Academia.eduAcademia.edu
Universität Mozarteum Salzburg Wissenschaftliches Doktoratsstudium zur Erlangung des akademischen Grades Doctor of Philosophy (PhD) Fach Musikwissenschaft Dissertation gemäß Curriculum 2007, § 6 (6) „Antimusic“ Versuch einer Darstellung des Wertewandels in der Musik nach 1980 Theorien, Konzepte, Fallbeispiele Wolfgang Seierl, Mag. art. Matr. Nr.: 7300786 wolfgang@seierl.com/0664 5969091/5026 Salzburg, Resatzstraße 6/5 Abgabedatum: 29. Juni 2009 2 Inhalt Vorwort 7 Einleitung 9 1 Begriffe und Positionen 20 1.1 Methode 20 1.2 Begriffe 21 1.2.1 Neue Musik und Moderne 22 1.2.2 Das Begriffspaar alt und neu 27 1.2.3 Neue Musik 29 1.2.4 Moderne Musik 31 1.2.5 Avantgarde 33 1.2.6 experimentelle Musik 34 1.2.7 aktuelle Musik 35 1.2.8 Musik der Gegenwart 35 1.2.9 Zeitgenössische Musik 35 1.3 1.4 1.2.10 Musik der Postmoderne 36 1.2.11 Klangkunst und Musikperformance 41 1.2.12 E-Musik und U-Musik 43 1.2.13 Zusammenfassung 47 Music – Antimusic 49 1.3.1 Ritwik Sanyal 49 1.3.2 Athanasius Kircher und Robert Fludd 56 1.3.3 Dante Alighieri 58 1.3.4 Noh – Theater 60 1.3.5 Fréderic Chopin 63 1.3.6 Anästhetik 64 1.3.7 Satanismus 67 1.3.8 Zusammenfassung 70 Der Begriff prehension 71 1.4.1 Sammlung 71 1.4.2 Der Begriff der Sammlung in der christlichen Gebetspraxis 71 1.4.3 Die Schule der Sammlung 72 3 1.4.3.1 Gabriel Marcel 72 1.4.3.2 Romano Guardini 73 1.4.3.3 Philipp Dessauer 75 1.4.3.4 Günter Stachel 76 1.4.4 Der Begriff avÁdhana 2 76 1.4.4.1 avÁdhana in Abgrenzung zu dharana und dhyana 77 1.4.4.2 Der Begriff avÁdhana (prehension) bei Ritwik Sanyal 78 1.4.5 Verstehen und Nachvollzug 80 1.4.6 Codes 83 1.4.7 Musikalischer Sinn und Musikverstehen 87 1.4.8 Der Werkbegriff 90 1.4.9 Zusammenfassung 92 Energieströme 94 2.1 Okkulte Strömungen in Europa 94 2.1.1 Mesmerismus und Theosophie 96 2.1.2 Joachim-Ernst Berendt 103 2.1.3 Peter D. Ouspensky 107 2.1.4 Zusammenfassung 109 2.2 spirituelle Tendenzen in der europäischen Kunst bzw. Musik 110 2.2.1 Einspruch 114 2.2.1.1 Spiritualität als Einspruch 118 2.2.1.2 Revolutionäer und evolutive Systeme 119 2.2.1.3 Sinnkultur und Präsenzkultur 121 2.2.1.4 Spirituelle Tendenzen in der Musik 123 2.2.1.5 Aspekte des Einspruchs in der Musik 124 2.2.1.6 Musik als Phänomen – Gegenargumente 126 Musik und Theologie 127 2.2.2.1 Karlheinz Stockhausen 128 2.2.2.2 Musik als Religion 131 2.2.2.3 Jugendbewegungen 134 2.2.2 2.2.3 Zusammenfassung 135 4 2.3 3 Verwandte wissenschaftliche Bereiche 136 2.3.1 Medizin und Gehirnforschung 136 2.3.1.1 Musik und Sprache 137 2.3.1.2 Musik, Gehirn, Plastizität 139 2.3.1.3 Hören, Rhythmus 141 2.3.1.4 Neuroplastizität 144 2.3.1.5 Chronomedizin 147 2.3.1.6 Musik-Kinesiologie und Klangtherapie 148 2.3.2 Kommunikologie 150 2.3.3 Wirklichkeitsbegriffe: Quantenphysik und Buddhismus 153 2.3.4 Zusammenfassung 160 Fallbeispiele Eigeninitiativen 161 3.1 Historischer Hintergrund 161 3.1.1 Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) 162 3.1.2 Die Donaueschinger Musiktage für zeitgenössische Tonkunst 164 3.1.3 Die Internationalen Ferienkurse in Darmstadt 165 3.1.4 Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen 168 3.1.5 Das Ensemble die reihe 171 3.1.6 Domain musical und IRCAM 172 3.1.7 Das Festival Wien Modern 173 3.1.8 Zusammenfassung 175 3.2 Fallbeispiele 175 3.2.1 Peter Ablinger (Österreich/Deutschland) 177 3.2.1.1 Radikalität, Unangepasstheit, Kompromisslosigkeit 178 3.2.1.2 Vollzug, Nachvollzug, Vermittlung 182 3.2.1.3 Engagement in der Schaffung neuer Strukturen 183 3.2.1.4 Spiritualität 184 Das KomponistInnenforum Mittersill (Österreich) 188 3.2.2.1 Kommunikation 188 3.2.2.2 Publikum 189 3.2.2.3 Vermittlung und Öffentlichkeit 189 3.2.2.4 Regionalität 192 3.2.2 5 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7 Das Projekt No Music Day (Großbritannien) 193 3.2.3.1 Bill Drummond 194 3.2.3.2 No Music Day 195 3.2.3.3 Öffentlichkeit 197 3.2.3.4 Linz 09 und Pipedown 199 3.2.3.5 The 17 202 Die Chameleon Group of Composers (Großbritannien) 203 3.2.4.1 Ludger Hofmann-Engl 204 3.2.4.2 Soziales Engagement und Vermittlung 205 3.2.4.3 Menschenrecht und Künstlerbild 206 3.2.4.4 Die Rolle des Komponisten 207 3.2.4.5 Copyright 208 Das Festival Sajeta/Miha Kozorog (Slowenien) 209 3.2.5.1 Digitalisierung 210 3.2.5.2 Spirituelle Aspekte 210 3.2.5.3 Publikum 211 3.2.5.4 Schwerpunkte 212 3.2.5.5 Resultat, Prozess oder Situation 212 3.2.5.6 Begriffe 213 3.2.5.7 Ökonomische und soziale Lage 213 3.2.5.8 Organisation, Konzept 214 3.2.5.9 Was ist das Neue 215 Das International Multimedial Art Festival/Nenad Bogdanovic (Serbien) 215 3.2.6.1 Publikum 217 3.2.6.2 Themen 218 Fair Music (Österreich) 221 3.2.7.1 Peter Rantaša 221 3.2.7.2 Menschenrecht 222 3.2.7.3 Fair Music 223 3.2.7.4 Gender Mainstream und Vielfalt 224 3.2.7.5 Manifest 225 3.2.7.6 Fair Music Award 225 6 3.3 4 Zusammenfassung 227 3.3.1 Peter Ablinger 228 3.3.2 Kofomi 229 3.3.3 No Music Day 229 3.3.4 Chameleon Group 230 3.3.5 Sajeta 230 3.3.6 IMAF 230 3.3.7 Fair Music 231 Ergebnis und Ausblick 4.1 232 Definitionen und Begriffsbestimmungen im Kontext des Paradigmenwechsels nach 1980 als Ergebnis der Unter- 4.2 4.3 suchungen der Fallbeispiele im tiefenzeitlichen Kontext 232 Veränderte Hörgewohnheiten und neues Hören 244 4.2.1 Publikumswandel 245 4.2.2 Neue Oralität 246 4.2.3 Neue Medien 248 4.2.4 Zusammenfassung 255 Künstlerische Positionen als Parameter gesellschaftlicher Realität 257 Literatur 269 5.1 Lexika 269 