen Vorlage) seine blaue Farbe erhält. Eine Interpretation der zitierten Verse des Professors liefert der Erzähler gleich mit: „Er singt ein Lied, dessen Begeisterung […] auch dem Sturme gilt. Und immer klingen, im Refrain, die beiden dem Sturm geweihten, von ihm getragenen Mächte zusammen, das Leben und das Meer“ (CO 74). Sturm und Meer also sind die wiederkehrenden Symbole, die im Text auf das Paradigma des ‚Lebens‘ verweisen. Dem Mädchen aber bleibt dieser Sinn für die lebendige Bewegung in der Natur vorerst verschlossen: „Aber ich höre sie nicht“, antwortet sie, nachdem der Bildhauer von den „Stimmen des Lebens“ gesungen hat, die sich im Meeresrauschen mitteilen wollen (CO 74).

Damit leitet der blaue Falter, der die Erzählung wie eine Klammer umschließt, zum eigentlichen Ereignis, zum Sujet der Novelle über. Der Bildhauer, zumeist als „Professor“ angeredet und „ein Herr Mitte der Vierziger“ (CO 70), begleitet die junge Contessina auf ihren morgendlichen Spaziergängen und zeigt ihr seinen lebendigen Blick auf die Welt.

Sie lernt das Leben beobachten und daran teilnehmen; aber sie erfährt noch mehr. […] „Sehen Sie“, sagt der Professor, „wie zwischen den Stämmen hindurch, und durch die Lücken der Nadelbuketts erblickt, das wolkige Violett der Abendberge sich noch einmal zum tiefen Azur belebt.“ (CO 72 f.)

Ausgerechnet der vierzigjährige Professor lehrt in diesem Text die Romantik: Er beseelt die Natur mit seinem eigenen Blick, er liebt den Karneval, er ist Künstler, wechselhaft in seinen Schauplätzen und emphatisch in seiner Sprache („Sich sehen lassen! das heißt, ich bitte um Verzeihung“, CO 71). Mit einer „lebhaften Gesichtsfarbe“, die er aus der Stadt importiert (CO 70), vitalisiert er das ruhige Provinzschloss und lässt mit seinen Erzählungen am Mittagstisch sogar die schwächliche Mutter aufblühen (CO 71). Die alte Romantik bringt tatsächlich ‚Leben‘ ins Haus: „Die Veränderungen, die er mitgebracht hat“, so der Erzähler, „sind die des Lebens selbst, das in diese Stille eingezogen ist, und wer vermöchte ihm zu widerstehen?“ (CO 72) Sicher nicht die junge Contessina: Auf zahlreichen Morgenspaziergängen lernt sie allmählich eine romantische Perspektive auf Natur und Leben kennen, um dabei eine heimliche Liebe zu dem älteren Professor zu entwickeln.

Der literarhistorische Kommentar der Novelle, der sich schon in der Sprachproblematik zwischen den Fischern und der Contessina gezeigt hat, wird mit dem Auftritt des Professors um ein entscheidendes Element erweitert: Gerade in seinem paradoxalen Changieren zwischen ‚alt‘ und ‚lebendig‘ verweist der Bildhauer auf die historische Romantik, die Contessina – als Figur der jungen Décadence – nun an das ‚Leben‘ heranführt. Ein alter, romantischer Künstler also vermag die untergehende Aristokratie zu revitalisieren. Auch die Fischer erhalten in diesem Kontext ihren zweiten Auftritt: Bezeichnenderweise ist es auch hier der romantische Bildhauer, der Elena die Augen für die Geldprobleme und die Arbeitswelt der Fischer öffnet und damit die Décadence mit dem Naturalismus versöhnt.

Damit erhält das latente Liebesverhältnis zwischen den Figuren eine allegorische Qualität, die der Text unverblümt ausformuliert: „Contessina entdeckt in ihrem Innern, das ihr im Verkehr mit dem Professor bisweilen ganz neu vorkommt, eine gewisse Vermittlung zwischen Natur und Kunst, die etwas Beglückendes für sie besitzt“ (CO 73).Footnote 101 An dieser Stelle findet sich die Hauptforderung der Neoromantik notiert, wie sie sich auch im Diskurs gezeigt hat: Die romantische Kunst und die lebendige Natur sollen einander in einer wechselseitigen Synthese begegnen, wobei der Professor an Contessina das Entrückte und Artifizielle, das ‚Künstliche‘ schätzt, das Mädchen aber die Lebendigkeit und Agilität des älteren Bildhauers zu lieben lernt. Die Figuren sind als widerstrebende Pole angelegt, die sich gegenseitig anziehen: Der Professor repräsentiert das natürliche Leben; die stille Contessina aber fungiert als nahezu lebloses Kunstwerk, eine „Figur des Botticelli […], den jetzt alle lieben“ (CO 71). Ein Motiv, das der Bildhauer gegen Ende des Textes einführt, unterstreicht noch einmal die chiastische Abhängigkeit der Figuren: Die Einsamkeit des Schlosses werde, so der romantische Professor, „von einer Fee belebt, wie man sie in der Welt nicht findet“ (CO 77). Mit diesem Bild beschreibt er zugleich die Unvereinbarkeit ihrer Märchenwelt mit der modernen Stadt: „Dort gedeiht sie nicht, ja, mir ist der Gedanke gekommen, Contessina, daß dort das Leben nicht sanft genug für sie wäre.“ (CO 77)

Es ist bezeichnend für Heinrich Manns frühe Neoromantik, dass auch hier die Synthese am Ende scheitert. Unmittelbar nach dem Höhepunkt einer gegenseitigen Annäherung verkündet der Professor seine jähe Abreise, da sein Werk nun vollendet sei. Nachdem Contessina ihn am Bahnhof verabschiedet, beginnt die Katastrophe: In ihrem Zimmer entdeckt sie die fertige Statue, deren Anblick sie in ein tiefes „Grauen“ versetzt (CO 79). Unter den Stimmen des bereits abgereisten Professors, die ihr aus der Luft herbeirufen („Arme Contessina!“, CO 79), stürzt sie sich in den Brunnen und verschwindet in der Tiefe, ohne eine Welle oder eine Regung des Wassers zurückzulassen. Was genau die „starre, weißragende Figur“ in ihrem Zimmer schließlich abgebildet hat (CO 79), darüber gibt der Text keine Auskunft.

Modifikationen des romantischen Modells: Das Rätsel um die Marmorstatue

Wie ist dieses Ende zu deuten? Die sorgsam konstruierte Novelle lässt genau drei Lesarten zu: Eine erste, kunstkritische Interpretation legt nahe, dass der Bildhauer durch die Manifestation seines Kunstwerks auch der Contessina, seinem Kunstobjekt, das Leben absorbiert hat. Demnach könnte es sich bei der Statue um ein Abbild der Contessina selbst handeln, das der Professor (entgegen seines Auftrags) angefertigt hat. Dafür spricht die Farbe der „weißragende[n] Figur“, die ihr „im Schatten gegenüber“ steht (CO 79) und mit dem Namen Elena – wie auch mit ihrem „weißen Kleid“ (CO 79) und der (häufig betonten) „weiße[n] Hand“ – korrespondiert (CO 77). In dieser Lesart wirkt die Kunst des Romantikers tödlich: Sie saugt das Leben aus ihren Gegenständen und beschleunigt durch eine Überführung in die künstlerische Ewigkeit ihren natürlichen Verfall. Die neoromantische Versöhnung der widersprüchlichen Elemente bleibt schlussendlich ein leeres Versprechen: Das Totgeweihte bleibt tot, die Fischer arbeiten für einen Hungerlohn in ihrem Dorf und der romantische Künstler zieht weiter, um das nächste ‚Leben‘ zu musealisieren.

Zweitens bietet der Text auch eine psychologische, naturwissenschaftliche Lesart der Vorgänge an. Hier hilft der genaue Blick auf den Höhepunkt des Textes: auf eine Annäherung zwischen dem Professor und Elena, die sich erneut an dem Brunnen abspielt, an dem die kindliche Contessina zuvor ihrem blauen Falter nachjagte. Mit dem Professor entspinnt sich ein Fangspiel durch den Wald, in dessen Zuge Contessina beinahe in den Brunnen stürzt, um in genau diesem Moment vom Professor gefasst zu werden. Die sportliche Betätigung tut dem jungen Mädchen zunächst offenbar gut: „Ihr Gesicht hat Farbe bekommen […], ihr Atem, der aus vollen Lungen kommt, ist frisch und duftig.“ (CO 75) Elena kommt dem blauen Falter, der Allegorie auf das ‚Leben‘, diesmal besonders nahe. Andererseits lässt die Szene zugleich einen erotischen Subtext durchscheinen: „Sie haben mich aber ganz atemlos gemacht“, stößt der Professor hervor (CO 75), und anschließend entspinnt sich ein innerer Zwist in dem Mädchen, ob nicht „[a]lle diese Gedanken Sünde“ seien, die sie mit dem Professor verbindet (CO 78).

Im sportlichen Tanz um den Brunnen wird kein Sexualakt zwischen den Figuren metaphorisch umschrieben. Dennoch offenbart sich hier eine Lesart, die in der Novelle konsequent durchgehalten wird: Die Begegnung der fünfzehnjährigen Contessina mit dem Professor ist auch eine Entdeckung ihrer eigenen Sexualität. Schon während die Mutter in Contessinas pubertärer Phase von neuem ihre Geschichten vom Vater erzählt, taucht allmählich „in ihrer schlummernden Seele eine ferne Ahnung auf“ (CO 68), die auf biologische Veränderungen in ihrem Körper hinweist:

Vielleicht sind es gerade die Augenblicke, in denen ihr Auge zu suchen und zu fragen scheint. Sie hat schon oft gefühlt, daß dann etwas Fremdes, ihr Unheimliches in ihr vorgeht, doch der Abbate, dem sie es anvertraut, hat sie beruhigt, es sei keine Sünde. Doch empfindet sie’s als solche, und sie betet, daß es sein Ende nehmen möge. (CO 69)

Diese Entdeckung der Sexualität, welche die weltfremde Contessina selbst nicht versteht und als „Sünde“ deutet, kulminiert in den Spielereien mit dem Bildhauer, der sein erotisches Interesse ebenfalls zu erkennen gibt.Footnote 102

Die Statue könnte in diesem Sinne, so die zweite Lesart, auch das (ordnungsgemäß bestellte) Abbild des Vaters zeigen, in welchem das junge Mädchen nun eine Analogie zum Professor erkennt – und dabei von der Sündhaftigkeit ihrer ödipalen Gefühle überwältigt wird. Diese psychologische, prä-freudianische Deutung ist keineswegs abwegig, was zwei Kontexte unterstreichen: Zum einen erwähnt Heinrich Mann in seinem Romantik-Essay explizit die psychologische Tiefendimension, die sich in den Märchendramen Maeterlincks zwischen nur scheinbar harmlosen Redebeiträgen verstecke.Footnote 103 Zum anderen erscheint diese Lesart auch auf dem Hintergrund der Romantik plausibel, da sie auf prominente Intertexte zurückgreifen kann, zum Beispiel auf E.T.A. Hoffmanns Nussknacker und Mausekönig, in dem sich ebenfalls eine Erweckungsgeschichte weiblicher Sexualität hinter einer märchenhaften Handlung versteckt.Footnote 104

Eine dritte, finale Deutung ist jedoch als vorrangig zu bewerten und nimmt den Text in seinen literarischen Verfahren ernst: Es lässt sich nicht klären, was Contessina in der Statue erblickt. Stattdessen endet die Novelle gezielt ambivalent. Gerade in der verheimlichten Auflösung lässt sich die Kippfigur der Romantik verorten, die retrospektiv verschiedene Deutungen der Geschichte zulässt und zwischen Kunstkommentar, sexueller Erweckung oder vielleicht auch Wahnsinn der Contessina schwankt. Das Modell Romantik wird hier nach dem Vorbild E.T.A. Hoffmanns, Ludwig Tiecks und Eichendorffs implementiert, und tatsächlich bleibt nach romantischem Vorbild am Ende unklar, weshalb die junge Elena ihren Tod in dem Brunnen findet. Von Heine (als Manns frühem Vorbild) hat sich die Erzählung im Vergleich zu den Mondnachtphantasien entfernt, die Pluralität der Auslegungen macht den Text tatsächlich auch im Modellsinne romantisch.

Doch in diesem Aspekt lässt sich zugleich eine wesentliche Modifikation des Romantik-Modells festhalten. Während romantische Erzählungen in der Regel verschiedene Lesarten gegeneinander ausspielen, sodass (beispielsweise) Nathanael in Hoffmanns Sandmann entweder dem Wahnsinn oder wunderbaren Begebenheiten zum Opfer fällt,Footnote 105 schließen sich die heterogenen Lesarten in Contessina keineswegs untereinander aus. Die Deutungsoptionen konkurrieren in diesem Fall nicht (wie in einem Vexierbild, in dem sich immer nur eine Option erblicken lässt),Footnote 106 sondern ergänzen einander sukzessive in einem Gewebe aus Andeutungen. Diese Modifikation ist in der Tat folgenreich: Contessinas ‚Leben‘ wird nicht entweder durch den romantischen Künstler ausgesaugt oder durch die Entdeckung ihrer Sexualität überstrapaziert, sondern beide Lesarten fusionieren zu einer kohärenten Gesamtdeutung, die allegorisch mehrere Deutungsebenen gleichzeitig bedient. Beide Lesarten sind gleichzeitig möglich. Dadurch entsteht keine paradoxale, ironische Schwebe, die eine unendliche Annäherung an das Absolute einleitet; sondern vielmehr lässt sich eine überfordernde Rätselhaftigkeit der Welt erahnen, die zweifelsfrei die Handlung determiniert, sich aber nicht rational entschlüsseln ließe. In einem Satz zusammengefasst: Statt eines ironischen Changierens im Sinne der Romantik inszeniert Contessina eine rätselhafte Überkomplexität, die jede Interpretation der Handlung in eine kohärente Gesamtdeutung einfügt.

Noch weitere Lesarten gesellen sich in diesem Sinne hinzu: Auch der literarhistorische Kommentar einer (scheiternden) Versöhnung von Décadence und Naturalismus durch die Neoromantik lässt sich mit den alternativen Lesarten vereinbaren, sodass die Erzählung mehrere Interpretationen bedient, ohne dabei an irgendeiner Stelle Widersprüche aufzuwerfen. Gerade die Abwesenheit gewisser romantischer Verfahren kann diese Transformation im Vergleich zur Romantik unterstreichen: Optische Verirrungen oder erkenntnistheoretische Täuschungen finden sich in diesem Text nicht; stattdessen existieren mehrere, einander ergänzende Möglichkeiten, um den – von Anfang an vorhersehbaren – Untergang Contessinas auszulegen. Kein Schein trügt in dieser Erzählung, und jedes Wort arbeitet an der allegorischen Qualität des Textes mit, die verschiedene Deutungsangebote konfliktfrei umfasst.

Handelt es sich somit noch um einen ironischen Text im romantischen Sinne? Tatsächlich zeigt sich mit modelltheoretischem Blick, dass die Kippfigur der Romantik in Contessina nicht verschwunden, aber doch verändert ist. Statt romantischer Ironie (mit ihrer Selbstreferenzialität und ihrer unendlichen Schwebe) erzeugt diese Erzählung gezielt Rätsel, die sich nicht auflösen lassen, aber doch einige Ahnungen komplexer, weltstrukturierender Gesetze erlauben. Im Objekt der weißen Statue lässt sich dieser Unterschied präzise fassen: Im Marmorbild des Professors entdeckt die Contessina nicht einerseits eine erotische Venus, andererseits eine liebliche Bianca, wie es exemplarisch bei Eichendorffs Marmorbild der Fall wäre. Sondern: Der Text konstruiert stattdessen eine rätselhafte Leerstelle, die in letzter Konsequenz immer im Tod des Mädchens endet. Der subjektive Blick der Figuren zählt hier im Vergleich zur Romantik wenig und wird nicht mit einer Erlösungsvision Contessinas verbunden, die ganz objektiv (zumindest in der Darstellung des Erzählers) niemals mit dem lebensfrohen Professor versöhnt werden kann. Die Gründe dafür bleiben verschleiert, doch an der Diagnose einer kategorischen Unvereinbarkeit von ‚Kunst‘ und ‚Leben‘ wird keinerlei Zweifel eingestreut. Die Kippfigur der Neoromantik, so lässt sich vorsichtig behaupten (und später an weiteren Texten überprüfen), versetzt nicht mehr alle semantischen Angebote des Textes in eine Schwebe, sondern bezieht sich auf Binnenräume, die rätselhaft bleiben und sich dennoch in eine kohärente Gesamtdeutung der Diegese einfügen. Die ironischen Effekte der Romantik, so die Hypothese, werden in Manns Erzählung zu Binnenrätseln marginalisiert, die zwar Fragen offenlassen, aber keine inszenierten Semantiken infrage stellen. In Contessina leuchten also blinde Flecken der romantischen Ironie auf, wie sie noch in Texten der historischen Romantik zu finden war.

Am Ende der Erzählung wird die junge Contessina für einen Moment selbst als der „Falter“ präsentiert, „den der Wirbelwind entführt, sie weiß nicht wohin“ (CO 79). Die Entdeckung der Marmorstatue hat endgültig das ‚Leben‘ in ihr geweckt, dessen Kontingenz das zarte Märchenwesen notwendig in den Tod befördert. Obwohl Contessina damit im ‚Leben‘ keinerlei Spuren hinterlässt, bleibt doch das marmorne Kunstwerk des Professors bestehen, um die Zeiten zu überdauern. An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob in Heinrich Manns frühen Novellen nicht doch eine gewisse Melancholie für das untergehende Romantische zum Vorschein kommt. Auf der einen Seite lässt auch Contessina die Romantik zweifelsohne gegen die Wand fahren: Ein lebendiges Kunstwerk wird vom „Wirbelwind“ der Moderne dahingefegt (CO 79) und muss sterben, da es innerhalb tagesaktueller Anforderungen nicht überlebensfähig ist. Aber in dieser Novelle erhält auch das ‚Leben‘ eine pejorative Note, da es die zarte Ästhetik in einem chaotischen „Sturm“ zugrunde richtet (CO 73). Es zeigt sich hier die neoromantische Kippfigur Manns, die nicht alle Aspekte des Textes, aber doch eine ganz spezifische Frage ambivalent behandelt: Die Gespenster und Feen der Romantik sind notwendigerweise antiquiert und unzeitgemäß, aber es könnte auch an der Moderne, ihrer Zeitlichkeit und Kontingenz liegen, dass über das Romantische skrupellos hinweggefegt wird, das es doch eigentlich zu erhalten lohnt. Eine Melancholie vor den dahinraffenden Traditionen ist nicht zu übersehen, wenn auch folgerichtig das romantische Märchenschloss und seine Dynastie untergehen.

3.1.5 Fazit: Aktualisierungen von Romantik beim frühen Heinrich Mann

In einem Videobeitrag für den Bayerischen Rundfunk, der Heinrich Manns Der Untertan (1914) als einen Klassiker der Weltliteratur aufbereitet, kommt der Moderator Tilman Spengler auf die frühen Erzählungen Manns und deren verhängnisvolles Spiel mit „Exotismen“ zu sprechen. „Man kann sie“, urteilt Spengler, „man muss sie heute aber nicht mehr unbedingt lesen.“Footnote 107 Mit Blick auf das Gesamtwerk Heinrich Manns enthält das neoromantische Frühwerk allerdings brisantes Material: Während sich auf der einen Seite bereits rekurrente Semantiken ausprägen, die sich auch in seinen späteren Texten wiederfinden lassen, zeichnet sich diese Frühphase durch eine Faszination für einen unterschwelligen, unbeschreibbaren Determinismus aus, der sich über romantische „Gefühlswerthe“ bzw. „Sensationen“ auf den Nerven erahnen lasse.Footnote 108 Mann selbst wird diese neoromantische Phase eng mit seinen nationalistischen und antisemitischen Äußerungen verbinden und sie in der Folgezeit als biographischen Fehltritt harsch kritisieren.Footnote 109 Im Zuge einer Transformationsgeschichte des Modells Romantik zeigt sich in den frühen Texten Manns eine markante Modifikation des Romantischen: Wo romantische Texte noch progressive Universalpoesie einsetzen, um sich etwas Absolutem anzunähern, bleiben Kunst und Leben bei Mann kategorisch unvereinbar; und statt Ironie finden sich hier Rätsel, die unaufgelöst bleiben, aber auf feste, invariable Regelhaftigkeiten hinter der Wahrnehmung hinweisen.

Mithilfe der drei Säulen des Modells von Romantik lässt sich diese Transformation, die nur auf den ersten Blick marginal zu sein scheint, genauer beschreiben. Zuallererst finden sich Diagnosen der Fragmentierung, wie sie in romantischen Texten zu subjektgebundenen Erlösungsvisionen führen, auch in Heinrich Manns frühen Erzählungen eingeschrieben. Hierbei lassen sich zwei Ebenen der Fragmentierung bei Mann unterscheiden: Zum einen klagen Figuren wie Sigmund Rohde über ihre persönliche Entwurzelung (auf Subjektebene), da sie sich in der modernen Gesellschaft „einsam“, „entfremdet“ bzw. als „Fremder“ erfahren (WB 195). Erst in dem idyllischen Naturkunstraum, in den Rohde mit fortschreitender Krankheit eintritt, löst sich diese Entwurzelung auf und er fühlt sich „entbunden von Zeit und Raum und zugleich vertraut wie eine Heimat“ (WB 198). Auch der namenlose Erzähler des Wunderbaren bleibt als künstlerischer Idealist in der Welt rastlos und klagt entsprechend über Entwurzelungserfahrungen. Zum anderen aber hat sich auch die Gesellschaftsstruktur in Manns Erzählungen in verschiedene Teilbereiche partikularisiert: Der bürgerliche Professor aus Florenz, die Fischer im Dorf und die Fee auf dem Schloss gehören in Contessina bereits derart verschiedenen Lebensräumen an, dass sie untereinander kaum kommunizieren können oder gar – im Fall einer Fusion der Gesellschaftsbereiche – andere Figuren in den Tod führen. Schon in den Mondnachtphantasien stoßen aristokratische Schwärmerei und skrupelloser Kapitalismus aufeinander, ohne sich am Ende vereinbaren zu lassen. Fragmentierungserfahrungen werden in Manns frühen Texten damit sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene als problematisch markiert.

Streben die neoromantischen Figuren Heinrich Manns aber in ähnlicher Weise nach einer transzendierenden Synthese, wie es romantische Texte inszenieren? Auch hier lässt sich genauer differenzieren: Einerseits gibt es bei Mann einen Raum der ‚Kunst‘, in dem idealistische Schwärmer agieren und auf typisch romantische Weise nach etwas Absolutem, nach transzendierenden Normen streben – so Rohde im Wunderbaren, der Kunstprofessor in Contessina und sogar der angetrunkene Baron von Borkenkamp. Andererseits lassen die Erzählungen auch Figuren alternativer Teilbereiche auftreten, denen synthetische Visionen herzlich egal sind und welche die idealistischen Schwärmer sogar ausnutzen können. Der Vicomte Lavallant schlägt Profit aus Borkenkamps Sehnsucht; Siegmund Rohde wandelt sich im Wunderbaren selbst zu einem Bürger und rät von jeder idealistischen Sinnsuche ab; und auch die Contessina, die auf ihrem Märchenschloss eigentlich im Einklang mit Natur und Schönheit existiert, sehnt sich zur geselligen Vielfalt des Lebens herüber. Die neoromantischen Synthese-Bestrebungen betreffen also selbst nur einen Teilbereich – wie die Romantik insgesamt bei Heinrich Mann ausschließlich innerhalb eines fragmentierten Einzelbereichs funktioniert. Persönliche Entwurzelungen werden hier von romantisch veranlagten Schwärmern in der Kunst zu überwinden versucht; die Zersplitterung gesellschaftlich binnendifferenzierter Teilräume aber bleibt von diesen Erlösungsvisionen insgesamt unbeeindruckt.

Romantik bleibt bei Heinrich Mann also auf ein bestimmtes Milieu begrenzt, dem selbst keinerlei Aussicht auf eine Fusionierung mit anderen Gesellschaftsbereichen zugesprochen wird. Damit verkleinert sich zugleich der Gültigkeitsbereich der Synthesebemühungen in Manns Neoromantik: Keine verbindende Norm wird in diesen Texten gesucht, die über alle Teilbereiche hinaus noch Gültigkeit beanspruchen könnte, sondern Figuren dringen stattdessen in die Tiefen alternativer Teilbereiche ein und finden dort verschlüsselte Gesetze, die ihrer eigenen Lebenswelt „fremd“ sind (WB 195).Footnote 110 Manns Neoromantik tastet die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche somit nicht an, sondern erhärtet sie noch: „Man sollte das Wunderbare nicht zum Alltäglichen machen“, plädiert Rohde am Ende seiner Erzählung und forciert damit gänzlich unironisch eine fortbestehende Eigengesetzlichkeit der künstlerischen Sphäre. Konsequente, begriffslose Naturkunst sei nur im Tod möglich, weshalb man sich als lebendiges Wesen, so Rohde, besser „ein bürgerliches Glück“ erarbeite (WB 203). Auch die Begegnung der märchenhaften Contessina mit dem Kunstprofessor unterstreicht die kategorische Unvereinbarkeit zweier Sphären, deren Kontakt notwendigerweise mit einem Todesopfer endet.

Romantik, so inszenieren es alle Erzählungen in dem Wunderbaren-Band, ist damit in der Praxis gefährlich, da eine folgenreiche Versteigerung in einen (vom Leben getrennten) Einzelbereich droht. Trotzdem betreiben die Texte ja einigen Erzählaufwand, um die Annäherungs- und Überschreitungsversuche von Figuren in einen anderen Binnenraum zu illustrieren – und letztlich scheitern zu lassen. Hier kommt die romantische Kippfigur zwischen Behauptung und Widerruf ins Spiel, die ebenfalls verändert auftritt: Wo in der romantischen Literatur noch verbindende Deutungshorizonte ästhetisch inszeniert werden, die aber aufgrund einer unhintergehbaren Subjektivität immer nur vorläufig bleiben und deshalb zugleich unter ironischen Vorbehalt gestellt werden, bietet die neoromantische Literatur Heinrich Manns keine solche Option einer absoluten Bezugsnorm. Entsprechend ‚kippt‘ auch nicht die Gesamtdeutung eines Textes: Da Figuren wie Rohde nur in einem Teilbereich (hier: der tödlichen Naturkunst) aufgehen können, bezieht sich die Kippfigur der Neoromantik nur auf die Erschließung eines unbekannten, faszinierenden Binnenraums, dessen Regularitäten Rohde mit seinem menschlich-lebendigen Blick rätselhaft erscheinen. Textinhärente Widersprüche entstehen hier dadurch, dass Rohde mit Worten ein „Erlebnis“ darzustellen versucht (WB 195), das sich – der unwidersprochenen Semantik des Textes zufolge – jeder rationalen Darstellung entzieht. So konstruiert die Erzählung zwar Rätsel, gewisse Grundfesten der Semantik aber werden nicht angetastet – wie in diesen Fällen die unhintergehbare Unvereinbarkeit zwischen kränklicher Kunst und lebendigem Bürgertum.

Bei Mann entstehen Kippfiguren also durch Grenzüberschreitungen von Figuren, die aufzeigen, dass in alternativen Teilbereichen fremde, mit eigenen Kategorien unbeschreibbare Normen herrschen. Das Potenzial einer Grenztilgung im romantischen Sinne wird dabei nicht einmal hypothetisch angedeutet, weder im Wunderbaren, in Contessina oder in den Mondnachtphantasien. Das Modell von Romantik wird bei Mann entsprechend nur um wenige Nuancen modifiziert, die aber entscheidend sind: Eine Fragmentierung, die sich bei Mann wie auch in romantischen Texten als Ausgangsproblem zeigt, mündet in der Romantik in subjektive Visionen eines Absoluten, bei Mann aber nur in subjektgebundenen Erkundungen von Teilbereichen. Man könnte argumentieren, dass die fortschreitende Fragmentierung um 1900 auch die Synthese-Angebote eingeholt hat: Die absolute Auflösung von Binnenräumen ist in Manns Neoromantik nicht einmal als Vision angelegt. Mit der Verkleinerung des Gültigkeitsbereichs synthetischer Bezugsrahmen verringert sich auch die Reichweite romantischer Kippfiguren: Keine semantischen Großentwürfe werden hier infrage gestellt bzw. changieren zwischen Behauptung und Widerruf, sondern erst im Kontrast zwischen unvereinbaren Binnenräumen entstehen widersprüchliche, eigentlich nicht auflösbare Rätsel. „Man atmete in lauter Rätseln“, so auch Rohdes Sentenz über ein wunderbares Erlebnis, „die keine waren, weil keine noch so leise Frage sie verriet.“ (WB 203)

Die Rekurrenz der Semantiken, welche die neoromantischen Erzählungen Manns (auch über die hier analysieren Texte hinaus) verbinden, ist abschließend erstaunlich: Immer wieder wird die Unmöglichkeit einer Versöhnung von künstlerischem Idealismus und lebenspraktischen Anforderungen herausgearbeitet, und auch die Neoromantik erscheint dabei als eine reizvolle Darstellungsoption, deren synthetischer Anspruch aber am Ende notwendig scheitern muss. Manns Neoromantik mit schlechtem Gewissen bleibt unter diesen Umständen eine Episode. Gerade in ihrem skeptischen Anteil lässt sich jedoch eine unerwartete Kontinuität bis in das Spätwerk verfolgen: „Dieser Intellektuelle ist immer ein Skeptiker geblieben“, charakterisiert Gunnar Decker den Autor über die Romantik hinaus,Footnote 111 und diese Konstante ist ungeachtet des diskursiven Bruchs schon im neoromantischen Frühwerk nachweisbar. Trotzdem experimentiert der frühe Heinrich Mann um 1890 mit antirationalen Ahnungen hintergründiger und versteckter Rätsel, für dessen Effekte er eine nachdrückliche Faszination entwickelt – auch, wenn er sie innerhalb der Texte immer wieder als lebensuntauglich entlarvt. Die ‚romantischen‘ Gefühlswerte treten in diesen frühen Erzählungen gegen eine faktische Semantik ins Feld, und in einer solchen skeptizistischen Hinterfragung von Rationalität lässt sich möglicherweise eine Nähe von Manns neoromantischem Schreiben zu seinen ›Leichen im Keller‹ desselben Zeitraums erklären.

3.2 Neoromantik auf Reisen: Hanns Heinz Ewers und die Poetik der Lüge

Um sich dem zur Jahrhundertwende berühmten enfant terrible, Globetrotter und Neoromantiker Hanns Heinz Ewers (1871–1943) möglichst wertfrei anzunähern, bedarf es einiger Vorbemerkungen. Heute ist Ewers der unbekannteste unter den hier behandelten Autoren; aus der Perspektive des frühen zwanzigsten Jahrhunderts aber kann er als der kommerziell erfolgreichste Akteur dieser Reihe gelten. Vor allem um das Jahr 1910 herum ist der aufstrebende Ewers fest in der deutschsprachigen Literaturszene etabliert: Sein Roman Alraune (1911), eine Übertragung der Mandragora-Sage u. a. aus Achim von Arnims Isabella von Ägypten (1812), wird nach kurzer Zeit ein Bestseller, der in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach verfilmt wird.Footnote 112 Mit seinen Reiseberichten aus Indien und Südamerika erreicht Ewers eine ebenso breite Leserschaft wie mit seinen exotischen Erzählungen, die zumeist von schockierenden und phantastischen Erlebnissen in fremden Ländern handeln.Footnote 113

Kaum eine Untersuchung über Ewers kommt ohne die biographischen Details aus, die in der Tat zu verlockend sind, um sie ganz zu unterschlagen.Footnote 114 Seine Karriere beginnt mit Provokationen in spiritistischen Zirkeln, in denen er als spirituelles Medium auftritt, um nach erfolgten Geldzahlungen seinen inszenierten Bluff auffliegen zu lassen. Solche Entlarvungen bringen ihm mehrere Duellaufforderungen ein und führen schließlich zu einer vierwöchigen Haft auf der Festung Ehrenbreitstein im Jahr 1897, woraufhin der promovierte Jurist aus dem Staatsdienst entlassen wird. Anschließend wird Ewers zunächst Autor von Kinderbüchern, bald darauf ein prominenter Reisender, Entdecker, Nudist, überzeugter Drogenkonsument, Pionier des frühen Films und schließlich enger Freund zahlreicher Literaturgrößen wie Gerhart Hauptmann, Frank Wedekind und Gustav Meyrink.Footnote 115 Brisant ist auch Ewers politisches Engagement, bei dem er stets die Nähe zur Prominenz sucht: Kaiser Wilhelm II. lädt ihn 1912 auf die Jungfernfahrt des Kreuzschiffes Imperator ein;Footnote 116 in der Weimarer Republik engagiert er sich für die Politik Walther Rathenaus;Footnote 117 und später bewegt ihn Adolf Hitler angeblich persönlich (im Jahr 1931, zu Ewers’ sechzigstem Geburtstag) zu einem „großen SA-Roman“ über Horst Wessel.Footnote 118 In den 1930er Jahren setzt sich Ewers mit aller Emphase für die NSDAP ein, seine Mitgliedschaft aber wird nachträglich annulliert: „Die Werke und der daraus herrührende schlechte Ruf des Herrn Dr. Ewers sind geeignet, das Ansehen der NSDAP in den weitesten Kreisen schwer zu schädigen“, unterstreicht der Referent des Kampfbundes für deutsche Kultur Gotthart Urban in einem Brief an die Führerkanzlei.Footnote 119 Große Teile seines Werks, so auch der Alraune-Roman, werden 1933 öffentlich verbrannt und 1935 verboten. Ewers soll im Zuge des Röhm-Putsches im Sommer 1934 liquidiert werden, kann jedoch für die Dauer der sogenannten ‚Säuberungswelle‘ untertauchen und schreibt bis zu seinem Tod in den 1940er Jahren „Satiren“ auf die nationalsozialistische Diktatur, die zeitlebens – und teilweise bis heute – unveröffentlicht blieben.Footnote 120

Biographisch liefert der Autor Hanns Heinz Ewers, dessen Name in nur wenigen Literaturgeschichten auftaucht,Footnote 121 eine reiche Fundgrube an kuriosen Geschichten, sodass auch die einschlägige und materialreiche Biographie von Wilfried Kugel trotz stilistischer und inhaltlicher Probleme ein lesenswertes Stück Literatur liefert.Footnote 122 Es gibt aber noch einen weiteren Grund für die enge Verzahnung der Autorenbiographie mit seinen literarischen Texten, die sich auch in der Forschung hartnäckig hält: Immer wieder sind die schelmischen und reisenden Erzähler in greifbarer Analogie zum Autor angelegt, sodass sie häufig den Namen „Hanns“ oder „Hanns Heinz“ tragen.Footnote 123 Im Zuge einer autofiktionalen Erzählstrategie betonen die Geschichten dabei ständig ihren eigenen Wahrheitsgehalt: „Und diese Geschichte ist sehr wahr“, so endet exemplarisch der Text Der Spielkasten, nachdem ein Ewers-ähnlicher Erzähler die Kreuzigung eines Liebespaares am indischen Golf von Tonkin beobachtete.Footnote 124 Ewers inszeniert seine Gruselerzählungen damit unter hohem Textaufwand als ‚wahre Geschichten‘ – und das, obwohl sie von Zauberkräften, Ritualmorden, Verwandlungen und Wiederauferstehungen erzählen.

Im Folgenden soll nicht der Autor im Mittelpunkt stehen, sondern – vielleicht erstmals – allein seine literarischen Texte. Überschaut man das erzählerische Werk, dann fallen vier Aspekte auf, mit denen sich die Prosa von Hanns Heinz Ewers charakterisieren lässt: Erstens ist bei Ewers eine Hochphase literarischer Produktion von circa 1904 bis 1914 festzustellen. Tatsächlich entstehen seine erfolgreichen, reflektierten und literarisch interessantesten Texte in dem späten Stadium der Neoromantik, die wiederum den Eintritt und Erfolg des Autors in die Literaturszene ermöglicht.Footnote 125 Namentlich stechen die beiden Novellenbände um Das Grauen (1908) und Die Besessenen (1909) hervor, deren Texte Ewers wiederholt auflegen lässt und an dessen Erfolge er – neben seinen zeitgleichen Romanen Der Zauberlehrling (1909) und Alraune (1911) rund um die Romanfigur Frank Braun – nicht wieder anknüpfen kann.Footnote 126

Zweitens fallen seine Werke durch eine Zwitterstellung im literarischen Feld auf, die sich als populäre Avantgarde beschreiben lässt. Ewers sucht populäre Medien wie den frühen Film, das Kabarett, Kinderbücher und sogar das Musical, um im leicht zugänglichen Parlando seiner Texte eine möglichst breite Massenwirkung zu erzielen.Footnote 127 Diese Stellung als populärer Autor aber verbindet er mit avantgardistischen Zielen, die er in Essays und Zeitschriftenartikeln artikuliert. Es sind vor allem die übertriebenen Grausamkeiten in leserfreundlichem Gewand, mit denen er die literarische Jahrhundertwende ästhetisch herauszufordern sucht. Trotz einer sensationsfreudigen und leicht konsumierbaren Textur inszeniert er sich dabei als ein avantgardistischer Entdecker, als „Pionier der Kunst in das Neuland des Unbewussten“.Footnote 128 In diesem Aspekt greift der Heine-Verehrer Ewers explizit auf die späte Romantik zurück, die ebenfalls die avancierten Ideen der frühen Romantik in zugängliche, massentaugliche Formen überführte.Footnote 129

Der dritte Aspekt von Ewers’ Werk berührt die literarische Thematik von Reisen und vielgereisten Figuren in seinen Texten, die jeweils mit der Reflexion auf Authentizität und Lüge verbunden wird. Dieses konstitutive Element macht Ewers’ Prosa für die aktuelle Literaturwissenschaft interessant: Seine vermeintlich authentischen Reisereportagen, gesammelt in den Bänden Mit meinen Augen (1909) und Indien und Ich (1911), weisen zahlreiche Überschneidungen mit seinen fiktionalen Texten auf, sodass hier ein frühes Beispiel für eine autofiktionale Inszenierung nachgewiesen werden kann.Footnote 130 Passend dazu ist das große, bisher unbeachtete Thema seiner Erzählungen das Verhältnis von Lüge und Wahrheit: Immer wieder werden Figuren und Erzähler als Lügner entlarvt, exemplarisch in Delphi oder Lustmord einer Schildkröte, und sie überschreiben mit ihren erfundenen Geschichten ein eigentlich feststehendes Wissen über Fakten und Realität. Bei Ewers ist somit, wie in den folgenden Kapiteln zu zeigen sein wird, eine Strategie der Autofiktion schon zur deutschsprachigen Jahrhundertwende zu entdecken.

Viertens ist schließlich die dominante Verfahrenstechnik des Gruselns und der Drastik für Ewers konstitutiv. Explizit knüpfen seine immer düsteren Texte an die schauerromantische Tradition seit E.T.A. Hoffmann und Edgar Allan Poe an, sodass man seine Texte heuristisch und vorläufig als eine Schwarze Neoromantik bezeichnen kann. Ob dieser Begriff taugt und was er genau beschreibt, muss im abschließenden Kapitel zu Ewers evaluiert werden. Bis dahin lässt sich notieren, dass er mit diesen Verfahren in die Nähe von weiteren Autoren der Jahrhundertwende rückt, so zu Gustav Meyrink, Oskar Panizza und Karl Hans Strobl, mit denen er allesamt eng befreundet war.Footnote 131 Als Stellvertreter für eine mögliche Schwarze Neoromantik liefert sein Werk somit exemplarischen Einblick in ein ganzes Feld von Schriftstellern, die zu ihrer Zeit nicht ungern gelesen wurden und von denen – nebenbei bemerkt – auffällig viele in ihrer weiteren literarischen Laufbahn zu extremen Positionen wie dem Nationalsozialismus tendierten.

Bevor es in die Analyse geht, muss in diesem Fall ausnahmsweise ein klares Werturteil vorausgeschickt werden. Biographisch besteht kein Zweifel, dass sich Hanns Heinz Ewers in den 1900er Jahren zu einem vehementen und überzeugten Rassisten entwickelt, der keine Rehabilitierung verdient. Ewers inszenierte sich nicht nur als unmoralischer Dandy, er hielt auch abendfüllende Vorträge über Themen wie Der Neger als Sklave oder freier Arbeiter (1908), in dem er unter wüster Polemik den Schwarzen die Menschenwürde und -rechte abspricht.Footnote 132 Bei Hinrichtungen von „Negern“ und „Chinesen“, denen er beigewohnt habe, empfinde er prinzipiell kein Mitleid, da er es in allen Fällen für „gerechte Lynchjustiz“ angesehen habe.Footnote 133 Auch der Philosemitismus, den Ewers lebenslang an den Tag legte und der auch in konkrete Hilfsaktionen für Juden im Dritten Reich mündete,Footnote 134 entspringt einer fundamental rassistischen Weltanschauung: Juden stehen gemeinsam mit den Deutschen, so Ewers, an der Spitze der internationalen Kulturentwicklung, wobei vor allem Schwarze und Chinesen aufgrund einer fehlenden ‚Kulturweisheit‘ nicht als Menschen zu betrachten seien.Footnote 135 Dieses biographische Werturteil ist zu Beginn eines Kapitels über Hanns Heinz Ewers notwendig: Als historische Persönlichkeit war Ewers kein verirrter oder missverstandener Possenspieler, sondern ein imperialistischer Rassist, der hegemonialen Machtstrukturen sein reges Interesse entgegenbrachte. Im Kontext der ursprünglich anglistischen Forschungsrichtung der postcolonial studies hat ihn auch die deutschsprachige Literaturwissenschaft in diesem Sinne noch kritisch zu bearbeiten.Footnote 136

Die literarischen Texte aber, so möchte ich im Folgenden argumentieren, sind dadurch weder zwangsläufig schlecht noch uninteressant. Vielmehr sind gerade die frühen Texte deshalb von ungemeiner Brisanz, da sie auf einem gewissen Reflexionsniveau die Entwicklung eines neoromantischen Autors hin zu einem rassistischen Extremismus präfigurieren. Ewers’ Figuren befinden sich auf der Suche nach archimedischen Punkten, nach etwas Absolutem, das sie im Frühwerk noch unter ständigem Vorbehalt erproben. In der literarischen Technik können die Erzählungen dabei heute noch so ‚grausam‘ wirken, wie sie es in den 1900er Jahren forcierten. Ewers hat die zugängliche Suggestivkraft des neoromantischen Programms perfektioniert – und das mit Motiven und Verfahren, die er selbst von den Vorbildern Heinrich Heine, E.T.A. Hoffmann und Edgar Allan Poe gelernt hat. Es ist somit nicht nur lohnenswert, sondern geradezu von einer kulturgeschichtlichen Virulenz, Ewers’ literarisches Werk aus einer möglichst wertneutralen Perspektive zu analysieren. Nur so lässt sich an einem populären Exempel die Transformation eines neoromantischen Denkens um 1900 zu einem radikalen, fundamentalistischen Rassismus strukturell nachzeichnen. Bei Ewers handelt es sich damit nicht um einen kurzsichtigen Dummkopf, sondern um einen jungen Intellektuellen der Jahrhundertwende, der sich wissentlich und unter Ausschluss anderer Optionen für einen autoritären, antihumanitären Weg entscheidet.

