Gesichter im Eis – Großglockner

Ich habe noch die Zahnbürste im Mund, als der stolze Gipfel des Großglockners vom ersten Morgenlicht geküsst wird. Es wird Zeit aufzubrechen und nach einem Materialcheck an der Kaiser-Franz-Josefs-Höhe machen wir uns auf den Weg hinab zu dem flüssigen Ende der Pasterze, des größten Gletschers von Österreich. Mit Freunden wollen Christian und ich über den Meletzkigrat zu Österreichs höchstem Gipfel aufsteigen.

Warum diese Tour heute nur noch sehr selten gemacht wird, offenbart sich uns deutlich, als wir vor dem klaffenden Gletschermaul stehen. Ein reißender Fluss erbricht sich aus dem düsteren Rachen in einer etwa zehn Meter hohen Eiswand. Dieser Bruch im Eis ist wie ein symbolisches Bild für die Kapitulation des Gletschers auf einem sich immer stärker erwärmenden Planeten.

Auch wir sind zunächst ratlos ob der Überquerung, die wir uns einfacher vorgestellt hatten. Nachdem wir verschiedene waghalsige Optionen ausgeschlossen haben, entscheiden wir talwärts nach einer günstigeren Möglichkeit für eine Querung zu suchen, die wir schließlich auch finden.

Auf der anderen Seite des Gletscherflusses kosten uns die Passage der Masse aus tiefem Matsch, Schlacke und Geröll und die Wegfindung zwischen schwarz klaffenden Gletscherspalten weitere kostbare Zeit. Als wir endlich in stabilerem Gelände aufsteigen, schaue ich zurück auf die Gletscherzunge und erinnere mich an meinen letzten Besuch hier vor einigen Jahren, als das solide Eis noch viel weiter ins Tal reichte. 

Endlich, nach etwa fünf Stunden kommen wir am sogenannten Frühstücksplatz an, und damit am eigentlichen Beginn unserer Route. Ich denke daran, dass uns ein alter Bergführer aus der Region erzählt hat, dass man in den Siebzigerjahren noch innerhalb von heute unvorstellbaren zwei Stunden diesen Platz erreicht hat. 60% der Fläche der Pasterze sind allein in den vergangenen 70 Jahren den Folgen des Klimawandels zum Opfer gefallen. Jedes Jahr verliert sie mehr als fünfzig weitere Meter und schon in vierzig Jahren wird sie laut wissenschaftlichen Berechnungen ganz verschwunden sein.

Pasterze 1978

Pasterze 1978

Pasterze 2020

Das Bewusstsein, dass wir als Vertreter der klimawandeltreibenden Menschheit mit daran schuld sind, begleitet uns durch die traumhafte Blockkletterei am Grat. Die Ausblicke in alle Richtungen sind spektakulär. Die spitzen Seracs des Hufeisenbruchs, der markant das obere der Gletscherzunge bildet, blinken im Sonnenlicht und ich bin unglaublich dankbar, all das hier erleben zu dürfen. Gleichzeitig rumort in mir die Wut über die persönliche Machtlosigkeit hinsichtlich dieses heute unabwendbaren Verlusts. Die Gletscher sind wie die Kleidung eines Berges und der Klimawandel ist ein Vergewaltiger, der sie ihm vom Leib reißt. 

Die schmelzenden Gletscher sind ja nur ein Beispiel für die Auswirkungen der Klimakatastrophe. Anfänglich hat es mich noch überrascht, wie ruhig die alten Bergsteiger, denen wir im Rahmen dieses Projekts begegnen, das Schmelzen der Gletscher kommentieren. Aber seit dem Gespräch mit Engelbert verstehe ich das etwas besser. Wir besuchen den ehemaligen Bergführer in seinem wunderschön gelegenen einfachen Holzhaus am Berg, das man nur zu Fuß erreichen kann. 

„Es ändert sich alles. Wir brauchen nicht glauben, dass die Veränderung nur im Eis stattfindet“ sagt er mit seiner warmen Stimme. „Die Veränderungen sind großräumiger geworden und extremer. Es gibt fast kein örtliches Wettergeschehen mehr und deswegen gelten auch viele Bauernregeln nicht mehr.“ Nach einer nachdenklichen Pause fügt er noch hinzu „Irgendwas ist da zugange… es stimmt einfach nicht mehr.“ 

Engelbert ist am Fuß des Großglockners aufgewachsen und stand mit neun Jahren zum ersten Mal auf seinem Gipfel. Wenn man so nah mit den Bergen verwandt ist, wenn man aufmerksam naturverbunden lebt, dann muss man über den Klimawandel nicht lesen, man spürt ihn unmittelbar. „Eis ist gefrorenes Wasser. Ich bin im Eis daheim. Als Kind war ich nie auf ebenem Boden unterwegs und da lernst du einfach, richtig zu stehen. Wenn du das G’spür dafür nicht hast, dass der Winkel von deinem Fuß auf dem Eis nicht passt, dann wirst du dein Gewicht nie dort hinbringen, wo es hinmuss. Deswegen macht es einen riesen Unterschied aus, wenn du am Berg aufwächst.“ 

Aber natürlich ist es nie zu spät, aus der Wertschätzung für die Natur auch Rückschlüsse auf das eigene Handeln zu ziehen. Mir persönlich hilft die Bemühung um einen nachhaltigen Lebensstil im Umgang mit der Machtlosigkeit, angesichts der rapide fortschreitenden Katastrophe. Öffentliches Engagement ist für uns, die wir in einer freien Gesellschaft leben, nicht nur möglich, sondern – so würde ich das sagen – es ist auch nötig! Denn wenn wir jetzt nichts tun, dann wird sich auch im Großen nichts ändern. 

 

Ein erster Schritt muss dabei gar nicht so radikal sein. Engelbert formuliert das so: „Weniger brauchen ist der Schlüssel, dass man auch wieder eine Verbindung zu den Sachen hat. Wir leben in Saus und Braus, aber wenig brauchen, das hat was. Nicht nur ökologisch gesehen.“ 

 

Die Pasterze im Kärntner Mölltal ist der größte Gletscher Österreichs. Passend liegt sie auch direkt zu Füßen des majestätischen Großglockners, dem mit 3.797 Metern höchsten Gipfel Österreichs. Oberhalb der geradezu sichtbar schrumpfenden Gletscherzunge kann man in den horizontalen Linien im Fels deutlich die Spuren der früheren Gletscherhochstände sehen. Aber nicht nur in der Stärke ist das Eis hier deutlich zurückgegangen. Auch 60% ihrer Fläche hat die Pasterze allein in den vergangenen 70 Jahren an den Klimawandel verloren. Ihr höchster Punkt und Nährboden liegt bei dem 3.450 Meter hohen Johannisberg. Über den noch heute sehr imposanten Hufeisenbruch fließt sie talwärts. Bis zu dem Ort, wo das Eis ganz im schlammigen Wasser des Gletscherflusses aufgelöst ist, sind es keine acht Kilometer mehr und jedes Jahr verliert sie über fünfzig weitere Meter¹.

Alle Fotos (c) Christian Bock

1.  Gletscherbericht des ÖAV, Februar 2016, https://www.alpenverein.at/portal_wAssets/docs/service/presse/2016/Bergauf_02_2016_Gletscherbericht_Fischer.pdf

Ana Zirner
Ana Zirner

Ana Zirner ist als Bergsportlerin Mitglied der POW Riders Alliance. Als Autorin erschienen von ihr im Piper Verlag bisher die Bücher ALPENSOLO (2018) und RIVERTIME (2020).