5.2 Spezielle Literatur 270 5.3 Literatur im Internet 284 5.4 Abbildungen 287 Ehrenwörtliche Erklärung 288 5 7 Vorwort Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird im gesamten Text auf geschlechtsspezifisch differenzierende Terminologie verzichtet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für beide Geschlechter und sind nur dort geschlechtsspezifisch differenziert, wo es sich um Zitate handelt oder wo der Satzsinn es erfordert. Die Motivation, mich dem Thema dieser Arbeit zu widmen, entspringt einerseits der Liebe zur Musik, andererseits der Dankbarkeit dafür, dass die Beschäftigung mit Musik eine wesentliche Rolle in meinem Leben einnehmen darf. Die Herausforderung der Zeit, in der wir leben, ist es, Veränderungen nicht nur zu registrieren, sondern aktiv mitzugestalten. Jede Jetztzeit in der Geschichte ist – vor jeder ordnenden Kategorisierung - komplex und unüberschaubar. Jeder Versuch, Orientierung zu verschaffen, ist gleichzeitig ein Eingriff in diese Geschichte, der – wie ein Filter – vieles ausblenden muss. In einem behutsamen Schauen auf ausgewählte Aspekte, die in der Musik unserer Zeit eine Rolle spielen bzw. wirksam sind, dokumentiere ich zunächst meine Position, die – wissenschaftlich reflektiert – diese Sichtweise einer breiteren Diskussion öffnen will. Bezüglich dieses mir mit dieser Arbeit eröffneten Dialogpotentials gilt mein Dank allen voran meinen Eltern, die für die Grundlagen meiner Haltung zur Kunst und zur Musik verantwortlich sind. Weiters meiner Frau Christine und meinen beiden Töchtern Flora Miranda und Antonia Rosa Paulina, die meine Anstrengungen nicht nur durch in Kauf genommene Entbehrungen, sondern auch durch aktive Teilnahme an dem in vorliegender Arbeit ausgebreitetem Diskurs unterstützt haben. Mein Dank gilt auch dem Theologen und Freund Dr. Ernst Fürlinger (Universität Wien, Donau-Universität Krems), mit dem ich wesentliche Aspekte dieser Arbeit diskutieren konnte und von dem ich wichtige Anregungen erhielt, - dem Theologen Ass. Prof. Dr. Karl Baier (Universität Wien), mit dem ich ebenfalls Grund legende Details meiner Arbeit besprechen konnte, und dem Theologen Dr. Karl-Heinz Steinmetz (Universität Wien), von dem ich den Begriff des Einspruchs übernommen habe. Über die Vermittlung durch Dr. Ernst Fürlinger habe ich den Dhrupad-Meister und Musikwissenschaftler Prof. Dr. Ritwik Sanyal in Varanasi/Indien kennen gelernt. Aus dieser Begegnung und den Gesprächen mit ihm in Varanasi und später in Mittersill ergab sich für mich der spezielle Zugang zu meinem 8 Thema über das Begriffspaar music – antimusic sowie über den Begriff prehension. Ihm möchte ich besonderen Dank aussprechen. Schließlich danke ich Ao. Univ. Prof. Dr. Wolfgang Gratzer (Universität Mozarteum Salzburg) für wesentliche Anregungen bezüglich des Konzeptes meiner Arbeit und meinem Betreuer O. Univ. Prof. Dr. Peter Maria Krakauer (Universität Mozarteum Salzburg), der den Fortgang meiner Studien aufmerksam verfolgt und begleitet hat und von dem ich ebenfalls wichtige Anregungen empfangen durfte. Nicht zuletzt gilt mein Dank allen Künstlerpersönlichkeiten und freunden, die in Gesprächen, Briefen und durch Bereitstellung von Unterlagen mit Informationen bezüglich ihrer Arbeit bzw. Künstlerinitiativen einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen dieses Projektes geleistet haben. Es sind dies Peter Ablinger, Nenad Bogdanovic, Bill Drummond, Dr. Ludger Hofmann-Engl, Dr. Miha Kozorog und Peter Rantaša. Wolfgang Seierl Wien, im Juni 2009 9 Einleitung Vorliegende Arbeit versucht, einen Wertewandel in der Musik seit etwa 1980 darzustellen. Sie zielt nicht darauf ab, diesen Wertewandel lückenlos abzubilden, sondern will vielmehr exemplarische Positionen und paradigmatische Entwicklungsmotive herausarbeiten. Für Darstellung dieser war es notwendig – und durch die Methodenwahl vorweggenommen – weiter auszuholen, um den Verständnisrahmen für aktuelle Entwicklungen herzustellen. Ein Aspekt dieses Ausholens ist das Eingehen auf die Sichtweise des Indischen Musikers und Musikwissenschaftlers Ritwik Sanyal auf die europäisch-amerikanische Avantgarde, welches sich im Titel dieser Arbeit findet: antimusic als Gegenbegriff zu music ist nicht als provokanter Hinweis auf moderne Verweigerungsstrategien zu verstehen. Das Begriffspaar music - antimusic steht hier vielmehr für ein plastisches Bild eines übergreifenden Musikverständnisses, das etwa die Dualität bzw. Polarität des Musikdenkens im Westen bezüglich der Gegensätze alt und neu bzw. E und U überwindet. Mit der Berücksichtigung des ebenfalls von Ritwik Sanyal eingeführten Begriffs prehension möchte ich die Aktivität des Zuhörenden als wesentliches Merkmal des musikalischen Prozesses thematisieren. Mit diesen beiden aus dem Kontext der Philosophie der Musik von Ritwik Sanyal übernommenen Begriffen (antimusic und prehension) lassen sich, wie ich zu zeigen versuchen werde, zwei wesentliche Paradigmen der zeitgenössischen Kunstmusik darstellen. „Ziemlich sicher erscheint, dass unsere gängigen Wertkriterien verbraucht sind und ersetzt werden müssen.