3.2.1 Authentische Lügengeschichten: Romantik, Wahrheit und Edgar Allan Poe (1905)

Einerseits hat Hanns Heinz Ewers gerne abgestritten, mit den literarischen Moden seiner Zeit in Verbindung zu stehen. Im Vorwort zu seiner Lyriksammlung Moganni Nameh (1910) notiert er, dass er seinen schriftstellerischen Stil „nicht erbte und nicht pflanzte nach fremdem Vorbild“, sondern sein Werk stattdessen „nach meinem Willen schuf, ohne Schule, mein eigener Lehrmeister.“Footnote 137 Andererseits lässt er an selber Stelle doch eine Ausnahme gelten: „Sonst scheint mir nur der früheste Zyklus schwache Anklänge, und zwar an Heine, aufzuweisen – welcher Moderne wäre ganz ohne den Einfluss dieses Titanen?“Footnote 138 In der literarischen Technik hebt Ewers damit seine individuelle Note hervor, motivisch aber benennt er seinen Lyrikband problemfrei nach dem ersten Buch aus Goethes West-östlichem Diwan (1819). Die Innovation verortet Ewers also auf der Ebene der literarischen Textverfahren, sodass er unbeschwert auf traditionelle Motive und Stoffe zurückgreifen und um einen eigenen Stil aktualisieren kann.

Im frühen Zyklus Blumen brach ich (1898) setzt er sich entsprechend mit jener Mode auseinander, die ihm wissentlich nahesteht und damit gefährlich werden könnte:

Der Neuromantik tollster Ritter reitet

Auf seinem Goldfuchs in das flache Land,

die Ulmen lang und dann durch Birkenwälder

gradaus, feldein, ein jeder Weg ist recht.Footnote 139

Das Gedicht Syringen widmet sich in besonderer Weise dem eigenen Verhältnis zur Neoromantik: Ein neoromantischer Ritter gelangt dort in ein Dorf, um einen Abend mit dem Pfarrer und dessen Tochter im Pfarrhaus zu verbringen. Bei seiner Ankunft verlacht der moderne Ritter das verschlafene Nest noch hämisch und ruft einem blauen Fliederbusch seinen Spott entgegenruft – jener titelgebenden Syringe, die im Gedicht als blaue Blume der Romantik inszeniert wird:

Er lacht und denkt: „Du Protestantenblume

Voll blauer Einfalt, weiche blonde Blüte,

die keine Nerven kennt, noch Blut, noch Lust,

die blaue Blüte längst verstorbener Zeiten,

was willst du mir?“Footnote 140

Der ‚Neuromantiker‘ verhöhnt hier die alte Romantik, „die keine Nerven kennt“, mithilfe der einschlägigen Topoi der literarischen Jahrhundertwende. Doch er wird im Laufe des Abends eines Besseren belehrt: Im Gespräch mit dem Pfarrer verhält sich der Ritter auf einmal unerwartet zahm, was an der hübschen Pfarrerstochter – „schlank und blond und blass“Footnote 141 – und vor allem an dem blauen Fliederbusch vor dem Fenster liegt, dessen hereinströmender Duft seine Sinne vernebelt. So stimmt er willenlos zu, als der Dorfpfarrer „Uhland, Körner, Eichendorff“ zu „große[n] Dichter“ ausruft.Footnote 142 Am Ende schleicht sich das lyrische Ich zur Pfarrerstocher durch das Fenster hinein, die wort- und willenlos im Zuge einer kitschigen Männerphantasie auf ihn wartet.

In der Forschung wurde das Gedicht angeführt, um Ewers’ eigene Zuordnung zu einer „Neuromantik“ der Jahrhundertwende zu belegen.Footnote 143 Dabei wird der Diskurs hier vielmehr persifliert: Eine echte Romantik, die sich auf dem Dorf, im Fliederduft und in der romantischen Liebe finden lässt, habe sich „[n]ach Jahren“, so die letzte Strophe von Syringen, in eine „mode du jour“ verflüchtigt, für die man Fliedergirlanden in aristokratischen Schlössern aufhängt. Die modische Neuromantik wird dem romantischen Erlebnis, so der Text, nicht gerecht – und deshalb liefert das Gedicht ein Beispiel für eine adäquatere Neoromantik, die nicht als „Madrigal“ daherkommt, sondern in freien Versen ein erotisches Dorferlebnis schildert. Früh distanziert sich Ewers damit von der Neuromantik als Diskursströmung – noch unverblümter im Gedicht Marietten –,Footnote 144 um selbst zu den Quelltexten aus der historischen Romantik zurückzugreifen. Ewers’ Neoromantik möchte also Erlebnisse behandeln, die zwar in der romantischen Tradition wurzeln, doch außerhalb der literarischen Modetendenz stehen.

Auch wenn sich Ewers von dem Neuromantik-Diskurs fernzuhalten versucht, sind seine literarischen Texte damit so neoromantisch wie kaum andere zu dieser Zeit. Das liegt u. a. an seiner profunden Kenntnis der internationalen Romantik: Als fleißiger Herausgeber und Übersetzer bearbeitet Ewers nahezu alles, was mit Romantik nur in loser Verbindung steht. In seiner Galerie der Phantasten verlegt er u. a. E.T.A. Hoffmann, Edgar Allan Poe, Balzacs Mystische Geschichten und erstmals auch Gustavo Adolfo Bécquer, den Hauptvertreter der spanischen Romantik. Darüber hinaus wirkt er als Herausgeber von Alessandro Manzonis Promessi Sposi und der Erzählungen Oscar Wildes, eigenständig übersetzen wird er u. a. Jens Peter Jacobsen, Théophile Gautier, Frédéric Boutet, Henri Murger und vor allem Auguste de Villiers de l’Isle Adam, einen seiner frühesten Vorbilder.Footnote 145 Ungeachtet der Mitarbeit seiner Mutter, der Übersetzerin Maria aus’m Weerth-Ewers (1839–1926), spricht Ewers damit mindestens französisch, spanisch und italienisch und zeigt in seinen Werken eine breite Kenntnis der internationalen Literaturgeschichte. Seine erklärten Vorbilder aber bleiben vor allem drei: Heine, E.T.A. Hoffmann und Edgar Allan Poe, in der zweiten Reihe auch Jean Paul und Charles Baudelaire.Footnote 146

Was Ewers dabei in den 1900er Jahren unter literarischer Romantik versteht, lässt sich aus seinem Führer durch die moderne Literatur herausarbeiten, den er im Jahr 1906 zusammen mit Erich Mühsam, René Schickele und Victor Hadwiger erstmals herausgibt. Der kleine Band war so erfolgreich wie finanziell lukrativ, da er in hohen Stückzahlen im Globus-Verlag von Wertheim verlegt wurde, der größten Kaufhauskette im Kaiserreich.Footnote 147 Zur Romantik gibt es darin einen knappen Eintrag im Glossar:

Unter Romantik versteht man eine bestimmte Richtung der Literatur, die sich zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zuerst in Deutschland unter dem Einfluß von Tieck, Novalis, Schlegel usw. bildete, sich dann auch auf andere Völker übertrug. Der Begriff der Romantik war von Anfang an wenig feststehend, heute versteht man darunter die Kunstrichtung, die das Element des Phantastischen und Wunderbaren bevorzugt.Footnote 148

Zwar ist nicht sicher, ob Ewers selbst diesen Eintrag verfasste, doch mit Blick auf seine literarhistorischen Interessen spiegelt sich hier der eigene, positive Romantik-Begriff wider: Romantik tritt als internationale Literaturströmung auf, die sich nach einem deutschen Impuls aus der Frühromantik verbreitet und das „Phantastische[] und Wunderbare[]“ in die Literatur einführt. Der modische Neuromantik-Diskurs wird an dieser Stelle gemieden, und neben dem knappen Glossar-Eintrag sind vor allem die Einträge über Autorinnen und Autoren ergiebig, die Ewers eigenhändig zu dem Projekt beisteuert. Mit höchstem Lob bezeichnet er Selma Lagerlöf als „christliche Romantik“, ihre Christuslegenden erklärt er „zu einem der seltsamsten und stimmungsvollsten Bücher der Weltliteratur“.Footnote 149

Trotzdem findet eine implizite Auseinandersetzung mit der neoromantischen Mode auch in dem Führer-Band statt, indem Ewers einen Artikel über Maurice Maeterlinck verfasst – dem wichtigsten Vertreter des neoromantischen Literaturdiskurses. Maeterlincks Stücke, so Ewers, seien durchaus „romantischer Natur“:

Schon die deutsche Romantik der Tieck und Novalis hatte versucht, die Literatur vom Kothurn des Problems zu erlösen, die Psychologie zu vereinfachen und die Menschen von der Seite ihres Kindheitsempfindens zu beleuchten. […] Sie versuchte, in die tiefsten Tiefen der Menschennatur hineinzuhören, und weil sie den geraden Weg wählte, stieß sie sozusagen auf den Grund. […] Reize […] gewannen bei Tieck noch den reinen, der philosophischen Verschleierung fremden Ausdruck, während sein Zeitgenosse Novalis schon zum Symbolismus gelangte. Symbolismus ist es denn auch, was der Belgier auf Grundlage der angeführten romantischen Bestrebungen wieder in die Literatur einführt. Neu ist eigentlich nichts daran, als die Übertragung der Tendenzen auf dramatisches Gebiet.Footnote 150

Ewers’ Argumentation passt zur Semantik seiner frühen Gedichte: Statt formaler Innovation wiederholt Maeterlinck auf epigonale Weise Novalis, um immerhin im Drama einige avancierte Werke „von ergreifender Macht der Stimmung“ zu schaffen. So sind die Dramen genau dann gut, wenn sie laut Ewers ‚romantisch‘ im literarhistorischen Sinne sind. Vordenker dieser Technik aber bleiben Novalis und auch Tieck, der in Ewers einen seltenen Fürsprecher zur Jahrhundertwende findet.Footnote 151 Nach den gelungenen Einaktern Die Blinden und Der Eindringling verkomme Maeterlincks Verfahren bald „zur Manier“, sodass Monna Vanna schließlich als finanzieller Erfolg, aber insgesamt als „missglückter Versuch“ abgewertet wird.Footnote 152

Ewers also kennt, schätzt und verschlingt die internationale Romantik, doch die Probleme einer aktuellen „Renaissanceromantik“ – dieses Label wählt das Vorwort im Führer-Buch – sucht er in einer „okkultistisch-experimentellen Phase“ zu überwinden.Footnote 153 Wie genau seine individuelle Neoromantik aufgestellt ist, lässt sich programmatisch in seiner Monographie über Edgar Allan Poe (1905) fassen, die in Paul Remers populärer Buchreihe Die Dichtung erscheint.Footnote 154 Ewers beschreibt den amerikanischen Romantiker darin aus einer radikal subjektiven Perspektive: Im spanischen Granada besucht der Autor Hanns Heinz Ewers, so der Text, die Stadtburg Alhambra und wandelt durch einen „verzauberten Park“, den Palacio inklusive dem Dehesa del Generalife. Unterbrochen von ständigen Eindrücken der Landschaft reflektiert er am Beispiel von Edgar Allan Poe über Kunst, Rausch und Wahrheit – und damit vor allem über sein eigenes Kunstverständnis. Neben „Th. A. Hoffmann […] und Jean Paul und Villiers und Baudelaire“ sei Poe einer der wenigen Künstler,Footnote 155 die Ewers’ Definition von ‚moderner‘ Kunst entsprechen:

Was ist – im engsten, im besten Sinne – der Künstler? Ein Pionier der Kultur in das Neuland des Unbewussten! [...] Sie finden ein Neuland, entdecken es für die Kultur: sie haben die Grenzen des Bewusstseins ein Stück weiter hinausgeschoben. Die Künstler sind diese ersten Entdecker. (EAP 18, 19 f.)

Natürlich trifft diese Künstlerdefinition zuallererst auf den vielreisenden Ewers selbst zu, der in der spanischen Alhambra über Poe nachdenkt. Doch nicht das topographische Umherreisen erscheint ihm notwendig für die künstlerische Aktivität, sondern zuallererst unternimmt der Künstler eine Reise ins Unbewusste, eine Erkundung der eigenen „Sensationen“ (EAP 28). Der Schriftsteller wird für Ewers zu einer Art Prä-Wissenschaftler: Erst nach ihm „mag die Menschheit Forscherfahrten ausrüsten, um das neue Land zu vermessen und zu untersuchen: […] Männer der Wissenschaft.“ (EAP 20) Für psychologische Bewusstseinserkundungen müsse der Künstler nicht notwendigerweise internationale Reisen unternehmen, wie Ewers selbst; zumindest aber sollte ein Auslöser gegeben sein, um sich auf die Reise ins Subjekt und damit in ein „Paradies der Qualen“ (EAP 28) zu begeben. Mit Blick auf Poe werden zwei biographische Aspekte hervorgekehrt, die dessen Entdeckungsreise ins Unbewusste ermöglichten: seine unglückliche Liebe zu Virginia Clemm und, als zentralen Punkt, seine Alkoholsucht.

„Hier hätte Edgar Allan Poe sitzen müssen“, schreibt Ewers mit Blick auf die Alhambra. „Hier hätten ihn vielleicht andere Wege zur Ekstase geführt; er hätte wohl nicht getrunken.“ (EAP 25) Der Rausch wird von Ewers als Mittel zur Kunstproduktion emphatisch aufgewertet. Unabdingbar für moderne Literatur erscheint ihm ein Zustand der qualvollen Ekstase, in die sich der Künstler durch Reise, Liebe, Bier, Kaffee o. Ä. hineinversetzen kann. In diesem ekstatischen Zustand leistet „jeder Mensch das Höchste, was seine Intelligenz überhaupt zu leisten imstande ist“ (EAP 21). Harmlos aber ist Ewers’ Rauschanleitung keineswegs: Die Ekstase interpretiert er als eine „Vergiftung[] des Geistes“ (EAP 18), da Kunst und Natur sich antagonistisch widersprechen.Footnote 156 Kunst sei laut Ewers strukturell ungesund: Sie wird erst möglich, sobald sich das Individuum von ‚Natur‘ und ‚Gesundheit‘ entfernt. Zudem könne im Rauschzustand selbst keine Kunst hervorgebracht werden, sondern die Eindrücke dieser Erkundungsreisen müssen – „irgendwann später“ (EAP 21) – mit enormer technischer Anstrengung in eine ästhetische Form gepresst werden. Der Rausch erlaubt es also, so Ewers, Einblicke in die Abgründe der eigenen ‚Kultur‘ zu erlangen, in der subjektive und kulturelle Prägungen ineinander fallen: Im Rausch beginnt die Reise in „das gewaltige Land des Unbewussten, das ewige Land unserer Sehnsüchte“ (EAP 19).

Damit löst Edgar Allan Poe für Ewers das vermeintliche Realitätsproblem der Romantiker, jenes konstitutive Manko, das die Jahrhundertwende immer wieder im romantischen Schreiben entdeckt. „Das ist das Große an diesem ersten Menschen mit modernem Geiste“, so Ewers, „dass er, der Romantiker, der Träumer, doch ein Anbeter des Verstandes war, der nie den Boden der Erde unter den Füßen verlor“ (EAP 34). Poe sei ein Träumer und Handwerker zugleich: Vor allem in The Raven werden rauschhafte Erfahrungen mit der sonst so „verachtete[n] Technik“ verknüpft, einem akribischen „Überlegen und Feilen“ (EAP 30), mit dem Poe diszipliniert und unberauscht das Apollinische mit dem Dionysischen synthetisiere. Selbst eine „unerbittliche Zersetzung“ durch formale Analyse (EAP 32), wie Poe sie in The Philosophy of Composition (1846) an seinem Text eigenhändig vorführt, könne dem echt-poetischen Werk nicht mehr schaden.Footnote 157 Am Raben diagnostiziert Ewers damit die Möglichkeit einer Verschiebung im Kunst-Natur-Antagonismus: „Die Kunst triumphiert über die Natur“, so Ewers, denn „diese Kunst ist so groß, dass ihr meine Erkenntnis des lächerlichen Stoffes nichts anhaben mag“ (EAP 33). Kunst also kann potenziell, dies ist eine wichtige Grundlage für Ewers, die Natur überragen.

In dem teils polemischen, aber doch dichten Essay kommt Ewers zu einer zentralen Erkenntnis für seine Poetologie. Er beginnt am Beispiel von Poe, das Verhältnis von Kunst und Wahrheit auf den Kopf zu stellen:

Die Schönheit erst macht ihm [Poe, R.S.] die Wahrheit – zur Wahrheit, deren Daseinsberechtigung er ohne die Schönheit verneint. Das ist die höchste Anforderung an die Kunst, die je gestellt wurde. Und da diese Forderung sich nur in Sehnsüchten erfüllen kann, sind ihm die Träume das einzig Wirkliche, spricht er dem wachen Leben jeden Realitätswert ab. Auch hier ist Poe – der Romantiker – ein Pfadfinder, auch hier offenbart er als Erster das, was wir „modernen Geist“ nennen. (EAP 35)

Ewers beschreibt hier eine Art ästhetischen Konstruktivismus: Nur was schön ist, darf auch als wahr gelten.Footnote 158 Träume haben damit das Potenzial, Wirklichkeiten und objektive Wahrheiten zu überschreiben, wenn sie denn ästhetisch ansprechend, also schön sind. Indem Poe seine „Sensationen“ (EAP 18), also subjektive Eindrücke, in technisch konstruierte Formen überführt, kann er Träume in die Wirklichkeit implementieren und so den Realitätsmangel der Romantiker überwinden. Dieser Gedankengang entsteht bei Ewers unter dem Eindruck von Nietzsche, vor allem aber durch eine intensive Lektüre von Max Stirner, die er als Erweckungserlebnis beschreibt.Footnote 159

‚Romantisch‘ daran ist auch die herausgehobene Stellung der Sehnsucht, die zum ausschlaggebenden Handlungsmotiv des Künstlers wird. „Aber es gibt Menschen, deren blutende Sehnsucht so ungeheuer ist, dass sie hinaus müssen aus dem, was wir wissen“, so Ewers mit biologistischen Anklängen (EAP 19), und als Auslöser und Ziel von Kunst garantiere die Sehnsucht eine immer fortwährende Entwicklung und Revision von Erkenntnissen. Sehnsucht stecke als (biologische) Empfindung im Menschen, und der sensible Künstler erforscht ihre Gründe und Ausdrücke im Zuge einer ekstatischen Entdeckungsreise. Jede Kunstwahrheit, die der Sehnsucht entspringt, ist dabei zwangsläufig subjektiv und veränderbar – und trotzdem ‚wahr‘, da sie auf ein echtes, erlebtes Gefühl zurückgehe und zusätzlich schön präsentiert wird.Footnote 160

Einen letzten, produktionsanregenden Clou hält Ewers noch in der Hinterhand, und hieraus entsteht die Besonderheit seiner Neoromantik: Jede Kunstwahrheit, zu der man auf dem Weg der Ekstase gelangt, semantisiert er zugleich als eine ‚Lüge‘. Das Lügen ist bei Ewers entsprechend kommunikativer Akt und künstlerische Handlung zugleich, denn im Lügen kann die Fiktion eine objektive Wahrheit ersetzen. Die einschlägige Formulierung für dieses lügenhafte Kunstverständnis findet sich im Essay über Was ist Wahrheit? (1916):

Ich begriff, [...] daß die Wahrheit garnicht das Wirkliche sei. Sondern einzig und allein, die Dichtung. Die Phantasie. Das Träumen. Man kann auch sagen, ganz grob: die Lüge. Sie und nichts anders ist das einzig Reale, das greifbar Wirkliche auf dieser Welt.Footnote 161

Jede Dichtung ist Lüge – und als bessere, weil: ‚schönere‘ Wahrheit entlädt sie sich in die Welt. Die Erzählung Delphi (1901), die Ewers zeitlebens für einen seiner wichtigsten Texte hält,Footnote 162 führt genau dieses Prinzip vor: Der faule Dichter Koreas denkt sich eine Lügengeschichte aus, die allen Zuhörern gefällt, und so entsteht die berühmte, weltverändernde Sage rund um den Tempel zu Delphi. Auf dieser Grundfigur, die in der bisherigen Forschung wenig kommentiert blieb,Footnote 163 fußt Ewers’ Werk von der Prosa bis in die autofiktionale Inszenierung hinein. So endet der Essay über Edgar Allan Poe mit einem bekenntnisartigen Plädoyer des Autors, über den amerikanischen Romantiker hinaus:

Die Tat ist nichts – der Gedanke ist alles. Die Wirklichkeit ist hässlich, und dem Hässlichen fehlt die Berechtigung des Daseins. Die Träume aber sind schön, und sind wahr, weil sie schön sind. Und darum glaube ich an die Träume, als an das einzig Wirkliche. (EAP 62)

Dass Ewers selbst ausschließlich Gruselgeschichten verfasst, welche die kulturelle Semantik des ‚Schönen‘ unbedingt unterlaufen, ist Teil seiner spezifischen Ironie, die sich im Folgenden einer problemorientierten Analyse stellen muss.

3.2.2 Empirisierung des Unwahrscheinlichen: Aus dem Tagebuche eines Orangenbaumes (1905)

In der Erzählung Aus dem Tagebuche eines Orangenbaumes, angeblich geschrieben auf der französischen „Insel Porquerolles“ im Juni 1905,Footnote 164 erzählt ein junger, namenloser Student in einer ausführlichen Binnengeschichte, wie er der Anziehungskraft einer „Zauberin“ namens Emy Steenhop verfällt und sich schließlich in einen Orangenbaum verwandelt. Dabei stellt der Ich-Erzähler schon im ersten Absatz klar, dass er seine Geschichte aus einer Irrenanstalt heraus verfasst: Vor einem „Herrn Sanitätsrat“, dem das titelgebende „Tagebuch“ als fiktivem Adressaten vorgelegt wird, möchte er beweisen, dass er nicht nur „an der fixen Idee leide, ein Orangenbaum zu sein“, sondern dass er im Laufe der Geschichte tatsächlich zu einer Pflanze mutieren werde (TO 137). Der Patient macht es sich also zur Aufgabe, seine „Baumwerdung“ argumentativ vor einem Arzt zu belegen. „Denn wenn es mir gelingt“, so der Erzähler auf Rahmenebene weiter, „einen Psychiater von europäischem Rufe, wie Sie, Herr Sanitätsrat, von der Richtigkeit meiner Aufstellungen zu überzeugen, so muss auch der größte Skeptiker sich vor dem sogenannten ‚Wunder‘ beugen.“ (TO 138)Footnote 165

Die Erzählung trifft damit eine folgenreiche Formentscheidung: Sie präsentiert sich als Aufzeichnung eines Wahnsinnigen, der seinen Psychiater persönlich adressiert und seine Krankheitsgeschichte als Fallstudie vor ihm ausbreitet. Kein weiterer Rahmen kontextualisiert diesen Monolog eines Irren, sodass die gesamte Erzählung aus der befangenen Perspektive des Patienten präsentiert wird. Konsequenterweise endet diese radikalsubjektive Fokalisierung mit einer Verwandlung: „Schon wird mir das Schreiben schwer, Herr Sanitätsrat, die Finger wollen nicht mehr zusammenhalten, sie spreizen sich, streben auseinander wie die Zweige“. (TO 168)

Die Nervenkrankheit des Erzählers scheint damit ausgemacht, doch der Beschuldigte tritt den „Wahrheitsbeweis“ an:Footnote 166 Der Psychiater soll am Ende des medizinischen Tagebuchs entscheiden, ob der Patient dem Wahnsinn verfallen sei oder vielmehr eine reale Verwandlung in den Orangenbaum vollzieht. Damit verbirgt sich im Text ein Meta-Ereignis: Auch wenn Erzählzeit und Sujet von Anfang an feststehen (der Erzähler verwandelt sich in einen Baum, er verfasst seinen Text innerhalb eines festen Rahmens von Ort und Zeit), entfaltet der Erzähler eine geradezu wissenschaftliche Beweiskette, mit der auch die Leserinnen und Leser vom Wahrheitsgehalt der Verwandlung überzeugt werden sollen. Es handelt sich beim Tagebuch eines Orangenbaums also um Bekehrungsprosa: In einem persuasiven Kommunikationsakt versucht der Ich-Erzähler, vor seinen Adressaten die eigene Glaubwürdigkeit und noch dazu eine philosophische Einsicht zu belegen. Es könnte also sein, dass sich im Wahnsinn des Patienten eine tiefere Wahrheit verbirgt, die sich mit vernünftigen Augen nicht erkennen lässt.

So absurd die Ausgangsbehauptung um den Orangenbaum auch auftritt, umso mehr Aufwand betreibt der Text in seiner Beweisführung. Zunächst gibt sich der Erzähler als ein Student der Rechte zu erkennen, der sein „curriculum vitae“ aus seiner jüngsten „Meldung zu der juristischen Doktorprüfung“ paraphrasiert (TO 139). Er bereitet sich zur Erzählzeit auf die Promotionsprüfung in Bonn vor, er gibt sich intelligent und redegewandt – was er in exakten Datierungen und philosophischen Reflexionen zur Schau stellt. Im Duktus inszeniert er sich somit als ein kluger, engagierter Student, der zwar etwas trinkfreudig und schwärmerisch auftritt, aber zugleich durch gewitzte Ideen und genaue Beobachtungen auffällt. Diese Fiktion von Wissenschaftlichkeit wird formal nicht gebrochen: Mit geradezu empirischen Mitteln möchte der Beschuldigte vorführen, wie es eben doch möglich sein kann, sich in einen Baum zu verwandeln.

An dieser Stelle lassen sich zudem die Autofiktion und ihre Funktion greifen, wie sie Ewers in zahlreichen seiner Erzählungen installiert. Das curriculum vitae des Erzählers liest sich wie der Lebenslauf des Hanns Heinz Ewers: Beide promovieren sich in Bonn zum Dr. jur. und haben bereits „eine Reihe größerer und kleinerer Reisen“ unternommen (TO 139); deckungsgleich zum Bild des Autors, das schon zur Jahrhundertwende kursiert.Footnote 167 Zwar sind die autofiktionalen Hinweise in dieser Erzählung vergleichsweise dezent gestreut, dennoch eröffnen sie eine (für Ewers charakteristische) Schnittmenge zwischen Autorfigur und Erzähler, die auch der zeitgenössische Leser dank seiner öffentlichen Autorinszenierung evaluieren kann. Selbst Kleinigkeiten stimmen: Auch in einem Bonner Studentencorps, in dessen Kreisen die Erzählung spielt, hat sich Ewers bis zu seinem unfreiwilligen Ausschluss engagiert.Footnote 168 Dieser Effekt erzeugt auf paradoxale Weise eine Illusion von Authentizität: Die Behauptungen rund um den Orangenbaum bleiben absurd, doch eine vermeintliche Identität von Erzähler und Autorfigur erlauben den voyeuristischen Anschein, in der Geschichte könnte sich eine transfiktionale Wahrheit über die Autorfigur spiegeln. Einerseits ist also offensichtlich, dass es sich bei der Erzählung nicht um einen autobiographischen Tatsachenbericht handelt; andererseits importiert der Text seine Autorfigur mit in das Geschehen hinein, womit er einen Anker in die nichtfiktionale Wirklichkeit auswirft.Footnote 169

Wie also verwandelt sich der Patient in einen Orangenbaum? Der Großteil der Überzeugungsarbeit geschieht mithilfe der Binnengeschichte, die als Erlebnisprotokoll einer Baumwerdung zugleich eine romantische Erzählung par excellence darstellt. Der Patient lernt bei einem Faschingsball „Frau Emy Steenhop“ kennen (TO 140), eine ominöse und unnahbare femme fatale, die in ihrer Gartenvilla abendlich rauschende Feste organisiert. Allesamt verfallen die Studenten des Bonner Corps dem erotischen Zauber Steenhops, bis der Korpsbruder Harry von Bohlen auf mysteriöse Weise verschwindet. Er hinterlässt eine Notiz, laut der er sich in einen „Myrtenbaum“ verwandelt habe (TO 145). Der besorgte Oberst des Regiments ist überzeugt, Bohlen sei über seine „maßlose Sehnsucht“ (TO 146) zu der Zauberin wahnsinnig geworden und habe sich daraufhin das Leben genommen. Er verhängt ein Verbot, sich der Villa zu nähern, doch der Erzähler kann seinem erotischen Drang nicht widerstehen: Auf persönliche Einladung hin bringt er Emy Steenhop zunächst einige Orangenblüten, dann beginnen regelmäßige Treffen. So gleitet der Erzähler mehr und mehr in eine Märchenwelt hinab: Er träumt von „zerbrochenen Marmorsäulen“ (TO 160), lauscht in Klosterruinen alten Sagen und Märchen und rezitiert schließlich eigene Verse über „Teufelsblumen“ (TO 164). Am Ende hat ihn die Frau ganz in Besitz genommen: Er adaptiert ihre Gedanken und ist mit ihr überzeugt, dass sein Körper nach Orangen dufte und sich bald ganz in einen Orangenbaum verwandeln werde. Als Emy Steenhop verschwindet, wird er nach einigen Wutausbrüchen von seinen Korpsbrüdern in die Anstalt eingewiesen. Ein letzter Brief der Zauberin enthält den knappen Aufruf: „Wenn du mich liebst, so bring es zu Ende.“ (TO 167 f.)

Das ganze Motivarsenal der schwarzen Romantik ist in diese Geschichte eingeschrieben: Märchen, Träumereien, Wahnsinn, implementierte Verse, verödete Häuser und zauberische Frauengestalten. Konkrete Verbindungen lassen sich zu Das öde Haus von E.T.A. Hoffmann aufzeigen, die als Parallel-Erzählung zum Sandmann mit einem analogen Haus- und Hexenmotiv hantiert.Footnote 170 Ein weiterer Intertext aber drängt sich in den Vordergrund: Die Namen „Astolf“ und „Alcina“, mit denen der Erzähler und Steenhop sich gegenseitig anreden, verweisen direkt auf Orlando Furioso (1516) von Ludovico Ariosto, einen der bedeutendsten Texte der italienischen Renaissance.Footnote 171 Das Tagebuch eines Orangenbaumes lässt insgesamt keine Gelegenheit aus, um auf die berühmte Verwandlungsszene aus dem Orlando Furioso hinzuweisen, in der die böse Hexe Alcina ihren Liebhaber Astolfo in einen Myrtenbaum verwandelt.Footnote 172 Neben einem Eingangszitat aus dem EposFootnote 173 findet sich folgende Anrede des Erzählers eingeschoben:

Ich weiß, Herr Sanitätsrat, wie wenig Muße unsere Zeit hat, sich mit alten Sagen und Geschichten zu beschäftigen. So werden Ihnen voraussichtlich diese beiden Namen [Alcina und Astolf, R.S.] gar nichts sagen, während sie mir das Bevorstehen eines entsetzlichen und doch süßen Wunders im Augenblick offenbarten. Wenn Sie Ludovico Ariosto kennen würden, wenn Sie irgendeine Heldengeschichte des Cinquecento gelesen hätten, so würde Ihnen die schöne Fee Alcina wie mir eine alte Bekannte sein. (TO 152)

Der Umgang mit diesem Intertext ist symptomatisch: Analog zum naiven Stil der Erzählung wird auch der Hinweis auf den Orlando Furioso nicht verborgen, sondern mit Blick auf ein größeres Publikum ausgestellt. Wirklich jeder soll auf die motivische Vorlage für den Erzählstoff hingewiesen werden, auch wenn der Text verfahrenstechnisch wenig mit der Renaissanceliteratur zu tun hat. Denn wo Astolfos phantastische Verwandlung im Orlando Furioso noch zweifelsfrei durch die böse Zauberin Alcina stattfindet, verbleibt bei Ewers in der Schwebe, ob eine Verwandlung am Ende stattfindet oder nicht.

Neben den offensichtlichen Fingerzeig auf Ariost treten komplexere Verweise auf den literarischen Kanon hinzu. Im Laufe des Textes lässt sich eine intertextuelle Progression feststellen: Mit fortschreitendem Wahnsinn bzw. einem Abtauchen in die Märchenwelt wird der Erzähler zugleich immer anspielungsreicher, vor allem in Bezug auf Romantik. Den Höhepunkt erreicht sein poetisches Faible in den Ruinen des Klosters Heisterbach, einer ehemaligen Zisterzienserabtei nahe Bonn, deren real existierende Überreste zahlreiche Nachahmer Casper David Friedrichs und einige Spätromantiker anlockten.Footnote 174 Ganz materiell werden im Tagebuch eines Orangenbaums während des Aufenthalts in der Klosterruine zuerst „[u]ralte Sagen, Märchen und Geschichten“, anschließend ein Gedicht des Erzählers auf Textebene eingeflochten. Neben einer wirren Märchengeschichte Alcinas, die Topoi des Orlando Furioso mit Sagengestalten aus der griechischen und römischen Antike vermengt (TO 161 f.), bricht vor allem das reimlose Gedicht des Erzählers mit der zuvor gut verständlichen Prosa des Textes. Schon die ersten Verse berühren explizit die Neoromantik der Jahrhundertwende:

Als der Teufel ein Weib ward,

Als sich Lilith

Die schwarzen Haare zum schweren Knoten schlang

Und die bleichen Züge

Mit Botticellis krausen Gedanken

Rings umrahmte, […]

Als sie Bourget las

Und Huysmans liebte,

Als sie Maeterlincks Schweigen verstand

Und die Seele badete

In Gabriel d’Annunzios Farben,

Lachte sie einmal – (TO 162 f.)

Das Gedicht Orchideen (1898), das Ewers auch in die Sammlung Moganni Nameh (1918) aufnimmt,Footnote 175 liest sich auf den ersten Blick wie ein Katalog der literarischen Décadence, wie sie Caroline Pross definiert hat.Footnote 176 Mit „Maeterlincks Schweigen“ ist zwar einer der wichtigsten Texte der Neoromantik angeführt; auffälliger aber sind die Décadence-Motive von Schlangen, verschnörkelten Vasen und nicht zuletzt der Lilith-Frauengestalt, welche an Franz von Stucks Die Sünde (1893) angelehnt ist. ‚Dekadent‘ (im Sinne von Pross) ist auch die histoire des Gedichtes: Beim Lesen der modernen Autoren muss Lilith laut lachen, dabei springt ihr eine Schlange aus dem Mund; sie erschlägt die Schlange und sammelt ihr Geifer in einer „schweren Kupfervase“; nun streut sie Erde drüber, spricht einen Fluch wie aus einem „alten Kinderreim“, und Orchideen wachsen aus der Vase hervor. „‚Das ist schön‘, sagte Alcina“ (TO 164), als der Erzähler seine Verse beendet hat.

Nur auf den ersten Blick ordnet sich dieser Text aber selbst einer literarischen Décadence zu. Denn über die französischen Dichter kann Lilith, wie die Verse zeigen, nur lachen: Zwar „liebte“ sie Huysmans und „verstand“ Maeterlinck, doch vor der Allgewalt der mythischen Lilith-Figur erscheinen ihr diese Autoren profan. Erst durch eine (biologische) Verbindung aus Speichel, „alter Erde“ und einem „alten Fluch“ erwachsen Blumen daraus, die sich dem „Lichte“ entgegenstrecken. Das Gedicht erzählt damit die Geschichte einer Neoromantik, die der Erzähler im Schatten der Klosterruine nach seiner individuellen Vorstellung modelliert. Die lebensfernen décadentes verwandeln sich durch den alten Mythos, in deutscher Sprache und in transmodernen Topoi, zu „Teufelsblumen, die die alte Erde / Die durch Liliths Fluch mit Schlangengeifer / Sich vermählt, zum Lichte hat geboren“ (TO 163 f.). Eingebettet in eine deutschkulturelle Tradition erfahre die französische Décadence damit ihre Lichtgeburt. Der anschließende Erzählerkommentar in Prosa unterstreicht noch einmal diese Neoromantik als lebenskräftigere Variante der Décadence: „Ja, Herr Sanitätsrat, so war unser Leben: ein Märchen, aus Sonnenstrahlen gewoben. Eine verlorene Vergangenheit atmeten wir ein, eine nie geahnte Zukunft wuchs aus unseren Küssen.“ (TO 164)

Ein solches Versexperiment unterscheidet sich radikal von dem lockeren Parlando der Tagebuch-Prosa, sodass die Wertung der Zauberin Steenhop – „Das ist schön“ – durch den Kontext ironisch gebrochen wird. Denn noch bevor das Gedicht überhaupt im Text auftaucht, schickt ein Korpsoberst im Gespräch eine Warnung voraus: „Sagen Sie mal, […] waren Sie es nicht, der damals die Gedichte vorlas? […] Es kam sowas von allen möglichen Blumen drin vor. […] Es war ein schrecklicher Unsinn!“ (TO 144)Footnote 177 Hier lässt sich die Kippfigur zwischen Behauptung und Widerruf im Kleinen fassen: Während der Erzähler und Emy Steenhop im Gedicht eine nicht näher benannte Schönheit auffinden, bewertet es der Oberst – als Repräsentant der preußisch-militarisierten Gesellschaft – als unsinnig und wirr.Footnote 178 Zwar spürt auch der Oberst die erotische Anziehungskraft von Emy Steenhop, doch aus seiner rationalen Warte heraus formuliert er den Grund, weshalb der Erzähler und Harry von Bohlen besonders gefährdet sind:

Man sagt, dass die Leute, die Gedichte machen, alle Träumer seien. – Ich glaube, der arme Kerl, der Bohlen, machte auch insgeheim Gedichte. [...] Und die Träumer, [...] das sind augenscheinlich die, die sie am leichtesten fängt. Ich will Sie warnen, Herr, so gut ich es vermag. (TO 144)

Lyriker also sind besonders gefährdet, einem erotischen Zauber Steenhops zu verfallen. Damit liefert der Oberst zugleich einen selbstreferentiellen Kommentar, der das Verhältnis zwischen Narration und Dichtung in der Erzählung problematisiert: Eine pragmatische Mitteilungsprosa, wie sie der Erzähler insgesamt anwendet, erscheint dem Oberst weniger anfällig für erotomanen Wahnsinn als das lyrische Schwärmen, das eine sentimentale Anlage des Dichters preisgibt.Footnote 179 Die Einschätzung des Obersts wird sich in der Binnenerzählung bewahrheiten, denn der Träumer landet am Ende, im Zuge seiner lyrischen Ergüsse, tatsächlich in der Irrenanstalt.

Damit überträgt sich die Kippfigur auch auf die Ebene der Textkonstitution (zwischen Lyrik und Mitteilungsprosa), und am Ende zeigt sich das romantische Verfahren von Behauptung und Widerruf als das konstitutive Merkmal dieses so schlicht auftretenden Prosatextes. Drei Aspekte verbleiben am Ende des Textes in der Schwebe: Erstens ist innerhalb der Binnengeschichte ungewiss, ob Emy Steenhop magische Zaubertricks oder nur ihre erotische Anziehungskraft einsetzt, um den Erzähler und die anderen Korpsmitglieder zu bezirzen. Zweitens bleibt offen, ob der Patient zurecht als wahnsinnig eingestuft wird oder vielmehr Einsichten in eine höhere Wahrheit besitzt, die er argumentativ auch noch logisch begründen kann. Und drittens klärt der Text durch seine radikalsubjektive Fokalisierung nicht zweifelsfrei darüber auf, ob am Ende eine Verwandlung in den Orangenbaum stattfindet oder ob sie nur Illusion bleibt. Die romantische Ironie stellt das konstitutive Moment dieser Erzählung dar, wobei sie durch den Wegfall eines heterodiegetischen Rahmens, wie ihn romantische Erzählungen oft aufweisen,Footnote 180 die Kippfigur ausschließlich anhand einer Einzelperspektive und im Kontrast zum zeitgenössischen Kontext entwickelt. Mit Todorov kann die Erzählung also realistisch und wunderbar zugleich gelesen werden – und ist somit, entgegen der Diagnose Wörtches, phantastisch.Footnote 181

Nach dem aktuellen Analysemodell aber sei Romantik nicht nur die omnipotente Kippfigur, sondern sie muss mit der Suche nach einem archimedischen Punkt einhergehen, nach etwas ‚Absoluten‘, an das sich in unendlicher Reflexion angenähert wird. Neben analogen Verweisen auf Klosterruinen und frühere Religionen, die ihre Funktion für den Erzähler weitestgehend eingebüßt haben, kommt hier die wohl wichtigste Textstelle ins Spiel: eine extradiegetische Anrede an den Psychiater, die ausschließlich aus der logischen Begründung einer Weltanschauung besteht. Für Ewers’ Erzählungen sind solche philosophischen Beweisführungen, die eine Logik des Geschehens untermauern sollen, charakteristisch; und auch in diesem Fall webt der Text einen (pseudo-)wissenschaftlichen Passus ein. „Der Gedanke, nicht wahr“, führt der Erzähler in seiner Leseransprache aus, „das ist das Primäre, ja das ist das Einzige, das wirklich ist. Es ist ein knabenhafter Unfug, die Materie als etwas Wirkliches aufzufassen“ (TO 153). In einem mehrseitigen Exkurs greift der Erzähler die Ontologie des Materiellen scharf an: Er reduziert die Welt auf eine Vielzahl ideeller Wesenszüge, die jedem Objekt – ob Mensch, Orangenbaum oder Wassertropfen – wesentlich inhärent seien. Am Beispiel des Tropfens illustriert er seinen Gedankengang:

Ein Wassertropfen scheint meinem erbärmlichen Menschenauge eine kleine, klare, durchsichtige Kugel; ein Mikroskop aber, wie es die Kinder als Spielzeug benutzen, lehrt mich, dass er ein Tummelplatz der wildesten Infusorienschlachten ist. [...] Der Gedanke aber des Wassertropfens [...] bleibt unvergänglich, er kann nie zerbrechen, verdampfen, zerschmelzen. Ist dieser Gedanke also nicht mit viel größerem Rechte als Wirklichkeit anzusprechen als die flüchtige Materie? (TO 153)

Die Phänomene, so der Erzähler, sind in ihrer visuellen Materialität vergänglich und können unter dem „Mikroskop“ zu einer Pluralität an Erscheinungen zerfallen. Im Zuge eines ontologisch gewendeten Idealismus aber, wie ihn der Erzähler propagiert, besitze jedes Objekt einen ewigen, unzerstörbaren „Gedanke[n]“, welcher die zerlegenden Analysen der modernen Wissenschaften unbeeindruckt überdauert.

In der ‚Idee‘ existiere demnach eine intersubjektive Wahrheit mit Orientierungsfunktion, welche die funktionale Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften übersteht. Der Erzähler geht noch einen Schritt weiter:

Was ich „Gedanke“ nenne, möchte der Theosoph mit „Gott“ bezeichnen, der Mystiker mit „Seele“, der Arzt mit „Bewusstsein“; Sie, Herr Sanitätsrat, würden vielleicht das Wort „Psyche“ wählen. Aber Sie werden mit mir darin übereinstimmen, dass dieser Begriff, wie man ihn auch nennen möge, das Ursprüngliche und zugleich das einzig Wirkliche ist. (TO 154 f.)