“ schreibt Hans Vogt bereits 1972 in Bezug auf die Entwicklung der Neuen Musik1. Die Versuche, Wertekriterien in der aktuellen Musiklandschaft aufzufinden, scheinen zum Scheitern verurteilt, denn nicht nur die Fülle, Komplexität und Unüberschaubarkeit der Musik unseres Informationszeitalters ist ein Hindernis für das Herausfiltern eines eindeutigen Wertekatalogs, auch die in unserer Zeit generierte neue Weltsicht widerspricht einem solchen Unterfangen. Der Medien- und Kommunikationstheoretiker Vilém Flusser beschreibt unsere kodifizierte Welt als ein Gewebe aus Symbolen, welches die Menschheit immer dichter um sich webt, um darin erworbene Informationen zu speichern und so dem Leben Sinn zu geben. Dieses Gewebe sei von völlig undurchsichtiger Komplexität, - diese Undurchsichtigkeit liege in der 1 Hans Vogt, Neue Musik seit 1945. Stuttgart 1972, S. 97 10 Absicht des Menschen. Flusser bezeichnet es als verfehltes und naives Unterfangen, diese kodifizierte Welt als die Welt der Kulturen auf irgendeine Weise katalogisieren zu wollen2. Die Forderung Friedrich Nietzsches nach Umwertung aller Werte wurde zwar von der letzten globalen Jugendbewegung im 20. Jahrhundert (etwa 1976 – 1978/80), dem Punk, noch einmal radikal einzulösen versucht, doch hat die fundamentale Negations-Attitude dieses mehrfach codierten Unversöhnlichkeits-Projektes3 nicht eine Klärung, sondern vielmehr einen Taumel der Zeichen und Embleme, eine Kakophonie von ideologisch geformten Bedeutungen, die mit zerstörerischem Furor in Sinnvernichtung überführt wurden4, erzeugt. Nach Thomas Mießgang lässt sich die Energie dieses großen Nein!, der Vision des Punk (Malcom McLaren) nicht nur bis zu den Avantgarden (z. B. dem Dadaismus) des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen, sondern sogar bis zu den mittelalterlichen Häretikern5. Die Positionen des Einspruchs waren nicht immer so nihilistisch (no future) und radikal ausgeprägt, doch prägten und prägen sie bis heute die kulturelle Entwicklung. Auch der Punk hatte entscheidenden Einfluss auf die kulturelle Grundhaltung6, die entsprechend diesem und natürlich auch anderen Einflüssen eine den traditionellen Wertesystemen gegenüber kritische bzw. entgegen gesetzte ist. Die heute festzustellende Orientierungslosigkeit im Bereich des zeitgenössischen Musikschaffens bildet womöglich eine Krise ab, die Vilém Flusser in unserer kodifizierten Welt insgesamt ortet. Es gilt also nicht, alte Kriterien einfach zu ersetzen, sondern Orientierung zu schaffen. In Hinblick auf die Geschichte unserer Kulturen und im Speziellen der Musik ist es vor allem unser eigenes Erkenntnis leitendes Interesse, das unterschiedliche Bewegungsschichten und Entwicklungszyklen wahrzunehmen glaubt und aus dem komplexen Gesamtstrom der Geschichte jeweils herausfiltert. Hier stellt sich die Frage, in welcher Dimensionalität, geographisch-örtlich, historisch-zeitlich, oder thematischinhaltlich Paradigmenwechsel oder Krisen wahrgenommen werden. So wurde etwa in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts seit dem Impressionismus hauptsächlich auf die ästhetischen Neuerungen fokussiert und weniger auf die spirituellen Grundlagen. Diese 2 Vilém Flusser, Kommunikologie. Frankfurt am Main 1998, S. 77 f Thomas Mießgang, No one is innocent. Chaos und Erleuchtung, Gewalt und Leidenschaft, Mode und Verzweifllung – was vom Punk übrigblieb und was im schwarzen Loch verschwunden ist. In: Gerald Matt/Thomas Mießgang (Hsg.), Punk. No one is innocent. Kunst – Stil – Revolte. Nürnberg 2008, S. 10 ff 4 Gerald Matt/Thomas Mießgang (Hsg.) (2008) S. 12 5 vgl. Gerald Matt/Thomas Mießgang (Hsg.) (2008) S. 10 6 Malcolm McLaren, der Begründer der Sex Pistols in einem Gespräch mit Gerald Matt, in: Gerald Matt/Thomas Mießgang (Hsg.) (2008) S. 200 3 11 rational-formalistische Sicht konnte nur blind sein für die spirituellen Krisen, die diese ästhetischen Neuerungen beeinflusst oder sogar ermöglicht haben7. Ein Beispiel aus der Antike ist die Philosophie des Pythagoras, die ursprünglich auch eine Auseinandersetzung mit Begriffen wie Seele, Seelenwanderung und Läuterung der Seele beinhaltete. Die Lehre des Pythagoras wurde dann aber aus ihrem religiösen Zusammenhang herausgenommen und auf eine Philosophie der Zahlen reduziert, die heute vor allem den Mathematikern zugänglich ist8. Die postmoderne Sicht verweigert sich diesen gefilterten Sichtweisen und sucht den Blick aufs Ganze in seiner oben beschriebenen Komplexität und Undurchsichtigkeit, oder wie es Jean de Loisy krass ausdrückt, in seiner verborgenen, bis ins Unendliche gepixelten, im Blitzlichtgewitter unsichtbar gemachten, bis zum Verschwinden überbelichteten Realität9. Christian Demand erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass die Vergangenheit nur als Geschichte verfügbar, jede Geschichte aber eine Erzählung und jede Erzählung eine Konstruktion sei. Das heißt, dass über ein und dieselbe Vergangenheit verschiedene Geschichten erzählt werden können. Es sei interessant, dass unsere Geschichte trotz erzählerischer Konkurrenz so uneingeschränkte Geltung erlangen konnte und schließlich nur noch über sie definiert wurde, was überhaupt als historische Tatsache zur Erzählung zugelassen werden durfte10. Die Feststellung der Unmöglichkeit, die Welt zu katalogisieren, bedeutet auch für die Wissenschaft und damit für vorliegende Arbeit, die überkommenen Aufgaben und Ziele infrage zu stellen und neu zu definieren. Wolfgang Welsch, dessen Denken die postmodernen Ansätze maßgeblich mit einbezieht, plädiert für die Gestaltung unseres Lebens im Sinne der neuen wissenschaftlichen Paradigmen. Seit der so genannten Grundlagenkrise – den Theorien Einsteins, Heisenbergs uns Gödels – sowie in der Chaosforschung, der Theorie der Fraktale und dem Konzept der dissipativen Strukturen, ist die Welt auch aus der Sicht der Wissenschaft durch Pluralität und Heteronomie gekennzeichnet. Die Realität sei heute nicht homogen, sondern heterogen, nicht harmonisch, sondern dramatisch, nicht einheitlich, mit einem Wort divers. 7 Jean de Loisy, Im Angesicht dessen, was sich entzieht. In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Ausstellungskatalog. München/Berlin/London/New York 2008, S. 13 8 Christian Thomas Kohl, Buddhismus und Quantenphysik. Die Wirklichkeitsbegriffe Nagarjunas und der Quantenphysik. Airtrang 2005, S. 18 9 Christian Thomas Kohl (2005) S. 23 10 Christian Demand, Revolution oder Reformation? – Über das Ethos des Neuen in der Kunst der Moderne. In: Leander Kaiser/Michael Ley (Hsg.), Die ästhetische Gnosis der Moderne. Wien 2008, S. 33 12 Die logischen Formen der herkömmlichen Wissenschaft (Induktion und Deduktion, Repetition und Reduktion, Konsequenz und Progression) werden in der Postmoderne von Komplexität und Widerspruch, Paradoxie und Paralogie abgelöst, - die Forderung nach Konsens würde weniger wichtig sein als die Bereitschaft zum Dissens11. Fortschrittliche Wissenschaft sieht jede Aussage im Kontext eines bestimmten Wirklichkeitsbegriffes. So ist z. B. die Integration der Philosophie in einen spirituellen Weg (wie es etwa im Buddhismus der Fall ist, der in dieser Arbeit Berücksichtigung findet) dem modernen westlichen Philosophieverständnis fremd12. Karl Popper versucht, diesen Aspekt in seine Vorstellung von Wissenschaftlichkeit zu integrieren: Man kann nicht leugnen, dass es neben metaphysischen Gedankengängen, die die Entwicklung der Wissenschaft hemmten, auch solche gibt, die sie förderten. Und wir vermuten, dass wissenschaftliche Forschung. psychologisch gesehen, ohne einen wissenschaftlich indiskutablen, also, wenn man will, ‚metaphysischen’ Glauben an rein spekulative und manchmal höchst unklare theoretische Ideen wohl gar nicht möglich ist.13 Die Kritik des überkommenen Wissenschaftsbegriffs durch Karl Popper (...dass es eine logische, rational nachkonstruierbare Methode, etwas Neues zu entdecken, nicht gibt,...14) steht im Einklang mit den Erkenntnissen der Quantenphysik, die unsere herkömmlichen Vorstellungen von Welt wie absoluter Wahrheit in Frage stellt: Auch daraus ergibt sich, dass unser Denken bloß scheinbar ‚objektiv' sein kann (abgesehen davon, dass es im Subjekt und nicht in einer Maschine, einem Objekt stattfindet), denn wir lösen schon beim Hinschauen ständig Ereignisketten durch einen Bewertungsfilter heraus, ordnen sie nach verschiedenen, nur selten bewussten Kriterien, stülpen ihnen Netze aus Kategorien, Verallgemeinerungen, Vorurteilen und Vorlieben über, und meist halten wir uns in dem Glauben, die Wirklichkeit bestehe nur aus dem, was wir - derart gefiltert - beschreiben und 11 Wolfgang Welsch, Perspektiven für das Design der Zukunft. In: Ders., Ästhetisches Denken. Stuttgart 2003, S. 213 f 12 Im Fall des Okkultismus in Europa, der in dieser Arbeit berücksichtigt wird, ist die Frage nach dem Wissenschaftsbegriff und dessen Abgrenzung vom Okkulten die Grundlage der Definition wie auch der Auseinandersetzung mit dem Übersinnlichen schlechthin. Immerhin hatte die angebliche wissenschaftliche Beweisbarkeit eines Lebens nach dem Tod für viele führende Wissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts (etwa Henri Bergson, William James, William Crookes und Karl Friedrich Zöllner) einen großen Reiz (vgl. Astrid Kury, „Heiligenscheine eines elektrischen Jahrhunderts sehen anders aus...“. Okkultismus und die Kunst der Wiener Moderne. Wien 2000, S. 18). Im Bereich des Buddhismus, der in dieser Arbeit ebenfalls zur Sprache kommt, sieht Christian Thomas Kohl die Problematik der Kontextgebundenheit (Was heißt es denn, in einer Denktradition zu stehen?). Sie besteht u. a. darin, dass ohne meditative Praxis, - also ohne eine hohe Stufe der spirituellen Realisierung erreicht zu haben, nicht alle Argumentationsebenen überprüft werden können. In: Christian Thomas Kohl (2004) S. 14 – 18 13 Karl Popper, Die Logik der Forschung. Tübingen 2005, S. 14 f 14 Karl Popper (2005) S. 8 13 (technisch) beherrschen. Durch diese Auswahl, also buchstäblich durch unser ‚erkenntnisleitendes Interesse' schaffen wir so eine Sekundärwirklichkeit, von der wir glauben, es sei unsere eigentliche15. Die Meinung, Wissenschaft sei Generator zeitloser wie einziger und universeller Wahrheit, ist längst nicht mehr haltbar. Die Unterscheidung von Verfügungswissen und Orientierungswissen, gemessen an der Kritik Adornos, der die Wissenschaft in der Moderne nicht nur als nützliche, sondern auch als vorsätzlich korrupte und ignorante Geisel von Wirtschaft und Herrschaft - bis hin zu Auschwitz und Hiroshima – sieht16, öffnet ein weites Diskussionsfeld, das auch heute an Aktualität nichts eingebüßt hat. Aus diesem Grund setzen sich in kultur-, human- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen heute vermehrt perspektivisch, pluralistisch, interpretativ, kommunikativ, - im weitesten Sinn postmodern arbeitende Ansätze durch17. Der Politikwissenschafter Wolfgang Dietrich stellt fest, dass die Wahrheit einer Aussage immer kontextgebunden ist und deshalb wissenschaftliche Objektivität - wenn es sie überhaupt gibt – ebenfalls kontextgebunden sein muss. Der Kontext muss vor dem Behaupten einer Wahrheit definiert werden... Eine Aussage ist immer