Das Konstrukt des ‚Gedankens‘ wird zu einem göttlichen Prinzip erklärt, das in verschiedenen Sprachen und Gruppen lediglich unterschiedliche Signifikanten trägt. Der Nervenpatient glaubt beispielsweise, dass es kein „Zufall ist, dass bei allen Völkern der Welt die Rose als das Symbol der Liebe, das Veilchen als das der Bescheidenheit gilt“ (TO 156): Vielmehr treten in solchen wiederkehrenden Symboldeutungen universelle Wahrheiten zutage, die sich – ungeachtet des Kontextes – als ewige Ideen dem Subjekt zu erkennen geben. Mithilfe eines Modells von Romantik gewendet, findet der Erzähler eine tiefere Weisheit in den Dingen verborgen, die nicht nur kulturelle Unterschiede, sondern auch die moderne Orientierungslosigkeit insgesamt überwindet. Ein ontologischer Idealismus stellt hier einen gemeinsamen Bezugsrahmen her, der die Partikularisierung moderner Wissensbestände aufhebt.

Allerdings, und das macht die Erzählung im Modellsinne romantisch, wird diese Möglichkeit der Transzendierung ironisch behandelt. Jedes philosophische Argument, das der Erzähler anführt, läuft im Kontext dieser Geschichte auf die Verwandlung des Subjekts in einen Orangenbaum hinaus. Das Wechselspiel zwischen argumentativem Aufwand und absurder Erzählhandlung zeigt sich anschaulich in einem Passus, in dem der Erzähler einen wissenschaftlichen Monismus, der zur Jahrhundertwende durch die Anatomiestudien Ernst Haeckels verbreitet ist, als Beleg für seine Baumwerdung heranzieht:

Kein einsichtiger Mensch kann sich heute den Wahrheiten – die freilich relativ sind wie alle anderen – der monistischen Weltauffassung entziehen, und die lehrt uns, dass wir Menschen als Materie uns in nichts von jeder anderen Materie unterscheiden. Wenn ich das zugeben muss, und auf der anderen Seite des „Gedankens“ Sein – in seinem eigentlichen gewaltigen Sinne – mich in jedem Augenblicke zur Anerkennung zwingt, so kann ich nur zu dem einen Schluss kommen, den übrigens tausend Beispiele bestätigen, dass der Gedanke nicht nur den Menschen, sondern auch jede andere Materie beliebig zu durchdringen vermag, warum also nicht Stamm, Blätter und Blüten eines Orangenbaumes. (TO 157)

An dieser Stelle wird der zeitgenössische Monismus, der eine „Einheit von Leib und Seele“ in nur einem, biologistisch gedachten Grundprinzip behauptet,Footnote 182 in den Kopf eines Nervenkranken transplantiert, um so die Fallstricke des monistischen Ansatzes herauszuarbeiten. Jedes noch so überzeugende Argument mündet in die Metamorphose in den Orangenbaum, die entweder gegen Textende vollzogen wird oder den Wahnsinn des Ich-Erzählers markiert.Footnote 183 Da sich keine der beiden Lesarten verifizieren lässt, sondern beide stattdessen koexistieren, handelt es sich um eine ironische Kippfigur nach romantischem Muster. Selbst das Konzept einer ‚unendlichen Annäherung‘ an das Absolute, wie sie romantische Texte z. B. in Form der ‚progressiven Universalpoesie‘ beschreiben,Footnote 184 findet sich im Tagebuche eines Orangenbaumes aufgerufen: Eine „Offenbarung des ‚Logos‘“, so der Erzähler, „wird kommen, wie sie kam, langsam, Schrittchen für Schrittchen, wie sich die Sonne aus dem Nebelfleck, wie sich der Mensch aus der Amoeba primitiva entwickelte. Sie ist unendlich und nie vollendet, darum wird sie auch nie vollkommen sein.“ (TO 157 f.)

Damit erfüllt dieser Text tatsächlich alle Kriterien des Romantischen, wie sie im heuristischen Modell von Romantik angenommen werden. Was aber hat sich verändert? Der wesentliche Unterschied lässt sich im Wegfall des heterodiegetischen Rahmens verorten. Während Erzählungen in der (schwarzen) Romantik, zum Beispiel bei Tieck und E.T.A. Hoffmann, häufig in eine Rahmenerzählung eingebunden sind oder gar von heterodiegetischen Erzählern präsentiert werden,Footnote 185 ist es gerade ein Kennzeichen dieser Neoromantik, dass ihre autodiegetischen Ich-Erzähler selbst auf (mögliche) Weltweisheiten hinter der Wahrnehmung stoßen. Hier sind nicht nur die Figuren, sondern auch die Ich-Erzähler potenziell wahnsinnig. Die beliebten Rahmenstrukturen aus der literarischen Romantik, (die im Poetischen Realismus teilweise noch verschachtelter auftreten,Footnote 186) tauchen in Novellen und Erzählungen der Jahrhundertwende vergleichsweise spärlich auf. In einer Formrevolte verzichtet diese Rollenprosa auf jede heterodiegetische Kontextualisierung und liefert ungebrochene Einblicke in Gedankengänge von Figuren, ob als innerer Monolog oder als Aufzeichnungen eines Tagebuchs.

Diese Modifizierung des Erzählverfahrens lässt sich auch auf das Modell übertragen: Die Fragmentierungsdiagnose der Moderne, laut der sich im Zuge einer fortscheitend ausdifferenzierten Gesellschaft die verbindenden Deutungshorizonte auflösen, findet sich in der radikalpersonalisierten Rollenprosa um 1900 noch einmal verschärft. Die Erzählung Aus dem Tagebuche eines Orangenbaumes kann als erzählstrategisches Beispiel dafür herangezogen werden, inwiefern sich romantische Erzählstrategien aufrechterhalten lassen, während die Diagnose der modernen Partikularisierung im Vergleich ansteigt. Mithilfe der Rollenprosa setzt der neoromantische Text einen noch stärkeren Akzent auf ungefilterte Ausdrücke von Subjektivität, mit denen – nicht nur in diesem Fall – nach verbindenden, intersubjektiven Momenten geforscht wird. Ewers’ Erzählung präsentiert sich damit als noch entwurzelter als die literarische Romantik, in der immerhin ein Rahmenerzähler, ob unzuverlässig oder nicht, die Begebenheiten von außen beschreiben kann. Zumindest in diesem Text bleibt das synthetische Angebot eines radikalen Idealismus, dem der Ich-Erzähler pathologisch verfällt, auch auf eine verfahrensstrategisch ‚romantische‘ Weise in einer Schwebe.

Exkurs: Neoromantik und Routines am Beispiel des Tagebuchs eines Orangenbaums

Diese spezifische Form der Rollenprosa, wie sie in Ewers Tagebuch-Erzählung eingesetzt wird, lässt sich in der Kurzprosa der Jahrhundertwende auffallend häufig antreffen. Mithilfe eines neuen Begriffs, den sogenannten „Routines“, hat Moritz Baßler dieses Phänomen jüngst als die wesentliche Innovation bzw. das charakteristische Merkmal erzählender Literatur um 1900 beschrieben.Footnote 187 Dieses Konzept gilt es zu überprüfen: Nach dem Vorbild des Papa Hamlet (1889) von Holz und Schlaf und später des Leutnant Gustl (1900) von Arthur Schnitzler präsentieren zahlreiche Texte um 1900 jeweils individuelle Sichtweisen auf ihre Welt, so Baßler, die als absurde Einzelblicke zugleich in ihrer „Idiosynkrasie“ hervortreten.Footnote 188 Diesen Prosastücken gehe es nicht um Multi-, sondern um brüchige Mono-Perspektivität, der notwendigerweise ein subjektiver und unverbindlicher Charakter anhaftet:

Personale Routines wie Leutnant Gustl lesen wir deshalb sozusagen als Fallstudien. Die Person, deren ‚Natur‘ dem Text die Regel gibt, ist nicht die des Autors, sondern eine Maske (persona), durch die er nicht nur als ein anderer, sondern zugleich auch in anderer Weise spricht. […] Person und Textur […] werden desto interessanter, je stärker sie vom vermeintlich Normalen abweichen. Unter dem Gesetz der Routines besteht, könnte man sagen, ein binnenliterarischer Druck zum Exotischen, was im Bereich menschlicher Psychen bedeutet: zum Pathologischen, zum ‚Fall‘ eben.Footnote 189

„Metacodes“, wie Baßler die vom Text angebotenen Sinnangebote nennt,Footnote 190 gelten zur Jahrhundertwende nicht mehr für größere Gruppen oder für eine ganze Gesellschaft, sondern werden stattdessen am experimentellen Einzelfall durchgespielt. In seiner Geschichte literarischer Verfahren erzählt Baßler auch eine Entwicklungsgeschichte der Metacodes: Nach dem Poetischen Realismus, der noch übergeordnete Deutungsmonopole annehme, ohne sie konkretisieren zu können, entlarvt die Prosa der Jahrhundertwende jeden gemeinsamen Bezugshorizont als Verirrung von Einzelpersonen – immer mit potenzieller, wenn auch unwahrscheinlicher Verankerung in der Wirklichkeit.

Im Routines-Konzept lässt sich, wie das Tagebuch-Beispiel zeigt, eine strukturelle Analogie zum Modell von Romantik behaupten. Metacodes, also weltstrukturierende Sinnangebote, stehen in der Prosa um 1900 stets unter Vorbehalt, so Baßler, da sie als Fallstudien notwendig ans Subjekt gebunden und ästhetisch unverbindlich bleiben.Footnote 191 Dasselbe gilt für Texte der literarischen Romantik, die sich auf Grundlage von Kant- und Fichte-Studien, besonders eindrücklich bei Novalis, an der subjektiven Bedingtheit aller Welterkenntnis abarbeiten.Footnote 192 Allerdings scheint sich der Fluchtpunkt um 1900 verschoben zu haben: Auktoriale Erzählperspektiven werden insgesamt seltener eingesetzt, da die Frage nach der einen, verbindenden Norm in der Regel nicht in einem intersubjektiven Zugriff gestellt wird. Die ästhetische Konstruktion einer Zauberformel wird auf Formebene noch einmal enger an das Subjekt gebunden, da in dieser Kurzprosa kein einziger Blick über das Individuum hinaus stattfindet.

Zum Vergleich: Das literarische Subjekt in der historischen Romantik forscht nach einer „regulative[n] Idee“ (nach Kant), mithilfe derer sich ein irgendwie geartetes Absolutes formulieren lasse – wenn auch in unendlicher, paradoxaler Annäherung.Footnote 193 In der romantischen Literatur übersetzt sich dieser Ansatz in binnendiegetische Verschachtelungen, Fragmentformen und Multiperspektivität. Zur Jahrhundertwende aber, betrachtet man das Routines-Verfahren auf der Folie des Modells Romantik, inszeniert ein solches Regulativ nicht einmal die Möglichkeit, über den Einzelfall hinaus zu gelten. Hier werden einzelne, in sich kohärente Weltdeutungen inszeniert, die allerdings mit der überindividuellen ‚Gesellschaft‘ kategorisch inkompatibel sind. Wo Romantiker also nach einer verbindenden Norm in ästhetischen Bewegungen suchen, forschen die radikalsubjektiven Neoromantiker nach einem Geheimnis, das sie von der Gesellschaft abhebt und als Individuum auszeichnet.

Mit dem Tagebuche eines Orangenbaumes liegt geradezu ein Paradebeispiel für das Routines-Verfahren vor, das Baßlers These – trotz ihres ungünstigen, weil historisch geborgten Terminus – stützen kann.Footnote 194 Auf dieser Folie zeigt sich bei Ewers sogar eine Innovation: Innerhalb der Idiosynkrasie fährt der studentische Erzähler verschiedene Techniken auf, um die ganz und gar unwahrscheinliche, subjektgebundene Erkenntnis wissenschaftlich zu validieren. Der Text unternimmt eine Empirisierung des Unwahrscheinlichen, für die der Text jene Strategien anwendet, die oben angeführt wurden.Footnote 195 Eventuell lässt sich hier eine Besonderheit der genuin neoromantischen Kurzprosa in Abgrenzung zu anderen ‚Routines‘ behaupten: Wo der innere Monolog z. B. bei Schnitzler nicht den Anspruch erhebt, andere Individuen mit der eigenen, subjektiven Weltsicht zu bekehren, inszeniert das Tagebuche eines Orangenbaumes den Entwurf einer geheimen, aber normativ proklamierten Wahrheit. Der wichtigste Verfahrensaspekt, auf den das Tagebuche eines Orangenbaumes hinweist, lässt sich dennoch weiterhin im Wegfall eines evaluierenden Rahmens verorten: Ein überzeugtes Subjekt wird nicht mehr durch auktoriale Außenblicke als widersprüchlich markiert, sondern erst der Kontext bzw. das kulturelle Wissen macht die Idiosynkrasie deutlich.

Die Routines der Jahrhundertwende, wie sie auch mit Blick auf Ewers auftreten, beinhalten in ihrem Verfahren entsprechend eine Verschärfung der romantischen Problemstellung. Es geht in den Routines-Texten um einen subjektiven ‚Metacode‘, der allerdings nur für einzelne Gruppen oder Figuren Gültigkeit besitzt – und diese postwendend auszeichnet. Der Unterschied zur Romantik ist ein gradueller: Man könnte sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, einen ubiquitär verbindlichen Metacode gefunden zu haben, zur Jahrhundertwende noch einmal rapide abnimmt. Während romantische Texte immerhin regulativ nach einer verbindenden Norm suchen und dabei zwischen Wunder und Wahnsinn schwanken, erforschen die Idiosynkrasien um 1900 ein gruppen- oder figurenspezifisches Geheimwissen, das eventuell gar nicht individualitätstranzendierend wirken soll. Diese Veränderung einer Funktion des Absoluten um 1900 lässt sich auf Grundlage des Tagebuches als Hypothese formulieren und muss an den weiteren Erzählungen geprüft werden.

3.2.3 Das Absolute im Blut: Die blauen Indianer (1906) als Problemfall

Die Erzählung Die blauen Indianer aus dem Erzählband Die Besessenen (1908) ist der problematischste Text dieser Untersuchung; womöglich handelt es sich gar um eine der moralisch verwerflichsten Erzählungen der Jahrhundertwende.Footnote 196 Ein Ich-Erzähler reist in diesem autofiktionalen Reisebericht durch verschiedene Orte Mexikos, um zufällig auf einen Stamm blauhäutiger Indianer zu treffen, die sich (angeblich) an Erlebnisse weit vor ihrer Geburt erinnern können – ganz so, als hätten sie sie selbst erlebt. Um dieses Phänomen eines vererbten Gedächtnisses zu erforschen, unternimmt der Erzähler einige Experimente und versetzt ein schwangeres Mädchen namens Teresita unter Drogen. Nach einer qualvollen Prozedur taucht tatsächlich ein Kölner Kolonialherr in ihrem Unterbewusstsein auf und übernimmt die Kontrolle über Teresita: Der Kölner Feldprediger scheint ihr Vorfahre zu sein und berichtet aus ihrem Mund, in deutscher Sprache, von zahlreichen Grausamkeiten, unter denen er die Indianer einst vergewaltigte und folterte. Der Ich-Erzähler beschreibt dieses Erlebnis als teilnehmender Beobachter und beendet seinen Bericht mit der Rückverwandlung Teresitas, nachdem sich ein umstehender Stammeshäuptling auf Befehl des Kolonialherren seine Zunge abgebissen hat.

An welcher Stelle das ästhetische Problem des Textes genau einsetzt – und keine Analyse verzichtet auf das klare Werturteil –,Footnote 197 ist mit analytischem Blick keineswegs leicht zu greifen. Denn analog zum Tagebuche eines Orangenbaumes stellt auch diese Erzählung eine unwahrscheinliche Begebenheit unter den Vorbehalt einer ironischen Kippfigur, womit sie sich hartnäckigen Eindeutigkeiten entzieht. Allerdings nimmt die Erzählung dabei eine Grenzüberschreitung bis zur Geschmacklosigkeit in Kauf,Footnote 198 da sie die Schrecken des Kolonialismus ohne moralische Wertung behandelt – und das aus der Perspektive eines heiteren, streckenweise grausamen Ich-Erzählers. Zurecht wurden Die blauen Indianer als „erzählerischer Modellfall“ des Ewers’schen Prosawerks behandelt,Footnote 199 und gerade in ihrer Radikalität ist die Geschichte aus Mexiko unbedingt untersuchungswert: An ihr lässt sich nachvollziehen, wie die romantische Kippfigur im Korsett der Routines in Gefahr gerät, auf eine bedenkliche Weise ihre selbstreflexive Funktion zu verlieren.

Erneut handelt es sich bei Die blauen Indianer um eine idiosynkratische Fallstudie (mit Baßler: um „Routines“),Footnote 200 die ohne Rahmenkonstruktion ungefilterte Einblicke in die Perspektive eines Ich-Erzählers erlaubt. Damit ist der Erzähler, hier: ein deutschsprachiger Kolonialtourist, die interessanteste Figur. Wie im Tagebuche eines Orangenbaumes bleibt er im Text namenlos, doch durch einzelne Hinweise eröffnet sich eine Lesart im Sinne der Autofiktion. Die Erzählung sei von Ewers in „Torreon (Coahila), Mejico, März 1906“ geschrieben, wie ein paratextueller Zusatz informiert (BI 58), und auch der Erzähler der Geschichte macht in Coahuila Station: „wir reisten herum in allen Staaten, in Yucatan und Sonora, in Tamaulipas, Jalisco, Campeche und Coahila“ (BI 67). Zahlreiche Orte und Sehenswürdigkeiten Mexikos werden in der Geschichte besucht, und zwar gemeinsam mit einem „Remscheider Reisende[n]“ namens Paul Becker (BI 65), dessen Beruf in Amerika angeblich eine gewisse Bekanntheit genießt:

Da drüben weiß man, was das ist; aber die Leute, die meine Bücher lesen, wissen es gar nicht, deshalb muss ich’s ihnen sagen. Ein Reisender für eine Remscheider Exportfirma spricht alle Sprachen und von allen alle Dialekte. (BI 65 f.)

Am Rande erfährt man hier, dass der Erzähler für eine breite Öffentlichkeit Reiseberichte schreibt („die Leute, die meine Bücher lesen“) – genau wie Ewers, der neben seinen Erzählungen auch autobiographische Reiseberichte in Zeitschriften, später dann in Sammelbänden veröffentlicht.Footnote 201 Die Erzählung hält die Gattungsillusion aufrecht, dass es sich um einen Reisebericht von Ewers aus Mexiko handeln könnte – obwohl der Text zuerst im Erzählband Die Besessenen (1908), dann im literarischen Simplicissimus (1909) gedruckt wurde.Footnote 202 Nicht nur der Kontext markiert das Genre: Auch der geradezu phantastisch sprachbegabte Paul Becker alias „Don Pablo“ (BI 59) liefert einen ersten textinternen Hinweis darauf, dass trotz aller Fährten ein fiktionaler Reisebericht vorliegt.

Darüber hinaus präsentiert sich der Ich-Erzähler als nicht besonders erzählfreudig, wie sich in den ersten Absätzen des Textes herausstellt.

Also Orizaba ist ein entzückendes kleines –

Aber ich habe gar keine Lust, von Orizaba zu erzählen, es hat nichts mit dieser Geschichte zu tun. Ich brauche es nur, weil ich hier einen alten Esel totschießen musste, der auch nichts mit der Geschichte zu tun hat. Den alten Esel aber habe ich wirklich nötig, da ich ihm die Bekanntschaft Don Pablos verdankte, und von Don Pablo muss ich sprechen, denn nur durch ihn kam ich zu den blauen Indianern. (BI 59 f.)

In solchen Passagen der Aposiopese inszeniert sich der Erzähler als geradezu erzählfaul. Sein streckenweise nüchterner Bericht zielt auf die Fakten, weshalb er bei jeder ausufernden Beschreibung, wie beispielsweise dem Leiden des alten, sterbenden Esels, mitten im Satz abbricht: „Ich will das nicht erzählen. Es ist genug, dass ich es aushielt, ich weiß, was es mich kostete.“ (BI 61) Der Erzähler ist nicht nur notorisch gelangweilt, sondern auch radikal mitleidlos gegenüber der indigenen Bevölkerung vor Ort. Die Indianerin Teresita, mit der er später die entwürdigende Reihe an Drogenexperimenten vornimmt, erwägt er bis zur Aufreizung zu prügeln, „verträgt doch eine Indianerin mehr Schläge als ein Maultier“ (BI 86). So moralisch verwerflich solche Werturteile des Erzählers sind, so muss zunächst textanalytisch konstatiert werden, dass hier die radikalsubjektive Perspektive der „Routines“ (nach Baßler) eingenommen wird: Der Text stellt klar, dass er aus der Rolle eines lustlosen Verfassers von Reiseberichten erzählt wird, der gleichzeitig einige Klischees des Kolonialismus aufruft und ironisch bedient. Es handelt sich, wie noch zu präzisieren sein wird, um eine überzeichnete Fallstudie: Ewers gibt uns für einige Seiten den zeitgenössischen Kolonialtouristen.Footnote 203

Ab einem gewissen Punkt wird das Interesse des faulen Reiseautors geweckt. Nachdem ihn Don Pablo im Zeitraffer an die sonderbarsten Orte in Mexiko geführt hat, lässt sich der Erzähler mindestens „ein halbes Jahr“ (BI 73) bei dem Indianerstamm namens „Momoskapan“ nieder (BI 69), da ihn das Rätsel um ihre blaue Hautfarbe interessiert. Das exotische Hautphänomen beschreibt er in wissenschaftlicher Manier:

Die Grundfarbe war freilich das Weißgelb aller mejicanischen Indianer, doch waren von dieser Farbe stets nur noch kleinere, kaum handgroße Flecken, häufig im Gesicht, vorhanden. Die blaue Farbe hatte überall die Oberhand gewonnen, anders wie bei den Tigerindianern von Santa Marta in Columbien, bei denen das ursprüngliche gelb immer noch stark die großen rostbraunen Flecken überwiegt. (BI 70 f.)

Auch durch diese Erzählung zieht sich ein empirischer Gestus. Als biologische Auffälligkeit wird das Phänomen exakt protokolliert, um es für einen wissenschaftlichen Zugriff verfügbar zu machen. Dabei betont der Erzähler auch den Unterschied seiner eigenen Perspektive im Vergleich zu einer genuin wissenschaftlichen Bearbeitung:

Leider verstehe ich von Hautkrankheiten nicht viel [...], auch habe ich nirgends etwas über die Momoskapanbläue gefunden, sonst hätte ich gerne hier ein paar gelehrte Fragen eingeflochten; das hätte sich gewiss sehr gut gemacht. So konnte ich nur die Augen aufsperren und sagen: „Hm – komisch!“ (BI 71)

Als Gelehrter versteht sich dieser Erzähler somit nicht. Vielmehr beobachtet er als ein unvoreingenommener Entdecker die ungewöhnlichen Phänomene mit seinem subjektiven, ausgestellt naiven Blick („Hm – komisch!“). Außerdem stellt er Hypothesen in den Raum, die außerhalb des Textes, von externen Beobachtern noch wissenschaftlich überprüft werden sollen: „Ich überlasse es der Wissenschaft, festzustellen, ob und inwiefern die ausschließliche Fischnahrung zu der allmählichen Blaufärbung der Momoskapan mitgewirkt hat“ (BI 73).Footnote 204

So wendet sich der naive wie selbstbewusste Ich-Erzähler von der profanen „Hautkrankheit“ des Stammes ab, um sich intensiv mit einem anderen „Rätsel“ (BI 73) zu beschäftigen: Die blauen Indianer können angeblich, so seine Entdeckung, Erinnerungen an die Erlebnisse ihrer Vorfahren abrufen, und zwar über ihre Geburt hinaus. In empirischer Manier eröffnet der Erzähler eine Versuchsreihe an den Menschen, um seine Hypothese auf Validität zu überprüfen. Er lässt diejenigen Indianer vorsprechen, deren Erinnerung besonders weit in die Vergangenheit zurückreicht, und verabreicht der jungen, schwangeren Frau einen Drogencocktail, um ihr Gedächtnis noch zu verstärken. Die grausigen Experimente an Teresita beginnen konkret als Erlebnisprotokoll: „In meinen Notizen steht: Am 16. Juli, Teresita, Tochter des Elia Mictecacihuatl, 14 Jahre alt.“ (BI 82) Exemplarisch vermengt sich in dieser Textstelle ein empirischer Anschein mit der ästhetischen Allegorisierung: Der Name „Mictecacihuatl“ stammt aus dem aztekischen Nahuatl, einer mexikanischen Sprache aus vorspanischer Zeit, und bezeichnet darin die „Herrin des Todes“, eine Göttin im Pantheon der Azteken.Footnote 205 Bei dem Vornamen „Teresita“ handelt es sich wahrscheinlich um eine Anspielung auf Teresa Urrea, auch Teresita genannt (1873–1906), die als ‚Heilige von Cabora‘ aufgrund religiöser Visionen Bekanntheit in Mexiko erlangte und angeblich Heilkräfte von der Jungfrau Maria erhielt.Footnote 206

Was hat diese Geschichte eines Möchtegern-Entdeckers, der als Pionier der Wissenschaften mitleidlos Menschen quält, nun mit Romantik zu tun – sowohl mit der Motivtradition als auch mit einer Suche nach absoluten Gewissheiten, die sich ästhetisch entziehen? Auffällig ist zunächst das zentrale Motiv der Blauen Indianer, das von der Forschung bereits als Substitut für die romantische blaue Blume ausgelegt wurde. „Die Metapher der ‚blauen Indianer‘“, so Ulrike Brandenburg, „verknüpft idealistische und rassistische Topoi, indem sie ein bis dato weitgehend selbstreferentielles Bild der Romantik – die Blaue Blume – mit einem in der europäischen Kolonialvergangenheit verankerten rassenbiologischen Inhalt füllt.“Footnote 207 Das Urteil Brandenburgs ist nicht falsch, aber auch nicht vollständig, da es die literarischen Strategien überspielt, die der Text ebenfalls von der Romantik adaptiert: Wieder vermischen sich Protokoll, philosophische Reflexion und phantastische Narration zu einem Gattungshybrid, in dem der Status des Erzählens wiederholt selbst reflektiert wird („Ich will das nicht erzählen“, BI 61). Besonders konkret tritt die berühmteste Formulierung der Romantik in Szene, beispielsweise nachdem – um nur eine Stelle zu nennen – das Mädchen Teresita in Erinnerung an ihre Vorfahren einem Kölscher Dialekt verfällt: „‚Dunnerkiel!‘ Es war als ob dieses gute Wort alle Hemmungen mit einem Schlage aus dem Wege räumte.“ (BI 90)

Darüber hinaus gibt der Text auch motivische Hinweise darauf, dass die Erzählerfigur selbst Züge eines Romantikers trägt, die sich erst im Laufe des Textes entfalten. Als modellhafte Vorlage lassen sich – neben der Nähe zur schwarzen Romantik nach Hoffmann, Bonaventura und Tieck – auch Parallelen zu Eichendorffs Taugenichts (1826) ziehen (in einer äußerst überzeichneten Variante), da auch Ewers’ Erzähler in seiner Naivität die modellkonstitutive Frage nach dem Absoluten umtreibt; eine unbestimmbare Sehnsucht, die auf letztbegründbare Antworten zielt.Footnote 208 Der Erzähler wird in schlaflosen Nächten von Reflexionen heimgesucht, nachdem er das merkwürdige Gedächtnis der Indianer entdeckt hat. Hier zeigt sich, dass er von einer Sehnsucht romantischer Art angetrieben wird:

Wenn aber nun das wahr ist, was ich fand? Wenn ich heute zugleich ich selbst bin und – mein Vater und Ahn? Und wenn das, was mein Hirn trägt – nicht stirbt, wenn es weiterlebt, weiterwächst in meinem Sohne und Enkel? Wenn ich, in mir selbst, die ewige Revolution versöhnen kann? (BI 79 f.)

Den naiven Erzähler reizt die Möglichkeit, eine „ewige Revolution“ zu überwinden; er sucht nach dem Stillstand eines ewigen Konflikts mit den Vätergenerationen. Modelltheoretisch reformuliert, eröffnet sich ihm die Option einer Aufhebung seines entwurzelten Ichs mithilfe der Vererbungslehre. Dass in dieser Erzählung ein ganz bestimmtes Erlösungsmotiv durchgespielt wird, kündigt auch ein vorangestellter Prätext an: „Das Blut der Väter“, heißt es in diesem Fall vor Textbeginn (BI 57), und als Thema der Erzählung ist damit die zeitgenössisch vieldiskutierte Vererbungslehre nach Darwin gesetzt (die im deutschsprachigen Raum durch den anthropologischen Monismus Ernst Haeckels popularisiert wurde).Footnote 209 Im vererbten Gedächtnis findet sich möglicherweise, so das Angebot der Erzählung, eine Antwort darauf, wie sich die eigene Zeit transzendieren und ein ewiger Widerspruch zwischen Tradition und Innovation über das „Blut der Väter“ versöhnen lässt (BI 57).

Dieser Passus der Reflexion verdient genauere Aufmerksamkeit, da er das eigene Synthese-Angebot in einem offenen Erkenntnisprozess überprüft. In einem ersten Schritt hinterfragt der Erzähler, inwiefern die Vererbung des Gedächtnisses mit den aktuellen Erkenntnissen der Wissenschaft vereinbar sei: „Weshalb sollte es nicht möglich sein?“, hebt er an. „Alles kann sich vererben, jede Anlage, jedes Talent. Und wird das Gedächtnis nicht vererbt?“ (BI 76) In einem zweiten Schritt gelangt er zur konsequenten Ablehnung eben dieser These: „Aber was lebt weiter? Die Fratze vielleicht! […] Zufälligkeiten. Nein, nein, wir sterben, und unsere Kinder sind ganz, ganz andere Menschen.“ (BI 77) Eltern wie auch Künstler, so seine Diagnose, wollen über ihre Kinder bzw. ihre Werke nicht dem tödlichen Vergessen anheimfallen – und die Vererbung von Charaktereigenschaften wäre demnach nur ein narratives Erlösungsmärchen. Auch diese Erkenntnis wird sofort widerrufen: „Aber das ist es: die Menschen fangen an zu begreifen, dass nicht das Erinnern das Gute ist, sondern das Vergessen. Die Erinnerung ist ein Alp, eine schleichende Krankheit, eine widerliche Pest, die das frische Leben erstickt.“ (BI 78 f.) Vererbte Verhaltensweisen wären demnach keineswegs wünschenswert, sondern führen in die alptraumhafte Katastrophe, da sie produktive Erneuerungen von Identität unterbinden. Kurz vor Ende seiner Reflexion gelangt der Erzähler zu einer Conclusio, die nach der Argumentationskette von Behauptung und Widerruf in den Raum gestellt wird:

Wir sind die Sklaven der Ideen unserer Väter. Wir quälen uns in diesen Ketten, ersticken in der engen Burg des Lebens, die die Ahnen schufen. Bauen ein neues, ein weiteres Haus – wenn wir tot sind, ist es eben fertig: dann liegen unsere Enkel in Ketten – (BI 79)

Diese Aussage nimmt in der Erzählung einen besonderen Status ein, da sie mit dem Ende der Geschichte in Äquivalenz tritt. Die Versuchsreihe an den Blauen Indianern kann die aufgestellte Hypothese schließlich bestätigen: Auch die Indianerin Teresita stellt sich als eine Sklavin ihres Urahnen heraus, nämlich des Kölner Kolonialherren aus dem 16. Jahrhundert, der nach dem Drogencocktail in Teresitas Persönlichkeit auftaucht und in deutscher Sprache zu sprechen beginnt. Dabei wird ausdrücklich betont, wie er das indigene Volk einst tyrannisierte. „So viele Männer habe keiner erschlagen im ganzen Lande“, referiert der Erzähler über den Tyrannen, „und keiner so viele Frauen geschändet – ‚Hei, viva el General Santanilla, und alaaf, alaaf Köln!‘“ (BI 94)

Im Folgenden soll – entgegen der bisherigen Lesarten – gezeigt werden, dass die Erzählung auch eine kritische Reflexion auf den imperialistischen Kolonialismus formuliert, und noch konkreter: an einem expansiven Deutschtum, das sich zur Jahrhundertwende auf seinem vorläufigen Höhepunkt befindet. Anschließend aber, soviel sei vorweggenommen, wird auf ein Folgeproblem gezielt, das den Text nicht aus seiner drastischen Amoralität entlässt.

Was hat es also mit dem Kölner Urahnen auf sich, der nach einer qualvollen Prozedur in der Erinnerung Teresitas auftaucht und aus ihrem Mund in schnoddrigem Kölsch polemisiert? Zunächst belegt die finale Episode innerdiegetisch, dass dem Phänomen des vererbten Gedächtnisses ein ontologischer Status zugesprochen wird. Teresita redet in einer Sprache, die sie unmöglich gelernt haben kann; es gibt keine Anzeichen für einen Wahnsinn bzw. Irrtum des Erzählers; und somit geschehen hier wunderbare Begebenheiten jenseits der romantischen Kippfigur. Eine Ironie, die Vorbehalte gegenüber einer Gültigkeit des inszenierten Erlebnisprotokolls formuliert, lässt sich mit Blick auf das vererbte Gedächtnis textintern nicht nachweisen.

In Teresitas Unterbewusstsein haben sich also tatsächlich die Verhaltensweisen eines deutschen Feldpredigers erhalten, dessen Namen man nicht erfährt. Die Eckdaten seiner Lebensgeschichte aber werden berichtet: Als Franziskaner habe Teresitas Urahne die niederen Weihen in Köln erhalten und nach einigen Reisen „die Bekanntschaft des Jonkheern van Straaten gemacht“ (BI 93), einem Konquistador im Umfeld des berühmten Hernán Cortés. In dessen Gefolgschaft war er angeblich an der Eroberung Honolulus beteiligt, bis er zu den (damals schon ‚blauen‘) Indianern im fiktiven Ystotasina gelangte. Insgesamt scheint der „Cornet Santanillas“, dem sich der Vorfahre anschließt (BI 93), ebenso erfunden wie die Figur des Kölner Predigers. Immerhin lässt sich die kleine Binnengeschichte damit gegen Ende des 16. Jahrhunderts datieren. Keinen Zweifel lässt der Text über die Drastik der historischen Handlungen: „[D]en Säbel in der rechten und das Kreuz in der linken Hand“, so habe der Kölner Vorfahre „dreihundert Maya“ an einem Tag verbrennen lassen, als Opfer am katholischen „Corpus-Dominitage“ (BI 94). An der Ausrottung der Maya, der Unterwerfung des indigenen Volkes und der Folter unter christlichem Banner hat der Feldprediger damit zweifelsohne aktiven Anteil.

In den einzelnen Formulierungen lässt sich zudem ein klares Werturteil fassen, wie sich der Erzähler zu diesen Verbrechen des deutschen Kolonialisten verhält: „Die Stimme überschlug sich, es war, als ob sie [Teresita als Kölner, R.S.] eine Fülle maßloser Macht, das Bewusstsein eines ins Lächerliche gesteigerten Herrscherwillens hinausschreien wolle.“ (BI 94) Den ‚Willen zur Macht‘ des Kölners bewertet auch der herrische Erzähler als größenwahnsinnig, und noch deutlichere Worte findet er kurz vor Textende, als er erschrocken beobachtet, wie sich ein umstehender „Kazike“ (BI 95) unfreiwillig auf Befehl des Feldpredigers die Zunge abbeißt. Nicht wehren könne sich der Indianer

[g]egen diesen grässlichen Zwang des weißen Herrn, dem willenlos die Väter unterlagen, diesen höllischen Zwang, der nun Jahrhunderte übersprang und längst Vermodertes wieder wachwerden ließ. Diese Handvoll furchtbarer Worte, vor denen die Urahnen einst sich wanden in namenloser Qual, löschte die Zeiten aus: da stand er, ein elend Tier, das sich selbst zerfleischen musste, wenn der Herr winkte. Und er gehorchte, musste gehorchen [...]. (BI 96)

Diese Indianer sind tatsächlich „Sklaven der Ideen“ ihrer Vorfahren (BI 79): Nicht nur der lächerliche Herrscherwahn des Kölner Predigers hat sich unterbewusst weitervererbt, auch der nebenstehende Indianer hat sich über Jahrhunderte eine Verhaltensweise des Gehorsams antrainiert, sodass er dem „unüberwindlichen Zwang“ des Befehls nicht widerstehen kann (BI 96). Durch die Gedächtnisvererbung seien die Unterschiede zwischen den Zeiten zwar ausgelöscht, doch das Ergebnis ist dank der historischen Brutalität deutscher Kolonialisten verheerend.

Natürlich ist diese genealogische Denkweise, noch dazu postkolonial grundiert, heute hoch belastet. Mithilfe des epistemologischen Experiments wird aber auch eine historische Anklage formuliert: Die ausgestellten Stereotypisierungen des Textes, laut der Indianer allesamt „dumm“, „grässlich faul“ und „gut katholisch“ seien (BI 68), werden auf nicht-biologische Ursachen zurückgeführt, nämlich auf die historische Tortur durch europäische und explizit deutsche Konquistadoren. Der ständige Verweis auf das Katholische, das u. a. in den beliebten Heiligenbildern des Don Pablo wiederkehrt,Footnote 210 unterstreicht dieses Moment einer nicht abreißenden Unterwerfung durch fremde Kolonialisten bis zur Jahrhundertwende. Es steht also zur Disposition, ob die (im Text wiederholt diffamierten) Indianer ihre stereotypen Eigenschaften nicht als ‚Rassemerkmal‘, sondern vielmehr im Zuge einer kolonialistischen Folter bis zur Erzählzeit um 1900 annahmen. Dieser Einwand kann die amoralische Schärfte des Textes aber nur partiell entschärfen: Am Ist-Zustand zum Beispiel, an der Diagnose von Faulheit und Habgier, werden im Text keine Zweifel eingestreut.

Seine potenzielle Anklage führt der Text schließlich noch um einen Grad weiter. Bisher nicht von der Forschung hervorgehoben, aber doch textuell markiert tritt unweigerlich auch der Erzähler, der Menschenversuche in Mexiko anstellt, in deutliche Äquivalenz zu dem Kölner Urahnen, der für den Kolonialhorror der Erzählung verantwortlich gemacht wird. „Ich gab Befehl“, so beginnt der Erzähler seine entwürdigende Versuchsreihe, „mir alle zu bringen, deren Gedächtnis zurückreichte über die Geburt“ (BI 80). Auch der Reiseautor um 1900 kommandiert die Indianer aus Langeweile und Neugier herum, ganz nach dem Muster des bösen Kölner Feldpredigers. Er lässt die schwangere Teresita in verschiedene Rauschzustände versetzen und erfreut sich noch dazu an einer absurden Kostümierung seines Opfers:

Es machte mir Spaß, diese Toilette zu vervollständigen; während der bittere Absud der Kaktusköpfe gekocht wurde, stülpte ich ihr meinen Sombrero auf den Kopf und schenkte ihr eine von Don Pablos knallroten überall beliebten Leibbinden. (BI 87)

Die ausgestellte Grausamkeit dieser Szenerie, die der Erzähler ausstaffiert, ist auch im kulturellen Wissen der Jahrhundertwende nicht zu übersehen. Dass er die blauen Indianer nicht eigenhändig schlägt oder auspeitschen lässt, wird auf eine persönliche „Manie“ zurückgeführt (BI 72), die auch noch antisemitisch grundiert ist: In seiner Schulzeit kannte der Erzähler angeblich einen „Herr Bankier Löwenstein“, der einen „blauviolette[n] Blutschwamm“ im Gesicht trug (BI 71). Vor dieser Blase und der Gefahr ihres Aufplatzens ekelte er sich so sehr, dass er sie noch zur erzählten Zeit mit der blauen Hautfarbe der Indianer verbindet: „So sehr stand ich unter dem Einflusse dieses kindischen Gedankens, dass ich in all den Wochen, die ich bei den Momoskapan weilte, nicht einmal es über mich vermochte, einen zu berühren.“ (BI 72)

Die Aufnahme der antisemitischen Phobie, die Ewers als engagierter Philosemit im kulturellen Kontext nicht teilt,Footnote 211 macht die Rolle noch einmal deutlich: Es geht dem Text nicht nur um eine Ironisierung des Kolonialismus, sondern auch um eine Idiosynkrasie des deutschen Imperialisten in der Welt. Der fiktive Reisebericht überzeichnet sowohl die Stereotype der Indianer als auch die Verhaltensmuster deutscher Kolonisatoren, aus deren Perspektive nach dem Muster der Rollenprosa erzählt wird. Eine solche Lesart schließt gleich mehrere Textstellen auf: Die ausführliche Anfangsepisode, in welcher der Erzähler den Remscheider Paul Becker kennenlernt, dient funktional ausschließlich der Markierung einer übertriebenen, (deutsch-)imperialistischen Perspektive. Auch die radikale Dialektik von Tierliebe und humanitärer Kälte, wie sie der Text u. a. an der Episode mit dem kranken Esel vorführt, etabliert sich schon um 1900 zu einem Stereotypen des Deutschen.Footnote 212 Noch dazu verhalten sich auch die restlichen Kolonialtouristen, die als Statisten am Rande auftauchen und gefühlskalte Ratschläge geben, ausgestellt eigentümlich: Sie bilden eine moralfreie Gegengesellschaft (BI 64).Footnote 213 Überall in diesem Text lauern also Idiosynkrasien. Zugleich wird markiert, dass der Kreislauf von Unterwerfung und Tyrannei in Mexiko auch zur Jahrhundertwende fortgesetzt wird: Auf konzeptioneller Ebene ist Teresita vor allem deshalb schwanger, um vorzuführen, dass auch der Erzähler mit seiner herrischen Verhaltensweise eine nächste Generation ruiniert.

Es ist also durchaus möglich, den Text als eine Kritik am historischen und zeitgenössischen Imperialismus zu deuten. Doch eine solche Lesart würde gerade, und darin ist der Text für die vorliegende Untersuchung brisant, die neoromantische Strukturqualität der Erzählung übersehen. Die Ironie der Romantik, mit der zeitenthobene Wahrheiten behauptet und widerrufen werden, wird dem Text an zwei Stellen zum Verhängnis. Zum einen kippt die Geschichte mit Blick auf die Ewers’sche Autofiktion: Es wird eben doch der Anschein erweckt, dass der Erzähler mit dem realen Reiseautor Ewers eine gewisse Schnittmenge besitzt, sodass die romantische Schwebe zwischen Fiktion und Wirklichkeit aktiv provoziert wird. Es könnte doch manches, und dafür betreibt die Erzählung großen Aufwand, transfiktional stimmen, was hier für phantastische Begebenheiten und rassistische Stereotype aufgeworfen werden. Blickt man einerseits im Vergleich auf Ewers’ eigene Reiseberichte und die zahlreichen Marker von Fiktionalität im Text, dann wird die überzeichnete Einnahme einer Rolle eigentlich deutlich: Ewers erzählt (einmal mehr) eine Lügengeschichte.Footnote 214 Andererseits wirft der Textaufwand, mit dem eine Rückbindung an den empirischen Autorblick inszeniert wird, aber auch eine problematische Unsicherheit zwischen Fiktion und Wirklichkeit auf. Die Stereotype der Indianer beispielsweise lassen sich im kulturellen Wissen der Zeit weder validieren noch falsifizieren, weshalb sie vom Text vor allem potenziert werden. Kurz: Die Erzählung schlägt Kapital aus der Exotik der unterdrückten Indianer.