nur im Spannungsverhältnis von Adressanten und Adressaten wahr18. Deshalb schlägt er intersubjektive Kommunizierbarkeit als weitere Richtlinie für die Erarbeitung wissenschaftlicher Texte vor. Die Kommunizierbarkeit von (wissenschaftlichen) Aussagen hänge nicht nur im streng linguistischen Sinn von einem gemeinsamen Verständnis der Sprachzeichen ab, - auch die Sprachregelsysteme spezifischer sozialer Einheiten, wie etwa Berufsgruppen, Altersgruppen oder Wissenschaftsdisziplinen konnotieren in so unterschiedlicher Weise, dass die Aussagen ohne Kenntnis des entsprechenden Bezugssystems häufig missinterpretiert oder gar nicht verstanden werden können19. Speziell für das Tema dieser Arbeit in Bezug auf Musikkultur, Digitalisierung und neue Medien ist der Aspekt der Altersgruppe oder der Generation nicht zu vernachlässigen. Nicht nur die Art der Prägung und Wissensaneignung, sondern auch die Folgerungen und 15 Claudius Kern, Macht und Ohnmacht der Philosophie. Zur Ideologiegeschichte des Abendlandes - Teil 2, aus: http://cropfm.mur.at/philomacht2.htm (26. 12. 2006) 16 Wolfgang Dietrich, Deutungen und Bedeutungen des Begriffs Frieden in der Internationalen Politik. Aus: http://homepage.uibk.ac.at/~c40268/ (30. 03. 2006) 17 Wolfgang Dietrich, Prüfungsunterlagen zur Vorlesung Deutungen und Bedeutungen des Begriffs Frieden in der Internationalen Politik. Wien 2006, S. 5, aus: http://homepage.uibk.ac.at/~c40268/ (30. 03. 2006) 18 Wolfgang Dietrich (2006) S. 18 19 Wolfgang Dietrich (2006) S. 6 14 Schlüsse aus der Vergangenheit für zukünftige Entwicklungen betreffend, ist es von Belang, welcher Generation eine sich etwa bezüglich der modernen Kommunikation äußernde Person angehört. Z. B. sieht der jüngere David Jennings20 die Entwicklung der neuen Medien viel positiver und unsere Situation viel weniger krisenhaft als Vilém Flusser, der seine Warnungen in fortgeschrittenem Alter formuliert hat. Eine Differenzieung, die Dietrich nicht nennt, ist die der Geschlechter. Historisch gesehen, so schreibt Nancy K. Miller, steht z. B. Identität für die Frau nicht in jenem Verhältnis zu Ursprung, Institution und Produktion, das für die männliche Identität typisch ist. Frauen waren bzw. fühlten sich bis heute nie durch zu viel Selbst, Ego und Cogito belastet. Die Frau sei juristisch von der Polis ausgeschlossen gewesen, war also dezentriert und nicht institutionalisiert. In Bezug auf Integrität und Textualität, Begehren und Autorität, gebe es wichtige strukturelle Unterschiede zwischen der Position der Frau und der universellen Machtposition. Miller bezieht sich auf die Krise des Subjekts, die in der Diskussion der Postmoderne innerhalb eines Textmodells inszeniert wird. In diesem Sinn lässt sich auch die in dieser Arbeit versuchte Darstellung eines Wertewandels als Krise der vorwiegend männlich geprägten Codes interpretiern21. Die Grundlagen der Idee der Kontextgebundenheit sind in gewisser Weise bereits bei Aristoteles zu finden, der jeder Erkenntnisart einen eigenen Wahrnehmungstyp zugeordnet hat, welcher für die Erkenntnisart konstitutiv ist. Das heißt, dass Sinn ohne Wahrnehmung nicht existiert22. Auch Vilém Flusser sieht in einer zukünftigen Wissenschaft die Intersubjektivität als das neue Wahrheitskriterium. Das Ziel der Geschichte, die ganze Welt objektiv zu begreifen, sei zunächst ein religiöses, - der objektive Standpunkt transzendental. Flusser beschreibt die künftige Vorstellung von Wahrheit und das ihr zugrunde liegende Kriterum der Intersubjektivität folgendermaßen: Eine Aussage ist danach desto wahrer, je größer die Zahl der Standpunkte ist, die in ihr zu Wort kommen, und je größer die Zahl derer ist, die diese Standpunkte einzunehmen im Stande sind. Als Zeichen für diese Umwälzung nennt er die Wissenschaftsphilosophie (Neopositivismus), die Phänomenologie seit Husserl, die Kunstkritik sowie Methoden des Films und andere. Die Wahrheitssuche erscheint dann 20 Vgl. Kapitel 4.2., auch Kapitel 1.4. Vgl. Nancy K. Miller, Wechseln wir das Thema/Subjekt. Die Autorschaft, der Schreiber und der Leser. In: Fotis Jannidis et al (Hsg.) (2000) S. 255 22 Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken. Stuttgart 2003, S. 222 f 21 15 nicht mehr als Vormarsch Richtung Objekt oder Welt, sondern als Ausstrecken der Hände den anderen entgegen. Wahrheitssuche ist dann nicht mehr eine Entdeckungsfahrt, sondern der Versuch, sich mit den anderen hinsichtlich der Welt einig zu werden. Man sucht dann nicht mehr nach Wahrheit, um die Welt zu erkennen und zu beherrschen, sondern um gemeinsam mit anderen in ihr leben zu können. Die Folgen wären nicht nur die Auflösung der Trennung von Wissenschaft und Technik, Kunst und Politik, sondern eine radikal neue Stimmung, in die das menschliche Leben getaucht sein würde, die die Wahrheitssuche wieder zu einer religiösen Suche machen würde23. Noch weiter geht Wolfgang Welsch in der Ablehnung des Anthropozentrismus der Moderne, die dem Begriff des Humanen lediglich den des Inhumanen entgegengesetzt hat. Orientiert an asiatischer Kunst und asiatischem Denken, sieht er den Menschen als weltverbundenes Wesen, das als denkendes und erkennendes Wesen nicht mehr ganz anderer Natur als die Welt, sondern vielmehr durch sie geprägt sei, - unsere Erfahrung wäre dann eine der Weisen, in denen die Welt zum Bewusstsein kommt. Diesen Ansatz hat Welsch unter dem Stichwort des Transhumanen diskutiert24. So steht auch die vorliegende Arbeit im Kontext der konkreten Lebensspur des Verfassers, des ihm zur Verfügung stehenden Wissens und damit zusammenhängenden Standpunkten. Dieses Wissen wurde unterschiedlichen Informationsquellen entnommen, die allesamt nicht nur in konkreten zeitlich-räumlichen Kontexten stehen, sondern auch im subjektivpersönlichen Kontext25 zu suchen sind. Die Fragestellung selbst und die Beantwortung der gestellten Frage wird also unter Berücksichtigung dieses Bezugssystems, dieses Horizonts zu beurteilen sein. Meine Motivation setzt ebendort an, wo Vilém Flusser die Orientierung in einer von ihm konstatierten Krise der menschlichen Kommunikation als wesentlich erachtet. Flussers These, dass die Welt und das Leben in der Welt im Netz der Codes erlebt, erkannt und gewertet wird (im Netz von Codes, die unser Dasein programmieren), ist wichtig zum 23 Vilém Flusser (2000), S. 211 ff Wolfgang Welsch, Art Transcending the Human Pale – Towards a Transhuman Stance. In: International Yearbook of Aesthetics 5, 2001, S. 3 - 23 25 Während viele in dieser Arbeit aufgegriffenen Aspekte annähernd weltweit Geltung haben dürften (wie etwa die Kodifizierung bzw. Digitalisierung), sind andere mehr auf die westliche Welt bzw. auf Europa bezogen (z. B. sind die in dieser Arbeit präsentierten Fallbeispiele ausschließlich europäische Projekte). Zudem sind es jahrelange persönliche Erfahrungen, die zur gestellten Frage wie zur Motivation, diese zu beantworten, führen, - die auch mit meinem geografischen Standort zu tun haben, also als aus europäischer Sicht betrachtet zu beurteilen sind. 24 16 Verständnis dieser Krise. In der okzidentalen kodifizierten Welt (in jener, an der wir teilnehmen und deren Krise uns betrifft) ist seit ihrem Beginn vor etwa 3500 Jahren der alphabetische Code der offizielle Hauptträger jener Hauptinformation, welche „Geschichte“ genannt wird. Dieser Code sei in Gefahr, verdrängt zu werden. Demnach steht gegenwärtig ein Umbruch unseres Erkennens, Erlebens und Wertens vor sich, in dem Flusser der Erhellung wegen den Versuch unternimmt, diesen vom Alphabet her zu fassen26. Gleich, ob man die aktuellen Entwicklungen im gesellschaftlich-kulturellen Kontext seit 1980 nun als Wertewandel, Krise oder Paradigmenwechsel bezeichnet, in jedem Fall nehme ich an, dass dieser oder diese in unterschiedlichen Bereichen Abbildung finden wird bzw. Reaktionen auf diese Entwicklungen aufzuspüren sind27. Die im Titel aufscheinende Jahreszahl 1980 markiert den Beginn der so genannten Digitalisierung28 der Musik, die nicht nur die Musikindustrie29, sondern auch unseren Umgang mit Musik radikal verändert hat. Noch befinden wir uns im Übergang von der Industriegesellschaft zur Informationsgesellschaft. Digitalisierung, Computernetzwerke und neue Kommunikationstechnologien verändern aber derzeit schon Produktion, Verteilung, Veröffentlichung und Konsum der Informationsgüter nachhaltig. Die Digitalisierung hebt die Bindung des Informationsgutes an die materiellen Träger auf30. Das entspricht der von Siegfried Zielinsky festgestellten Entwicklungstendenz der allmählichen Ablösung der Botschaft vom Körper des Boten31, wenngleich auf einer sehr fortgeschrittenen Stufe der Entwicklung. Die Aufhebung räumlicher und zeitlicher Begrenzungen garantieren deren uneingeschränkte Abrufbarkeit. Ein im Kontext der Verbreitung und Vermarktung digitalisierter Musik wichtiger Aspekt ist der der Komprimierung. 1986 bis 1994 wurde am Fraunhofer Institut in Erlangen der 26 Vilém Flusser (2000) S. 83 Ich möchte darauf hinweisen, dass Flusser den Beginn der Krise der menschlichen Kommunikation bzw. der Krise der Codes schon mit Ende des 19. Jahrhunderts bzw. Beginn des 20. Jahrhunderts (etwa mit der Erfindung der Fotografie) datiert. 28 Digitalisierung meint die Übertragung analoger Signale in digitale Daten, welche von Computerprozessoren verarbeitet und in Computernetzwerken über große Entfernungen verschickt werden können. Die digitale Technik erlaubt also eine Loslösung des Informationsaustausches von räumlichen wie zeitlichen Bindungen und gewährleistet die zunehmende Speicherung und Nutzung von Informationsgütern in digitaler Form, das schnelle und weltweite Wachstum von digitalen Netzwerken und die zunehmende Verbreitung des Internet (World Wide Web). Vgl. Tobias Bauckhage, Das Ende vom Lied? Zum Einfluss der Digitalisierung auf die internationale Musikindustrie. Stuttgart 2002, S. 14. f 29 Vgl. Tobias Bauckhage, Das Ende vom Lied? Zum Einfluss der Digitalisierung auf die internationale Musikindustrie. Stuttgart 2002 30 Tobias Bauckhage (2002) S. 11 f 31 Siegfried Zielinsky, Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens. Reinbek bei Hamburg 2002, S. 94 27 17 Dateistandard MP3 entwickelt, mit dem es möglich geworden ist, Musikdaten in kleine Dateien umzuwandeln und leichter zu vervielfältigen und zu transportieren32. Musik als vielleicht anspruchvollste und ursprüngliche Form der menschlichen Kommunikation ist nicht nur der menschlichen Sprache sehr verwandt33, sondern verwendet ein dem Alphabet und der Grammatik vergleichbares Zeichen- bzw. Regelsystem. Es ist also nahe liegend zu vermuten, dass der Paradigmenwechsel bezüglich der alphabetisierten Welt auch die Welt der Musik betrifft. Musikalische Zeichen sind wie die Zeichen des Alphabets eindimensionale konzeptuelle Codes, die unsere Zeitvorstellung bestimmen bzw. prägen. Der nun von Flusser prognostizierte