Zweitens, und dieser Aspekt ist zentral, eröffnet der letzte Satz der Erzählung auch eine binnenliterarische Kippfigur, mit der die hier vorgeführte Kritik am Kolonialismus zu einer Möglichkeitsform herabgestuft wird. „Da kroch Teresita schmeichelnd an meine Beine“, so lautet der finale Satz der Erzählung, „küsste die kotbedeckten Stiefel: ‚Herr, bekomme ich den Silbergürtel?‘“ (BI 97) Dieses Ende ist besonders fatal, da im Laufe der Textprogression die verwerfliche Rolle des deutschen Kolonialismus zuerst hervorgekehrt, nun aber wiederum mit einem Fragezeichen versehen wird. Ist es nicht vielleicht doch ein unveränderliches Rassemerkmal, so fragt die neoromantische Kippfigur hier, welches ungeachtet der anerzogenen Gräuel durchscheint? Gerade die stereotype „Habgier“, die Teresita am Ende zeigt (BI 85), lässt sich nicht unmittelbar aus den vorangegangenen Taten des Kölners ableiten. Und auch der Kazike könnte seine Zunge nur abgebissen haben, da ihm die Gefolgschaft rassenbiologisch im Blut stecke – der Erzähler hätte sich in seiner Deutung in diesem Fall geirrt. Neue Widersprüche werden aufgeworfen bzw. reaktiviert, sodass die Kippfigur in diesem Fall zwischen der Gültigkeit einer rassenbiologischen Konstante und einer entwicklungsgeschichtlichen Sozialisation der Indianer schwankt. Der Text übt sich also in potenziellem Rassismus im Zeichen der Neoromantik.

Verfahrenstechnisch ähnelt die Erzählung damit dem Tagebuch eines Orangenbaumes, doch weist sie zugleich einige Unterschiede auf. Vor allem, und diese Transformation ist entscheidend, werden keinerlei Zweifel über die Validität der Drogenexperimente mit der jungen Indianerin eingestreut. Teresita halluziniert nicht, sondern sie findet tatsächlich ein Gespenst in ihrem Unterbewusstsein, dessen Ansichten und Sprache sie mit all ihren Eigentümlichkeiten adaptiert. Es geschieht ein Wunder innerhalb dieses Textes: Das Phänomen des vererbten Gedächtnisses kann widerspruchsfrei nachgewiesen werden, was auch die Rollenprosa eines etwas gelangweilten, aber tendenziell glaubwürdigen Ich-Erzählers nicht relativiert.

Trotzdem knüpft diese Erzählung an ein erzählstrategisches Modell von Romantik an, ohne komplett auf dessen struktureigenen Qualitäten zu verzichten. Als das erlösende, individualitätstranszendierende Moment fungiert hier die zeitgenössische Vererbungslehre, die eine diagnostizierte ‚Entfremdung‘ zwischen dem Individuum und seinen Vorfahren beenden könnte. Eventuell gelingt diese Synthese der Generationen – wenn auch in einem schrecklichen Szenario, das aufzeigt, dass die Vererbung von Verhaltensweisen uns tatsächlich zu „Sklaven der Ideen unserer Väter“ erniedrigt (BI 79). Eventuell aber, falls die düstere Erlösungsvision keine Gültigkeit beansprucht, sind bestimmte Verhaltensweisen doch von ‚Natur‘ aus determiniert und lassen keine Rückschlüsse auf vorherige Generationen zu. Im letzten Satz zeigt sich die spezifisch neoromantische Kippfigur dieses Textes: Sie stellt die Frage, ob die Vorfahren wirklich einen so großen Einfluss auf die Verhältnisse im zeitgenössischen Mexiko haben – oder ob nicht doch unveränderliche, ‚natürliche‘ Rassenmerkmale die Stereotypen bestätigen.

Es lässt sich am Text beobachten, dass die Kippfigur im Vergleich mit der Romantik ihren Geltungsbereich verkleinert hat. Einerseits ambiguisiert sie noch immer die modellkonstitutive Verknüpfung von Fragmentierung und Synthese – und ist deshalb in all ihren romantischen Effekten im Text greifbar. Andererseits aber weist die romantische Ironie in dieser Rollenprosa einen blinden Fleck auf: Sie stellt eine (wunderbare) Prämisse nicht infrage, nämlich den ontologischen Status der Gedächtnisvererbung und des unterbewusst abgespeicherten Vorfahrens. Dass gewisse Vererbungsthesen innerhalb der Erzählung also Wahrheitsgehalt beanspruchen, steht nicht zur Debatte: Das Gedächtnis der blauen Indianer hat sich faktisch über verschiedene Generationen vererbt, nur die epistemologischen Folgen daraus unterscheiden sich.

Die Kippfigur verfällt in diesem Text also keineswegs in Eindeutigkeit, doch ihr Anwendungsbereich ist im Vergleich zum Tagebuche eines Orangenbaumes und zur Romantik geschrumpft. Genuin romantisch im modelltheoretischen Sinne ist die Erzählung damit nicht – aber sie ist auf charakteristische Weise neoromantisch, da sie an die Säulen des Romantik-Modells anknüpft und sie derart modifiziert, dass die romantische Ironie nicht mehr alle Phänomene innerhalb eines Textes relativierend infrage stellt. Hier, so scheint es, ist man der qualitativen Veränderung zwischen Romantik und Neoromantik, dieser Arbeit an einem ähnlichen Problem unter neuen Bedingungen, dicht auf den Fersen.

3.2.4 Von der Tarantel gestochen: Die Spinne (1908) und der Todestrieb

Als berühmteste Erzählung von Hanns Heinz Ewers kann bis heute Die Spinne gelten, die ebenfalls in der Sammlung Die Besessenen (1909), direkt im Anschluss an Die blauen Indianer, erscheint.Footnote 215 Vor allem international fand sie eine rege Aufnahme: Bis heute wird sie in Anthologien über phantastische Literatur abgedruckt, u. a. von Dashiell Hammett in den beliebten Creeps by night,Footnote 216 und als prominenter Leser trug H. P. Lovecraft zur Verbreitung der Geschichte im amerikanischen Raum bei.Footnote 217 Aktuell erlebt Die Spinne eine kleine Renaissance in der Popkultur: Neben Hörspielen und dem Roman Cero Absoluto (2005), der Ewers’ Spinne neu erzählt,Footnote 218 ist jüngst auch eine spanische Graphic Novel über The Spider erschienen, auf dessen Titelblatt Ewers im SS-Mantel diabolisch lächelt.Footnote 219 Auch Ewers’ Aufritt als Vampir in The Bloody Red Baron (1995), einer populären Fantasy-Reihe namens Anno Dracula von Kim Newman, dürfte auf den Erfolg der Spinne und auf eine ambivalente Anziehungskraft der Autorfigur zurückgehen.Footnote 220

In Deutschland riss diese Rezeptionslinie ab, auch wenn Die Spinne in der Forschung insgesamt als positive Ausnahme in Ewers’ Gesamtwerk behandelt wird. Sie zeichne sich, so das unspezifische Werturteil, durch eine höhere ästhetische Qualität gegenüber den anderen Erzählungen aus,Footnote 221 was jedoch zugleich mit einem Plagiatsvorwurf verbunden wird: Ewers soll die Erzählung von den französischen Autoren Erckmann-Chatrian und ihrem romantischen Text L’Oeil Invisible (1859) plagiiert haben, was schon zeitgenössisch eine kleine Anzahl von kritischen Leserbriefen provozierte.Footnote 222 Der Vorwurf aber kann ausgeräumt bzw. positiv gewendet werden: Davon abgesehen, dass er in der Forschung bereits in Teilen widerlegt wurde,Footnote 223 zeigt schon der oberflächliche Vergleich, dass es sich bei Die Spinne und L’Oeil Invisible stilistisch und inhaltlich um heterogene Sujets und Erzählweisen handelt. Ein echter Plagiatsverdacht stellt sich an keiner Stelle ein, da sich Erzählsituation und Figurenarsenal deutlich unterscheiden, wie eindrücklich Thomas Wörtche gezeigt hat.Footnote 224

Da es sich bei L’Oeil invisible aber um eine Erzählung aus dem Umfeld der französischen Romantik handelt, liegen gewisse Überschneidungen im Modellverfahren wie auch im Problemhorizont vor. Diese teilt der Ewers-Text ebenso, und das ungleich stärker, mit E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann, der in diesem Fall als der dominante Intertext ausgemacht werden kann. Alle drei Texte stehen in einer modellhaften Beziehung zueinander, wobei Ewers wie gewohnt auf traditionelle Stoffe und Motive aus dem Romantik-Kanon zurückgreift, um sie in seiner charakteristischen Weise zu aktualisieren. Entsprechend finden sich die Ewers-typischen Elemente auch in dieser Erzählung wieder: Die Tagebuchform garantiert die radikalsubjektive Perspektive; die Hauptfigur erzählt im schnoddrigen Parlando eines Dilettanten; und anders als bei Hoffmann oder Erckmann-Chatrian sind dem Text die wiederkehrenden Motive aus Ewers’ Gesamtwerk (Lügen, Reisen und ein changierendes Verhältnis zum Christentum) eingeschrieben. Statt eines Plagiats liegt hier, wie auch bei anderen neoromantischen Erzählungen, eine gemeinsame Partizipation am internationalen Romantik-Archiv vor, was zu Motivüberschneidungen, vor allem aber zu Aktualisierungen und Variationen führt. Als Diagnose gewendet, macht der (nicht haltbare) Plagiatsvorwurf damit klar, dass es sich bei der Spinne um einen neoromantischen Text handelt.

Die intertextuelle Nähe zur Romantik liegt dabei auf der Hand. Schon die Anlage der Erzählung inklusive ihrer wichtigsten Figuren verweist ohne Umschweife auf die Tradition der schwarzen Romantik: Als erste Hauptfigur und Binnenerzähler fungiert der mittellose Student Richard Braquemont, der im Laufe des Textes einer zunehmenden Isolation und zugleich einer Ich-Dissoziation, möglicherweise dem Wahnsinn unterliegt. Nach einer Reihe von Selbstmorden, die allesamt freitags „zwischen fünf und sechs Uhr“ im „Zimmer Nr. 7“ des Pariser Stevenson-Hotels begangen wurden (SP 101), bezieht auch Braquemont sensationslustig das Zimmer nahe des Montmartre. Er erhofft sich, neben einer günstigen Unterkunft im teuren Paris, durch die Auflösung des Falls idealerweise berühmt und finanziell entschädigt zu werden. Mithilfe einer Lügengeschichte setzt sich Braquemont beim „Kommissar des IX. Bezirkes“ gegen andere Bewerber durch (SP 103),Footnote 225 die ebenfalls in den Medien von den Mordfällen gelesen haben, und schlägt ihm das textkonstituierende Tagebuch vor, mit dem er protokollarisch seine Erlebnisse auf dem Hotelzimmer notiert. Anders als in den vorherigen Ewers-Erzählungen umschließt diese Binnengeschichte ein knapper Rahmen, der in seinem Reportage-Stil noch nähere Aufmerksamkeit verdient.

Als zweite Hauptfigur dieses Tagebuchs tritt die mysteriöse Clarimonde in Erscheinung, die von Braquemont in einer typisch romantischen Blicksituation durch das Hotelfenster beobachtet wird. Die optisch verzerrte Gestalt vereint gleich mehrere romantische Motive: Als Doppelgängerin überlagert sich ihre Erscheinung mit der titelgebenden Spinne, da beide in farblicher Identität auftreten – schwarz und lila gepunktet (SP 119). Clarimonde arbeitet zudem täglich an einem altmodischen „Spinnrocken“ (SP 118). Auch ihre Finger bewegen sich, so Braquemonts Beschreibung, „beinahe wie ein Gekrabbele von Insektenbeinen“ (SP 119). Dennoch bleibt die weibliche Gestalt, die er täglich im Zimmer gegenüber des Hotels beobachtet, prima facie eine visuelle Projektion, da Braquemont durch die Vorhänge kaum etwas von ihren Konturen erkennt:

Wie sie aussieht – Ja, das weiß ich nicht recht. Sie trägt die schwarzen Haare in Wellenlocken und ist ziemlich bleich. […] Doch fühle ich das alles viel mehr, als ich es wirklich weiß. Es ist schwer, etwas genau zu erkennen hinter den Vorhängen. (SP 118 f.)

Auch ihr Name, „Clarimonde“, wird von Braquemont nur instinktiv erspürt (SP 116), da es außerhalb der Fenstertopographie zu keinem Kontakt zwischen den Figuren kommt. Einerseits adaptiert die mysteriöse Frau damit den Namen von La Morte Amoureuse (1836) von Théophile Gautier, einem von Ewers geschätzten (und übersetzten) Autor, weshalb Clarimonde analog zur französischen Vorlage gelegentlich als Vampirgestalt ausgelegt wurde.Footnote 226 Andererseits ist Clarimonde aber, auch wenn sie phonetisch an Clara erinnert, als Variation der Olimpia aus dem Sandmann angelegt, die von Nathanael – ebenfalls über den Umweg optischer Brechungen – auf ähnliche Weise im gegenüberliegenden Zimmer beseelt wird.Footnote 227

Dass die zahlreichen Fenstermotive der Romantik – von Caspar David Friedrich über Eichendorff bis zu Tieck und Hoffmann – auf eine Reflexion der (brüchigen) Einzelperspektive hinweisen, ist in der Romantik-Forschung wiederholt aufgearbeitet worden.Footnote 228 Die Spinne unternimmt einhundert Jahre später eine regelrechte Auserzählung dieses Topos: In den dreiundzwanzig Tagebucheinträgen, die sich über drei Wochen erstrecken, erzählt Braquemont fast ausschließlich von seinen wiederholten Fensterblicken in das gegenüberliegende Zimmer. Die eigenen Seherlebnisse stellt er dabei wiederholt infrage, um sie manchmal explizit zu widerrufen:

Übrigens – was schreibe ich da? Richtig ist, daß ich gar nicht sehen kann, was sie eigentlich spinnt; viel zu fein sind die Fäden. Und doch fühle ich, daß ihre Arbeit genau so ist, wie ich sie sehe – wenn ich die Augen schließe. Genau so. Ein großes Netz und viele Geschöpfe darin, Fabeltiere und merkwürdige Fratzen – (SP 130)

Richard Braquemont muss an dieser Stelle nicht einmal die Augen öffnen, um einen visuellen Eindruck aus der dunklen Wohnung gegenüber zu empfangen. Ein sensualistisches ‚Fühlen‘ von inneren Bildern, frei nach dem serapiontischen Prinzip Hoffmanns,Footnote 229 tritt in Konkurrenz zu dem optischen Sehen über das Auge, sodass der Erzähler sich bei seinen Blickbeschreibungen im typisch romantischen Wechsel von Behauptung und Widerruf verstrickt. Dieser doppelte Boden überträgt sich auf die Textkonstitution: „Herrgott – warum schreibe ich das nur? Kein Wort ist wahr davon. Es ist, als ob mir jemand die Feder führe.“ (SP 141)Footnote 230

Im Vergleich mit dem romantischen Fensterblick wird der Subjektivierungsgrad im neoromantischen Text noch einmal erhöht: Wo in romantischen Erzählungen häufig heterogene Perspektiven vorgeführt werden, die sich postwendend widersprechen (und die Einzelperspektive so hinterfragen), braucht der Binnenerzähler des Tagebuchs kein solches Korrektiv von außen. Mit jedem Blick sieht er die schwarze Clarimonde im Fenster wieder, über mehrere Wochen verteilt, und die Zweifel an ihrer Gestalt kommen Braquemont ganz von selbst: „Mir ist manchmal, als ob es eine andere Clarimonde gar nicht gäbe, als die ich dort am Fenster sehe und die mit mir spielt.“ (SP 128) Keine andere Figur blickt in diesen Wochen überhaupt in das Fenster, sodass Braquemont mit seinen Blicken alleingestellt ist.

Ganz am Ende des Textes kommt aber doch eine Instanz hinzu, die zwar nicht Braquemonts Fensterblick nachvollzieht, aber als außenstehender Kommentator einen Blick hinter die Kulissen erlaubt. Anders als in den vorherigen Ewers-Erzählungen umschließt ein Rahmenerzähler das fiktive Tagebuch, um im weitgehend nüchternen Stil zuerst die Ausgangssituation der drei Morde, anschließend auch den Tod des Braquemont am „Fensterkreuze“ (SP 101), wie bei den vorangehenden Toten, zu berichten. Über den ontologischen Status der Clarimonde-Erscheinung gibt der letzte Satz der Erzählung einen Hinweis:

Auf dem Tische lag das Tagebuch des Mediziners. Der Kommissar las es und begab sich sofort in das gegenüberliegende Haus. Er stellte dort fest, daß die zweite Etage seit Monaten leer stand und unbewohnt war – (SP 146)

Kann man dieser Aussage des Rahmenerzählers trauen? Zunächst blickt er in das Haus der Clarimonde durch die Augen des „Kommissar[s]“, der sich aber – trotz einer vorschnellen Interpretation der Johannes-Offenbarung (SP 111) –Footnote 231 als rationalistische und durchaus zuverlässige Figur erwiesen hat. Ebenso wenige Anzeichen gibt es dafür, dass der Rahmenerzähler insgesamt unzuverlässige Informationen preisgibt. Nah an den Fakten und am Material berichtet er ohne subjektive Meinung von den Umständen der Morde, wobei nicht leicht zu greifen ist, ob sich der Erzähler innerhalb oder außerhalb der erzählten Welt befindet. Zwar findet sich keine Textstelle, die in dieser Frage Eindeutigkeit herstellt, doch der Umgang mit dem Material spricht dafür, dass der Rahmenerzähler intradiegetisch und zu einem späteren Zeitpunkt auf das vorliegende Wissen über den Fall zugreift. „Erst später, nach dem Abenteuer des Mediziners, erinnerte man sich wieder daran“ (SP 106 f.): Solche Formulierungen markieren zum einen den Wissensvorsprung des Erzählers, zum anderen aber auch eine Begrenztheit seiner Informationen, da sie sich aus dem Faktenwissen einer späteren Zeit herleiten, nicht aber aus dem auktorialen Allwissen über den Tathergang. Vielmehr stützt der Rahmenerzähler seine Aussagen stets auf Quellen („Tagebuch“, „Kommissar“, „Berichte“, SP 106–108), sodass sich der Text als eine fiktive Reportage lesen lässt, die von einer (intradiegetischen) Herausgeberfiktion eingerahmt wird. Dies passt zu seiner Erstveröffentlichung als Beilage des Berliner Tageblatts; dann auch zu den Rückmeldungen verwirrter Leser; und schließlich zur Erzählstrategie von Ewers, der auch hier größtmögliche Objektivität über eine phantastische Begebenheit zu erzeugen versucht.Footnote 232

Die Installation eines Rahmenerzählers, wie er auch in anderen Texten von Ewers’ Erzählbänden gelegentlich auftaucht,Footnote 233 rückt den Text dabei näher in die Richtung traditionell romantischer Literatur.Footnote 234 Motivische und verfahrenstechnische Hinweise liegen damit zuhauf vor, um den Text als ‚neoromantisch‘ zu klassifizieren. Ob aber eine Romantik als Erzählstrategie vorliegt, wie sie mithilfe des Modellansatzes greifbar wird, gilt es in seinen Aktualisierungen und Transformationen nun genauer zu prüfen. Als erstes tritt eine Diagnose der Fragmentierung, wie sie das Modell annimmt, an vielerlei Stellen ins Auge, ganz konkret in der fortschreitenden Aufspaltung des Richard Braquemont in verschiedene Persönlichkeiten:

Es war, als ob gar nicht ich selbst das tue, sondern irgendein Fremder, den ich beobachte. Nein, nein – so war es nicht! Ich, ich tat es wohl – und irgendein Fremder beobachtete mich. Eben der Fremde, der so stark war und die große Entdeckung machen wollte. Aber das war ich nicht – (SP 140)

Diese Formulierung im letzten Viertel des Tagebuchs ist aufschlussreich: Der externalisierte „Fremde“ ist deckungsgleich mit dem spitzbübischen, rationalistischen Braquemont vom Beginn der Erzählung, der medizinische Bücher wälzte und das Rätsel um die mysteriösen Morde in Paris auflösen wollte (SP 112). Im Textverlauf aber schält sich sein Bücherwissen gemeinsam mit der optischen Realität mehr und mehr als etwas ‚Fremdes‘ von ihm ab, was sich über einzelne Stationen der Entrationalisierung verfolgen lässt. „Dazu studiere ich tüchtig, ich merke ordentlich, wie ich in Schuss komme“ (SP 116), so die Situation am 7. März, die sich schon drei Tage später ändert: „Ich kann nicht gerade sagen, daß ich viel studiert habe: ich habe Luftschlösser gebaut und von Clarimonde geträumt“ (SP 120). Schon zwei Tage später steigert sich diese Tendenz drastisch: „Nur das Auge nimmt die Buchstaben auf, mein Hirn lehnt aber jeden Begriff ab. Komisch! Als ob es ein Schild trage: Eingang verboten.“ (SP 122 f.)

Braquemont fragmentiert im Laufe der Geschichte somit seine eigene Identität und stülpt sie einmal auf den Kopf, was simultan durch eine voranschreitende Isolation auf dem Hotelzimmer – „Ich spreche mit keinem Menschen mehr“ (SP 130) – wie auch durch die Beobachtungsszenarien mit Clarimonde forciert wird. Ein neues Element im Vergleich zur Romantik stellt dabei das optische „Spiel“ dar (SP 126), auf das sich Braquemont mit der schwarzen Spinnerin einlässt. Erstaunlich selten wurde dabei in den Untersuchungen hervorgehoben, dass der Fensterblick in den täglichen Nachahmungsübungen auch als ein Spiegel semantisiert wird, der Braquemonts eigene Bewegungen zurückwirft. Die Beschreibungen des Fensterspiels aber lassen kaum Zweifel über diese Konnotation:

Wir haben ein seltsames Spiel gefunden, Clarimonde und ich; wir spielen es den ganzen Tag lang. Ich grüße sie, sogleich grüßt sie zurück. Dann trommle ich mit der Hand gegen die Scheiben, sie sieht es kaum und schon beginnt auch sie zu trommeln. […] Ein richtiges Kinderspiel, und wir lachen beide darüber. Das heißt – eigentlich lacht sie nicht, es ist ein Lächeln, still, hingebend – genau so glaube ich selbst zu lächeln. (SP 126)

Was Braquemont als „eine gewisse Gedankenübertragung“ interpretiert (SP 126), lässt sich kippfigurhaft ebenso als die Fehldeutung seines eigenen, verzerrten Spiegelbildes auslegen. Die Hinweise auf diese Lesart sind offen ausgestellt: „Clarimonde folgt den Bewegungen in dem kleinsten Bruchteil einer Sekunde“, so Braquemont, „sie hat kaum Zeit, sie zu sehen und führt sie schon selbst aus; manchmal scheint es mir, als ob es gleichzeitig wäre.“ (SP 126) Schließlich erarbeitet sich der Binnenerzähler komplexe Gestenfolgen, die er mithilfe von Notizen vor dem Fenster aufführt. Doch Clarimonde als Spiegel bereitet die Aufgabe keine Probleme – „es war erstaunlich, wie schnell sie mich verstand“. (SP 138)

Neben der romantischen Vitalisierung des eigenen Spiegelbildes, in das sich Braquemont wie schon Nathanael erotisch verguckt, mischt sich zugleich eine medienreflexive Note in die Erzählung hinein. Die Paradigmen von ‚Spiel‘ und ‚Spiegel‘ werden durch kurze, aber markante Stellen auch mit dem ‚Theater‘ verknüpft: Neben den Nachahmungsgesten am Fenster, die selbst den Charakter einer theatralen Aufführung erhalten, räumt der Text in der nur knappen Rahmenerzählung einigen Platz ein, um die Schauspielerin „Mary Garden“ auftreten zu lassen, „den Star der Opéra-Comique, [die] in ihrem Rénault vorfuhr“ (SP 105). Mary Garden stellt eine reale Person dar, die zeitgenössisch besonders für ihre Rolle der Mélisande nach Maurice Maeterlinck bekannt war – Claude Debussys Oper Pelléas et Mélisande wurde, mit Garden in der Hauptrolle, in der Pariser „Opéra-Comique“ am 30. April 1902 uraufgeführt.Footnote 235 Im Text erwirbt die Schauspielerin jene rote Gardinenschnur, an der sich zuvor die drei Opfer erhängt hatten, und zwar: „[e]inmal weil das Glück brachte und dann – weil es in die Zeitungen kam.“ (SP 106) Ein ungleich größeres Medienecho wird dabei in Aussicht gestellt, wären die Morde nicht „mitten in der Saison“ geschehen (SP 106).

Die zeitgenössische Medien- und Theaterlandschaft, in dessen kulturellem Zentrum sich das Hotel Alfred Stevens nahe des Montmartre befindet (SP 103),Footnote 236 wird für die Verirrungen des Subjekts Braquemont tatsächlich mitverantwortlich gemacht. Exemplarisch verpasst er an auffälliger Stelle eine letzte Möglichkeit, sich vor dem zwanghaften Zauber Clarimondes zu retten – zugunsten eines potenziellen Ruhms im sensationslustigen Paris:

Dann wußte ich: wenn ich jetzt hinausgehe, bin ich gerettet; und ich empfand wohl, ich konnte jetzt gehen. Trotzdem ging ich nicht. Das war, weil ich das bestimmte Gefühl hatte: du hältst das Geheimnis fest in beiden Händen. – Paris – du wirst Paris erobern!

Einen Augenblick war Paris stärker als Clarimonde. (SP 138 f.)

Der Text macht an mehreren Stellen deutlich: Die erotische Anziehungskraft, die Braquemont in den Tod reißt, steht in enger Verbindung mit dem Pariser Theaterviertel, das zunächst Ruhm verspricht und in der Isolation des Hotelzimmers endet. Ursprünglich aus dem provinziellen Verdun stammend, gibt sich Braquemont bei seiner Ankunft noch als unbeschriebenes Blatt: „Ich bin wirklich keine sehr verliebte Natur“, gesteht er, „und meine Beziehungen zur Frau sind immer sehr kärglich gewesen. […] Ich habe also nicht viel Erfahrungen“. (SP 117) Nun aber kommt der Vorstadtbube ins Pariser Montmartre, um sich durch eine medial vernetzte Erotik vor Ort spinnenhaft infizieren zu lassen.

Damit stellt die erwachende Erotik eines jungen Studenten insgesamt das zentrale Motiv und Handlungsereignis dar, mit dem sich die nachgeordneten Paradigmen – Blick, Spiel, Spiegel und Theater – verbinden. Auf diese Fährte stößt schon der Name „Lilith“ (SP 99), der als Prätext – wie das „Blut der Väter“ in den Blauen Indianern (BI 57) – der Erzählung vorangestellt wird.Footnote 237 Die mythische Lilith wurde, laut apokryphen Überlieferungen verschiedener Glaubensrichtungen,Footnote 238 als erste Frau Adams aus dem Paradies verbannt und bürgt im kulturellen Wissen der Jahrhundertwende für das mörderische Potenzial sinnlicher Frauen.Footnote 239 Vor allem in der jüdischen Kultur ist der Lilith-Mythos bis weit ins 20. Jahrhundert verbreitet: Lilith fungiert dort als „Entführerin neugeborener Babys und lüsterne Verführerin schlafender Männer“, sodass Artefakte oder ein rituelles Streichen über die Lippen der Schlafenden vor Lilith schützen sollen.Footnote 240 Im Ewers-Text setzt der Lilith-Verweis, ganz konkret, einen Akzent auf zweierlei Aspekte: einmal auf Clarimonde als die prototypische femme fatale, wie sie häufig in den literarischen Texten der Zeit auftaucht, und zum anderen auf eine semantische Verbindung von Tod und erotischer Anziehungskraft, die Braquemont zum Verhängnis wird. Klaus Lindemann hat dargelegt, inwiefern Die Spinne in dieser Semantik das Freud’sche Theorem von Eros und Thanatos um einige Jahre vorwegnimmt,Footnote 241 und tatsächlich reflektiert Braquemont in mehreren Passagen die sensualistische Gleichzeitigkeit von Wollust und Todestrieb:

Clarimonde – ja, ich fühle mich zu ihr hingezogen. Aber da hinein mischt sich ein anderes Gefühl, so, als ob ich mich fürchte. Fürchte? Nein, das ist es auch nicht, es ist eher eine Scheu, eine leise Angst vor irgend etwas, das ich nicht weiß. Und gerade diese Angst ist es, die etwas seltsam bezwingendes, merkwürdig Wollüstiges hat, die mich von ihr abhält und doch näher zu ihr hinzieht. (SP 129 f.)

Nimmt man diese Passage beim Wort, dann ist es der Nervenkitzel vor dem Ungewissen, genauer: vor dem Tod, was die erotische Anziehungskraft, das „merkwürdig Wollüstige[]“ auf Braquemont ausübt. Im Fensterblick, als Spiegel gedeutet, entdeckt er damit eine unterbewusste Triebkraft in sich, die ihn zum Tod und zur Frau zugleich hinzieht.

Braquemont verhält sich damit haargenau wie die tierische Spinne, deren biologisches Liebesspiel er kurz zuvor in einem „Hoffenster“ beobachtet (SP 123). Dieses „kleine[] Schauspiel“ (SP 123), in dem eine weibliche Spinne ihren Liebhaber verspeist, tritt in Analogie zu dem „seltsame[n] Spiel“ (SP 126), das Clarimonde und er über das Fenster hinaus treiben:

Mir ist, als liefe ich in großem Kreise weit um sie herum, käme hier ein wenig näher, zöge mich wieder zurück, liefe weiter, ginge an einer anderen Stelle vor und dann schnell wieder zurück. Bis ich endlich – und das weiß ich ganz gewiß – doch einmal hin muß zu ihr. (SP 130)

Die romantische Sehnsucht wird hier in einen triebhaften Drang überführt: Mithilfe des Spinnen-Motivs findet eine Biologisierung des unendlichen Strebens statt, das zugleich als unbewusster Geschlechtstrieb entlarvt wird. Analog zu Maeterlincks La Vie des abeilles (1901) – und später zu Ewers’ eigenem Werk über Ameisen (1925) – erweckt die Analogie mit der Spinne jenen zeitgenössisch beliebten Effekt, im Tierverhalten etwas über die unbewussten Instinkte des Menschen zu illustrieren. Von den zahlreichen Intertexten zum Spinnenmotiv, die schon Lindemann anführt, fungiert damit vor allem Wilhelm Bölsches Liebesleben in der Natur (1898) als ein wichtiger Ausgangspunkt für die Erzählung:

Im Liebesleben der Spinne, das […] vielleicht bis auf die Steinkohlenzeit zurückreicht, ist ein Problem noch nicht ordentlich gelöst, das eigentlich ans Herz aller Liebe greift: Das Problem vom Unterschied des Fressens und des Liebens. […] In diesem Sinne gilt das Wort, daß das Fressen eine Urbedingung der Liebe war, — kein Gegensatz, sondern eine reinliche logische Voraussetzung.Footnote 242

Auch Bölsche sucht im Paarungsverhalten der Tiere nach urbiologischen Evidenzen, in diesem Fall nach Hinweisen auf das „Herz aller Liebe“. Es ist exakt jene Paarung von Fressen und Lieben, die im Freud’schen Eros und Thanatos wiederkehrt und in Ewers’ Spinne literarisch ausstaffiert wird. Der Text experimentiert also mit einer These: Liebesqualen und Todestrieb sind möglicherweise, so die Semantik nach Bölsche, biologisch verwandt und weisen in ihrer Verschränkung auf einen Urtrieb der modernen Liebe hin. Bei Bölsche wie bei Ewers zeigt sich der tödliche Liebestrieb dabei ganz konkret am Beispiel der „Kreuzspinne“ (SP 123), und in der Erzählung postwendend auch bei Richard Braquemont.

Im Erzähltext aber wird die Kombination von Fressen und Lieben keineswegs nur als Hypothese behandelt. Durch die Fokalisierung auf Braquemont wird sie vielmehr zu einer absoluten Synthese hochstilisiert, die eine persönliche Erlösung für den isolierten Medizinstudenten verspricht. Eine Stelle im letzten Tagebucheintrag nimmt genau jene Reflexionen auf, die Braquemont zuvor unter Vorbehalt ausgeführt hat, und überschreibt sie im Sinne der höchsten Erkenntnis:

Nein, das kann man nicht mehr Angst nennen, was ich empfinde. Es ist eine entsetzliche, beklemmende Furcht, die ich doch nicht eintauschen möchte um nichts in der Welt. Es ist ein Zwang so unerhörter Art, und doch so seltsam wollüstig in seiner unentrinnbaren Grausamkeit. [...] Ich warte nur, um diese Qualen noch länger auszudehnen, ja das ist es. Diese atemlosen Leiden, die höchste Wollust sind. Ich schreibe, schnell, schnell, um noch länger hier zu sitzen, um diese Sekunden der Schmerzen auszudehnen, die meiner Liebe Lüste ins Unendliche steigern – (SP 143 f.)

Kurz vor seinem Selbstmord hat sich Braquemonts Übergang in den erotomanen Wahnsinn damit vollzogen: Eine Mischung aus Todessehnsucht und Liebesqual präsentiert sich ihm als Synthese-Konzept, in dem Braquemont seine persönliche Unendlichkeit findet.

Hier zeigt sich anschaulich der Unterschied eines neoromantischen Synthese-Konzeptes im Vergleich zur Romantik: Etwas Transzendentes, für alle Zeiten Gültiges wird in einem einzelnen Trieb entdeckt, der sich für den Protagonisten zum höchsten Prinzip entwickelt, aber nicht alle diegetischen Phänomene aufschließen bzw. erklären kann. Die Synthese bezieht sich faktisch nur noch auf einen Teilbereich, während im romantischen Zauberwort die ganze „Welt [anhebt] zu singen“.Footnote 243 Trotzdem wird die todbringende Erotik vom Text als Universalsynthese behandelt, da es Braquemont subjektiv so vorkommt, als habe er den Schlüssel zur Überwindung der Fragmentierung gefunden. Im Kontrast mit dem Außenblick des Rahmenerzählers aber besteht kein Zweifel darüber, dass Braquemont in seiner Versteigung auf den einen archimedischen Punkt übertreibt: Ob Erotik als säkulare Norm nun taugt oder nicht, sie fungiert nicht einmal potenziell als das absolute, letztbegründbare und einzige Prinzip, das Braquemont in sie hineinprojiziert. Dabei ist zusätzlich interessant, dass gerade das Lilith-Paradigma jene unendliche Annäherung der Romantik bereits impliziert: Die erotischen Leiden, wie sie Braquemont beschreibt, implizieren als Synthese-Konzept schon die eigene Unerfüllbarkeit. Qualvolle Liebessehnsucht gilt hier als unendliches Gefühl für das Absolute, das sich zeigt, sobald sich Braquemont seinen eigenen Trieben unterwirft: Das Fensterspiel zwischen Braquemont und Clarimonde hat sich inzwischen umgekehrt, sodass der Student jetzt erkennt, dass er selbst unbewusst den Fenstergesten der Clarimonde gefolgt ist. „Und ich kann gar nicht sagen, welch wundervolle Lust es ist, dieses Besiegtwerden, dieses Hingeben in ihren Willen.“ (SP 141 f.)

Gibt es also noch eine romantische Kippfigur innerhalb des Textes, laut der Braquemonts Schlüssel, den er in der Liebesqual gefunden hat, zwischen Gültigkeit und Wahnsinn changiert? Dass die Fenster-Erscheinungen im Hotel immer auch auf die Wahnvorstellungen des Braquemont zurückzuführen sind, erweckt zunächst den Anschein einer Ambiguität. Es ist nicht eindeutig klar, könnte man meinen, ob Clarimonde tatsächlich visuell in dem Zimmer erblickt wird oder nur als Produkt der inneren Einbildung fungiert. Tatsächlich aber schafft es der Text nicht im romantischen Sinne, zwei kohärente Lesarten anzubieten, zwischen denen die Erzählung am Ende oszilliert. Gegen die Lesart eines Wahnsinns Braquemonts sprechen vor allem zwei Argumente, die beide vom (zuverlässigen) Rahmenerzähler ausgehen: Erstens sind vier Morde – unabhängig voneinander – in ein und demselben Setting geschehen, was auf eine intersubjektive Gültigkeit des Phänomens Spinnenmord hindeutet. Für die wiederkehrende Verbindlichkeit spricht zum Beispiel, dass keine (männliche) Figur im Text überhaupt durch das Fenster blicken kann, ohne ermordet zu werden. Man hat es also mit einem potenziellen Wahn zu tun, der jeden Mann zwangsläufig ergreift, sobald er sich in die Situation des Hotelzimmers begibt – ob Schauspieler, Schutzmann, Familienvater oder Medizinstudent.

Zweitens aber, und hier tendiert die Erzählung zu einem wunderbaren „Mystizismus“,Footnote 244 ist der Fund jener aus dem Mund krabbelnden Spinne, die bei genau drei der vier Toten beobachtet wird, rational nicht zu erklären. Vor allem Braquemonts Todesschilderung wirft unbeantwortbare Fragen auf, da die Spinne auch noch optisch mit Clarimonde überlagert wird:

Die Lippen waren auseinandergezogen, die starken Zähne fest übereinandergebissen. Und zwischen ihnen klebte, zerbissen und zerquetscht, eine große schwarze Spinne, mit merkwürdigen violetten Tupfen. (SP 146)

Die Option einer zufälligen Erscheinung (beispielsweise einer Hausspinne, die später in den Mund des Toten gekrabbelt sein könnte) wird durch das Zerquetschen der Spinne im Todesmoment ausgeräumt. Die Spinne ist zudem durch die violetten Tupfer eine Variation Clarimondes, die sich offenbar aus Braquemonts Innerem herausschält. Selbst, wenn man jene Kreuzspinne, die Braquemont zuvor im „Hoffenster“ gesehen hat (SP 123), in ein komplexes visuelles Spiegelsetting einbezieht – Braquemont könnte in seinem Fenster eine gebrochene Spiegelung jener Spinne aus dem Hof gesehen und im Wahn hochstilisiert haben –, bleibt das Aufkreuzen eben dieser Spinne im Todesmoment zwischen seinen Zähnen mehr als unwahrscheinlich. Außerdem wandelt im Hoffenster ja eine „Kreuzspinne“ herum (SP 123), die nicht für ihre violetten Punkte bekannt ist.Footnote 245

Damit lässt sich diese Erzählung nur im Wunderbaren auflösen – allerdings keineswegs zwangsläufig, wie von Sprengel gedeutet, als Metamorphose der Frau in eine Spinne, die sich vampirhaft zwischen den Häusern der Rue Alfred Stevens bewegt.Footnote 246 Die Spiegelmotive machen deutlich: Braquemont, wie auch die anderen Männer, entdecken durch die optische Spiegelung einen erotomanen Trieb in sich, abgespeichert in ihrem Unterbewusstsein, der aber ganz materiell in ihrem Todesmoment als violette Spinne aus ihnen hervorkrabbelt. Es findet also eine Materialisierung des psychologischen Todes- bzw. Liebestriebs statt: Die Spinne war, wie die Tatort-Beschreibungen vorführen, die gesamte Erzählzeit in Braquemont selbst versteckt, trieb dort ihr optisches Unwesen und drängt schließlich aus dem Mund der Toten wieder heraus. Nimmt man die textinternen Informationen zusammen, besteht hierin die wahrscheinlichste Lesart des Textes.

Es gibt schließlich noch eine dritte Lesart, die zwar Kontextwissen erfordert, aber mit Blick auf Ewers’ Poetik nicht abwegig ist. Tatsächlich könnte es sich bei der schwarzen Spinne mit ihren violetten Punkten um die Europäische Schwarze Witwe handeln, die sich geographisch auch in Frankreich auffinden lässt.Footnote 247 Neben der passgenauen Optik (schwarz mit farbigen Punkten) wird ihr zugeschrieben, durch ihren Biss beim Menschen den sogenannten „Tarantismus“ auszulösen: Das Nervengift der Witwe führe zu unwillkürlichen Zuckungen und neuromuskulären Entladungen, die sich bis zur epidemischen „Tanzwut“ steigern können, wie sie besonders für das 14. und 15. Jahrhundert belegt ist.Footnote 248 Da sich Ewers im Zuge seines Großprojektes über Rausch und Kunst, das schließlich nur in einen Essay mündete (1908), eindringlich mit Giften und ihren Nervenwirkungen auf den Menschen beschäftigte, ist es nicht unwahrscheinlich, dass er auf das Tarantismus-Phänomen gestoßen ist.Footnote 249

Im Zuge dieser Deutung wären Braquemont wie auch die anderen Opfer von einer violett gepunkteten Spinne gebissen worden, was jeweils zwanghafte Handlungen sowie eine (medizinisch nicht verbürgte) halluzinogene Wirkung nach sich zog. Auch dann aber müsste sich die Spinne innerhalb der erzählten Zeit auf unwahrscheinliche Weise im Körper des Braquemont aufgehalten haben und sich von dort aus in seine Optik zwängen, womit die mystizistischen Züge auch aus dieser Lesart nicht herauszustreichen sind. Wieder changiert der Text damit eben nicht zwischen einer realistischen Lesart, die Clarimonde ausschließlich im Wahnsinn des Individuums verorten würde, und einer wunderbaren Lesart, in der Clarimonde als Vampirspinne die Figuren verspeist. Beide Deutungen lassen sich nicht kohärent durchhalten, sodass die Erzählung stattdessen wissenschaftliche Hypothesen der Zeit übertreibt und in eine kippgefährdete Synthese zusammenmischt, die zwar schwer zu erklärende, aber dennoch empirisch stattfindende Textereignisse hervorbringt.

Trotzdem sind auch hier alle erzählerischen Effekte der Romantik im Text enthalten: Ein fragmentiertes Ich stößt auf etwas Absolutes, nämlich: auf einen Todestrieb, der auf die unveränderliche Naturkraft im Universum hinweist, welche sich aber nur in der Sehnsucht bzw. im ewigen Streben realisiert. Das Synthese-Konzept ist in sich brüchig und durch unendliche Annäherung selbst kippfigurhaft. Spätestens in dieser Erzählung aber transformiert sich das Romantische zu etwas ‚Mystischem‘: Demnach existiert etwas hinter den Erscheinungen, das sich zwar nicht benennen lässt, aber doch ontologisch feststellbar ist. Die Romantik hingegen zieht noch in den Zweifel hinein, ob es einen archimedischen Punkt der Synthese gibt – oder ob er nur als Erfindung der Subjekte in die Irre leitet. Die Existenz einer versteckten Naturkraft ist im Romantischen möglich, aber nur potenziell; in der Ewers-Erzählung hingegen zeigt sich die Naturkraft in einem psychologischen Trieb, der noch nicht hinreichend erforscht wurde. An der grundsätzlichen Existenz aber, an dem „Lied in allen Dingen“, ist aufgrund einer wissenschaftlichen Fundierung im kulturellen Wissen der Jahrhundertwende kein Zweifel mehr zu streuen.

3.2.5 Fazit: Aktualisierungen von Romantik bei Hanns Heinz Ewers

Mit den frühen Erzählungen von Hanns Heinz Ewers liegen erzählerische Grenzfälle vor, die mit Blick auf das Romantische und ihre Wiederaufnahme zur Jahrhundertwende einige Aufmerksamkeit verdient haben. Im Überblick über die drei behandelten Erzählungen zeigt sich, dass die Texte unterschiedlich nah an einem Modell Romantik operieren: Zwar sind die romantischen Effekte in allen drei Texten nachweisbar, die Stellschrauben von Fragmentierung, Synthese und Kippfigur aber werden jeweils sukzessive verändert. Wo das Tagebuch eines Orangenbaums vor allem eine diagnostizierte Partikularisierung des Individuums erhöht und in die radikalsubjektive Fokalisierung der Routines einschreibt, hat sich mit Blick auf Die blauen Indianer die romantische Kippfigur bereits nachweisbar in ihrem Geltungsbereich verkleinert. Am weitesten entfernt vom Romantischen im textanalytischen Sinne ist schließlich Die Spinne: In dieser Erzählung muss man eine wunderbare, auch im wissenschaftlichen Horizont der Zeit nicht vorstellbare Materialisierung von Trieb in eine gespenstische Spinne hinnehmen, um zu plausiblen Lesarten der Erzählung zu gelangen. Dennoch partizipieren alle drei Erzählungen, wie auch die restlichen Texte der frühen Erzählbände, produktiv an einem Modell von Romantik, da sie die Frage nach einer Transzendierung des Individuums in Anlehnung an romantische Intertexte und Darstellungsstrategien behandeln.

Diese Gradveränderung des Romantischen, das in kleinen Schritten allmählich seine Verbindlichkeit verringert, soll im Folgenden anhand der drei modellkonstitutiven Säulen genauer beschrieben werden. Zuerst hat sich die Fragmentierung, also die Diagnose einer Partikularisierung von Gesellschaft und ihrer Individuen, in den neoromantischen Texten von Hanns Heinz Ewers noch einmal drastisch verschärft. Alle Erzählungen nehmen radikalsubjektive Perspektiven ein und verringern im Vergleich zur Romantik heterodiegetische Blicke im Text, wobei Rahmen und (schein-)objektive Kommentare tendenziell wegfallen. Dass es aus der Subjektivität kein Entkommen gibt, zeigt sich im zeitgenössisch beliebten Verfahren der konsequenten Rollenprosa, hier auch: Routines genannt. Eine Ich-Dissoziation kann dabei, wie das Beispiel des Medizinstudenten Braquemont illustriert, potenziell jeden treffen; und bei Ewers werden sonderbare, aber durchaus gesellschaftlich integrierte Figuren durch einen Anstoß von außen in den fragmentierenden Wahnsinn getrieben. Die Wahrscheinlichkeit, durch Sensationen auf den Nerven isoliert zu werden, gilt nicht mehr nur für den genialischen Dichter, sondern ist insgesamt in einer fragilen Gesellschaft erhöht.

Zweitens hat die gesteigerte Fragmentierung in diesen Erzählungen auch die Synthese-Konzepte eingeholt. Wo die Romantik noch auf ein Zauberwort drängt, das – falls es sich überhaupt finden lässt – folgerichtig eine ganze Weltmetaphysik aufschließt, da beziehen sich die Zauberworte (im Plural), welche die Figuren bei Ewers finden, immer nur auf partielle Bereiche der Realität. Mögliche Säkularnormen wie der erotische Trieb, ein kruder Neo-Idealismus und der Sozialdarwinismus führen zwar auch bei den (Erzähler-)Figuren zur Einsicht in etwas Absolutes, doch die Individuen versteigern sich dabei deutlich in ein Einzelprinzip, dem kein Potenzial zugesprochen wird, als holistischer Weltenschlüssel zu fungieren. Unter dem Schleier zu Saïs verbirgt sich also nicht mehr das eine, große Naturgeheimnis, sondern viele, pluralisierte Einzelgesetze, die auch über die Erzählungen hinaus nicht verbunden werden. Dieser Grundstein der Ewers’schen Erzählbände zeigt sich anschaulich in den Prätexten, die den Erzählungen von Die Besessenen vorangestellt sind: Die erste Erzählung behandelt die „Liebe“ als säkulare Norm, die zweite „Das Blut der Väter“, die dritte dann „Lilith“.Footnote 250 Innerhalb der Texte steigert sich mindestens eine Figur in den Glauben hinein, das jeweilige Paradigma sei der passgenaue Schlüssel zur Unendlichkeit und ersetze dabei Gott und die katholische Theologie. In Aneinanderreihung der einzelnen Erzählungen aber zeigt sich, dass bei Ewers verschiedene Einzeltheorien experimentell überzeichnet, also probeweise als Absolutes gesetzt werden, um nacheinander im Grauen oder im Wahn der Besessenen zu enden. Das universelle Naturgesetz, so lässt sich schlussfolgern, ist im Vergleich mit der Romantik mittlerweile zerstückelt und hat sich in verschiedene Teilbereiche hinein pluralisiert.

Dass die Einzelfiguren in den Erzählungen aber immer noch an einem singulären „Metacode“ festhalten,Footnote 251 dass sie also nicht auf die Pluralisierung des Absoluten reagieren können, führt die neoromantische Kippfigur dieser Texte vor. Es erscheint den Erzählerfiguren bei Ewers unmöglich, mehrere Naturgesetze gleichzeitig anzunehmen, und darin liegt ihr kippfigurhaftes Problem. In den beiden Erzählbänden wiederholt sich entsprechend die typisch romantische Formulierung des ‚Es war, als ob‘:Footnote 252 Mehrdeutigkeiten können in den homodiegetischen Blicken dieser Erzähler nicht ausgehalten werden, womit sie sich in die Behauptungen und Widerrufe der Romantik verstricken. Da die neoromantische Synthese inzwischen aber ihren Gültigkeitsbereich verkleinert hat, zielt auch die Kippfigur der Jahrhundertwende nicht mehr auf die gesamte Textwelt: Manche Prämissen, die sich an das kulturelle Wissen der Zeit anlehnen und sie gezielt übertreiben, werden von den Widersprüchen der Kippfigur ausgenommen, um so ein bestimmtes Theorem in letzter Konsequenz durchspielen zu können. In dieser Einklammerung der Kippfigur, die stufenweise voranschreitet, zeigt sich jetzt vor allem die Unfähigkeit der Individuen zur erkenntnistheoretischen Differenzierung: Erzähler stoßen auf Erscheinungen, die sie in einen kippfigurhaften Streit um das Absolute werfen. Diese Erscheinungen aber, wie das Gedächtnis der Teresita oder die verwandelte Spinne, können probeweise einen ontologischen Status beanspruchen. Zur Debatte steht nicht mehr die Existenz eines großen Naturschlüssels, sondern der Umgang der Individuen mit der Diagnose, dass verschiedene Metacodes bzw. Monismen koexistieren und konkurrieren.

Der Problemhorizont, unter dem die Romantik ihre literarische Strategie entwickelt, hat sich damit zur Jahrhundertwende verschoben. Kein Zauberwort kann in diesen Textentwürfen mehr den Schleier zu Saïs lüften, denn die Konzeption des Naturgesetzes hat sich grundlegend verändert. Nach Kant ist es jetzt nicht mehr unmöglich, das metaphysische Prinzip hinter den Dingen überhaupt zu entdecken, sondern: Es ist unmöglich, das pluralisierte Naturgesetz logisch zusammenzufügen. Das Problem in den Ewers-Texten stellt sich also wie folgt: Das Individuum kann nur mit einem Zauberschlüssel umgehen, doch das Absolute zeigt sich faktisch fragmentiert. Deshalb bleibt es für die Erzählerfiguren problematisch, die epistemologische Pluralität zu verarbeiten. Sobald sie einen – unter mehreren potenziellen – Metacodes finden, erkennen sie wahnhaft ein absolutes Prinzip darin, das aber fälschlicherweise heterogene Theorien ausschließt. Dieses Setting ist mit dem Modell Romantik so gut vereinbar, da in beiden Fällen ein Streben zum Absoluten vorhanden ist, das aber notwendigerweise enttäuscht wird bzw. vorläufig bleibt. Gleichzeitig aber sind Ewers’ Texte neoromantisch, da sie die Problemkonstellation verschärfen: Die Evidenz mancher Naturgesetze, z. B. nach Darwin, wird nicht angezweifelt, doch ihre logische Zusammenführung im Individuum zeigt sich, trotz eines starken Willens, als überfordernd.

Zusammengenommen, zeigt sich am Beispiel von Hanns Heinz Ewers eine Tendenz des Modells Romantik um 1900 zum Wunderbaren bzw. zu einem ‚Mystizismus‘, ohne dabei die charakteristischen Effekte des Romantischen aufzugeben.Footnote 253 In Ewers’ Prosa (zumindest in zwei von drei hier analysierten Texten) lauert zweifelsohne etwas hinter der Fassade der Wahrnehmung.Footnote 254 Die historische Romantik hingegen zweifelt noch an jenem Absoluten hinter den Erscheinungen, da sie sich mit der Prämisse Kants auseinandersetzt, laut der sich über metaphysische Phänomene hinter der Vernunft keine sichere Erkenntnis gewinnen lasse.Footnote 255 Ewers’ frühen Texte befinden sich gewissermaßen auf dem Weg, diese ironischen Zweifel schrittweise abzuschaffen: Heimliche ‚Naturgesetze‘ werden hier ontologisch angenommen, aber es ist die Auswahl zwischen mehreren fragmentierten Erlösungskonzepten, die jede Erkenntnis der Figuren wiederum auf romantische Weise erschwert. In Ewers’ Erzählungen zeigt sich somit eine genuin romantische Ambivalenz auf Figurenebene, die sich aber strukturell verkleinert hat und kurz davor ist, die epistemologiekritische Funktion auszuschalten.

Natürlich gilt es, mithilfe dieser Erkenntnisse nun das spätere Werk von Hanns Heinz Ewers kritisch zu durchleuchten. Ein Verdacht stellt sich bereits ein: Mit der Überwindung der Neoromantik, die in den 1910er Jahren überall im Diskurs für ihre passive Unentschlossenheit kritisiert wird, verschwindet (möglicherweise) auch bei Ewers die neoromantische Kippfigur zugunsten einer vollends wunderbaren Gruselliteratur. Dieser Hypothese folgend, fungierte die Neoromantik als Sprungbrett für eine weniger ambivalente Sehnsucht nach Metacodes bzw. Zauberformeln, in dessen Zuge archimedische Punkte pragmatisch und defragmentierend gesetzt werden. Textanalytisch erscheint die Kategorie einer Schwarzen Neoromantik damit hilfreich, um die Genese einer populären, phantastischen Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu beschreiben – und zwar in einem Ablösungs- und Transformationsprozess des Modells von Romantik. Allerdings kann nur unter Vorbehalt vermutet werden, dass die Texte von Gustav Meyrink, Karl Hans Strobl und Kurd Laßwitz eine ähnliche Zwitterstellung zwischen Romantik und jüngerer Science Fiction einnehmen – auch wenn bisherige Forschungen in genau diese Richtung weisen.Footnote 256 Das Modell Romantik jedenfalls scheint sich am Anfang des 20. Jahrhunderts wesentlich zu transformieren, und am Beispiel des frühen Ewers lässt sich beobachten, wie die literarischen Texte selbst an der Gültigkeit des romantischen Zweifels arbeiten, um sie womöglich bald über Bord zu werfen.

3.3 Immer nach Hause: Das Problem der romantischen Ironie beim frühen Hermann Hesse

Überblickt man die jüngere Forschungsliteratur zu Hermann Hesse, dann sticht ein Themenkomplex heraus, der seit ungefähr zwanzig Jahren die Diskussion über den Autor dominiert. Hermann Hesse und die literarische Moderne, so lautet exemplarisch die Überschrift eines besonders sichtbaren Sammelbandes, der seinem Titel gemäß zwei antagonistische Felder zu kombinieren versuchte:Footnote 257 Wo Hesses Modernität Anfang der 2000er Jahre noch als contradictio in adiecto galt, darf sie mittlerweile als gut aufbereitet und durchaus wiederhergestellt gelten. Mit seinem Werk gehört Hesse zur literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts hinzu, er partizipiert an ihren Diskursen und findet eine eigene, sehr charakteristische Strategie, auf typisch moderne Probleme wie eine „transzendentale Obdachlosigkeit“ zu reagieren.Footnote 258 Die Entdeckung Hermann Hesses durch die Kulturwissenschaften korreliert zwar noch nicht mit der anhaltenden Popularität ihres Gegenstandes, seine Rolle als „Grenzgänger“ innerhalb der Moderne aber und als vielgelesene Alternative zu avantgardistischen Literaturprojekten darf mittlerweile als Konsens jüngerer Forschungsarbeiten gelten.Footnote 259

Hesses Verhältnis zu einer Neoromantik der Jahrhundertwende aber bereitet der Reintegration des Autors in aktuelle Modernisierungsthesen neue Probleme. Wären Hesses Werke ‚neuromantisch‘, so eine wiederkehrende Vorannahme jüngerer Arbeiten, dann widersprächen sie als epigonale Nachahmungen dem Innovationszwang einer literarischen ‚Moderne‘ im engeren Sinne.Footnote 260 Dieser Hypothese soll im Folgenden nicht – wie bislang – mit einer Aufwertung der historischen Romantik begegnet werden, sondern mithilfe eines neuartigen Verständnisses von Neoromantik als kulturhistorisch zeitgemäßem Phänomen.

Zwar bezeichnet Ingo Cornils die Spurensuche zur Romantik zurecht als „Evergreen der Hesse-Forschung“,Footnote 261 was vor allem in den 1950er und 1960er Jahren einschlägig von Theodore Ziolkowski bearbeitet wurde.Footnote 262 Selten aber berühren diese Untersuchungen eine breiter aufgestellte Neoromantik um 1900,Footnote 263 mit der Hesses Frühwerk diskursiv wie erzählstrategisch eng verzahnt ist. Wie nur wenige Autorinnen und Autoren tritt Hesse schon zur Jahrhundertwende als Experte für romantische Literatur in Erscheinung, vor allem für Novalis, dessen Spuren sich von den frühesten bis in seine spätesten Werke eingeschrieben haben.Footnote 264 Außerdem engagierte sich Hesse in seinem Frühwerk – in unerwarteter Analogie zu Heinrich Mann und Hanns Heinz Ewers – aktiv für neoromantische Literatur: Für den Eugen-Diederichs-Verlag schrieb er unverlangt eingesandte Werbeanzeigen und Erzählungen; jede Neuerscheinung zur Romantik musste um 1900 mit einer Rezension Hesses rechnen; und in eigenen Essays thematisierte er den Unterschied zwischen Romantik und Neuromantik (1900), wobei er sein eigenes Werk für einen gewissen Zeitraum zur letzteren hinzuzählte.

„Jedenfalls hat die neuromantische Richtung in der gegenwärtigen Literatur mit Hermann Hesse eins ihrer stärksten und eigentümlichsten Talente gewonnen“, so stellt ihn der Novalis-Experte Carl Busse im Jahr 1902 noch der Öffentlichkeit vor.Footnote 265 Hesses spezifische Neoromantik gilt es im Folgenden anhand seines Jugend- und Frühwerks genauer zu analysieren. Dabei stößt dieser Fokus auch werkimmanent in ein Forschungsproblem, da sich Hesses frühe Prosa – trotz eines regen internationalen Interesses – nach wie vor nicht konzise in sein Gesamtwerk einordnen lässt. Mithilfe von drei Säulen lässt sich zunächst das literarhistorische Profil Hesses auf dem aktuellen Forschungsstand umreißen, um anschließend aufzuzeigen, inwiefern sein neoromantisches Frühwerk nach wie vor konträr zu seinem späteren Schaffen angesiedelt wird.

Grob skizziert, steht Hesse aus kulturwissenschaftlicher Sicht heute für einen Autor, der in seinen Hauptwerken verschiedene Möglichkeiten subjektzentrierter Selbstfindungen inszeniert. Unter dem Begriff des Eigensinns, laut Andreas Solbach ein „alter Bekannter der Hesse-Forschung“,Footnote 266 liefern Selbstfindungsszenarien entwurzelter Subjekte eine erste von drei Säulen, mit denen sich Hesses Poetologie beschreiben lässt. „Wer eigensinnig ist“, so konkretisiert Hesse selbst seinen Eigensinn (1917), „gehorcht einem anderen Gesetz, einem einzigen, unbedingt heiligen, dem Gesetz in sich selbst, dem ‚Sinn‘ des ‚Eigenen‘.“Footnote 267 Entsprechend häufig paraphrasiert als „Weg nach Innen“,Footnote 268 hebt Walter Erhart die Bedeutung dieser Formel für eine „moderne[] Mythisierung von Identität“ im Laufe des 20. Jahrhunderts hervor: „Es sind die Romane Hermann Hesses“, so Erhart zusammenfassend, „in denen dieses Modell der Selbstfindung seinen herausragenden literaturgeschichtlichen Ort gefunden hat, an dem es sich in seinen Wirkungen, seinen Schwächen und Stärken sowie in seiner ihm eigenen Modernität untersuchen läßt.“Footnote 269

Wer dabei seinem Eigensinn gehorcht, tritt bei Hesse notwendig auch in Konflikt mit der Gesellschaft und wird zu einem Außenseiter, einer zweiten Konstante in Hesses Prosa. Die Vorliebe für literarische Grenzgängerfiguren, gerade in ihrem Kontrast zu bürgerlichen und integrierten Figuren, wird ebenfalls seit den Anfängen der Hesse-Forschung besprochen und beruft sich bis heute auf eine Schnittmenge von Leben und Werk.Footnote 270 Eine echte Entdeckung aber, und hier kommt die dritte und jüngste Beschreibungskategorie ins Spiel, unternimmt Andreas Solbach in seiner einschlägigen Monographie, indem er dem vielzitierten Eigensinn und dem Außenseitertum einen gleichberechtigen Begriff zur Seite stellt, nämlich den Dilettantismus.Footnote 271 Was in früheren Forschungen häufig als negatives Qualitätsmerkmal moniert wurde,Footnote 272 wendet Solbach produktiv: Hesses Werk übt sich – ganz auf der Höhe des Diskurses – in einer „Ästhetik des Dilettantismus“, die er u. a. am Beispiel Heines und der Spätromantik entwickelt.Footnote 273 Nicht nur gewinnen die naiven Dilettanten in Hesses Prosa andersartige Erkenntnisse als bürgerliche Figuren, auch – und hier lässt sich Solbachs These weiterführen – werden in schlichter Sprache Sichtweisen auf die Welt präsentiert, die zwischen dilettantischer Überheblichkeit und seherischer Wahrheit changieren. Dilettantismus und Eigensinn sind laut Solbach bei Hesse zwei Seiten einer Medaille: „Der Dilettant erweist sich immer als eigensinnig, sein Dilettantismus gründet in seinem Eigensinn und nicht in den Vorstellungswelten der Bohème oder Décadence.“Footnote 274

So weit, so kohärent. Allerdings treffen die drei Säulen von Eigensinn, Außenseitertum und Dilettantismus in idealtypischer Weise vor allem auf Hesses mittlere und späte Schaffensphase zu, in der die kanonischen Texte wie Demian, Siddharta und Der Steppenwolf entstehen. In den Jahren zwischen 1890 und 1910, so konstatiert der Hesse-Experte Volker Michels, arbeite der junge Hesse stattdessen an einem „heimatverbundene[n] Frühwerk, das so viele unverwechselbar deutsche Traditionen regeneriert und aktualisiert“.Footnote 275 Dem frühen Hesse haftet nach wie vor ein „antimodernistische[r] Gestus“ an, den der Autor – so die verbreitete Forschungserzählung – erst im Zuge seiner Erfahrungen im Ersten Weltkrieg und einer damit verbundenen Schaffenskrise überwindet.Footnote 276 Rückt man die genuine Modernität einer literarischen Neoromantik neu in den Fokus, verliert Hesses Frühwerk nicht nur seinen aus der Zeit gefallenen Anstrich, sondern zusätzlich lassen sich die Entwicklungslinien zwischen den frühen und späteren Texten wertneutral und historisch angemessen beschreiben. Wie funktionalisiert der frühe Hermann Hesse also Romantik in seinen Erzählungen um 1900, wie verhält er sich zu einem kulturellen Wissen über Neoromantik und welches Modell von Romantik verfolgt Hesse in seinem vermeintlich „heimatverbundene[n] Frühwerk“, vor allem im Vergleich zur literarhistorischen Vorlage?

3.3.1 Hesse als Romantik-Experte: Seine Essays über Romantik und Neuromantik (1900)

Mit Blick auf das Frühwerk Hermann Hesses kommt dem Neuromantik-Verlag von Eugen Diederichs eine Schlüsselrolle zu, da er dem jungen Buchhandelsgesellen seinen Eintritt in das literarische Feld erst ermöglicht. „Mir geht, indem Sie eine Arbeit von mir in Ihrem Verlag nehmen, ein sehnlicher Wunsch in Erfüllung“, schreibt Hesse in einem Brief an Eugen Diederichs, „und ich werde Ihnen für das Entgegenkommen alle Zeit von Herzen zugetan und dankbar sein.“Footnote 277 Zwar stellt Hesses Brieffreundin Helene Voigt-Diederichs den persönlichen Kontakt zu ihrem Ehemann her,Footnote 278 doch der junge Hesse passt auch darüber hinaus wie kein Zweiter in das neuromantische Verlagsprofil: Noch während seiner Buchhandelslehre in Tübingen (1895–1898) veröffentlicht er seinen ersten Gedichtband Romantische Lieder (1898) mit hoher Eigenbeteiligung im Pierson-Verlag und verschlingt insbesondere in den Jahren 1897 und 1898 – teilweise zum zweiten Mal – die Werke von Novalis, Brentano, Eichendorff und Tieck.Footnote 279 Früh positioniert sich Hesse damit als Experte für neue und alte Romantik im literarischen Feld: Kaum ein Autor unternimmt in diesen Jahren eine derart breite Relektüre, vor allem nicht Diederichs, Bahr, Heinrich Mann oder Hofmannsthal. Im Bewusstsein des ökonomischen Scheiterns nimmt Diederichs Hesse in sein Verlagsprogramm auf, was ihm vice versa die Schärfung seines neoromantisch-modernen Profils und damit symbolisches Kapital einbringt.Footnote 280

Dass Hesses Jugendschriften im Kontext des Diederichs-Verlags, trotz einer durchaus regen Forschung zur Romantik bei Hesse,Footnote 281 bislang weitestgehend ausgeklammert wurden, liegt zumindest implizit an einer (vermeintlich) mangelnden literarischen Qualität, die schon Eugen Diederichs in einem persönlichen Brief kritisierte. Er vermisse nach seiner Sichtung von Hesses Prosasammlung Eine Stunde hinter Mitternacht (1899) „etwas […], was ich ein bewußtes Ruhen in sich selbst nennen möchte. Ich muß sagen, daß mir im Allgemeinen das Befreiende fehlt.“Footnote 282 In diesem Vorwurf spiegelt sich wiederum Diederichs’ eigene Auffassung von Neoromantik: Auf dem Weg zu einer Universalität der Welterfassung sollen neoromantische Texte ganzheitliche Erlösungsstrategien inszenieren, die er in Hesses Prosa nicht findet. Hesse antwortet ihm freundlich: „Das ist das Hauptstück meiner Romantik: Liebevolle Pflege der Sprache, die mir wie etwa eine rare alte Geige erscheint.“Footnote 283 Seine späteren Bücher, beginnend mit Peter Camenzind (1904), erscheinen schließlich im S. Fischer-Verlag.Footnote 284

Mit Blick auf die Neoromantik ist Hesse somit ein geradezu charakteristischer Autor – vor allem, da er im Jahr 1895 noch polemisch gegen die Romantik wetterte. „Im Prinzip sind mir die Romantiker zuwider“ schreibt er zu Beginn seiner Lehrzeit an seinen Schulfreund Theodor Rümelin, „doch ich liebe einzelne, vor allem Uhland und Eichendorff“.Footnote 285 Auch bei letzterem stößt ihm aber einiges sauer auf: Eichendorff ist ihm in Summe „zu romantisch, zu wirr und schwül und einseitig“, und besonders Ludwig Tieck findet er mit „sein[em] Gebimmel […] am Ende kindisch“, genauer: „Tieck kann ich nicht leiden. Brentanos ‚fahrender Schüler‘ widerstand mir nach dem Lesen einiger Seiten so sehr, daß ich ihn weggelegt und also wirklich nicht gelesen habe.“Footnote 286 Zu allen dreien – Tieck, Eichendorff und Brentano – wird Hesse seine Meinung um 1898 radikal ändern, womit er genau jene Generation moderner Schriftsteller repräsentiert, die durch die moderne Diskussion um die Überwindung des Naturalismus neu an die Romantik herangeführt werden. Nur eine Ausnahme lässt Hesse an dieser frühen Stelle gelten: „[K]einer hat glänzendere Prosa geschrieben als Heine“, so Hesse, den er nicht als Romantiker, sondern als „Satyriker erster Größe“ liest. Besonders zur Frühromantik aber bleibt sein Urteil unerbittlich: „Überhaupt kann es einem nicht lange wohl sein im engen Gärtchen der Romantiker, in diesem aus dem Moder beschworenen Tand, in diesem Weihrauchqualm.“Footnote 287

Das Schlüsselerlebnis liefert auch hier die Entdeckung von Novalis, den Hesse im Jahr 1895 noch nicht erwähnt und den er im Laufe seiner Buchhandelslehre rezipiert.Footnote 288 Um sein Werk wird sich Hesses Neuentdeckung und Affirmation vorrangig kreisen: Die Romantik „blühte und starb mit Novalis“, so der frühe Hesse in seinen Essays,Footnote 289 und in seiner Rezension der Diederichs’schen Novalis-Ausgabe (1900) wird Hardenberg als „der genialste Mitbegründer der ersten ‚romantischen Schule‘“ gepriesen, der „die besten Keime der früheren deutschen Romantik mit ins Grab genommen“ hat.Footnote 290 Im Zuge dieser emphatischen Aneignung erarbeitet sich Hesse eine ganz eigene Romantik-Erzählung, die er im Zeitraum um 1900 auf drei medialen Plattformen verbreitet: erstens in zahlreichen Rezensionen für die Allgemeine Schweizer Zeitung, für die er nahezu alle relevanten Autoren aus dem Umkreis der neuen Romantik bespricht (Maeterlinck, Jacobsen, Die Blaue Blume-Anthologie, E.T.A. Hoffmann);Footnote 291 zweitens über essayistische Abhandlungen, von denen ein Text über Romantik und Neuromantik (1902) heraussticht und dabei Teile des früheren Essays Romantisch. Eine Plauderei (1899) neu verwertet;Footnote 292 und drittens in privaten Briefen u. a. an seine Eltern, Helene Voigt-Diederichs und auch Eugen Diederichs, dem er einen unveröffentlicht gebliebenen, aber für diesen Zusammenhang aufschlussreichen Werbetext über die Neuromantik (1899) zur Verfügung stellt. Wiederholt argumentiert Hesse, „daß es zwei Arten von Romantik gibt – eine tiefere und eine äußerliche, eine echte und eine, die nur Maske ist.“ Das Problem, weshalb Hesse Einspruch erhebt, lautet: „Im Geschmack des Publikums hat seinerzeit die letztere, die falsche, gesiegt.“Footnote 293

Eine ‚echte‘ Romantik definiert Hesse als Gruppe von Frühromantikern im Jenaer Umfeld, von denen Novalis in Leben und Werk herausragt. Auch weitere Akteure aus diesem Kreis perpetuieren am Keim des Romantischen, ohne jedoch an die Hauptfigur heranzureichen: „Tieck z. B. hat in seiner früheren Zeit einige romantische Märchen von kostbar feinem Reiz geschrieben, aber eine Zeile von Novalis, die, weil Fragment, uns weniger befriedigt, hat unendlich mehr vom Zauber der höchsten Poesie.“Footnote 294 In seinen Romantik-Essays unternimmt Hesse geradezu archäologische Diskursarbeit, um die ursprüngliche Bedeutung von ‚Romantik‘ um 1800 hervor zu schälen. Aus einer uneinheitlichen Begriffsverwendung bei Novalis, Tieck und Schlegel folgert er, dass das Wort ‚Romantik‘ nach der Proklamation durch das Athenäum „schon bald wieder aufhörte, etwas Deutliches zu sagen“, und er stellt ‚romantisch‘ als zeitgenössische „Etikette“ heraus, die „auf den Büchertiteln Schlegels und Tiecks […] genau dasselbe wie für ein heutiges Werk das Prädikat ‚modern‘“ bedeutet.Footnote 295 Romantik und Moderne lassen sich, so Hesse, als Synonyme in unterschiedlichen Verwendungszeiten ausweisen.

Trotz Würdigungen einzelner Akteure lässt er dabei niemals Zweifel über den geistigen Vater der romantischen Schule aufkommen: „Die echte Romantik dürfen wir allein bei Novalis suchen, denn die Schlegel waren beide, trotz tiefer Einsichten und sublimen Verständnisses, dichterisch impotent.“Footnote 296 Der Briefwechsel zeigt genauer, mit welchen Autoren er sich in dieser Periode der romantischen Entdeckung beschäftigte: Tieck und Hoffmann liest Hesse gegen Ende des Jahres 1897 zeitgleich mit Jacobsens Niels Lyhne;Footnote 297 Wackenroder, Brentano, Eichendorff und Heine studiert er im Sommer 1898,Footnote 298 und Maeterlinck wird in dieser Zeit sein Liebling unter den „Ausländer[n]“ neben d’Annunzio.Footnote 299 Eine wichtige Rolle nimmt schließlich Friedrich Schleiermacher mit seinen „‚Reden‘ und ‚Monologen‘“ ein, zu denen er im Gegensatz zu anderen theoretischen Beiträgen aus der Romantik einen Zugang findet. „Zu Fichte und Schelling fehlt mir, solange ich Kant so wenig kenne, häufig der einzige Schlüssel“, so Hesse deutlich,Footnote 300 und zur romantischen Theorie reflektiert er insgesamt: „Ich […] wandele in der Philosophie der Romantiker so fremd und verlegen herum, wie ein über’n Zaun gekletterter Apfeldieb.“Footnote 301 Hesse bleibt also der Literatur der Romantik statt ihrer Philosophie verpflichtet, die er ohne den Kant-Schlüssel – also ohne den Vorbehalt gegenüber einer transzendentalen Erkenntnismöglichkeit – nur oberflächlich erschließt.Footnote 302

Nach dem Tod Friedrich von Hardenbergs beginnt laut Hesse ein jäher Zerfall des Romantischen, für den er vor allem den „Romanschmierer Fouqué“ verantwortlich macht: „In der Zeit, da in Deutschland alles Romantische verpönt war, wurde unter allerlei Etiketten fortwährend die billigste Romantik produziert“.Footnote 303 Die Rezeption der Romantik erzählt Hesse als eine Verfallsgeschichte der Popularisierung: Romantische Werke tragen ab den 1820er Jahren die „unselige Maske à la Fouqué“, die der Romantik bis in die 1890er Jahre anlasten wird.Footnote 304 „[D]ie feinen Anfänge des Novalis sind von den Moderomantikern der zwanziger und dreißiger Jahre rücksichtslos verbraucht worden“, so Hesse, „wobei wir natürlich die reineren Naturen unter dieser Schar, wie Eichendorff, ausnehmen“.Footnote 305 Mit Eichendorff, Heine und E.T.A. Hoffmann lässt Hesse genau drei Ausnahmen gelten, die als einzig ernstzunehmende Vertreter einer „Spätromantik“ angeführt werden: Sie stellen ferne „Ausläufer“ eines eigentlich verlorenen romantischen Prinzips dar.Footnote 306 Bevor der Naturalismus mit der Literaturtradition aufräumte und damit auch die Romantik von ihrer Rezeptionsgeschichte befreite, so Hesse, sei vor allem Heine der letzte Autor gewesen, der an der ‚echten‘ Romantik partizipierte: „Gerade er, der Tempelschänder, der geniale Ironiker, kannte mit heimlicher Sehnsucht die blaue Blume wohl und das Beste, was er als Poet geschaffen hat, ist ein Nachklang Ofterdingscher Töne.“Footnote 307

Es gibt für Hesse damit eine ursprüngliche Romantik, die nahezu ausschließlich in der Tradition des Novalis steht, und eine populäre, „falsche“ Romantik, die das eigentliche Phänomen überragt.Footnote 308 Ein Kern ‚echter‘ Romantik wurde über die Jahre hinweg verschüttet und warte auf seine Wiederentdeckung. „Damit beginnt die Geschichte einer ‚Neuromantik‘. – Jene neue, andere Epoche ist gekommen.“Footnote 309 Der junge Hesse identifiziert sich in diesen Jahren wie kein zweiter mit der Idee von neuer Romantik, welche den verlorenen Rezeptionsstrang nach Novalis wiederaufnimmt und mit den verfeinerten Wahrnehmungssensoren des Naturalismus durchmischt.Footnote 310 Euphorisiert und mit Blick auf ein größeres Publikum sendet Hesse am 5. November 1899 einen Werbetext an Eugen Diederichs, den er mit Neuromantik tituliert und in einem Brief einleitet: „Dieser Tage schrieb ich mir einige Gedanken über ‚Neuromantik‘ auf, die Sie vielleicht irgendwie brauchen können. Sie sind nicht für Kenner, sondern für’s Publikum, ein ‚Wort zur Verständigung‘ oder so etwas.“Footnote 311 Die kurze Werbung, die Diederichs nicht veröffentlichen wird, gibt sowohl das Neoromantik-Verständnis Hesses als auch seine eigene Verortung im literarischen Feld wieder:

Die kleine Zahl von Dichtern, deren Werke neuerdings als Neuromantik bekannt zu werden beginnen, hat mit der frühern deutschen Romantik [...] einen innigen und vielfach bewußten Zusammenhang. Es ist die Romantik Friedrich Schlegels und des jungen Tieck, namentlich aber die des Novalis, welche eine sonderbare und bedeutsame Wiedergeburt erlebt. Die Neuromantiker schätzen und lieben vor allem den süßen, ahnungsvollen Duft, der sehnsüchtig und wunderbar sympathisch über dem unvollendeten Werke des Novalis verbreitet ist – der Duft der blauen Blume.Footnote 312

Schon in der formalen Anlage dieses Werbetextes, zum Beispiel in der schlichten und verständlichen Sprache, greift Hesse über die eigentliche Zielgruppe des Diederichs-Verlags, einen bibliophilen Liebhaberkreis, hinaus. Auch inhaltlich lässt sich im „Duft der blauen Blume“ eine Differenz zu den Zielen von Diederichs konstatieren: Wo ‚Neuromantik‘ bei Diederichs als Weg zu neuartiger, universaler Welterkenntnis gedeutet wird, erhebt Hesse die ahnungsvolle, unvollendete Sehnsucht zum Movens der jungen Neoromantik. Konkrete Ursachen und Ziele dieser Sehnsucht führt Hesse an, um den Unterschied zu einer historischen Romantik genau zu benennen:

Die neue Romantik hat auch seine blaue Blume zum Symbol. Aber sie hat den Sinn dieses Symbols besser als Novalis’ Zeit verstanden. Die blaue Blume, das Ziel aller Dichtersehnsucht, ist unsichtbar und blüht auf dem Grund jeder ernsten und sehnsüchtigen Seele, ist selber Sehnsucht und Erfüllung in Einem. [...] Ehrfurcht vor der Stimme der Ewigkeit, Lauschen auf den Takt des inneren Lebens, Heimischsein an den verborgenen Quellen der Seele, das ist der Grund des romantischen Bekenntnisses.Footnote 313

Diese Neoromantik bewegt sich nah an formulierbaren Idealen: Aus zeitlicher Distanz und dank eines wissenshistorischen Fortschritts erkennen die Neoromantiker laut Hesse, dass ein „Heimischsein an den verborgenen Quellen der Seele“ als Ursache und Zielzustand echtromantischer Literatur ausgemacht werden kann. Eine (endlich verstandene) blaue Blume umfasst demnach „Sehnsucht und Erfüllung in Einem“ und evoziert eine passiv-ergreifende „Ehrfurcht vor der Stimme der Ewigkeit“, die nun ruhigere und zartere Töne anschlägt.Footnote 314 Das konstitutive Manko der Romantik werde in Hesses Neoromantik aufgehoben: Neoromantik sei

an dichterischem Werte den Vorbildern wohl nahezu ebenbürtig, und überragt die [sic] vielleicht an innerer Ruhe und Gesundheit: Es sieht aus, als wollte die kämpfende Hast, die atemlos ringende, versuchende, nervöse Arbeit jener genialen Frühromantiker nun über ihren fast vergessenen Gräbern Früchte tragen.Footnote 315

Die nervöse Unruhe der Romantik kann im „Lauschen auf den Takt des inneren Lebens“ also überwunden werden.Footnote 316

Konkrete Beispiele für neoromantisches Schreiben liefert Hesse in seinem Aufsatz zu Romantik und Neuromantik (1902) nach, in dem er sich – als einer der wenigen Akteure – von der nationalpatriotischen Note des Diskurses distanziert. „Es widerstrebt mir, Beispiele aus der deutschen Dichtung von heute zu wählen. Das tut auch nicht not, denn wir haben als typische Beispiele für die Entwicklungsstufen der neuromantischen Poesie zwei große ausländische Dichter“.Footnote 317 Hiermit leitet er zu den beiden Autoren über, die bereits als wichtigste Impulsgeber ausgemacht wurden: zum einen zu Jens Peter Jacobsen, der in seinem Niels Lyhne „Worte voll prägnanter Plastik für jede Erscheinung der Natur“ findet. „Es ist nicht zu sagen, welch großen Anteil sein Beispiel am Entstehen einer deutschen Neuromantik gehabt hat“, so Hesse nachdrücklich.Footnote 318 Zum anderen nennt er, kaum überraschend, Maurice Maeterlinck als „Romantiker von heute, […] der schon abseits vom naturalistischen Bekenntnis aufwuchs und zur Zeit als Typus des Neuromantikers gelten kann“.Footnote 319 Hesse allerdings lobt weniger Maeterlincks Märchendramen als die essayistischen und populärwissenschaftlichen Werke, allen voran Das Leben der Bienen (1900): „Hier, nicht im Kostüm seiner Märchen, suche man die wahre Neuromantik. Ob Novalis die ‚princesse Maleine‘ gefallen würde, weiß ich nicht, aber an der ‚vie des abeilles‘ hätte er seine Freude gehabt“.Footnote 320

Hesses Romantik-Modell unterscheidet sich von den vorherrschenden Romantik-Auffassungen dieser Jahre darin, dass er nicht die gesamte Romantik als mangelhaftes Projekt semantisiert, sondern in Novalis einen „Keim“ von Romantik benennt, der die Lösung aller späteren Probleme schon beinhaltet. Eine nahezu identische Konzeption liest er kurze Zeit später in Ricarda Huchs Monographie über die Blüthezeit der Romantik, die unabhängig und parallel zu Hesses Romantikstudien entsteht.Footnote 321 Einen ungeliebten Fragmentcharakter der historischen Romantik überwinde die Neoromantik bei Hesse allerdings durch folgende, endlich entschlüsselte Formel: „Vertiefung durch Verinnerlichung“, so lauten „Losung und […] Resultat“ von Romantik.Footnote 322 Hesses Überschneidung mit Huchs Romantikbild wird sich schließlich in späteren Essays noch klarer herausschälen, indem er zum Beispiel im Jahr 1916 über Novalis schreibt, dass er „das Ideal einer Synthese von wissenschaftlichem Denken und seelischem Erleben so wuchtig durchgeformt und ausgebildet [hat] wie nur noch Goethe“.Footnote 323

Von der Neuromantik als Diskurs um Eugen Diederichs wird sich Hesse mit dem Hermann Lauscher und endgültig mit Peter Camenzind distanzieren. Strukturell aber behält er sein individuelles Modell von Romantik bei, um sein neoromantisches Jugendwerk bald selbst in eine Phase der populären Verirrung einzuordnen. Die historische Romantik kann ihn entsprechend ein Lebenswerk lang begleiten, ebenso wie eine strukturell neoromantische Herangehensweise (z. B. in Klingsors letzter Sommer, 1919); die Emphase für einen Neuromantik-Diskurs der Jahrhundertwende allerdings schlägt – nach einer Episode des Ringens um 1900 – in eine kritische Distanz zu modischen Diskursen und Stiltendenzen insgesamt um.

3.3.2 Geschichte ohne Logik: Der Novalis. Aus den Papieren eines Altmodischen (1900/07)

In mehrfacher Hinsicht ist die Erzählung über einen alten Novalis-Band, an dessen Gebrauchsspuren die Erlebnisse verschiedener Lesergenerationen rekonstruiert werden, in Hesses Werk an einer Schwellenposition zu verorten. Volker Michels ordnet sie in der aktuellen Werkausgabe den „Erzählungen“ zu, womit er Den Novalis nicht mehr zu den „Jugendschriften“ zählt,Footnote 324 sondern ihn in die Nähe späterer Prosabände wie Diesseits (1907) und Nachbarn (1909) rückt. Tatsächlich steht Der Novalis zwischen den Werkphasen: Während die Erzählung thematisch zentrale Aspekte aus dem Jugendwerk aufgreift, so vor allem die Faszination für Novalis und eine neue Romantik, kündigt sich zugleich eine typische Erzählsituation an, die für Hesses späteres Prosawerk charakteristisch wird: Ein autodiegetischer Erzähler berichtet aus einer späten Position heraus von der (eigenen) Vergangenheit, die ihn am Ende einholt. Auch publikationsgeschichtlich spiegelt sich eine Zwitterstellung: Um das Jahr 1900 herum geschrieben und erstmals im Jahr 1902 vergeblich zur Veröffentlichung eingereicht, eröffnet Der Novalis fünf Jahre später die Literaturzeitschrift März (1907) in ihren ersten Ausgaben.Footnote 325 In diesem Erstdruck, illustriert von Holzschnitten des jungen Joseph Wackerle, trägt die Erzählung einen anderen Untertitel als im früheren Manuskript (und der späteren Werkausgabe): Nicht Aus den Papieren eines Bücherliebhabers stamme die Geschichte über Den Novalis, sondern Aus den Papieren eines Altmodischen.