Schritt einer weiteren Verfremdung würde eine Umwertung der musikalischen Wertvorstellungen bedeuten, wie z. B. die unserer musikalischen Zeiterfahrung. Als Komponist und Musiker war es mir vor ungefähr 15 Jahren selbst Anliegen, auf die zu dieser Zeit schon spürbare Veränderung traditioneller Strukturen und Werte im musikalischen Kontext zu reagieren, in dem ich 1996 das KomponistInnenforum Mittersill initiiert und gegründet habe, um mich gemeinsam mit Gleichgesinnten in Form einer Mischung aus Dialog und Diskurs den neuen Herausforderungen zu stellen. Viele andere von Künstlern ausgehende Initiativen reflektieren Teilaspekte dieses Wertewandels oder Pardigmenwechsels, den ich anhand der Untersuchung einer Auswahl solcher Initiativen, Projekte oder Positionen darzustellen versuche. Durch meine persönliche Auswahl dieser ist die Aussage der Untersuchung zwar ebenso Kontext gebunden und subjektiv, erlaubt mir aber, mir wesentlich erscheinende und in gelebter Praxis sichtbar werdende Aspekte herauszuarbeiten und die Krisenhaftigkeit und den radikalen Wandel herkömmlicher Werte und Denkstrukturen im Bereich aktueller Musikkultur zu zeigen. Dabei soll es nicht nur um die ästhetischen Neuerungen und Brüche gehen, sondern auch um die spirituellen Grundlagen dieser. In Hinblick auf die These Flussers ist die Verdrängung der bisher noch 32 Tobias Bauckhage (2002) S. 23 f. Auf Grund der Eigenschaften des mp3 – Formats entwickelte sich ein weltweites Angebot digitaler Musik im Internet. Eine der ersten bekannten Musiktauschbörsen war Napster (S. 24). Heute wird versucht, die unbeschränkte Kopierbarkeit von digitalen Musikdateien zu verhindern (Kopierschutz). (S. 120) 33 Vgl. ein Beispiel aus dem Barock, eines aus dem 20. Jhdt. und eines aus der Indischen Musik: 1) Johann Mattheson, Kern melodischer Wissenschaft. Hamburg 1737, ND Hildesheim 1976, S. 128 ff. Mattheson vergleicht die Melodie mit der Rede, 2) Wilhelm J. Revers, Der Einfluss der Musik auf die psychische Entwicklung. In: Wolfgang Roscher (Hsg.), Polyaisthesis Jg.1 Heft 1, Salzburg 1986, S. 40: Die Wurzel des sprachlichen Ausdrucks ist auch die Wurzel des musikalischen Ausdrucks. 3) Die indische Musik gleicht ihrem Aufbau einer Sprache. In: Alain Daniélou, Einführung in die indische Musik. Wilhelmshaven 1996, S. 13 18 gültigen uralten Codes auch für die spirituelle Krise bzw. - milder ausgedrückt - die radikalen Veränderungen im Geistigen verantwortlich. Bill Drummonds No Music Day ist eine Initiative, die deutlich auf die Omnipräsenz und Verfügbarkeit von Musik in unserer Zeit reagiert und sowohl sozialkritische wie spirituelle Aspekte in sich trägt. Die Anregung des Sechsundfünfzigjährigen, die Frage, was Musik sei, erneut zu stellen und damit unseren Umgang mit Musik zu hinterfragen, stellt die heute undurchdringbar scheinende Kultur musikalischer Kommunikation wieder auf Null. Der deutsch-englische Komponist Ludger Hofman-Engl nimmt mit seiner Initiative Chameleon Group eine radikal soziale Position ein, die die traditionelle Wertschöpfungskette von Musik sowie das traditionelle Künstlerbild infrage stellt. Das slowenische Festival Sajeta steht für eine regionale, jedoch international orientierte und vernetzte Initiative, die in der Betonung der Regionalität Austausch und Interaktion unter Künstlern, aber auch zwischen Künstlern und Publikum thematisiert. Das Projekt fair music orientiert sich am bereits existierenden Modell des gerechten Handels (fair trade) und zeigt damit einerseits Mechanismen der Musikindustrie und des Musikmarktes auf, und versucht andererseits, entlang den von der UNESCO definierten Menschenrechten mehr Bewusstsein für die Positon der Musikschaffenden wie auch der Musik-Konsumenten zu erzeugen. In der Auseinandersetzung mit dem Komponisten Peter Ablinger und seinem Werk möchte ich eine Haltung darstellen, die paradigmatisch für die Stellung des Künstlers aber auch den neuen Werten bezüglich der Kunst bzw. Musik in unserer Gesellschaft ist. Als an der bildenden Kunst orientiert, entwickelt Peter Ablinger eine kritische Sicht bezüglich der Konventionen des Musiklebens, die eine grundlegend neue Musikauffassung zeitigt. Schließlich soll der Aspekt der performativen Gesellschaft (performative society34) hier nicht unerwähnt bleiben. Aus kultursoziologischer Sicht hat das Performative in Kultur und Gesellschaft in Bezug auf das Herstellen und Ausagieren von Wissen und Tradition mit dem radikalen Umbau der Gesellschaft seit den 1970er Jahren an Bedeutung gewonnen. Diese gesellschaftlichen Veränderungen sind vielfältig und beinhalten nach Gabriele Klein und Wolfgang Sting Entwicklungen wie Globalisierung und damit einher gehende kulturelle, soziale und politische Fragmentierungen, weiters Informatisierung, 34 Vgl. Baz Kershaw, The Radical in Performance. Between Brecht and Baudrillard. London/New York 1999, S. 13 19 Virtualisierung und Medialisierung bei gleichzeitiger Eventisierung Theatralisierung und Musealisierung des Sozialen. Dazu gehören aber auch neoliberale und postkoloniale Politik, neue Formen der Wissensproduktion, die neue symbolische Macht der Bilder, Codes und Zeichen und das gleichzeitige Implodiern von Bedeutungen durch Vorbehalte gegen Metaerzählungen, das Wiedererstarken von Machtachsen, der Kollaps kultureller Hierarchien und neue Distinktionslinien zwischen kulturellen Praktiken. Dadurch habe sich ein völlig neues Konzept der Gesellschaft