Die Rahmenerzählung und die Romantik

Dieser Titel, den Hesse im Laufe der 1900er Jahre ändern wird,Footnote 326 beinhaltet im Kontext der Jahrhundertwende noch ein Statement. Novalis bürgt, wie oben beschrieben, seit einigen Jahren für den neoromantischen Modetrend, der u. a. von Maurice Maeterlinck im Jahr 1896 popularisiert wird und in dessen Kontext auch Hesse literarisch in Erscheinung tritt. In dieser Erzählung aber gräbt zuerst ein „Bücherliebhaber“, dann ein „Altmodischer“ den Novalis aus: Als Rahmenerzähler wird ein bibliophiler Archivar eingeführt, der sich puristisch für die Spuren vergangener Leser in einem alten Novalis-Band interessiert. Im ersten von sieben Kapiteln, und konkret im ersten Satz, wird das Profil dieses Ich-Erzählers klar umrissen:

Indem ich mich besinne, in welcher Eigenschaft ich mich dem etwaigen Leser dieser Notizen füglichst vorstelle, fällt mir ein, daß ich mich, dem Inhalt meines Schreibens gemäß, am besten als Bibliophile einführe. Wirklich ist dies auch wohl meine eigentlichste Eigenschaft. […] Auch finde ich mich im Vielerlei der Bücherwelt leichter zurecht als im Wirrwarr des Lebens und bin im Finden und Festhalten schöner alter Bücher besonnener und glücklicher gewesen als in meinen Versuchen, anderer Menschen Schicksale freundlich mit dem meinigen zu verknüpfen. (NO 26)

Schon die anachronistische Formulierung im Eröffnungssatz („dem etwaigen Leser […] füglichst vorstelle[n]“) markiert eine Sonderrolle: Dieser Erzähler ist ein einsamer Büchernarr, der sich im „Wirrwarr des Lebens“ nur schwer zurechtfindet. Als typische Außenseiterfigur in Hesses Werk bleibt er abseits vom geselligen ‚Leben‘ positioniert, was ihm allerdings umgekehrt eine Besonderheit, eine profilierende Auszeichnung einbringt. Gleichzeitig besitzt er nämlich den Blick eines Spezialisten, der sich „im Vielerlei der Bücherwelt“ durchaus souverän orientieren kann.

Mithilfe seiner Expertise probiert der Rahmenerzähler in der folgenden Binnengeschichte, drei Lebensstationen historischer Novalis-Leser zu rekonstruieren, die aus verschiedenen Umständen im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Novalis-Band griffen. Einer dieser Leser, die aus Liebeskummer Hardenbergs Werke rezipierten, ist auch der Erzähler selbst, der als Hauptfigur (bzw. als ‚erlebendes Ich‘) in der dritten Station seiner Binnenerzählung auftritt. Den Zweck einer solchen Rezeptionsgeschichte offenbart der Erzähler in seinem einführenden Kapitel: „[M]eine Liebhaberei für alte Scharteken ist vielleicht nicht ohne Beziehungen zum Leben, mag sie auch nur wie ein Steckenpferd eines alternden Hagestolzes aussehen.“ (NO 26) Im Zuge der komplexen Geschichte, die sich über das 19. Jahrhundert erstreckt, wirkt der Rahmenerzähler also der eigenen Entrücktheit entgegen, denn er ist den Regeln des ‚Lebens‘ am Beispiel der Novalislektüre analytisch auf der Spur.Footnote 327

Zunächst einmal gilt es, den Präsentationsmodus des Textes auf seine Analogie zur Romantik zu prüfen: Lässt sich dem Rahmenerzähler überhaupt trauen – oder gibt der Text nach romantischem Vorbild Anlässe, die Gültigkeit der Erzählperspektive in Zweifel zu ziehen? Trotz einer ausgestellt subjektiven Perspektive, aus welcher der Text an keiner Stelle ausbricht, illustriert der Erzähler eine valide empirische Methode: Er nutzt zahlreiche Notizen und Namenseintragungen auf dem „altmodische[n], schlichte[n] Druckpapier“ (NO 26), um Situationen und Ursachen zu rekonstruieren, in denen ehemalige Besitzer einst zum Novalis-Band griffen. Sogar die bibliographische Angabe wird gewissenhaft vermerkt: Es handelt sich um die „vierte, vermehrte“ Ausgabe der Novalis-Werke „vom Jahre 1837“ (NO 28), die es als Nachdruck auf günstigem Löschpapier auch transfiktional gegeben hat.Footnote 328 Da er auch in seiner Binnenerzählung auf die materiellen Eintragungen in das Buchexemplar eingeht, gibt es auf den ersten Blick keinen Anlass, dem erzählenden Experten zu misstrauen.

Dabei verbindet der Bücherwurm seine Geschichte mit einem persönlichen Anliegen, das explizite Schnittmengen zum Forschungsmodell Romantik offenbart. Der Ich-Erzähler klagt im einführenden Kapitel über seine qualvolle Einsamkeit in der modernen Gesellschaft:

[O]ft werde ich einsamer Mann mitten unter der schweigsamen Gesellschaft meiner Scharteken von Trauer überfallen, wenn ich sehe, wie schnell alles das, was einmal modern und neu und wichtig war, dem kühlen, mitleidig lächelnden Interesse einer anderen Zeit oder der Vergessenheit anheimfällt und wie schnell das Gedächtnis des einzelnen verlischt. (NO 28)

Die Entwurzelung des Individuums wird hier gleich dreifach betont: Ein „einsamer Mann“ in einer „schweigsamen Gesellschaft“ wird „von Trauer überfallen“, und als typisches Moderneproblem prangert der Erzähler die flotte Vergänglichkeit verbindender Deutungshorizonte an.Footnote 329 Sein Problem liegt, modelltheoretisch reformuliert, in einer Isolation des Individuums durch die moderne Beschleunigung, für die seine Einsamkeit bereits ein Symptom darstellt.

Potenziell romantisch wird diese Diagnose, sobald der homodiegetische Erzähler seine textkonstituierende Gegenstrategie vorführt. In seinem eigenen Erzählakt kann das erzählende Ich, so die Behauptung, dieses Problem überwinden:

Dann reden mir diese paar Bände tröstend das Geheimnis der Liebe, vom Bleibenden im Wechsel der Zeiten. Sie geben mir, wenn ich einsam erscheine, zu Nachbarn die aufsteigenden Bildnisse ihrer gestorbenen Freunde, deren Kette ich mich willig und dankbar anschließe. Denn in solchen Zeiten ist das Gefühl, als untergeordnetes und geringes Glied einer festen Gemeinschaft und Folge anzugehören, immer noch besser und tröstlicher als das grausame und sinnlose Alleinsein im Unendlichen. (NO 28)

An dieser Stelle ist das Faible des Bücherwurms für Romantik auch in einzelnen Formulierungen zu greifen. Durch seine akribische Spurensuche in alten Büchern revitalisiert der Erzähler eine verstorbene Leserschaft, deren Einzelschicksale ihm auferstehen und zu „Freunde[n]“ werden. In einem Akt der Unterwerfung ordnet er sich anschließend in die „feste[] Gemeinschaft und Folge“ von Novalis-Lesern ein, womit er sich defragmentierend einer zeitentbundenen Gruppe angliedert. Anhand des Erzählaktes gelingt ihm somit die Lösung seines Moderneproblems: Einerseits schreibt der Erzähler seine Individualität in eine zeitübergreifende Ahnenreihe ein, andererseits verspricht ihm das Studium der historischen Einzelschicksale, die eigene Isolation zu überwinden. Der Text führt – laut Ankündigung des Erzählers – also die Integrationsarbeit eines entwurzelten Individuums hin zum Teil eines Ganzen vor, was ihn in die Nähe romantischer Erzählstrategien rückt.

Dabei bezieht sich diese Synthese zunächst auf das forschende Subjekt und kann formal noch keine Gültigkeit über den Erzähler hinaus beanspruchen. Die gesamte Erzählanlage bliebe damit auf romantische Weise innerhalb der Grenzen eines subjektiven Einzelversuchs – könnte der Erzähler nicht plausibel beweisen, dass er mithilfe seines Spezialwissens tatsächlich eine tiefere, intersubjektive Wahrheit über das Leben herausfinden kann. Anders als bei Hanns Heinz Ewers gibt es im Text keinerlei selbstreferentielle Anzeichen dafür, dass der Erzähler irrt, fuscht oder lügt: Selbst an jener Stelle, an welcher der Experte die Rolle der Imagination reflektiert, schmälert das keineswegs den Wahrheitsanspruch seines Unterfangens.

Dabei bin ich im Phantasieren und Erfinden nicht allzu sparsam, teils aus Vergnügungslust, teils in der Überzeugung, daß alles Erfassenwollen der wahren, inneren Geschichte vergangener Zeiten ein Werk der Phantasie und nicht des wissenschaftlichen Erkennens ist. (NO 27)

An dieser Stelle behauptet der Erzähler, dass sich eine „wahre[], innere[] Geschichte“ eben nur mithilfe des spekulativen „Erfinden[s]“ darstellen lässt. Möglichem Zweifel an seiner Methodik beugt er damit vor: Gerade die Imagination hilft dem Erzähler – in Kombination mit dem empirischen Buchmaterial –, auf verborgene Regeln des Lebens zu stoßen, die nur der Experte erblicken kann. Sollten sich also tiefere Wahrheiten in der folgenden Geschichte herausschälen, dann wird ihnen vom Text auch ein potenzieller, formal nicht widerrufener Wahrheitsgehalt zugesprochen.

Die Binnenerzählung und die Regeln des Lebens

Die weiterführende Frage, die diese Rahmenkonstellation an die Binnengeschichte stellt, lautet also: Lernt man durch die Augen des einsamen Antiquars etwas über das ‚Leben‘? Die Romantik und allen voran Novalis werden zum motivischen Leitfaden, an dessen Rezeption ein wiederkehrender ‚Lauf des Lebens‘ geprüft wird. In einer großen Analepse rekonstruiert bzw. imaginiert der Erzähler im Wesentlichen drei historische Figurenkonstellationen rund um den Novalis-Band: In der ersten Station steht Theophil Brachvogel im Mittelpunkt (erzählter Zeitraum: 1838–1842), in der zweiten dessen Sohn Brachvogel Junior (1862–1875) und in der dritten schließlich der Erzähler selbst (um 1900). Alle drei Novalis-Besitzer (und teilweise auch deren Freunde) hinterlassen im Band ihre Spuren, sodass der Erzähler seine Rekonstruktion mit Daten und Jahreszahlen belegt. Zwischen den Episoden, in denen der Band unterschiedlich rezipiert wird, liegen jeweils „[a]nnähernd zwanzig Jahre“ (NO 42), in denen das Buch unberührt in Schränken verweilt und seine Blätter durch „einen leisen Cremebezug“ langsam vergilben (NO 41).

Die Binnengeschichte erzählt damit auch eine Rezeptionsgeschichte der Romantik, die dem literarhistorischen Modell Hesses folgt: Im „Frühling des Jahres 1838“ (NO 28) findet bei Theophil Brachvogel und seinen Freunden noch eine rege Frühromantikrezeption statt; ab 1842 dann beginnen „die ältesten Verehrer jener frühromantischen Poesie allmählich auszusterben, ohne daß neue ihnen gefolgt wären“ (NO 41); und um 1900 schließlich berichtet das erlebende Ich über Novalis, „daß der scheinbar verschollene Romantiker neuestens in Deutschland wieder verehrt und gelesen werde.“ (NO 45) Auch in einer Prolepse aus den Jahren Theophil Brachvogels lässt der Erzähler durchblicken, dass die gesamte Erzählung unter dem Eindruck einer Neoromantik der Jahrhundertwende verfasst wird:

Dann wunderte er [Theophil Brachvogel, R.S.] sich vielleicht betrübt darüber, wie rasch der zarte Dichter aus dem Andenken der Welt verschwunden und wie selten sein Name noch in jemandes Munde war; er ahnte nicht, daß Jahrzehnte später die ernste Schönheit dieser Dichtung neue Freunde und laute Verehrer und Verkünder finden würde. (NO 42)

In diesem Aspekt stellt der Erzähler sein Spezialwissen aus: Er kennt die Neoromantik um 1900, kann aber als Altmodischer sein Expertenwissen zur historischen Romantik hinzugeben. Somit partizipiert die Erzählung an einem aktuellen Interesse für das Romantische, das um Informationen zur historischen Romantikrezeption ergänzt wird.Footnote 330

Das Attribut der „ernste[n] Schönheit“ lässt bereits erahnen, wie Novalis’ Schriften im Erzähltext insgesamt semantisiert werden. Die ausführlichste Novalis-Lektüre unternimmt Theophil Brachvogel (Senior) in der ersten Station, in dessen Perspektive der Erzähler besonders ausschweifend fokalisiert.Footnote 331 Der junge Theophil, ein „großer blonder Mensch“ und „Hauslehrer bei den Söhnen einer Professorenwitwe“ (NO 31), kauft dem kritisch veranlagten Buchhandelslehrling Rettig im Jahr 1838 zwei Novalis-Bände ab, der seine Bibliothek aufgrund von Geldsorgen auflösen muss.Footnote 332 Als „schönlockige[r] Seher“ wird Novalis in einem humoristischen Dialog zwischen den beiden eingeführt (NO 31), und in der nächtlichen Lektüre zeigt sich, dass Brachvogel den Novalis „[w]eit frischer als der kritisch veranlagte Rettig“ (NO 32) rezipieren kann:

Ihn hatte seit einigen Tagen die sanfte Gewalt dieses tiefsten und süßesten Romantikers erfaßt, dessen dunkeltönige, von Duft und Ahnung gesättigte Sprache sein williges Herz in ihre weichen Rhythmen zwang. Das klang so mystisch wohllaut wie ein ferner Strom in tiefer Nacht, von Wolkenflucht und blauem Sternlicht überwölbt, voll scheuen Wissens um alle Geheimnisse des Lebens und alle zarten Heimlichkeiten des Gedankens. (NO 32)

Ein Oxymoron wie „die sanfte Gewalt“ dient der Inszenierung einer translexikalischen, unaussprechlichen Wirkung des Novalis, die mit Wortfeldern des Weichen und Scheuen, aber auch der Tiefe und Mystik umschrieben wird. Der Novalis-Intertext weiß „um alle Geheimnisse des Lebens“, doch sie bleiben den Lesern als „Heimlichkeiten des Gedankens“ verrätselt. Zugleich ist diese Art der Lektüre an die Figur Theophil gebunden, dessen „williges Herz“ jene „schwermütige Schönheit der Nachthymnen“ bereitwillig aufsaugt (NO 33).

Andere Figuren rezipieren Novalis unter anderen Voraussetzungen. Als Theophil Brachvogel seinen Freund Hermann Rosius im oberen Stockwerk besucht, der über sein „Lieblingsbuch, Bengels Gnomon“ als strenger Pietist eingeführt wird (NO 33),Footnote 333 kommt es zu einer gemeinsamen Lektüre des „ersten Hymnus an die Nacht“. Rosius aber reagiert als „fromme[r], stille[r] Student“ zunächst „[s]chweigend“ auf das Werk (NO 33), um anschließend – inspiriert vom Ende der ersten Hymne – auf schüchterne und unbeholfene Weise von seiner heimlichen Liebe zu Helene Elster zu sprechen.Footnote 334 Auf den grüblerischen Rosius wirkt Der Novalis damit lösend und fungiert so als Bindeglied zwischen dem „schüchtern[en]“ Hermann und dem „frische[n]“ Theophil (NO 32; 33), da er beide Charaktertypen einander annähert. Die Novalis-Semantik kreist, davon unangetastet, konstant um die ausgemachten Wortfelder: Im Novalis versteckt sich ein „ernste[s] Pathos der Dichtung“ (NO 33), und der schöne, heimliche Ernst seiner Texte wird wie ein Geheimwissen weitergetragen.

In solchen Leseszenarien, denen noch weitere folgen, eröffnet der Text eine Differenz zwischen zwei paradigmatischen Rezeptionstypen: Eine lebendige, vitalitätssprühende Lektüre, wie sie Theophil Brachvogel (und in der letzten Episode auch Gustav Merkel) unternimmt, kommt dem Verständnis von Novalis offenbar näher als ein „kühler, kritischer Geist“ (NO 43), wie ihn Rettig, Hermann Rosius und Brachvogel Junior besitzen. Die letzten Figuren repräsentieren allesamt den Typus eines „gelehrte[n] Sonderling[s]“, denen der Novalis-Band eher „durch Zufall“ in die Hände fällt und die sich seinem „eigentümlichen Eindruck nicht ganz entziehen“ können (NO 44). Zu einer ergreifenden Erkenntnis über die Ahnung hinaus reicht es bei diesen stillen Figuren aber nicht. Im Zuge dieser Typenbildung desavouiert sich auch der Rahmenerzähler unfreiwillig, da auch er, wie Brachvogel Junior und die anderen Bücherwürmer, wohl „von früh an ein wenig Sonderling“ war (NO 43) und dem frischen Leben erklärtermaßen fremd bleibt. Das erzählende Ich reiht sich damit in das Paradigma kritischer Geister ein, die durch ihre Novalis-Lektüre eben nicht näher zum ‚Leben‘ geführt werden, sondern allesamt in ihren Einzelschicksalen scheitern.

Tatsächlich führen die drei Binnengeschichten ihren Misserfolg am ‚Leben‘ wiederholt vor: Der Pietist Hermann Rosius muss sich seine Verlobte Helene Elster vom lebendigeren Theophil Brachvogel ausspannen lassen, und genauso verliert der Erzähler in der dritten Station seine geliebte Maria an den vitalen Freund Gustav Merkel. Im letzten Kapitel verläuft die Charakterisierung der Figuren bereits vorrangig über die Rezeption von Novalis: Der fröhliche Gustav reißt in einer Unterhaltung „einen wenig ehrerbietigen Witz über Novalis“ (NO 45) – und da Maria, anders als der allzu ernste Erzähler, herzlich mitlachen kann, ist der Partnerwechsel besiegelt.

Grüblerische Novalis-Leser bleiben im Text also einsam, während die lustigen und lebensbejahenden Rezipienten vom Leben belohnt werden. So auch Theophil Brachvogel: „Lachend und Wanderlieder singend“ liest der junge Hauslehrer die Novalis-Bände auf einer Wanderung am sonnigen Neckarufer (NO 37), um dank der frühromantischen Lektüre in einen ganzheitlichen Einklang mit der Natur zu geraten. „Vielleicht wusste er nicht, wie ähnlich er selbst dem jungen Ofterdingen jener Dichtung war“, kommentiert der Erzähler (NO 38), sodass sich der Gemütszustand Theophils als eine vitalistische Wiederaufnahme des Heinrich von Ofterdingen zu erkennen gibt:

In der frischen, empfänglichen Seele des jungen Reisenden spiegelte sich diese ganze frohe und farbige Welt reich und glücklich wider. Erinnerung, Ahnung und Hoffnung schmolz ihm mit der Schönheit der sichtbaren Welt unvermerkt und wohllaut zusammen, und werdende Lieder bewegten keimend den Sinn des jungen, fröhlichen Menschen. (NO 37 f.)

So lässt sich Novalis also auch rezipieren: Statt eines stillen Ernstes, wie ihn Theophil in der nächtlichen Lektüre verspürte, schmilzt nun eine Trias aus „Erinnerung, Ahnung und Hoffnung“ dank Novalis mit der „Schönheit der sichtbaren Welt“ zusammen. Der Text stellt der düsteren, symbolistischen Novalisrezeption der Jahrhundertwende eine vitalophile Alternative entgegen, in der Theophils Nerven allein durch „die feinen Reize der Berglinien“ angeregt werden (NO 38).Footnote 335 Subjekt und Natur lassen sich in dieser Wanderung versöhnen – vorausgesetzt, man besitzt eine „frische[], empfängliche[] Seele“ und einen „Duft der frühen Jugend […], dem noch kein großer Schmerz die Unbefangenheit genommen und dafür die Weihe der Reife gegeben hatte.“ (NO 38)

Mit dieser Bedingung beharrt der Text auf einer folgenreichen Limitierung physiologischer Art, denn nur ein jugendlicher Körper kann Novalis’ Werke auch in ihrer vitalistischen Wirkung interpretieren. Für den introvertierten Rosius führt die Novalis-Lektüre keineswegs zur Annäherung an die geliebte Helene, denn er muss seinen Freund Theophil aus Tübingen herbestellen, damit dieser ihn mit seiner „geschickteren Art und [s]einer größeren gesellschaftlichen Erfahrung“ bei der Brautwerbung unterstützt (NO 37). Genau diese Begegnung führt schließlich zum Bruch und zum Partnertausch. An folgendem Gesetz des Lebens lässt die Binnenerzählung damit keinen Zweifel: Die jugendlichen, frischen Figuren setzen sich im geselligen Leben gegen die Grübler durch, was im wiederkehrenden Dreiecksverhältnis rund um Gustav, Maria und das erlebende Ich bestätigt wird. Vor allem in Fragen der Liebe haben die nachdenklichen Typen wie Rosius und der Erzähler keine Chance.

Der Text akzentuiert aber auch eine Kehrseite dieses Gesetzes. Theophil Brachvogel muss für den Brautklau an seinem Freund schmerzlich büßen, da er durch den Verrat an Rosius seine Jugendlichkeit – und damit auch die Fähigkeit zur frischen Novalis-Lektüre – unwiderruflich verliert. Zwar hat Theophil mit Helene inzwischen eine Familie gegründet, doch er leidet an der zerbrochenen Freundschaft so sehr, dass er in die Sphäre der Reife hinübertritt und selbst zu einem Grübler wird. Als das erlebende Ich in der dritten Binnengeschichte schließlich von neuem mit Novalis in Berührung kommt, fokalisiert der Text konsequent auf den vergeistigten Lesertypus und führt dieselbe Konstellation mit vertauschter Perspektive, diesmal mit Sympathie für den Grübler, vor. Jetzt zeigt sich, dass die introvertierten Figuren in diesem Text ebenfalls eine Funktion besitzen: Als die schöne Maria einen tragischen Tod stirbt, tritt auch der fröhliche Gustav in die Sphäre der Grübler hinüber und kehrt geläutert zum Erzähler zurück. Beide erfreuen sich am Ende der Erzählung an einer gereiften Männerfreundschaft ebenso wie am Novalis.

Es täuscht also, die Novalis-Erzählung ausschließlich als Inszenierung einer monistischen Lebensdogmatik zu deuten, laut der das anthropologische ‚Leben‘ mit seinen Körpergesetzen als Leitbild fungiert.Footnote 336 Vielmehr ist die Binnenerzählung dominant dualistisch organisiert: Eine vitale, frische Sphäre der Jugend konkurriert im Text mit einer geistigen, grüblerischen Sphäre der Reife, die – fernab vom geselligen Leben – Aspekte wie Trauer, intime (Männer-)Freundschaften und Traditionen verwaltet. Gleich mehrere Formulierungen des Erzählers führen vor, dass die vergängliche Jugendlichkeit laut Text eben nicht höherwertiger einzuschätzen sei als die reife Erinnerungsarbeit: „Weder dieser noch der Beschenkte ist heute mehr am Leben“, kommentiert der Erzähler mit Blick in das Novalis-Exemplar, „aber die Widmung von Brachvogels Hand steht noch in dem Bande auf dem inneren Einbanddeckel zu lesen“ (NO 39). Hier zeigt sich, dass einsames Lesen das körperliche Leben überragen kann: Der Erzähler überführt etwas Erlebtes in eine Geschichte, die – ganz im Sinne der einführenden Reflexionen – tatsächlich die Zeiten zu überdauern vermag.Footnote 337 Mit Blick auf die Novalis-Erzählung lautet das erweiterte Lebensgesetz also wie folgt: Das jugendliche Leben fungiert als säkulare Leitkategorie, zu der die Figuren streben, doch das Überleben im Alter und in der Zukunft sichern grüblerische Außenseiter wie der Erzähler.

Zwar bleibt der Suchbefehl des Erzählers, der sich ja primär für das ‚Leben‘ interessiert, damit durchaus anthropozentrisch ausgerichtet; doch Elemente der Binnengeschichte bringen Zweifel hinein, ob ein monistisch-anthropologisches Lebensgesetz alle Phänomene zu erklären vermag. Ein eindrückliches Beispiel liefert der unerklärliche Unfall der schönen Maria, der die Erzählung jäh beendet:

Doch dauerte das [Liebesglück, R.S.] nur anderthalb Jahre. Dann geschah das Schreckliche, daß die schöne Maria mitten im Glücke auf einer sommerlichen Gondellustfahrt verunglückte und umkam. Da kam Gustav zu mir, und wir haben seither die Erinnerung an sie und an jene Florentiner Zeit und an alles Teure unserer allmählich in die Ferne entrückenden Jugendzeiten brüderlich miteinander geteilt. (NO 47)

Für Zufälle dieser Art lässt sich innerhalb der Geschichte kein Gesetz formulieren. Weder der Erzähler noch Elemente der Binnengeschichte können das Unglück in eine Logik des Lebens überführen, was sich zusätzlich mit Hesses Rezeption des Historikers Jacob Burckhardt engführen lässt.Footnote 338 Vielmehr beenden Schicksalsschläge – und tatsächlich lässt sich in manchen Passagen auch das Walten eines transkörperliches ‚Schicksals‘ vermutenFootnote 339 – die Jugend der Figuren vor allem in einem geistig-bildungstheoretischen Sinn. Jugend und Reife sind damit nicht nur anthropologische Körperstufen, sondern auch Stufen geistiger Entwicklung, womit vor allem der konsequente Dualismus dieser Erzählung gegen einen möglichen Monismus im lebensdogmatischen Sinne spricht. Dabei ist es die Kontingenz, die mit Marias Unfall das letzte Wort behält – auch, um anthropologischen Gesetzen zugunsten von unerklärlichen Lebensverläufen die Stirn zu bieten.

Findet also möglicherweise doch ein unentschlossener, romantischer Umgang mit dem ‚Leben‘ in Hesses Novalis statt? Ganz im Gegenteil: Ein Lauf des Lebens, wie er in Kombination der verschiedenen Binnenstationen inszeniert wird, bleibt zwar in Teilen rätselhaft, doch beobachtbare Regularitäten und Rekurrenzen werden an keiner Stelle ironisch behandelt. Kein Schein trügt in diesem Text: Die Figuren sind entweder jugendlich-vital oder reif und grüblerisch, und statt einer ambivalenten Gleichzeitigkeit kann sich ein Charakter wie Theophil Brachvogel von der Jugend zur Reife entwickeln. Die Erzählung inszeniert ein rekurrentes Muster von Lebensläufen und typologisiert zwei universelle Lebensstufen, zwischen denen die Figuren genau einmal und in eine Richtung hinüberwechseln. Warum das so ist, und ob das Körperliche oder doch ein schwebendes Schicksal die Geschehnisse vorstrukturiert, das bleibt innerhalb des Textes ein unerklärliches Rätsel. An der Gültigkeit der empirisch erhobenen Regularitäten aber wird keinerlei Zweifel formuliert.

Damit lässt sich auch das genaue Verhältnis von Novalis und Lebensbegriff in diesem Text beschreiben. Im titelgebenden Novalis liegt das rätselhafte ‚Leben‘ verborgen: Auf der Grundlage zweier Pole, die sich im Textverlauf an der Novalis-Lektüre zeigen, entwickelt sich auch die Binnengeschichte, deren Figuren von der Jugend zur reifen Trauer erwachsen. Novalis, der Frühvollendete, wird damit textintern als ‚Seher‘ bestätigt, da die Rezeption seines Werks das ganze ‚Leben‘ in seinem dualistischen Wechselspiel offenlegt. Doch bei Novalis, so behauptet der Text, bleibt der Sinn der Erscheinungen verrätselt; und auch der Erzähler weiß am Ende keine konzise Lebenslogik zu formulieren. Hardenbergs Werk spiegelt die dualistische Organisation von Welt (zwischen vitaler Jugend und geistiger Reife) und gibt den Sinn hinter dieser Organisation nicht preis.

Romantisch im modelltheoretischen Sinne ist die Erzählung dadurch nicht. Der Erzähler versucht, einem universellen Lebensgesetz auf die Spur zu kommen, und tatsächlich werden seine Hoffnungen erfüllt: Er hat das „Bleibende im Wechsel der Zeiten“ beobachtet, ohne es zu verstehen, und dennoch gewinnt er mit seinem Text das angestrebte „Gefühl, […] einer festen Gemeinschaft und Folge anzugehören“ (NO 28). Als Textverfahren führt diese Konstellation an keiner Stelle zu ironischen Kippfiguren, denn statt „Behauptung und Widerruf“ präsentiert der Text eine funktionierende Kontingenzbewältigungsstrategie seines Erzählers. Regularitäten des Lebens werden am Leitfaden des Novalis aufgedeckt, deren Sinn zwar verschlüsselt bleiben, aber in ihren Effekten ein wohliges Gefühl transhistorischer Gemeinschaft hinterlassen. Selbst die diagnostizierte Dualität des Lebens folgt keiner Kippfigur: Die Figuren sind entweder jugendlich-vital oder reif und grüblerisch, und statt einer ambivalenten Gleichzeitigkeit kann sich ein Charakter wie Theophil Brachvogel von der Jugend hin zur Reife entwickeln. Die Ironie der Romantik wird in dieser Erzählung in eine anthropologische Entwicklungsfolge übersetzt: Statt unaufgelöster Widersprüche, welche die Erzählung in eine selbstreferenzielle Schleife versetzen könnten, bleiben lediglich einige Rätsel offen; blinde Flecken, die eine konzise Schließung des Textes verhindern.

Während eine Fragmentierungsdiagnose also ebenso deutlich artikuliert wird wie der Wille zur transzendierenden Synthese, verschwindet die ironische Unmöglichkeit dieses Unterfangens in der Novalis-Erzählung und schrumpft stattdessen zu ungelösten Rätseln, die nicht die Textkonstitution als Ganzes bedrohen. Die Frühromantik nach Novalis spiegelt dabei das ganze ‚Leben‘ in einer Nussschale, wobei die neoromantische Erzählung Hesses probiert, den einst gefundenen Weltenschlüssel der Romantik neu in Szene zu setzen. In der progressiven Universalpoesie findet Hesse damit kein Verfahrensvorbild, sondern ein verrätseltes Weltgesetz, dessen verschüttete Wahrheit er in eine verständliche Sprache zu übersetzen versucht.Footnote 340 Neben dem Wegfall der ironischen Kippfigur lässt sich am Text eine weitere Transformation des Romantischen beobachten: Tatsächlich unternimmt die Erzählung eine geradezu prototypische Vertauschung der romantischen Natur durch das Leben, was für Hesse das konkrete Studium menschlicher Schicksale bedeutet. Auf diesem Feld kann Hesse leichter als die Romantiker empirische Gesetzmäßigkeiten beschreiben – zum Beispiel eine wiederkehrende Reife im Alter und eine naive Frische der Jugend. Dass sich das Rätsel hinter dem Lebenslauf aber nicht auflösen lässt, dass sich also kein Sinn der Erzählung dechiffrieren lässt, trägt eine romantische Note, ohne zu romantischen Textverfahren zu führen. Vielmehr bleibt der Erzähler ein vertrauenswürdiger Verwalter von Daten, der auf historische Rekurrenzen hinweist, statt auf ihre Ursachen zu spekulieren.

Exkurs: Lebensmonismus und Neoromantik am Beispiel der Novalis -Papiere

Was genau bezeichnet das Lexem des ‚Lebens‘ aus kulturhistorischer Perspektive, das im Text so dominant als überkomplexes Studienobjekt heranzitiert wird? Zur literarischen Funktion einer „monistisch-immanente[n] Kategorie des Lebens“ hat die jüngere Forschung mit Blick auf die Jahrhundertwende Grundlagenarbeit geleistet.Footnote 341 Das omnipotente Paradigma der ‚Natur‘, dessen Enträtselung die Literatur um 1800 beschäftigt, wird laut Wolfgang Riedel um 1900 flächendeckend durch das Paradigma des ‚Lebens‘ ersetzt, aus dessen empirischer Beobachtung sich zugleich epistemologische wie auch ethische Normen ableiten lassen.Footnote 342 Das ‚Leben‘ ist als anthropozentrische Kategorie – stärker als die ‚Natur‘ der Romantiker – empirisch am Menschen beobachtbar und integriert den Impuls eines naturwissenschaftlichen Monismus, laut dem sich jede natürliche Entwicklung auf ein biologistisches, eindeutiges Grundprinzip zurückführen lasse.Footnote 343 Hesses Prosa liefert einen regelrechten Steinbruch an Funktionalisierungen dieses Lebensbegriffs: Immer wieder gilt es Figuren wie Hans Giebenrath in Unterm Rad, Knulp und Peter Camenzind als höchstes Ziel, etwas über ‚das Leben‘ zu erfahren. Auf diese Weise setzt auch der Antiquar der Novalis-Erzählung sein Spezialwissen ein, um sich dem „Wirrwarr des Lebens“ auf unkonventionelle Weise anzunähern (NO 26). Ob Hesses Neoromantik dabei einer „heimlichen Dogmatik“ des anthropologischen Monismus aufsitzt oder ihn – wie andere Autoren dieser Zeit – auch in seinen Aporien reflektiert,Footnote 344 lässt sich an der komplex konstruierten Novalis-Erzählung idealtypisch prüfen.

Am Beispiel Hesses lässt sich ein Problem aktueller Monismus-Diagnosen, auch über den Einzelfall hinaus, kontrovers diskutieren. Einerseits fungiert ‚das Leben‘ in dieser exemplarischen Erzählung als zentrales Studienobjekt und ermöglicht die Beschreibung körperlich-biologischer Universalgesetze, denen vom Text auch ein empirischer Wahrheitsgehalt zugesprochen wird. Andererseits aber bleibt die Anthropologie in Hesses Texten nicht alternativlos: An die Seite der vitalistischen Lebensnorm tritt eine zweite Sphäre, in diesem Fall: das Paradigma des Geistes, des einsamen, lebensfernen Grübelns und der Tradition, die ebenfalls ihr diegetisches Recht beansprucht. Die genaue Relation der beiden Sphären lässt sich im Novalis-Text als eine hierarchisch strukturierte Antonymie beschreiben: Jugendliche Frische und kritische Reife schließen sich einander oppositionell aus, doch die Figuren können von der Jugendemphase einmalig in die gedankliche Reife übertreten. Die Grenze zwischen den Paradigmen ist semipermeabel – außer man heißt Novalis, für den diese Grenze, frei nach Ricarda Huch, nicht existiert.Footnote 345

Auch die Forschung hat schon früh und durchgängig notiert, dass Hesses Textwelten häufig dualistisch organisiert sind,Footnote 346 und tatsächlich beschreibt eine duale Struktur auch die folgenden Hesse-Texte adäquater als die Annahme eines heimlichen, monistischen Grundprinzips. Hinzu kommt, dass die Figuren in Hesses Texten kaum dem „Typus des Entschleierers“ entsprechen, wie ihn Jens Ole Schneider am Beispiel von Nietzsche herausarbeitet.Footnote 347 Statt monistische Wahrheiten zu proklamieren, befinden sich Hesses Figuren – wie auch dieser Erzähler – auf einer ergebnisoffenen Suche nach Normen, die schließlich in subjektgebundenen und teils rätselhaften Lösungen befriedigt werden. Eine erschwerende Problematik liegt zudem im doppelten Lebensbegriff in Hesses Erzählung: Wie eine lexematische Auswertung zeigt,Footnote 348 funktionalisiert der Erzähler im Novalis zum einen die jugendliche Frische als vitales, körpergebundenes ‚Leben‘, zum anderen nutzt er aber einen allumfassenden Lebensbegriff, um auch Phänomene des Geistes, des Alterns und der Tradition zu beschreiben. In dieser zweiten Bedeutung umfasst das übergeordnete ‚Leben‘ wiederum die dualistische Organisation der Diegese und bringt ihre Mechanismen auf den einen, monistisch gefärbten Nenner.

Die zentrale Schwierigkeit also, Hesses Werk als ‚leibemphatisch‘ und damit als Reflex einer monistischen Anthropologie zu beschreiben, liegt in der impliziten und unaufgelösten Dualität seines Lebensbegriffs. Kann man noch von Monismus sprechen, wenn ‚das Leben‘, das als monolateraler Wahrheitsgarant alle Phänomene umfasst, aus einem zweigliedrigen, semipermeablen System strukturiert ist? Laut Monika Fick, die den Monismus-Begriff für die Jahrhundertwende-Forschung aufbereitet hat, ist ein struktureller Monismus durchaus „vereinbar mit einer dualistischen Deutung der Phänomene“, wenn man zwischen einem „Monismus im streng historischen Sinn“ und einen „monistische[n] Denkansatz“ differenziert.Footnote 349 Hieran lässt sich mit Blick auf Hesse produktiv anknüpfen: Auch in der Novalis-Erzählung zeigt sich weniger die Allmacht eines biologistischen Schlüssels, der alle rätselhaften Phänomene entschleiern würde; sondern vielmehr unternimmt Hesse den ergebnisoffenen Versuch, „Leib und Seele zu einer Einheit zusammenzufassen“.Footnote 350 Dabei verbleibt die inhaltliche Besetzung des monistischen Einheitsprinzips als großes Fragezeichen im Text, als Rätsel, das sich nicht nur auf anthropologische Körpergesetze stützt, sondern als konsequente Synthese zwischen „Leib und Seele“ angelegt ist.

Mein Vorschlag mit Blick auf Hesse und die Literatur der Jahrhundertwende liegt darin, anknüpfend an Fick und Schneider, einen strukturellen Monismus noch stärker von seiner inhaltlichen Konkretion in der Anthropologie zu trennen. Bei Hesse zeigt sich ein struktureller Monismus im erzählerischen Aufwand, die eine Formel zu inszenieren, die Phänomene zwischen Körper und Geist versöhnt. Inhaltlich aber setzt sich die Lebensformel bei Hesse aus einer gleichwertigen Dualität zusammen, in der auch transkörperliche Entitäten wie ‚Bildung‘ und ‚Schicksal‘ gegen die Anthropologie angeführt werden. Gerade dieser unüberwindbare Dualismus führt bei Hesse, unter dem Eindruck eines monistischen Strukturzwangs, zu Textbewegungen: Die Sehnsucht nach Auflösung von Dualität, nach Entschleierung eines eingliedrigen Prinzips, ist Hesses Texten – wie auch im folgenden Inseltraum und im Kranz für die schöne Lulu – unmissverständlich eingeschrieben. Hesses Figuren aber entschleiern nicht, sondern sie finden eine jeweils individuelle Möglichkeit, sich im Wahrheitspluralismus der Moderne zu orientieren. Sie bedienen den wissensnormativen Monismus strukturell, ohne einen inhaltlich konkreten Dualismus in ihrer Lebenswelt aufzulösen.

Es ist also richtig, dass eine „Überproduktion von neuem Sinn im Rahmen eines weltanschaulichen Monismus und seiner unzähligen inhaltlichen Konkretionen“ die Wissenssituation der Jahrhundertwende dominiert.Footnote 351 Es muss aber nicht der Körper sein, der die letztgültigen Antworten liefert. Die Neoromantik als literarisches Projekt steht gerade dafür ein, auch transkörperliche Phänomene in den strukturellen Monismus der Jahrhundertwende zu integrieren. Kategorien wie Geist, Mystik oder kulturelle Tradition werden im neoromantischen Schreiben mit einem anthropologischen Dogma verknüpft, womit sich die Opposition von ‚Kunst‘ gegen ‚Leben‘ entsprechend häufig in neoromantischen Texten als Hauptproblem stellt. Nach monistischem Muster zielt das neoromantische Projekt dabei insgesamt auf Synthese: Neoromantisches Schreiben zur Jahrhundertwende erweitert das monistische Spektrum, um die Leitkategorie des Körpers mit ihrem kulturell verankerten Gegenspieler von Geist, Mystik und Kunst nicht nur zu konfrontieren, sondern zu fusionieren. Anvisiert wird also, wie Hesse es mit Blick auf Novalis formuliert, „das Ideal einer Synthese von wissenschaftlichem Denken und seelischem Erleben“.Footnote 352 Gerade weil das diskursive Programm der Neoromantik dabei auf die Entdeckung oder Evozierung einer monistischen Synthese zielt, müssen ironische Brechungen in literarischen Texten dabei als Enttäuschung erlebt werden. Ein latentes Unbehagen an der romantischen Kippfigur erklärt sich vor diesem Hintergrund auch über einen strukturellen Monismusdruck, der die Ambivalenzen der Romantik zwar zu integrieren versucht, dabei allerdings jene charakteristischen Aporien generiert, die Jens Ole Schneider an ausgewählten Beispielen wahrnimmt.Footnote 353

3.3.3 Synthetische Visionen: Der Inseltraum (1899) und Lauschers Kranz für die schöne Lulu (1900)

Noch vor dem Novalis-Text entstehen die Erzählungen Der Inseltraum (1899) und Ein Kranz für die schöne Lulu (1900), die einen exemplarischen Fokus auf das Jugendwerk Hesses erlauben. Diese früheste Phase, die sich genau im Jahr 1900 im Umbruch befindet, zeichnet sich u. a. durch eine noch unkritische, wenig distanzierte Partizipation an der modischen Neoromantik aus: Beide Texte reicht Hesse beim Eugen-Diedrichs-Verlag ein und probiert sich experimentell an einer Imitation von Romantik, die auch die Formentscheidungen romantischer Literatur adaptiert. Der Inseltraum gibt sich entsprechend als eine Verfahrenssimulation nach Novalis zu erkennen.Footnote 354 Die Lulu-Erzählung hingegen ist, wie schon der Untertitel ankündigt, „dem Gedächtnis E.T.A. Hoffmanns gewidmet“ und adaptiert den Stil Hoffmann’scher Erzählungen auf eigenwillige Weise.Footnote 355 Damit überschneiden sich die beiden sehr heterogenen Texte in ihrem analogen Umgang mit der Romantik: Im Jugendwerk bis ca. 1900 appropriiert Hesse das Romantische noch als Stil, um auf dieser Folie seine eigene, aktualisierte Verfahrenssprache zu entwickeln.

Hermann Hesses jugendlicher Inseltraum

Der Inseltraum eröffnet Hesses erste Prosasammlung Eine Stunde hinter Mitternacht (1899), die im Eugen-Diederichs-Verlag zu dessen ‚neuromantischer‘ Hochphase erscheint. Ein Zitat von Novalis ziert das Titelblatt,Footnote 356 und auch aufgrund ihrer typographischen Gestaltung als Liebhaberexemplar trägt diese Publikation, im Kontext betrachtet, das Diskurslabel der Neuromantik. Innerhalb des Textes aber werden vergleichsweise wenig konkrete Motive der literarischen Romantik ausgestellt: Kindheit, Traum und Sehnsucht spielen als Leitmotive eine zentrale Rolle, konkrete Verweise auf Märchentopoi oder romantische Intertexte finden sich jedoch nicht. Stattdessen funktionalisiert die Erzählung gleich mehrere Hinweise auf die italienische Renaissance: Ariost beispielsweise tritt im Inseltraum als Figur in Erscheinung, um „wie ein Verspaar des Orlando, schlank, edelförmig und schalkhaft“ durch die idyllische Landschaft zu stolzieren (IT 187). Analog zum Verlagsprogramm von Diederichs mischt sich eine neue Renaissance hier mit neoromantischen Anteilen, was sich aus dem literarischen Feld erklärt: Hesse konnte zum Entstehungszeitpunkt bereits absehen, dass er die Stunde hinter Mitternacht potenziell beim Ehemann seiner Briefpartnerin Helene Voigt-Diederichs platzieren konnte,Footnote 357 und entsprechend probiert sich der Text an einer Schnittmenge aus Hesses Modell von Romantik und dem Diederichs-Verlagsprofil, das auch Motive der italienischen Renaissance umfasst. Es handelt sich also um einen Text, der sich selbst nicht an einer Grenze, sondern mitten im modischen Diskurs der Diederichs-Neuromantik positioniert.

Der Inseltraum gibt sich, ebenfalls untypisch für den späteren Hesse, als eine Traumerzählung ohne Rahmen oder Analepsen zu erkennen. Zu Beginn landet ein „schiffsbrüchiger Träumer“ mit seinem Kahn auf der titelgebenden Insel, womit der Text zu seinem elegischen Stil anhebt:

Eine langhin gewölbte, sanfte Welle hob meinen Kahn mit dem gerundeten Bug auf das Gestein. Ein schiffsbrüchiger Träumer verließ die Ruderbank und dehnte die Arme dem stummen Lande entgegen. Mein purpurner Mantel war mürbe geworden und warf von den Hüften abwärts weiche demütige Falten. [...] In dem dunkelgrünen, stillen Gewässer der Bucht lag mein Spiegelbild gebreitet, und ich sah, daß auf der langen Fahrt alles an mir anders geworden war, brauner, schlanker und biegsamer. (IT 172)

Mit diesen Verfahren knüpft der Erzähler an eine Prosa Friedrich von Hardenbergs an – exemplarisch an Texte wie Die Lehrlinge zu Saïs (1798/1799) –, wie sie Hesse einhundert Jahre später unter dem Eindruck des neoromantischen Diskurses interpretiert. Anthropomorphe Attribute schmücken die Ankunft des Ich-Erzählers auf der Trauminsel aus: Neben die „sanfte Welle“ treten ein „stumme[s] Land[]“, dem der „schiffsbrüchige[] Träumer“ seine Arme entgegenstreckt, und zuletzt wirft auch sein Mantel „demütige Falten“. In dieser Prosa herrscht ein ständiger Allegorieverdacht: Das Purpur des Mantels verweist auf einen königlichen Adel; der Kahn und sein Ruderer erinnern an den mythischen Charon und seine Fahrt durch den Styx; und der Narziss-Mythos wird wiederholt im Spiegelbild an der Bucht aufgerufen. Der Inseltraum grundiert seine Erzählung mit unscharfen Symbolen aus der antiken Mythologie, wodurch auch der Gefühlshaushalt des Erzählers jenseits der Traumerzählung mythologisch aufgeladen wird.

Der Stil dieser Sätze knüpft an die Form des Elegischen an – allerdings nicht an die antike Gattung mit ihren formalen Kriterien, sondern vielmehr an Schillers Definition einer elegischen „Empfindungsweise“.Footnote 358 Laut Schillers Epochentext Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) entspringt das Elegische – ebenso wie das Idyllische und das Satirische – aus dem Verlust einer ursprünglichen Einheit von Menschen und Göttern, aus deren Bewusstsein sich eine elegische Trauer entwickelt.Footnote 359 Von „stiller Trauer“ und „sanfter Einsamkeit“ weiß auch der Erzähler zu berichten, sobald er auf seine verlorenen Kindheitserinnerungen zurückblickt (IT 174). Allerdings spielt der Inseltraum gleichermaßen in einer Idylle: Die Insel ist ein idealtypischer locus amoenus, in dem sich Natur und Kultur in naiver Schönheit ergänzen.Footnote 360 Die zwei Formen der sentimentalischen Dichtung nach Schiller – wobei das Satirische bezeichnenderweise fehlt – zeigen sich im Inseltraum als zwei Seiten einer Medaille: Idyllisch präsentiert sich das Setting einer utopischen Insel der Schönheit, elegisch aber erzählt der Text von der Trauer, die den Ich-Erzähler über die eigene Entfernung von diesem Reich befällt.

Die histoire des Textes inszeniert nun eine sukzessive Läuterung des Erzählers. Nach der beschwerlichen Kahnfahrt dringt er immer tiefer in einen antikisierten Naturraum ein, um dort in eine Gemeinschaft von Frauen aufgenommen zu werden, die sich bei genauerem Hinsehen als eine Versammlung seiner ehemaligen Liebschaften entpuppt.Footnote 361 In einem Dialog mit der Königin der Insel, die „in ihrem vollkommenen Wuchse“ die Schönheit selbst personifiziert,Footnote 362 legt er seine Entfremdung von ihrem Reich dar:

Ich trage einen Purpur, der aus deinem Lande ist und von dir mir in die Wiege ist gelegt worden. Aber meine Hände sind befleckt und meine Augen voll Ekels geworden, ich bin müde und unwert, den Purpur länger zu tragen, der für frohe Hände und selige Augen bestimmt ist. Und bin gekommen, ihn zurückzugeben. (IT 176)

Vor allem in den Passagen in direkter Rede unterstützt der Text seinen elegischen Stil mithilfe von traditionalistischer Wortwahl und Syntax („in die Wiege ist gelegt worden“). Auch die Symbolik importiert eine pathetische Bedeutungsschwere: Qua Geburt ist der Erzähler in Besitz eines purpurnen Mantels, der seinen angeborenen Sinn für Ästhetik symbolisiert und mittlerweile „befleckt“ ist. Dieses divinatorische Geschenk gibt er aufopferungsvoll an die Schönheit zurück, da sein vergangener, städtischer Lebensweg seine Augen mit „Ekel[]“ besudelt habe. Die gütige Königin der Schönheit gibt dem verlorenen Sohn eine zweite Chance: „Sei mein Gast und versuche noch einmal, unter meiner Herrschaft zu leben“, fordert sie ihn auf (IT 177), und im Folgenden durchläuft der Erzähler gemeinsam mit den Mädchen eine Reihe von Kindheits- und Jugenderinnerungen, die ihn wieder Geschichten erzählen und zur Laute greifen lassen. Am Ende entsendet die Königin ihn zurück in das Meer, gemeinsam mit einem „Zweig Orangeblüte [sic]“, und gibt ihm den Auftrag: „Nun reise gut!“ (IT 187).Footnote 363 Der Erzähler wird mit den besten Aussichten entlassen, seiner ästhetischen Gabe in Zukunft gerecht zu werden, auch wenn die Königin ein Wiedersehen zu zwei Gelegenheiten ankündigt.

Verfahrenstechnisch knüpft der Text an eine „Mysterienrede“ an, die Hesse bei den Romantikern findet.Footnote 364 Modelltheoretisch aber adaptiert der Inseltraum nur in Teilen ein romantisches Programm, wie es sich auch in den Texten um 1800 nachweisen lässt. Die größte Überschneidung zeigt sich in einer deutlich artikulierten Fragmentierung des Erzählers: Von einem Urzustand der Kindheit, in dem er noch einen naiven Zugang zur Schönheit besaß, hat sich der Erzähler auf geradezu pathologische Weise entfernt. Der Text liefert drei konkrete Gründe, weshalb das Individuum seine Bestimmung zum Ästheten aufgeben muss: Zum einen ist es die moderne Großstadt, aus welcher der Ich-Erzähler flieht und die als absente Gesellschaft seine Traumreise erst notwendig macht. „Mich trieb der Ekel vom Leben, mich stieß der Dunst der Städte und die geräuschvolle Lust ihrer Tempel von sich“, so der Erzähler, und erst auf der beschwerlichen Fahrt zur Insel konnte er sein „Auge von den Dünsten des verlassenen Lebens“ reinigen (IT 177). Zweitens ist es auch eine intellektuelle Reife, die ihn von einer naiven Schönheit entfernt: Mit Blick auf eine alte Klosterschule, in der er einst antike Philosophen las, stellt er fest, dass eine „herbe Süßigkeit des Wissens“ damals die „süßeren Ahnungen verhüllter Schönheit“ verdrängte (IT 183). Der Rationalismus, hier in seinen Anfängen bei „Sokrates“ und „Homer“ heranzitiert (IT 183), erhält in der Stunde hinter Mitternacht einen kritischen Seitenhieb, da er die unschuldige Ästhetik potenziell entweiht.

Schließlich aber, und hierin sieht der Erzähler den wichtigsten Auslöser für seine Entwurzelung, ist sein Dilemma selbstverschuldet. „Warst du es nicht“, fragt ihn die Königin in einer ausgelagerten Selbstanklage, „der die Tempel, in welchen ich dich beten lehrte, zerstört und der in die Gärten der Liebe, deren Pforte ich dir zeigte, geschändet hat?“ (IT 176 f.) Deutlich antwortet der Erzähler: „Ich war es“, und konkret bekennt er sich schuldig, die Lieder der heiligen Schönheit in „Gassenlieder“ umgekehrt und seine Gabe „zur Trunkenheit missbraucht[]“ zu haben (IT 177). Vor allem, so nagelt ihn die Königin fest, hätte er „dankbar“ in Anbetracht seiner Gabe sein müssen (IT 179). Aufgrund dieser Verfehlungen bittet der Erzähler nun darum, seine angeborene Seherkraft loszuwerden: „[N]imm dein Geschenk wieder, leg’ es auf härtere Schultern, und lass mich werden, wie andre sind!“ (IT 177)

Damit stellen sich dem Erzähler zwei Optionen zur Synthese, um die monierte Fragmentierung zu überwinden: Entweder verliert er seine seherischen Fähigkeiten und kann sich so in die moderne Gesellschaft eingliedern („werden, wie andre sind“), oder aber er nimmt seine Bestimmung wieder auf und dient der „erhaben[en]“ Schönheit (IT 178), wie es in seinem kindlichen Urzustand angelegt war. Der Inseltraum votiert für die letzte Option: „Es ist den Dichtern gegeben, dass sie sich mehr als andere Menschen ihres frühesten Lebens erinnern“, behauptet die Königin an einer poetologischen Stelle (IT 185), und so zeigt sich der Gang des Erzählers durch die verschiedenen Kindheitsepisoden als eine Verwirklichung seiner natürlichen Anlage. Zwar reflektiert der Text in seiner Symbolik auch die narzisstische Dimension des Ästhetentums und weiß um die „freundlich ernste Einsamkeit“ (IT 183), in welche der Dichter sich zwangsläufig begeben muss; eine Eingliederung in das hässliche „Leben“ aber erscheint für den geborenen Seher nicht wünschenswert (IT 185).Footnote 365 Im Inseltraum zeigt sich somit eine andere Semantik als beim späteren Hesse: Mit einem Sinn für die Schönheit ist das gesellige Leben nicht zu ertragen und erfordert eine Hinwendung zum einsamen Ästhetizismus, der im Inseltraum als eine Wiederentdeckung vergangener Kindheitsepisoden realisiert wird.

Eine triadische Struktur, wie sie für romantische Texte modelltypisch angenommen wird, findet sich diesem Text damit nicht eingeschrieben. Der Traum des Erzählers zielt nicht auf eine Versöhnung in einem utopischen Dritten, sondern auf eine Rückkehr zu den natürlichen Anlagen. Damit ist die Erlösung zweigliedrig organisiert: Ohne Frage ist dieser Erzähler ein Seher, der den Kontakt zu seinem früheren Ich verloren hat, und im Laufe des Textes kann dieses Manko durch Rückwendung wiederhergestellt werden. Dementsprechend findet sich im Inseltraum keine romantische Kippfigur: Eine unendliche Annäherung an ein goldenes Zeitalter wird nicht anvisiert, sondern stattdessen findet eine endliche Annäherung an den Urzustand des Erzählers statt.Footnote 366 Für Brechungsmomente sorgt keine romantische Ironie, sondern eine Inszenierung von Selbstzweifeln, gegen die der Inseltraum normativ anschreibt. Dies zeigt exemplarisch die Binnengeschichte vom „Blondel“ (IT 185): Der träumerische Erzähler berichtet darin von einer Scham, die ihn im Zuge seiner großspurigen Selbststilisierung zum Dichter in Kinderjahren einst befallen hat. In Anwesenheit der Königin, die mit einem knappen: „So war es“ reagiert (IT 185), verkehrt sich die Scham jedoch in eine Schuld vor der Schönheit: Richtig wäre gewesen, ‚dankbar‘ zum eigenen Dichtertum zu stehen und sich nicht dafür zu schämen.

Der Inseltraum lässt sich entsprechend als ein Experiment mit der eigenen Sehergabe und als Erschreibung eines dichterischen Selbstbewusstseins interpretieren. Romantisch im Modellsinne ist diese Erzählung dabei nicht, da weder die Möglichkeit einer Rückkehr zum Naturzustand noch die allegorische Gültigkeit des Traums zu kippen drohen.Footnote 367 Der Inseltraum verhilft seinem Erzähler zur Erfüllung der eigenen Bestimmung – und legitimiert damit einen einsamen Ästhetizismus, der die Kunst gegen die moderne Gesellschaft abriegelt. Dass der Ästhetik beim frühesten Hesse noch das Potenzial zugesprochen wird, das gesellige Leben zu überragen, zeigt eindrucksvoll die finale Szene des Inseltraums: In einem „Gartenschloss“ (IT 186) blicken der Erzähler und die Königin gemeinsam an eine bemalte Wand, die einen schönen Garten (mit Ariost darin) abbildet. Als sich die Wand plötzlich öffnet, erscheint dahinter ein realer Garten in identischer Weise. Kunst bildet die Natur in diesem Fall nicht mimetisch ab, sondern die Malerei konstruiert erst die Schönheit des Gartens – und im Hineintreten in das Wirklichkeit gewordene Kunstwerk gelangt die Traumreise des Erzählers an ihr Ende (vgl. IT 187). Die zeitlose Schönheit überschreibt in dieser Neoromantik – anders als beim späteren Hesse – das wirkliche Leben: „Was du hier siehst, das alles ist schöner als alle Wirklichkeit“, pointiert eine der Frauenfiguren, „und wirklicher als alle Wirklichkeit.“ (IT 181)

Hermann Lauschers Kranz für die schöne Lulu (1900/1907)

Genau diesen Ansatz kritisiert Hermann Lauscher, die Hauptfigur in Hesses Kranz für die schöne Lulu, schon ein Jahr später im direkten Rekurs auf die Stunde hinter Mitternacht: „Ja, ich gestehe, mein kürzlich gedrucktes Buch beängstigt mich“, klagt der fiktive Dichter, und vor allem kritisiert er ein Problem der „verdammte[n] Bewußtheit, in die man sich allmählich hineinstudiert“ (KL 266). Mit konkreten Verweisen auf den Inseltraum stellt er fest, dass sein Experiment mit der eigenen Dichtergabe letztlich an einer aufgesetzten Pose gescheitert sei:

Man probiert, man mißt sich selber, sucht nach den Grenzen seiner Begabung, experimentiert mit sich, und schließlich sieht man zu spät, daß man den besseren Teil seiner selbst und seiner Kunst in den verspotteten unbewußten Regungen der früheren Jugend zurückgelassen hat. Nun streckt man die Arme nach den versunkenen Inseln der Unschuld aus; aber man tut das auch nicht mehr mit der ganzen unüberlegten Bewegung eines starken Schmerzes, sondern es ist schon wieder ein Stück Bewusstheit, Pose, Absichtlichkeit darin. (KL 266)

Schon im Hermann Lauscher findet damit Hesses Abgrenzung von einer „Pose“ der ‚Neuromantik‘ statt. Im Kranz für die schöne Lulu wendet sich die Dichterfigur Lauscher einer Poetologie zu, die auf die ursprüngliche Romantik zurückgreift: „Ich muß wieder […] an die Quellen zurückgehen. Mich verlangt nicht so sehr etwas Neues zu dichten, als ein tüchtiges Stück frisch und ungebrochen zu leben“. (KL 266) Die Rückwendung zu den „Quellen“, die Lauscher zugleich eine Hinwendung zum ‚Leben‘ verspricht, ist in diesem Fall eine Aneignung E.T.A. Hoffmanns und seines Erzählstils.

Tatsächlich geht die Lulu-Erzählung auch publikationsgeschichtlich mit einer Distanzierung von der ‚Neuromantik‘ als Diskursphänomen einher. Eine erste Version sendet Hesse am 16. August 1900 unter dem Titel Prinzessin Lilia an Eugen Diederichs.Footnote 368 Zwei Monate später bittet er den Verleger, die „Prinzessin Lilia entweder ruhig liegen zu lassen oder mir wieder zurück zu schicken […], denn ich werde vermutlich bis Anfang 1901 ein oder zwei Stücke hinzufügen, die ich Ihnen dann etwa als ‚Schwäbische Erzählungen‘ anbieten würde.“Footnote 369 Zu diesem Projekt kommt es nicht: Ende 1900 entscheidet sich Hesse, den Hermann Lauscher in kleinster Auflage in der Buchhandlung R. Reich in Basel zu drucken, bei der Hesse als Sortimentsgehilfe angestellt war. Der Kranz für die schöne Lulu ist in der Prosasammlung zunächst nicht enthalten, womit der Lauscher-Band den neoromantischen Modetrend nicht mit eigenen Verfahren, sondern vielmehr in kritisch reflektierender Distanz (v. a. Tagebuch 1900) bearbeitet.Footnote 370 Erst 1907 bringt Hesse eine erweiterte Fassung des Hermann Lauscher heraus, in die er den Lulu-Text einfügt. Zwar beteuert Hesse in einem Vorwort, die Erzählungen nicht modifiziert zu haben, doch einige Details lassen eine spätere Überarbeitung im Jahr 1907 vermuten.Footnote 371

Schon in der Wahl der Erzählperspektive setzt die Erzählung ein Statement: Analog zu Texten von E.T.A. Hoffmann kann der Erzähler verschiedene Figuren überblicken und berichtet (schein-)auktorial aus einer humoristischen Distanz.Footnote 372 Dass die Geschichte schließlich doch homodiegetisch von der Figur Hermann Lauscher erzählt wird, markiert erst der letzte Satz der Erzählung: „Denn er selber hat die vorstehende Geschichte der Wahrheit gemäß aufgeschrieben“ (KL 287), heißt es dort, wobei die Erzählstimme auch in dieser Formulierung noch die Distanz über die dritte Person („er selber“) wahrt. Diese Erzählkonstruktion geht nicht kohärent auf: Gelegentlich weiß der Erzähler von Handlungen zu berichten, die Lauscher als Figur weder beobachtet hat noch nachträglich wissen kann. In der Erzählerfigur ist damit eine ironische Note angelegt: Ein ausgewiesener „Schöngeist“ (KL 273) inszeniert sich in diesem Text als auktorialer, traditioneller Erzähler, der in großzügiger Erfindung einige Lücken der Geschichte auffüllt und dabei den Blick auf die Konstruktionsmechanismen auktorialen Erzählens lenkt. Lauscher steht nachträglich unter Verdacht, unzuverlässig zu erzählen, womit die Rolle des auktorialen Erzählers selbst als die Pose einer sentimentalen Dichterfigur stilisiert wird.

Auf den ersten Blick scheint auch die Handlung ähnlich romantische Momente zu beinhalten, die zwischen einer wunderbaren und einer unheimlichen Lesart changieren. Die Erzählung spielt ausschließlich in Kirchheim, wo ein junger, männlicher Dichterkreis namens „petit cénacle“ freundschaftlich zusammenkommt (KL 265).Footnote 373 Dazu gehören der Dichter Hermann Lauscher, sein Freund Ludwig Ugel, der Jurastudent Karl Hamelt, Oskar Ripplein und Erich Tänzer – allesamt Figuren, die auf echte Personen einer tatsächlich erlebten Kirchheim-Episode Hesses zurückgehen.Footnote 374 In der Erzählung sind die fünf jungen Männer verzaubert von der schönen Lulu, die im Gasthaus „Zur Königskrone“ als Wirtin arbeitet (KL 257), und sie versuchen in teils chaotischen Szenen, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Die Wirkung des Mädchens aber scheint aus einer anderen Sphäre herzurühren, da den Studenten Karl Hamelt schon vor ihrer Begegnung „ein seltsam phantastischer Traum“ heimsucht (KL 254): Im Traum liest er aus einem Buch „in völlig fremder Sprache“ und erfährt von einer „sehr alte[n], wahre[n] Geschichte“ der „Prinzessin Lilia“, welche zum letzten Mal auf der „Harfe Silberlied“ spielt (KL 255), bevor ihr Königreich unter der bösen Macht der „Hexe Zischelgift“ zerfällt (KL 256). Jede Figur aus der kryptischen Märchenvision erhält in der folgenden Geschichte ihren Doppelgänger im profanen Kirchheim: Die Prinzessin korreliert mit der anziehenden Lulu; die Hexe Zischelgift ist ihre böse „Stiefschwester“ (KL 260) alias die Wirtin Frau Müller; und eine besondere Rolle erhält der Philosoph Drehdichum, der im Märchen als „Geist Haderbart“ auftritt und für den Kirchheimer Freundeskreis zum Vermittler geheimer Wahrheiten wird (KL 256). Für die Hauptfigur Hermann Lauscher, die ebenfalls von der „Harfe Silberlied“ dichtet, endet die Erzählung schließlich in einer „Entsagung“ (KL 283): Er erkennt „die hoffnungslose Albernheit“ seiner unerwiderten Liebe und entscheidet sich zur Abreise, die mit einem Fest im Wirtshaus zelebriert wird (KL 277). Auf dieser Feier schlüpfen Drehdichum und Lulu für ein Theaterstück in ihre Doppelgängerrollen Haderbart und Prinzessin Lilia, woraufhin sie aus dem Wirtshaus verschwinden und der Text endet.

Trotz der stilistischen Unterschiede zeigt sich mit Blick auf das Modell Romantik, inwiefern die beiden Erzählungen Inseltraum und Lulu gerade im Aspekt des Romantischen eine starke Kontinuität aufweisen. Wieder geht es in Lulu um ein „Wesen der Schönheit“, das den Dichter aus einer weltentrückten Sphäre heraus mit der eigenen Sehergabe konfrontiert. Statt einer mythischen Idylle ist es diesmal das romantische Märchen von der „Quelle Lask“, das die „Spaltung eines einheitlichen Wesens“ allegorisch vorführt und demzufolge Schönheit, Güte und Wahrheit einst „tief im Schoß der Erde eins und gemeinsam“ waren (KL 270). Mittlerweile aber sei dieses Königreich untergegangen, und die Aufgabe des Textes liegt in der Wiederherstellung einer verlorenen Schönheit, symbolisch übersetzt: in der „Erlösung der Prinzessin Lilia“ (KL 270). In ihrer Modelloperation – einer Aufhebung der Fragmentierung durch den Kontakt zur reinen Schönheit – sind der Inseltraum und Lulu damit ähnlich angelegt; nur erzählt die avanciertere Lulu-Geschichte dieses Problem parallel auf zwei Ebenen: zum einen im Märchen um die Quelle Lask, zum anderen im realistischen Kirchheim. Der Schlüssel, mit dem die Entwurzelung von der Schönheit auch in der Welt aufgehoben werden kann, liegt in der Doppelgängerfigur Lulu: „Sie ist die blaue Blume“, erklärt der Philosoph Drehdichum deutlich, „deren Anblick der Seele die Schwere und deren Duft dem Geist die spröde Härte nimmt“ (KL 270). Blickt man also die lebensweltliche Lulu an, erhält man damit Zutritt zu einer verborgenen Sphäre der Schönheit, Güte und Wahrheit, die hinter der Fassade der Wahrnehmung schlummert.

In ihrem Ansatz operiert dieses Programm durchaus nah an der historischen Romantik. Der alte Drehdichum, ein Grenzgänger zwischen den Sphären und als Philosoph im Besitz einer tieferen Wahrheit, bringt es in einer poetologischen Waldszene vor dem Dichterkreis auf den Punkt:

Die Dichter neigen auch heute noch mehr als andere Menschen zu dem Glauben, daß im Schoß des Lebens gewisse ewige Mächte und Schönheiten halbschlummernd liegen, deren Ahnung durch die rätselhafte Gegenwart zuweilen hindurchschimmert wie ein Wetterleuchten durch die Nacht. Dann ist ihnen, als seien das ganze gewöhnliche Leben und sie selber nur Bilder auf einem gemalten hübschen Vorhang, und erst hinter diesem Vorhang spiele das eigentliche, das wahre Leben sich ab. (KL 267)

Dass sich hinter einem Schleier zu Saïs erst das „eigentliche, das wahre Leben“ verberge, das nur gelegentlich „wie ein Wetterleuchten durch die Nacht“ scheine, passt zu den romantischen Texten und spielt direkt auf Novalis’ Lehrlinge zu Saïs an. „Diese schwärmerische Lehre“, wendet Oskar Ripplein entsprechend kritisch ein, „ist vor hundert Jahren von den sogenannten Romantikern gepredigt worden […]. Man hört in den Schulen noch davon reden als von einer glücklich überwundenen Dichterkrankheit, und heute träumt längst kein Mensch mehr so“ (KL 267). Der Romantik-Kritik Rippleins wird aber sofort widersprochen: Karl Hamelt rügt den Einwand als „langweilige Rede[]“ eines „Gehirnmenschen“ und „Schlaumeier“, wie es sie auch vor hundert Jahren schon gegeben habe (KL 267). Romantik ist für diesen Text vielmehr, und das validiert die histoire, ein altes, vorrationales Prinzip von transhistorischer Gültigkeit.

Der Knackpunkt, an dem sich die historische Romantik und Hesses Lulu aber unterscheiden, liegt in der Frage begründet, wie der Schleier zu Saïs gelüftet werden kann. In Lulu schöpfen die Dichter aus ihrem „Unbewussten“ (KL 281) und stoßen dort auf ein Ur-Lied, das sich bei jedem dichterischen Individuum auf wunderbare Weise gleicht. Hamelt träumt von der Quelle Lask; Drehdichum verflucht die Hexe Zischelgift; und auch Lauschers handschriftlichen Verse von der Harfe Silberlied stellen sich „in unbeschreiblicher Weise“ als ein Portrait der „schöne[n] fremde[n] Lulu“ heraus (KL 263). Ein Ur-Märchen kehrt also auf wunderbare, nicht aufzuklärende Weise bei verschiedenen Dichtern im Unterbewusstsein wieder, und erneut erklärt der Philosoph Drehdichum dieses Prinzip:

Wenn man sich mit der Geschichte der Seele und ihrer Erlösung viel beschäftigt hat, kennt man ähnliche Fälle ohne Zahl. Es gibt von der Geschichte der Prinzessin Lilia mehrere, stark variierende Fassungen; sie spukt vielfach entstellt und verändert durch alle Zeiten und liebt namentlich die bequeme Erscheinungsform der Vision. (KL 270)

Hinter dem Schleier zu Saïs liegt im Lulu-Text also das Märchen von der ‚Harfe Silberlied‘ verborgen: eine universelle Allegorie auf die Schönheit, auf die sich in Visionen, Träumen und Dichtungen transindividuell zugreifen lässt. Wo die Romantiker um 1800 die Subjektivität jeder möglichen Wahrheit nicht überschreiten, fungiert das Märchen um die Quelle Lask als eine verschlüsselte Wahrheit über die Figurenwahrnehmung hinaus. Das romantische Märchen ist in der Lulu-Erzählung ein ontologisches Wunder: Hinter dem Schleier liegt eine märchenhafte Welt, die sich von jedem Dichter auf ähnliche Weise betreten lässt und immer dieselbe Geschichte erzählt.

Damit besitzt auch diese Erzählung keine romantische Kippfigur, wenn es um die Existenz einer wunderbaren Sphäre des Märchens, der Schönheit und der unbewussten Wahrheit geht. Etwas Wunderbares lauert hinter der alltäglichen Wahrnehmung, und erst die „wunderlich krausen Redensarten und halb ironischen Grimassen Drehdichums“ eröffnen den Zugang zu dieser Sphäre (KL 270). Ironie fungiert hier als eine notwendige Schwierigkeit im Erkenntnisprozess, genauer: sie evoziert keine ewige Selbstreflexion, sondern verstellt als Mittel der produktiven Verrätselung den Weg zur Erlösung. Zur Synthese kommt es schließlich im szenischen Spiel auf der Bühne, als Lulu in der Rolle der Prinzessin Lilia zu einem „Lied von unerhörter Seligkeit und Harmonie“ anhebt (KL 287). Dieses Schauspiel, in dem sich die Schönheit für einen kurzen Moment realisiert, wird von Drehdichum folgendermaßen angekündigt:

Wäret ihr Philosophen, so würde ich euch eine schöne allegorisch-mystische Geschichte von der Wiedergeburt des Schönen und speziell von der Erlösung des poetischen Prinzips durch die ironische Metamorphose des Mythus erzählen, welche Geschichte heute ihr seliges Ende erfährt. So aber tue ich besser, euch den zu lösenden Rest dieser Geschichte in angenehmen Bildern vor Augen zu führen. (KL 285)

Eine philosophische Variante der Lulu-Geschichte wäre damit der Inseltraum: die Allegorie der „Wiedergeburt des Schönen“ mit mythischen Symbolen, wobei das genuin Ironische an der „Metamorphose des Mythus“ laut Drehdichum in der Verrätselung einer prinzipiell entschlüsselbaren Welt liegt. Der Lulu-Text hingegen endet mit einer literarischen Ekphrasis nach E.T.A. Hoffmann, die genau dasselbe Prinzip in einer bildhaften Beschreibung als „zu lösenden Rest“ eines Rätsels vorführt.

Neben der inkohärenten Erzählerfigur gibt es aber schlussendlich noch ein Moment, das den gesamten Text in eine Schleife von Behauptung und Widerruf nach romantischem Muster verstrickt. Bevor Hermann Lauscher sich für seine Entsagung entscheidet, kommt ihm auf seinem Zimmer plötzlich eine ironische Erkenntnis:

[D]as alles kam ihm nun vor, als wäre er und wären die andern lauter Traumgestalten eines phantasierenden Humoristen oder Figuren einer grotesken Sage. In seinem schmerzenden Haupte stieg die Vorstellung auf, dieses ganze Durcheinander und er selbst und Lulu wären ohnmächtige, willenlose Fragmente aus einem Manuskripte des alten Philosophen, hypothetische, versuchsweise kombinierte Teile einer unvollendeten ästhetischen Spekulation. (KL 277)

Textgenetisch legt diese Formulierung die Hypothese nahe, dass manche Aspekte der zunächst „unvollendeten“ Erzählung nachträglich von Hesse eingefügt wurden.Footnote 375 Nimmt man die Stelle dennoch ernst, könnte auch „de[r] alte[] Philosoph[]“ Drehdichum die Erzählung verfasst haben. Hier weist Lauschers Metareflexion auf die Medialität der Geschichte hin, was die Episode wiederum als neoromantisches, künstliches Experiment markiert. Die Existenz einer märchenhaften Wundersphäre aber, das wesentlich ‚Wunderbare‘ an dieser Erzählung, wird weder durch diese Passage noch durch die Erzählstimme angegriffen: Sowohl Lauscher als auch Drehdichum partizipieren als potenzielle Marionettenmeister an einer „grotesken Sage“ bzw. an einem Märchen um die schöne Lulu, die ja wiederum das Ur-Lied aller reinen Schönheit darstellt. Um das Wunder des Märchens lässt sich in dieser pseudo-romantischen Hoffmann-Imitation nicht herumkommen.

Hesses Jugendwerk kreist damit sowohl im Inseltraum als auch im Kranz für die schöne Lulu um eine erhabene Schönheit als archimedischen Punkt der Synthese. Mithilfe des Modells von Romantik zeigt sich in beiden Texten die klar artikulierte Fragmentierung eines Dichters, dessen angeborener Sinn für Ästhetik im realistischen ‚Leben‘ befleckt oder verschüttet wurde. In beiden Varianten kommt es zu einer ästhetischen Erlösung, die aber kein goldenes Zeitalter auslöst, sondern Figuren und Bestimmungen zu ihrem Ausgangspunkt zurückführt. Ein Zeichen für diese zweigliedrige Organisation der Handlungsstruktur, die einer romantischen Triade entgegensteht, ist nicht zuletzt darin zu fassen, dass die erzählten Welten nach den Erlösungsszenarien ziemlich unbeeindruckt und gleich verbleiben. In Hesses neoromantischem Jugendwerk existiert damit eine wunderbare, gar mythische Sphäre der Schönheit, zu welcher die Dichter einst Zugang besaßen – und es braucht immer neue Erzählungen, um die verlorene Schönheit heraufzubeschwören.

3.3.4 Ironie des Lebens: Peter Camenzind (1904) als Überwindung des romantischen Problems

Die Frage, wie sich Hermann Hesse und sein Werk zur literarischen Moderne verhalten, entzündet sich auffällig häufig am Peter Camenzind.Footnote 376 Und das aus guten Gründen: Der Dorfjunge aus dem schweizerischen Nimikon, die Hauptfigur der Erzählung,Footnote 377 positioniert sich gegen das städtische Kunsttreiben und polemisiert über acht Kapitel vehement gegen „die ganze schäbige Lächerlichkeit der modernen Kultur“ (PC 87). Auf den ersten Blick also kann – und wurde – Peter Camenzind als rückwärtsgewandter Traditionalist beschrieben, der in Analogie mit dem Autor der literarischen Moderne um 1904 eine Absage erteilt. Möchte man also Hesse als modernen Schriftsteller rehabilitieren, dann setzt die Forschung in der Regel beim späteren Demian (1919) an. Erst mit dem Ersten Weltkrieg, so eine verbreitete Lesart, beginne Hesses Abwendung vom Traditionalismus und der konstruktive Blick auf politische Zeittendenzen.Footnote 378

Gleichzeitig wurde Hesses Camenzind aber nicht nur in konservativen Kreisen gelesen, sondern feierte zeitgenössisch innerhalb der harsch kritisierten Moderne einen großen Erfolg.Footnote 379 Die jüngere Forschung, die sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive neu für den Roman interessiert, vertritt in diesem Spannungsfeld zwei antagonistische Positionen. Auf der einen Seite stehen Lesarten, welche die erzählte Weltflucht und das Lebenspathos des Peter Camenzind für bare Münze nehmen. Mit Matthias Löwe vermissen sie, auf den Punkt gebracht, die erzählerische Ironie:

Man könnte auch diesen Schluss für defizitär halten, für irgendwie ironisch oder komisch. Gerade die Erzählform aber gibt eigentlich kaum Anlass dazu, denn Komik- und Ironiestrukturen sind Phänomene, die wesentlich auf Kontrastierung beruhen […]. Gerade ein solches komik- oder ironiekonstitutives Kontrastphänomen findet sich am Schluss des Peter Camenzind jedoch nicht, stattdessen bestätigt die Erzählform den Inhalt.Footnote 380

Gleichzeitig kündigen sich Gegenstimmen an. „Die Erzählhaltung ist […] Ironie, Verstellung“, so Peter Huber zum Camenzind,Footnote 381 und Ulrich Breuer spricht dem Roman immerhin einen „Humor“ zu, der textintern-motivisch zur „wichtigste[n], zugleich aber am besten versteckte[n] Figur der Erlösung“ wird.Footnote 382 Den Ironie-Begriff vermeidet Breuer, spricht dem Text aber zwei widerstreitende Deutungsmöglichkeiten zu: Die Leser können „die einzelnen Texte sozusagen tödlich ernst nehmen, oder sie können entspannt (bis indigniert) ihrem nachgerade protodadaistischen Humor folgen und ihn als Ausdruck einer frei schwebenden Subjektivität […] auffassen.“Footnote 383 Während er damit die Forschungslage adäquat spiegelt, votiert Breuer dafür, die humoristisch-modernistische Lesart als „angemessener“ zu bewerten.Footnote 384

Wie ironisch ist Peter Camenzind? Sollte sich in der Erzählung lediglich eine rhetorische Ironie nach dem Muster uneigentlicher Redewendungen finden lassen, ließe das – analog zum Humor – noch keine Rückschlüsse über den Romantikgehalt des Textes zu. Vielmehr muss die spezifisch romantische Ironie in den Blick rücken, die mit ihren selbstreferenziellen Verfahren am Beginn der (makrogeschichtlichen) Moderne steht.Footnote 385 Für eine Neoromantik der Jahrhundertwende ist der Text dabei rückwirkend von doppeltem Interesse: Nicht nur reflektiert er in zahlreichen Motiven der Romantik das eigene neo- bzw. neuromantische Frühwerk seines Autors; auch folgt er dem geradezu zeittypischen Impuls, eine modische ‚Neuromantik‘ selbst zu überwinden, die ihr symbolisches Kapital um 1904 gerade flächendeckend verspielt hat. Der Titel des Kapitels deutet die These bereits an: Peter Camenzind zeigt sich unter diesem Fokus nicht nur als Werk auf der Höhe des Diskurses, sondern verfolgt auch ein innovatives Erzählverfahren, mit dem die Ironie der Romantik unter Beibehaltung gewisser Effekte eingedämmt wird. Wie genau sich der Text zur romantischen Ironie und zur „Romantik der Boheme“ (PC 90, sic) verhält, gilt es mithilfe des Modells von Romantik zu klären.

Wieder einmal muss zuerst auf eine grundlegende Formentscheidung des Textes hingewiesen werden. Auch wenn der Roman gerne werkbiographisch oder autorenpsychologisch ausgelegt wird,Footnote 386 handelt es sich zuallererst um einen Text nach dem Muster der Rollenprosa. Das ist nicht Hesse, der im Romantext als personaler Erzähler spricht, sondern Peter Camenzind: ein sonderbarer Dorfjunge aus dem schweizerischen Oberland, der die Berge liebt und mit einem kräftigen Körper sowie einem Talent zum „Jodeln“ ausgestattet ist (PC 38). Interessanterweise liefert der Roman eine geradezu antonyme Kontrastfolie zum Prosawerk von Hanns Heinz Ewers: Wo bei Ewers die Autofiktion eingeflochten wird, um wunderbare Ereignisse durch den Autorenblick zu authentifizieren, bleibt die Camenzind-Figur mit ihren realistischen, völlig unphantastischen Welterfahrungen stets in markierter Distanz zur Autorfigur Hesse. Natürlich darf man den Text aus heutiger Sicht auch biographisch als verschlüsselte „Selbstprogrammierung des Autors“ auslegen;Footnote 387 aus kulturwissenschaftlicher Perspektive aber ist die Markierung und Semantisierung einer Rolle des Dörflers interessanter, die weniger auf Hesse als Einzelautor denn auf einen kulturellen Typus mit Sonderlingstatus abzielt.Footnote 388 In einem fast trivialen Aspekt, der bei diesem Roman erstaunlich selten ernstgenommen wird, ist Peter Huber also zuzustimmen: „Figuren- und Autorenperspektive sind zu trennen und sind auch getrennt. […] Hesse teilt in seinem Erstlingsroman keineswegs die Ansichten seiner Titelfigur.“Footnote 389

Mit Blick auf diese spezifische Form der Rollenprosa, die Moritz Baßler als „Routines“ bezeichnet,Footnote 390 fallen auch die Merkwürdigkeiten ins Auge, welche die Figur Peter Camenzind auf der Folie des kulturellen Wissens idiosynkratisch markieren. Von dörflicher Heimat und von den Alpen zu schwärmen, widerspricht den Konventionen der zeitgenössischen Moderne: Camenzind kennt weder Nietzsche noch Wagner, wie sich im Kontakt mit der literarischen Gesellschaft in Zürich herausstellt;Footnote 391 bei einer Bergwanderung aber kann er durch seinen Jodelgesang begeistern. „[S]ie wissen ja selber gar nicht, was für ein beneidenswert unverdorbener Mensch Sie sind und wie wenig solche es gibt“ (PC 40), lobt ihn seine Jugendliebe Richard und bringt damit das Besondere der Camenzind-Rolle auf den Punkt. Der Hang zur exotischen Fallstudie, die im Routines-Verfahren angelegt ist, findet sich damit auch hier realisiert. Nur bürgt in diesem Fall kein reisender Dandy oder nervöser Ästhet für Exotik, sondern ein bäuerlicher Junge aus dem Oberland, der mit den literarischen Zirkeln der Moderne qua Geburt nichts zu tun hat. Dass diese Rolle im Peter Camenzind als Fall bzw. als Milieustudie dargestellt wird, darin liegt eine formale Innovation des Textes. Peter als Erzähler ist also keine ‚moderne‘ Figur, doch im Verfahren operiert der Roman mit den Mitteln der zeitgenössischen ‚Moderne‘.

Analog dazu lässt sich dieses Urteil auch auf die Romantik-Motive der Erzählung übertragen. Die Erzählposition des Camenzind steht weniger in einer romantischen Tradition, die mit ihrem Hang zu Rahmenstrukturen und Gattungsmischungen heterodiegetische Erzähler präferiert, denn in der kohärent subjektivistischen Rollenprosa der Jahrhundertwende. Camenzind als Figur hingegen, daran lässt der Text keinen Zweifel, ist von Natur aus Romantiker. Schon das erste Kapitel führt seine drei Lieblingsmotive vor, die ihn zwangsläufig zum Romantischen führen: die Berge, der Föhn und die Wolken.Footnote 392 In seiner ersten Bergwanderung wird Camenzind selbst zum Wanderer über dem Nebelmeer: „Tiefgerissene Schluchten, voll von Eis und Schneewasser, grüngläserne Gletscher, scheußliche Moränen, und über allem wie eine Glocke hoch und rund der Himmel“ (PC 17) – entlang der Bildmotivik Caspar David Friedrichs beschreibt Camenzind die „Schrecken und Schönheit der Berge“, deren leicht verständliche Natursprache der Dorfjunge sogar in direkte Rede übersetzen kann („‚Wir haben Schauerliches gelitten‘, sagten sie, ‚und wir leiden noch“, PC 7).

Noch mehr Romantik steckt im Motiv des „Föhnfieber[s]“, jenem Frühlingswind, der „in der Föhnzeit die Menschen der Bergländer und namentlich die Frauen überfällt, den Schlaf raubt und alle Sinne streichelnd reizt“ (PC 13). Camenzind beginnt in seiner Jugend, den Wind als „Ewigjungen“ zu affirmieren und ihn sogar als Vermittler einer ungebrochenen „Sprache Gottes“ wahrzunehmen:

Wenn einer in den Bergen heimisch ist, der kann jahrelang Philosophie oder historia naturalis studieren und mit dem alten Herrgott aufräumen, – wenn er den Föhn wieder einmal spürt oder hört eine Laue durchs Holz brechen, so zittert ihm das Herz in der Brust, und er denkt an Gott und ans Sterben. (PC 13)

Mit dem philosophischen Studium und der „historia naturalis“ zeigt sich die Folie, von der sich der dörfliche Blick abhebt. Das erzählende Ich, das zu einem späteren Zeitpunkt auf sein erlebendes Ich zurückblickt, weiß bereits um die Möglichkeiten, welche eine rationalistische Wissensgesellschaft anzubieten hat. Im Föhnfieber seiner Kindheit aber beschreibt Camenzind aus späterer Perspektive ein sensualistisches Erkenntnisprinzip, das er gegen einen wissenschaftlichen Status Quo aufwertet. Überhaupt scheint das Wind- bzw. Sturm-Motiv zur Jahrhundertwende, obwohl es in der historischen Romantik eine zweitrangige Rolle spielt, seine Konnotationen mit einer romantischen ‚Bewegung‘ erst richtig auszuprägen bzw. nachträglich herzustellen.Footnote 393

Camenzinds „Lieblinge“ aber, und damit wird das dominante Motiv eingeführt, sind die Wolken. „Zeigt mir in der weiten Welt den Mann, der die Wolken besser kennt und mehr lieb hat als ich!“, ruft Camenzind dem Leser entgegen (PC 15), und in seiner Wolkenvernarrtheit lassen die folgenden Passagen keinen Zweifel über den Romantik-Gehalt sowohl der Wolken als auch des Dorfjungen:

Sie schweben zwischen Gottes Himmel und der armen Erde als schöne Gleichnisse aller Menschensehnsucht, beiden angehörig – Träume der Erde […]. Sie sind das ewige Sinnbild alles Wanderns, alles Suchens, Verlangens und Heimgebehrens. Und so, wie sie zwischen Erde und Himmel zag und sehnend und trotzig hängen, so hängen zag und sehnend und trotzig die Seelen der Menschen zwischen Zeit und Ewigkeit. (PC 16)

Aus der Perspektive des jungen Camenzinds steckt in allen Menschen etwas Romantisches: Die „Seelen der Menschheit“ kleben sehnsüchtig zwischen Himmel und Erde, und in den Wolken spiegele sich eine anthropologische Sehnsucht, die ständig zu einer heimatlichen Zugehörigkeit strebt. Nur Camenzind kann dieses große Gleichnis auf den menschlich-romantischen Gefühlshaushalt erkennen, da er durch eine natürliche Anlage zum Wolkenspezialisten geboren wurde: „Ich […] wusste nicht“, so das erzählende Ich unverblümt, „dass auch ich als eine Wolke durchs Leben gehen würde – wandernd, überall fremd, schwebend zwischen Zeit und Ewigkeit.“ (PC 16) Als Ausgezeichneter kann Camenzind hier mit seinem besonderen Blick punkten; zugleich aber bleibt die Erkenntnis an die Sichtweise des Erzählers gebunden, der aus seinem subjektiven, fast fanatischen Hang zu den Wolken keinen Hehl macht.

Peter Camenzind ist also Spezialist für alles Romantische – allerdings nicht als literarische Tradition oder gar als ‚neuromantische‘ Mode, sondern vielmehr in Form einer vorkulturellen Prägung. Denn ganz Nimikon – und speziell die Camenzind-Sippe – ist melancholisch veranlagt, wie Breuer systematisiert hat.Footnote 394 Verantwortlich hierfür sind laut Text einerseits eine genetische Anlage, andererseits die bergige und windige Topographie des Dorfes. Romantik ist hier Konstituens einer natürlichen Sozialisation, aus der sich eine literarische Vorliebe erst nachgeordnet und folgerichtig entwickelt. Den Einstieg in die Literatur findet Camenzind entsprechend – wie so viele Figuren der Jahrhundertwende – über Heines Buch der Lieder, das ihm selbst zum Anlass eines „lyrische[n] Schwärmens“ wird (PC 24). Es folgen „Lenau, Schiller, dann Goethe und Shakespeare“ (PC 24), und in dieser Literatur entdeckt Camenzind nun einen neuen Weltenschlüssel:

Das Göttliche und Lächerliche alles Menschenwesens ging mir auf: das Rätsel unseres zwiespältigen, unbändigen Herzens, die tiefe Weisheit der Weltgeschichte und das mächtige Wunder des Geistes, der unsre kurzen Tage verklärt und durch die Kraft des Erkennens unser kleines Dasein in den Kreis des Notwendigen und Ewigen erhebt. (PC 24)

In Camenzinds Lektüre lässt sich das wiederkehrende Formprinzip des Textes greifen: Durch einen äußeren Impuls, hier: der Literatur, eröffnet sich ihm eine metaphysische Erkenntnis, die allerdings von seinen vorherigen Anschauungen nicht wesentlich abweicht. Ein „Rätsel unseres zwiespältigen, unbändigen Herzens“, das der junge Peter in den Büchern findet, verträgt sich ausgezeichnet mit seiner vorherigen Wolkentheorie („zwischen Gottes Himmel und der armen Erde“, s. o.), aber auch mit seinen frühen Betrachtungen der eigenen Verwandtschaft. Vor allem am Vater und am Oheim Konrad, der als genialer Narr beschrieben wird, analysiert Peter ein Prinzip des dualistischen, widersprüchlichen Schwankens, „ein dauerndes Hin und Her zwischen Bewunderung und Verachtung“ (PC 10), das als Universalformel nahezu jeder Erkenntnis im Peter Camenzind eingeschrieben ist. Auch am Gegenstand der Literatur geht ihm entsprechend „[d]as Göttliche und Lächerliche alles Menschenwesens auf“, und obwohl man als Leser diese universale Ambiguität zwischen Prediger und Narr mehrmals vorgeführt bekommt, wird sie vom Erzähler immer wieder als bahnbrechende Erkenntnis postuliert.

Die Dynamik des Textes verdankt sich dem Umstand, dass Peter seiner Diagnose selbst prototypisch unterliegt. Denn nach jeder Emphase des Erzählers, wie hier der Heine- und Shakespeare-Lektüre, folgt die närrische Ernüchterung. Peters romantische Ahnung, auch er sei „vielleicht ein Seher“ und könne „den Schleier des Zufälligen und Gemeinen […] durch Dichterkraft“ erlösen, wird bezeichnenderweise durch die Lektüre „Gottfried Keller[s]“ vernichtet (PC 25), dessen Werke ihm zufällig in die Hände fallen und die er mehrmals verschlingt.

Da sah ich in plötzlicher Erkenntnis, wie fern meine unreifen Träumereien der echten, herben, wahrhaftigen Kunst gewesen waren, verbrannte meine Gedichte und Novellen und blickte nüchtern und traurig mit peinlichen Katzenjammergefühlen in die Welt. (PC 25)

Auf die Romantik folgt die Ernüchterung des Poetischen Realismus: Der gefundene Weltenschlüssel muss sich einer entlarvenden Prüfung durch Gottfried Keller unterziehen, woraufhin die romantische Ahnung nur als peinliche Episode verbleibt. In dieser Abfolge bildet der Text ein rekurrentes Erzählmuster aus: Wiederholt werden sensualistisch erahnte Universalprinzipien proklamiert, um in einer anschließenden Konfrontation mit der ‚Wirklichkeit‘ durchgestrichen zu werden. So taucht Camenzind exemplarisch in die literarische Gesellschaft von Zürich ein, um sich dort neugierig mit der „geistige[n] Internationale[n]“ zu beschäftigen (PC 41); doch bei einer Wanderung durch Italien wird ihm bald seine ganze „Geringschätzung der aufgeblasenen Großstadtmoderne“ bewusst (PC 97). Realistische Erlebnisse wie auch realistische Autoren – neben Gottfried Keller lesen Camenzind und Boppi auch Jeremias Gotthelf (PC 112)Footnote 395 – überschreiben die romantischen Weltdeutungen, deren vermeintliche Erkenntnisse durch realistische Blicke ebenso vernichtet werden wie Camenzinds frühe Gedichte.

Stilistisch sucht der Oberländer die allgemeine Verständlichkeit, sodass er sein handlungskonstituierendes Programm auch offen ausstellt: „Es ist nun einmal so: Das Leben liebt es, neben ernste Ereignisse und tiefe Gemütsbewegungen das Komische zu stellen.“ (PC 112) Erst ernsthaft, dann komisch: In dieser Erzählfolge übersetzt sich die Ambiguität von Prediger und Narr, die Camenzind als Universalgesetz erkennt, auch in die Handlung, die sich von romantischen Ahnungen zu realistischen Ernüchterungen fortschreibt. Nicht der Humor allein fungiert damit als eine „Figur der Erlösung“ des heimatverlorenen Camenzinds, wie Breuer festgestellt hat, sondern erst die sukzessive Abfolge von tiefer Erkenntnis und humoristischer Brechung – und wieder von vorn – komplettiert das Handlungsprinzip des Romans.Footnote 396

Handelt es sich bei dieser Strategie nun um eine „Kippfigur zwischen Behauptung und Widerruf“, die den gesamten Text postwendend – und mit Peter Huber – als eine ironische Erzählung nach dem Modell Romantik ausweist?Footnote 397 Gegen eine solche Lesart spricht auf den ersten Blick die sukzessive Zeitlichkeit der Handlung. Das Romantische im Text wird, simultan mit dem Predigerton des Anfangs,Footnote 398 als die sujetlose Ebene, das Entlarvend-Närrische zusammen mit dem Realismus aber als sujethafte Ebene markiert.Footnote 399 Zu Beginn ist Camenzind Romantiker, am Ende dann (Poetischer) Realist. Diese Entwicklung wird mit zahlreichen intertextuellen Verweisen inszeniert: In seiner „Jugendzeit“ stellt sich Camenzind noch, aus seiner retrospektiven Erzählposition heraus, als ein prototypischer Romantiker dar.

Gleich einem jungen Krieger, der am blühenden Waldrand rastet, lebte ich in seliger Unruhe zwischen Kampf und Getändel; und wie ein ahnungsvoller Seher stand ich an dunklen Abgründen, dem Brausen großer Ströme und Stürme lauschend und die Seele gerüstet, den Zusammenklang der Dinge und die Harmonie alles Lebens zu vernehmen. (PC 36)

Ein „ahnungsvoller Seher“ an dunklen Abgründen: Das ist im Vokabular des Romantik-Experten Hesses ein junger Novalis mit Blick auf das Friedrich’sche Nebelmeer, wobei auch die Prägung von Ricarda Huchs einschlägiger Monographie in der Kriegermetaphorik durchscheint.Footnote 400 Auffällig ist in den Jugendkapiteln, dass Peter Camenzind das Wort ‚Romantik‘ für seine Suche nach dem Naturschlüssel nicht verwendet – fast meidet der Text das Lexem, um eine natürliche Disposition zur Romantik von der literarischen Tradition oder modisch-kulturellen Prägung zu unterscheiden.

Als Begriff taucht die Romantik erst in abwertender Funktion am Tief- und Wendepunkt der Erzählung auf, nachdem Camenzind völlig ausgelaugt das literarische Paris verlässt. „Der Sinn für die Romantik der Boheme ist mir seither abhanden gekommen“, formuliert das erzählende Ich, „und ihr müßt mir erlauben, daß ich mich an das Reinliche und Gute halte, das doch auch in meinem Leben war“ (PC 68). Nicht die historische Romantik, sondern der neoromantische Modetrend wird hier angeklagt, von dem sich Camenzind als Dorfromantiker und späterer Realist auf das Schärfste abgrenzt. Die Neoromantik treibt ihn sogar an den Rand des Selbstmordes: Gegen „ein fades Ästhetengeflunker“ (PC 60), das er in den literarischen Gesellschaften der Städte beobachtet, empfindet er jetzt tiefste Abneigung,Footnote 401 und an einzelnen Künstlerfiguren, allen voran einem damals vielversprechenden „Norddeutsche[n]“ (PC 59), führt er spöttisch vor, wie dieser sich „durch lauter Chopinmusik und präraffaelitische Ekstasen systematisch um den Verstand“ gebracht hat (PC 60).Footnote 402 Mit einigem Textaufwand illustriert Camenzind, dass die neoromantische Moderne zurzeit einem falschen Zauber aufsitzt:

An dies halbflügge Volk seltsam gekleideter und frisierter Dichter und schöner Seelen kann ich mich nur mit Grauen und Mitleid erinnern, da ich erst nachträglich das Gefährliche dieses Umgangs einsah. Nun, mich bewahrte mein Oberländer Bauerntum davor, an dem Tummel teilzunehmen. (PC 60)

Wieder ist es das „Oberländer Bauerntum“, das Camenzind als romantische Natur vor einer städtischen Moderomantik schützt. Im Aufeinanderprallen dieser Welten entstehen zugleich die humoristischen Szenen des Romans: Dem angesagten Frauentypus der femme fragile, wie ihn Erminia Aglietti repräsentiert, kann Peter zunächst nichts abgewinnen, erinnert ihn ihre bleiche Haut doch „schlechterdings an Gorgonzola“ (PC 45).Footnote 403 Zugleich aber versteht der Romantik-Experte Camenzind die Neoromantik aus einer „unverdorben[en]“ Perspektive heraus (PC 60), sodass er auch eine kulturgeschichtliche Interpretation des Modetrends anbietet:

Zuweilen fiel mir auf, eine wie große Sehnsucht in allen diesen Seelen von heute nach Erlösung schrie und was für wunderliche Wege sie sie führte. An Gott zu glauben, galt für dumm und fast für unanständig, sonst aber wurde an vielerlei Lehren und Namen geglaubt, an Schopenhauer, an Buddha, an Zarathustra und viele andere. […] Im Grunde war mir die ganze krampfhafte Komödie amüsant und lächerlich, doch fühlte ich oft mit sonderbarem Schauder, wieviel ernste Sehnsucht und echte Seelenkraft darin flammte und verloderte. (PC 59)

Camenzind erkennt eine „ernste Sehnsucht“ als Wesenszug seiner Zeit, die aufgrund einer theologischen Leerstelle in den Subjekten entstehe. Mit Zarathustra und anderen werden Götzen auf den Thron gehoben, die in ihrer Vergänglichkeit und Pluralität keine Befriedigung gewährleisten. Camenzind selbst zeigt sich nur phasenweise als gottesgläubig, scheut aber nicht davor zurück, das Paradigma Gott aufzurufen – was mit obiger Stelle als anachronistische Eigentümlichkeit markiert ist.Footnote 404

Peter Camenzind interpretiert seinen Lebensweg somit über drei intellektuelle Stationen: Zuerst war er ein romantischer „Bauer“ (PC 37),Footnote 405 dann kurzzeitig – und unter Qualen – Neoromantiker in der Stadt, und im letzten Drittel entwickelt er sich in Schwellenorten (Basel, Assisi, Handwerksfamilie nahe der Stadt) zum Poetischen Realisten. Noch zu wenig ist die Bedeutung von Gottfried Kellers Grünem Heinrich für den Roman herausgearbeitet worden:Footnote 406 Neben den zahlreichen Lektüreszenen in Kellers Werk – so liest Camenzind mit Boppi neben dem „Grünen Heinrich“ auch „die Seldwyler“ wie den „Schmoller Pankraz“ (PC 116) – bezeichnet er sich selbst einmal als „ich grüner Peter“ (PC 37). Dabei zeigt auch die Textform, dass sich Camenzind im Laufe des Romans mehr und mehr für den Keller’schen Realismus entscheidet, der schließlich durch den retrospektiven Erzähler zur Formdominante wird. Hesse hat den Grünen Heinrich bis dahin nur in der zweiten Version gelesen (1879/80), die (ebenso wie der Camenzind) ausschließlich aus der Ich-Perspektive erzählt wird.Footnote 407 Der Unterschied zwischen dem realistischen Erzähler bei Keller und Hesses Rollenprosa aber lässt sich greifen: Heinrich Lee ist eben kein Sonderling aus einem als exotisch markierten Milieu, sondern ein identifikationstaugliches Subjekt, dessen Bildungsweg durch einen Vaterverlust vorbelastet, nicht aber durch topographische oder genealogische Anlagen determiniert ist. Kurz: Heinrichs Lebenslauf ist ubiquitär anschlussfähig, Peters Sonderweg aber lässt sich als Einzelfallstudie nicht wiederholen. In zahlreichen Aspekten, so auch in der Form des Bildungsromans, kann Peter Camenzind als Aktualisierung des Grünen Heinrichs in seiner zweiten Version gelesen werden.Footnote 408 Zudem unternimmt auch Heinrich Lee eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen, jugendlichen Romantik, die ihn schließlich – in der zweiten Version – in ein bescheidenes Leben und in ein anspruchsloses Amt überführt.

Verpflichtet sich der Roman damit einer anderen Tradition, nämlich dem Poetischen Realismus, um das Romantische und seine Ironie – zugunsten von realistischer Verklärung und Entsagung – abzuschütteln? Zwar sind die harschen Angriffe gegen die Ironie nicht zu überlesen,Footnote 409 und tatsächlich entsagt Peter Camenzind am Ende seiner dichterischen Berufung in realistischer Manier.Footnote 410 Eine andere These aber wird dem Text gerechter: Die modische Neoromantik wird durchgängig abgewertet, Camenzinds ‚echte‘ Romantik aber und sein spät gefundener Realismus bleiben am Ende des Romans gleichberechtigt und paradoxal nebeneinander stehen. Der Schluss sowie die Position des Erzählers geben Hinweise darauf, dass Camenzinds Entscheidung zur Heimkehr keineswegs kontrast- und ironiefrei als Happy Ending der Erzählung inszeniert wird.

Wie genau ist das Textende zu deuten? In einem bemerkenswerten Fazit summiert der erzählende Camenzind, der sein erlebendes Ich nur scheinbar eingeholt hat, im letzten Kapitel noch einmal seine Erfahrungen:

Wenn ich nun meine Fahrten und Lebensversuche beschaue und überdenke, freut und ärgert es mich, die alte Erfahrung auch an mir erlebt zu haben, daß die Fische ins Wasser und die Bauern aufs Land gehören und daß aus einem Nimikoner Camenzind trotz aller Künste kein Stadt- und Weltmensch zu machen ist. Ich gewöhne mich daran, das in der Ordnung zu finden, und ich bin froh, daß meine ungeschickte Jagd um das Glück der Welt mich wider Willen in den alten Winkel zwischen See und Bergen zurückgeführt hat, wo ich hingehöre und wo meine Tugenden und Laster, namentlich aber die Laster, etwas Ordinäres und Hergebrachtes sind. […] Hier fällt es niemand ein, einen Sonderling in mir zu sehen, und wenn ich meinen alten Papa oder den Onkel Konrad betrachte, komme ich mir wie ein ordentlich geratener Sohn und Neffe vor. (PC 132)

Namentlich aber die Laster: Ohne Frage kann sich Peter mit seiner Zugehörigkeit zum Dorf arrangieren, doch die Bewertung dieser konservativen Wende bleibt im Text ambivalent. Camenzind „freut und ärgert“ sich zugleich, er gewöhnt sich „wider Willen“ an eine natürliche Ordnung, und seinen Sonderlingsstatus, der ihn im Kontext der literarischen Moderne interessant macht, gibt er in einem freiwilligen Entsagungsakt auf. Besonders betont er dabei, dass es „namentlich aber die Laster“ sind, die sich im Dorfleben zur Normalität ausprägen werden. Und so endet der Held der Erzählung auf geradezu tragische Weise als Trinker: Seinem exzessiven Hang zum Alkoholismus, den Camenzind vom Vater geerbt habe, darf und wird er nun als Schankmeister des örtlichen Wirtshauses uneingeschränkt frönen. Im gesamten Roman beißt sich seine Trinksucht auf sonderbare Weise mit den dichterischen oder amourösen Ambitionen, die mit diesem Ende allesamt unerfüllt bleiben. Und nun leitet der alleinstehende Camenzind ausgerechnet ein Wirtshaus, statt – wie Heinrich Lee – wenigstens im Gemeinderat zu arbeiten oder eben Dichter zu werden.Footnote 411 Schließlich haben mit dem Realismus auch die zwei schlechtesten Eigenschaften Peter Camenzinds gewonnen: eine angeborene Faulheit und die Trinksucht.

Ein schönes Beispiel für das ambivalente Finale des Textes zeigt sich in dem Unternehmen, das Dach des väterlichen Hauses zu reparieren. Matthias Löwe führt Camenzinds Flickversuch als versöhnende Strategie mit den Vorfahren und dem Dorfleben an – als Handwerk „gegen die ‚transzendentale Obdachlosigkeit‘ der Moderne“.Footnote 412 Doch Camenzind, daran lässt der Text keinen Zweifel, kann gar nicht vernünftig handwerkeln. Schon der erste Ansatz misslingt: „Also zerschliß ich mir meine weichen Schreiberhände am widerspenstigen Holz, trat den wackligen Schleifstein, kletterte auf dem allenthalben undicht gewordenen Dach umher, nagelte, hämmerte, schindelte und schnitzte“ (PC 131). Ein Handwerkstalent, so weiß man aus den ersten Kapiteln, war ihm nie gegeben, und so lässt sich auch nicht darauf hoffen, dass sich seine zwei linken Hände in Zukunft verbessern werden: „Zuweilen hielt ich […] mitten im Hammerschlag inne“, beschreibt er seine dilettantische Praxis, „schaute in die tiefe Himmelsbläue und genoß meine Trägheit“ (PC 131). Camenzind wird keineswegs ein erfolgreicher Handwerker, sondern er bleibt ein unverbesserlicher Wolkennarr, der sich bei jeder Gelegenheit von der Arbeit ablenken lässt – wie nach einem Gespräch mit der Nachbarin: „[Ich] blies […] Wolken in die Luft, sah ihr nach und besann mich, wie es nur käme, daß alle Leute so fleißig ihren Geschäften nachgingen, indes ich schon zwei volle Tage an der gleichen Latte herumnagelte.“ (PC 131 f.)Footnote 413

Vielleicht also, und dieser Verdacht stellt sich unweigerlich ein, wäre aus Camenzind doch ein besserer Dichter geworden. Die Vermutung entzündet sich vor allem am vorliegenden Erzähltext, der ja möglicherweise ganz materiell aus Camenzinds eigener Feder stammt. Damit kommt die Erzählposition als nächstes Indiz für ein ironisches Ende ins Spiel: Schon im zweiten Kapitel berichtet Camenzind von seiner „geheimgehaltene[n] Hoffnung, es werde [ihm] eines Tages gegeben werden, eine Dichtung zu schaffen, ein großes, kühnes Lied der Sehnsucht und des Lebens.“ (PC 47) Über weite Strecken des Romans scheint es so, als sei eben die vorliegende Erzählung Peter Camenzind dieses große Werk, das der Erzähler binnenliterarisch in Aussicht stellt. Vor allem im siebten Kapitel beschreibt er sein geplantes Epos über mehrere Seiten in auffälliger Analogie zum Romantext:

Ich hatte, wie man weiß, den Wunsch, in einer größeren Dichtung den heutigen Menschen das großzügige, stumme Leben der Natur nahe zu bringen und lieb zu machen. Ich wollte sie lehren, [...] am Leben des Ganzen teilzunehmen und im Drang ihrer kleinen Geschicke nicht zu vergessen, daß wir nicht Götter und von uns selbst geschaffen, sondern Kinder und Teile der Erde und des kosmischen Ganzen sind. (PC 97)

Das geplante Projekt hat einen dezidiert synthetischen Anspruch: Es verfolgt das ambitionierte Ziel, einen entfremdeten (Stadt-)Menschen mit dem „Leben der Natur“ in allen Facetten zu versöhnen. Inhaltlich-didaktisch zielt diese Dichtungsidee, die man nicht zwangsläufig als lyrisches Projekt verstehen muss, „vor allem“ auf ein universelles Konzept der Liebe, das Camenzind von Franz von Assisi adaptiert.Footnote 414 Als der Erzähler in seinem seitenlangen Traktat schließlich auf die Form zu sprechen kommt, verfällt er sogar in die Leseransprache:

Ich wollte erreichen, daß ihr euch schämet, von ausländischen Kriegen, von Mode, Klatsch, Literatur und Künsten mehr zu wissen als vom Frühling, der vor euren Städten sein unbändiges Treiben entfaltet [...]. Das alles hoffte ich nicht in Hymnen und hohen Liedern, sondern schlicht, wahrhaftig und gegenständlich darzustellen, ernsthaft und scherzhaft, wie ein heimgekehrter Reisender seinen Kameraden von draußen erzählt. (PC 98)

In diesen poetologischen Ausführungen deckt der Text seinen eigenen Leitfaden auf. Das dualistische Wechselspiel von „ernsthaft und scherzhaft“ findet sich hier wieder, der „schlicht[e]“ und erzählende Stil verweist auf die eigene Textform, und proleptisch wird schließlich auch der Erzähler am Ende die Position eines „heimgekehrte[n] Reisenden“ einnehmen. Nicht zuletzt findet sich in den Plänen zu Camenzinds großer Dichtung auch ein selbstreferentieller Kommentar zur idiosynkratischen Fassade eingeschrieben, hinter der sich auch der Erzähler versteckt: Alle Menschen umgebe eine „schlüpfrige Gallert von Lüge“, so Camenzind, und „[m]it sonderbaren Gefühlen stellte ich an mir selber dasselbe fest.“ Er beobachtet an Kindern und an sich selbst, dass sie „lieber eine Rolle mimen als sich ganz unverhüllt und instinktiv kund[zu]geben.“ (PC 100)

Die fiktive Erzählung in der Erzählung spiegelt also das vorliegende Textmaterial adäquat, wobei der wichtigste Unterschied in dessen Temporalität besteht: Innerhalb der erzählten Zeit lässt sich die Dichtungsidee noch in ihrer Entwicklungsphase verfolgen und bleibt je nach Textprogression früheren Planungsstufen verhaftet. Peter Camenzind erzählt damit die Genese seines eigenen Textes, die voraussichtlich mit dem Ende der Erzählung und der Herausgabe des Buches abgeschlossen sein könnte. Am Ende aber, und hier erhält die Ironie des Textes ihre Evidenz, wird der vorliegende Erzähltext Peter Camenzind eben nicht geschrieben. Die letzten Absätze geben Auskunft:

Und in der Lade liegen die Anfänge meiner großen Dichtung. „Mein Lebenswerk“, könnte ich sagen. Es klingt aber zu pathetisch, und ich sage es lieber nicht, denn ich muß bekennen, daß Fortgang und Vollendung desselben auf schwachen Beinen stehen. Vielleicht kommt noch einmal die Zeit, daß ich von neuem beginne, fortfahre und vollende; dann hat meine Jugendsehnsucht recht gehabt, und ich bin doch ein Dichter gewesen. (PC 134)

Es ist die Angst vor dem Pathos, die Camenzinds Dichtungsprojekt am Ende stagnieren lässt. Löwes Diagnose, dass der erzählende Peter sein erlebendes Ich mit diesem Ende „vollständig eingeholt“ habe,Footnote 415 ist nicht komplett, denn vielmehr wird die Handlung durch diesen Schluss weiter in eine ungewisse Zukunft ausgedehnt („Vielleicht kommt noch einmal die Zeit“). Ob Camenzind seine große Dichtung noch schreiben wird oder nicht, ob er also die ganze Zeit Dichter oder Dilettant war, bleibt offen.

An dieser überraschenden Stelle eröffnen sich zwei widersprüchliche Lesarten der Geschichte: Entweder kann der vorliegende Text als Realisation der binnenliterarischen Dichtungsidee gelesen werden, die Camenzind nach dem Zeitpunkt des Erzählens aus der „klamme[n] Tischlade in [s]einer Stube“ hervorholt und nachträglich überarbeitet. Dort schlummert ja schon, wie das achte Kapitel schildert, sein „künftiges Werk“, bestehend „aus einem Paket verjährter Skizzen und aus sechs oder sieben Entwürfen auf Quartbogen“ (PC 130). Dann wäre Camenzind eigentlich Dichter gewesen. Oder aber das Werk bliebe ein Fragment für die Schublade, von dem sich Camenzind emanzipiert und nun in realistischem Duktus abgrenzt. Auf den romantischen Effekt der Dichtung in der Dichtung würde der Text in diesem Fall verzichten, und als unverbesserlicher Dilettant hätte Camenzind am Ende die richtige Entscheidung getroffen, seinem Dichterberuf zugunsten der Dorfschenke zu entsagen.Footnote 416

Hier ist eine romantische Ironie am Werk, mit welcher die Ahnungen der Romantik und die Entsagung des Poetischen Realismus in eine unentscheidbare Schwebe versetzt werden. Entweder lag Camenzind mit seiner jugendlichen Intuition richtig, laut der er als Sonderling die Sprache der Natur dichterisch übersetzen kann, oder aber er tut gut daran, sich entsagend auf seine (lasterhaften) Wurzeln zu besinnen und ins väterliche Haus zurückzukehren. Ein verfahrenstechnischer Clou gelingt der Erzählung, indem sie die Entscheidung über die jeweilige Lesart mit einer Bewertung der Textur verknüpft: Glaubt man an Camenzinds dichterisches Potenzial, dann lassen sich auch die prophetischen Schilderungen der Natursprache als Hinweise auf universelle Weltformeln lesen. Möchte man den romantischen Schwärmereien aber nicht aufsitzen, kann man sich gemeinsam mit dem Erzähler kritisch von Camenzinds Jugendphase abwenden und das Prinzip der Nächstenliebe nach Franz von Assisi affirmieren. Man kann den Text also romantisch oder realistisch lesen, und von beiden Literaturtraditionen sind Effekte in der Erzählung enthalten.

Eine letzte Transformation der Ironie – und damit die wesentliche Aktualisierung von Romantik – lässt sich aber dennoch in dem wirkmächtigen Text greifen. Ausgerechnet die ständige Ambivalenz zwischen Prediger und Narr, die Camenzind in seinen romantischen Phasen immer wieder artikuliert und anschließend verwirft, wird durch diesen doppelten Boden noch einmal bestätigt. Denn auch die Anlage der Hauptfigur ist am Ende nicht zwischen Dichter und Dilettant unterscheidbar. Camenzind oszilliert zwischen den Polen, und obwohl er beide Seiten der Medaille idealtypisch verkörpert, verweigert der Text konsequent die Synthese. Eine Gleichzeitigkeit von Romantik und Realismus, so die Erzählung, ist unmöglich; der Antagonismus lässt sich nur sukzessive auflösen, indem jeder Phase der romantischen Predigt eine realistische Ernüchterung folgt – und wieder von vorn, wobei in der Jugend die romantischen Episoden überwiegen und im fortschreitenden Alter die Ernüchterung siegt. An der grundsätzlichen Gültigkeit dieser Universalformel wird innerhalb der Diegese keinerlei Zweifel formuliert.

Damit weist die Ironie der Erzählung einen blinden Fleck auf. Denn dank seiner milieutypischen Anlagen hat Camenzind eben doch eine gültige Formel gefunden, nach welcher ‚das Leben‘ als Kollektivsingular funktioniere. Das letzte Wort hat in diesem Roman jenes „Rätsel unseres zwiespältigen unbändigen Herzens“ (PC 24), ein dualistisch-antagonistisches Prinzip, in dem für das Individuum auf romantische Weise keine Versöhnung möglich ist. Dass aber diese ‚Lebensweisheit‘ in ihrer uneingeschränkten Gültigkeit vom Text vorgeführt werden kann, übersteigt den Kompetenzbereich des historischen Modells von Romantik.

Wie lautet also das abschließende Urteil über das Romantische im Peter Camenzind? Einerseits erfüllt der Text sämtliche Kriterien, um mithilfe des herangetragenen Modells als ‚romantisch‘ klassifiziert zu werden: Ein aufgebrochener Peter Camenzind findet seine persönliche Synthese zum Schluss in der Heimat, was aber zugleich als Rückschritt und überflüssige Entsagung einer vielversprechenden Alternative semantisiert wird. In einem trügerischen Happy Ending changiert die Kippfigur zwischen einer romantischen und einer realistischen Lesart, womit sich der Text entweder als Geschichte einer unnützen Entsagung vom Dichtertum (romantische Lesart) oder als verklärende Selbstfindung eines gutherzigen Trinkers (realistische Lesart) deuten lässt. Auch wenn die Synthese der beiden Pole in Form eines materiellen Zukunftstextes in Aussicht gestellt wird – denn die Erzählung ist in ihrer doppelten Lesart ja realistisch und romantisch zugleich –, kann das romantische Paradoxon am Ende nicht aufgelöst werden. Der Text überwindet das ewige Changieren zwischen Einsicht und Farce also nicht.

Neben dieser romantischen Strukturqualität aber hat der Import des Poetischen Realismus etwas grundlegend Neues hineingebracht: Auf verklärende Weise behält eine übergreifende Lebensweisheit ihre Gültigkeit, deren omnipotentem Gesetz sich die Hauptfigur beugen muss. Der Grund für die romantische Schwebe ist in der Ambivalenz allen Lebens exakt benannt und lässt sich sogar in eine zeitliche Entwicklungsfolge übersetzen. Anders als in romantischen Texten fängt ein formulierbares Naturgesetz den doppelten Boden auf, da es den ewigen Widerspruch integriert und so über die Figuren hinaus ungebrochene Gültigkeit beansprucht. Diese Neoromantik ist also nur binnenironisch: Camenzinds Lebensweg lässt sich immer von zwei Seiten auslegen, die ewige Existenz zweier Sichtweisen aber präfiguriert die Diegese und liefert eine eindeutige Lebensweisheit.

In dem Syntheseprojekt von Romantik und Realismus ist Hermann Hesse ein sehr zeitgemäßer Coup gelungen: Peter Camenzind affirmiert die romantische Unmöglichkeit eindeutiger Welterkenntnis, verklärt diesen unauflösbaren Zwist aber zu einer epistemologischen Tatsache – und findet darin eine Weltformel über das Subjekt hinaus. In gewisser Hinsicht kann diese Textbewegung als Überwindung der romantischen Ironie bezeichnet werden, sodass Peter Camenzind das neoromantische Problem innovativ löst. In seiner Herabstufung der romantischen Ironie zu einer Binnenironie lässt sich der Roman als die Erfüllung der neoromantischen Aufgabe lesen, Kunst und Leben zu versöhnen, ohne ganz auf die Romantik zu verzichten. Allerdings zahlt der Text dafür einen Preis: Schaut man nicht so genau hin, überliest sich der doppelte Boden leicht, sodass Peter Camenzind bis heute als pathetischer Heimatroman mit konservativem Einschlag im kulturellen Gedächtnis verankert ist.

3.3.5 Fazit: Aktualisierungen von Romantik beim frühen Hermann Hesse

Der frühe Hermann Hesse ist weniger ein „letzte[r] Ritter aus dem glanzvollen Zuge der Romantik“, wie ihn Hugo Ball in seiner vielzitierten Biographie ausweist,Footnote 417 sondern vielmehr ein wirkmächtiger Neoromantiker, der mit beiden Füßen in der Romantik-Emphase der Jahrhundertwende steht. Um 1900 rezipiert er zahlreiche Texte der historischen Romantik ebenso neu wie die zeitgenössische Literatur, die sich auf aktualisierende Weise mit Romantik auseinandersetzt. Dass beide Erzählweisen sich nicht zuletzt in ihrem Umgang mit literarischer Ironie voneinander unterscheiden, reflektiert ein Eintrag in das fiktive Tagebuch (1900) Hermann Lauschers:

Ironie? Wir haben wenig davon. Und doch, sonderbar, lüstet mich oft nach ihr. Meine ganze schwerblütige Art aufzulösen und als schmucke Seifenblase ins Blaue zu blasen. Alles zur Oberfläche machen, alles Ungesagte mit raffinierter Bewußtheit sich selber als entdecktes Mysterium reservieren! Ich weiß wohl, das ist Romantik. Das ist Fichte in Schlegel, Schlegel in Tieck und Tieck ins Moderne übersetzt. Warum nicht? Tieck ist unerreicht, auch von Heine unerreicht, und müßte eigentlich mit seiner unplastischen, musikalischen Grazie mein Liebling sein.Footnote 418

Wie aber hält es Hermann Hesse in seinem eigenen Werk mit der Ironie, die sein Hermann Lauscher – ein jung verstorbener Dichter mit destruktiven Zügen – an dieser Stelle noch bewundern kann? Mithilfe der drei Säulen des Romantik-Modells lässt sich die spezifische Neoromantik Hesses anhand seiner Werke summierend nachzeichnen.

Was Hesses frühe Literatur vor dem Hintergrund der historischen Romantik auszeichnet, ist ihre klare Artikulation einer Partikularisierung des Individuums. Hesses Figuren sind Außenseiter der Gesellschaft, sie sind als „Einsame[] und Sonderling[e]“ (PC 85) auf der Suche nach einer Gemeinschaft, die sie in der Regel aus einer früheren Kindheit heraus verloren haben. Hierin liegt das modellhafte Hauptthema des frühen wie späten Hesse verborgen: Seine Erzähler sind Anwälte des partikularisierten Individuums, das sich von einer Gesellschaft oder von ihrer Bestimmung ausgeschlossen fühlt. Diese spezifische Form der Fragmentierung wird in Hesses Werken enorm weit getrieben: In schlichten Formulierungen wird das jeweils spezifische Entwurzelungsproblem zahlreicher Ich-Erzähler glasklar und unverschlüsselt benannt, und auch erzähltechnisch entpuppen sich vermeintlich heterodiegetische Erzähler gerne als einsame Ich-Erzähler (z. B. Ein Kranz für die schöne Lulu). Doch Hesses Erzählungen thematisieren eine spezielle Art der Partikularisierung von der Gesellschaft bzw. von einem kindlichen Urzustand, die nicht auf das gesamte Figurenarsenal, sondern vielmehr auf ausgewählte Dichter, Dörfler, Behinderte und Sonderlinge zielt. Bei ihm sind nur die Außenseiter entwurzelt; diese leiden dafür auf verschiedenste Art unter einer Entfremdung vom ‚Leben‘. Bei Hesse gibt es damit neben der Partikularisierung immer auch eine Figurenwelt ohne Entwurzelungsprobleme, was für eine dualistische Organisation von Hesses Erzählwelten spricht.

Damit bleibt die gelingende Synthese in Hesses Texten keine utopisch-entschwindende Illusion, sondern sie liegt im Rahmen der narrativen Möglichkeiten. Es kann sich herausstellen, dass der Außenseiter selbst Teil einer gesellschaftlichen Gruppe und damit nicht mehr allein ist (Der Novalis); der fehlgeleitete Dichter kann zu seiner Bestimmung zurückfinden (Der Inseltraum); und selbst die Irrwege eines Grenzgängers können sich als Ausformungen eines universellen Lebensgesetzes herausstellen (Peter Camenzind). Am Anfang von Hesses Erzählungen stehen häufig – nicht nur im Frühwerk – Klagen über die Fragmentierungsprobleme moderner Individuen, die sich am Ende der Geschichten bei genauem Blick auflösen. Nicht immer bemerken die Figuren, dass sie keine Entwurzelung mehr zu fürchten brauchen, doch die literarischen Texte wissen um den richtigen Platz ihrer Figuren in einem übergeordneten ‚Leben‘. Hesses Neoromantik trägt, ganz anders als bei Mann und Ewers, eine optimistische Note: So partikularisiert sich seine Figuren zeitweise auch fühlen, irgendwie folgt doch alles einer übergeordneten Regelhaftigkeit, die sich zwar nicht immer auffinden und nie erschöpfend beschreiben, manchmal aber anhand von Einzelfällen erahnen lässt. Statt nach einem Naturgesetz forschen Hesses Erzähler dabei nach Gesetzen des Lebens, und zwar im Plural: Der romantische Schleier zu Saïs verbirgt auch in diesem Fall mehrere Regularitäten für verschiedene Fälle, doch schon die Erkundung eines einzelnen Bereichs weckt die große Ahnung einer synthetischen Ordnung. Bei Hesse gibt es keine Zauberwelt hinter der Wahrnehmung, nur verrätselte Regularitäten.

Mit Blick auf die romantische Kippfigur inszeniert Hesses Prosa damit einen Fluchtpunkt aller neoromantischen Erzählstrategien, die mit der romantischen Ironie hadern und ihren Gültigkeitsbereich in ganz unterschiedlicher Weise zu modifizieren versuchen. Auch bei Hesse finden sich Kippfiguren von Behauptung und Widerruf, doch sie sind auf interessante Weise gezähmt: Ironische Wendungen und changierende Einzelschicksale gehören hier zum Lauf des Lebens dazu und lassen sich im Idealfall – wie im Peter Camenzind – deskriptiv beschreiben. Die Ironie ist bei Hesse nicht Mittel zur Erkenntnis (wie in der historischen Romantik), auch kein dominantes Erzählverfahren, sondern sie gilt vielmehr als eine wichtige Regularität innerhalb eines übergeordneten Lebens. Erzählstrategisch lässt sich diese Modifikation auch als Einrahmung von Ironie beschreiben: Ironische Effekte können innerhalb von Binnengeschichten auftreten und für Figuren zum Problem werden, doch gleichzeitig werden sie in einen festen Rahmen eingeordnet und lassen sich so auf Rekurrenzen und ihre Bedeutung analysieren. Dadurch erhält die Ironie bei Hesse einen blinden Fleck: Niemals verstrickt sich der gesamte Text in ironischen Schleifen, denn von den selbstreferenziellen Reflexionen bleiben übergeordnete Erkenntnisse unberührt, die sich widerspruchsfrei wiederholen oder binnendiegetisch ihre Gültigkeit bestätigen. Bei Hesse findet sich also eine Binnen-Ironie, die sich erzähltheoretisch (und wertfrei) als Überwindung romantischer Ironie unter Beibehalt einiger ihrer Effekte beschreiben lässt. Das ironische Changieren wird also eingerahmt und in seiner Funktionsweise in den Grenzen dieses Rahmens klar und widerspruchsfrei benannt.

Hesses Neoromantik ist damit, modelltheoretisch formuliert, eher postromantisch. Seine Erzählungen inszenieren die Möglichkeit ausgegrenzter Figuren, in der säkularen Welt aufzugehen – was zwar an subjektiven Einzelfällen vorgeführt wird, dabei aber unwidersprochen auf zeitenthobene Regularitäten hinweist. Das ‚Leben‘ folgt hier einer partikularisierten Vielzahl von Einzelgesetzen, die sich aber in ihren Effekten doch ‚magisch‘ anfühlen kann: Der gesamte Weltplan lässt sich nicht entschlüsseln, auch existiert keine monotheistische Instanz mit den Fäden in der Hand, doch über inszenierte Erfahrungswerte präsentieren Hesses Texte eine grundsätzliche Ordnung von Welt, die verrätselt hinter den individuellen Lebensläufen hervorscheint.Footnote 419 Sobald einer Figur der Blick hinter den Schleier des Lebens gelingt, ist ihre Desorientierung durch die Moderne in der Regel gelöst.

Auch wenn auf diese Weise konstitutive Aspekte des Romantischen modifiziert werden, lässt sich Hesses Poetologie keineswegs – im Sinne einer anderen Literaturtradition – als eine Art Neorealismus beschreiben. Von den poetisch-realistischen Texten des 19. Jahrhunderts unterscheidet sich Hesses Prosa in ihren Grundfesten: Außenseiterfiguren zum Beispiel, die bei Fontane, Storm oder Keller in der Regel bestraft werden, gehen in den Erzählwelten Hesses produktiv auf, womit seine Texte keine Grenzziehungen, sondern Grenztilgungen inszenieren.Footnote 420 Jeder Einzelfall lässt sich bei Hesse ins Leben integrieren, sodass weder Verklärungen noch Entsagungen, sollten sie wie im Peter Camenzind stattfinden, als ernstzunehmende Optionen vorgeführt werden. Tatsächlich gelingt Hesse eine erzähltheoretische Synthese von Romantik und Realismus: Mit Stefan Tetzlaff gesprochen, entwerfen seine Texte zugleich „Modelle von“ Welt in abbildender Funktion wie auch „Modelle für“ individuelle Lebensentwürfe darin.Footnote 421 In diesem Sinne sind Hesses Texte, trotz der zahlreichen Rückgriffe auf romantische Literatur, niemals phantastisch, sondern fächern sich in zwei dualistische Pole auf, zwischen denen ein regelgeleitetes Changieren analysiert und in seiner (Binnen-)Ironie beschreibbar wird. Mit diesem neoromantischen Erzählverfahren zähmt Hesse die literarische Romantik – und fungiert damit als struktureller Endpunkt eines neoromantischen Schreibens, das sich zur Jahrhundertwende dominant mit der Überwindung eines erzähltheoretischen Problems aus der Romantik plagt.