etabliert, auf dessen Grundlage die performative society Flexibilität vor Fixiertheit, Fragmentierung vor Kohäsion, Pluralität vor Einheit und kulturelle Vielfalt vor kultureller Homogenität stelle35. Aufgrund der Bedeutung des Performativen, an dem die Musik keinen unwesentlichen Anteil hat, habe ich in meiner Untersuchung von Fallbeispielen das International Multimedial Art Festival (IMAF), das sich in erster Linie der Performance-Kunst widmet, berücksichtigt. Angesichts dieser hier erwähnten Aspekte lässt sich kein homogenes, eindeutiges Ergebnis dieser Arbeit erwarten. Vielmehr ist die Herausforderung, dieses Ergebnis im Sinne der hier bereits angedeuteten neuen Paradigmen offen und beweglich zu halten, jedoch konkret genug, um eine Standortbestimmung bzw. Orientierung zu ermöglichen. Die Frage, wer diese Orientierung suchen bzw. wem sie nützen könnte, ist die Frage nach dem Kontext und den Adressaten dieser Arbeit. In erster Linie will ich zur Diskussion in einem Bereich beitragen, dessen Grenzen unscharf geworden ist, im Bereich der so genannten Neuen Musik. Dort sind die Adressaten alle an dieser Neuen Musik Beteiligten bzw. Interessierten, denn Orientierung heißt immer auch, die eigene Position in den Kontext eines Bezugssystems zu stellen, zu überprüfen und auch zu hinterfragen. Dieses zu beschreiben wird im Folgenden versucht. 35 Gabriele Klein/Wolfgang Sting (2005) S. 8 20 1 Begriffe und Positionen 1.1 Methode Die von mir angewandten Methoden sind zunächst die Analyse der am Thema des Wertewandels orientierten Aspekte westlicher (mitteleuropäischer) Musikkultur unter vergleichender Berücksichtigung von Aspekten einerseits fernöstlicher (nordindischer) Musikphilosophie, andererseits von Spiritualität, Gebet und Meditation, sowie die Analyse europäischer Künstlerinitiativen (Intention – Realisierung - Rezeption) in Zusammenhang mit diesen. Ein zweiter für mich wesentlicher methodischer Ansatzpunkt ist die von Siegfried Zielinski36 eingeführte Methode der An-Archäologie. Der von ihm verwendete Begriff der Tiefenzeit zielt auf die Berücksichtigung früher historischer Ereignisse, die längst in Vergessenheit geraten sind, aber dennoch bis in die Gegenwart wirken, womit Zielinsky die Aktualität des Vergangenen thematisiert. „...nicht Altes, das schon immer Dagewesene, im Neuen suchen, sondern Neues, Überraschendes im Alten entdecken.“37 Dazu gehören für meine Arbeit sowohl Aspekte der Spiritualität im allgemeinen und des östlichen Denkens38 im besonderen, als auch die der von Künstlern (aus dem Bereich Musik, aber auch aus den Bereichen bildende und darstellende Kunst) initiierten Projekte als kulturhistorische Dokumente. Es ist eine Methode, die Schnitte anlegt, um an den Schnittflächen Entdeckungen machen zu können, die der genealogischen Betrachtung verloren gegangen sind oder in ihr keine Betrachtung erfahren haben. Eine Methode, in der nicht auf verbindliche Trends und zwingende Fluchtpunkte insistiert wird, sondern in der es gelte, in historischen Meisterplänen Endungen und Brüche zu entdecken, die für die Bewegung im Labyrinth des Etablierten nützliche Anregungen werden können39. Dieser methodische Ansatz gründet nicht zuletzt auf einer Erfahrungsweise, die von Peter D. Ouspensky so formuliert wurde: Es gibt Augenblicke im Leben, die von langen Zeiträumen getrennt sind, die aber durch ihren inneren Gehalt und durch eine gewisse besondere Empfindung auf seltsame Weise verbunden sind40. 36 Siegfried Zielinski, Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens. Hamburg 2002 37 Zielinski (2002) S. 11 f 38 Zugespitzt formuliert stammen die philosophischen und praktischen Grundlegungen für den Bau der modernen Medienwelten aus dem Fernen Osten, ... aus: Siegried Zielinski (2002) S. 302 39 Siegfried Zielinsky (2002) S. 17 40 Peter D. Ouspensky (1986) S. 5 21 Die Methode etwa der traditionellen Werkanalyse wird dagegen primär nicht zur Anwendung gelangen. Vielmehr ist es mein Anliegen, den zeitlichen bzw. tiefenzeitlichen Kontext, in dem musikalische Werke entstanden sind bzw. heute entstehen, zu thematisieren und darzustellen.. 1.2 Begriffe Die Begriffe, die heute im Bereich der gegenwärtigen Kunstmusik gebräuchlich sind, sind unterschiedlich entstanden und geladen. Teilweise sind sie aus der Tradition übernommen, teilweise sind es Neuschöpfungen, die Noch-nicht-da- Gewesenes zu erfassen versuchen. Meist sind es so genannte Regenschirmbegriffe, eine Metapher, die Rosalind Krauss für alle Begriffe, die im 20. Jahrhundert entstanden sind, eingeführt hat41. Sie meint damit Begriffe, die sehr Verschiedenes umspannen. Helga de la Motte Haber hat vorgeschlagen, diese Metapher auf alle Benennungen anzuwenden, die seit der Emanzipation der Ästhetik im 18. Jahrhundert gebräuchlich sind42. Alle in diesem Kapitel erörterten Begriffe kann man grundsätzlich unter diesen Gesichtspunkt stellen. Besonders betrifft das den zentralen Begriff der Neuen Musik. Begriffe bezeichnen, definieren, kategorisieren und halten gleichermaßen auch fest. Sie sind mehr als nur Namen, - sie sind Codierungen, die in gewisser Weise Sachverhalte nicht nur verschlüsseln, sondern uns, die damit umgehen, auch programmieren. Das Lesen des dem Begriff zugeordneten Begriffswortes oder Symbols geht mit der Aufforderung einher, den Begriff gedanklich zu realisieren, die mit dem Wort assoziierten Erlebnisinhalte oder Bilder zu reproduzieren. Begriffe sind aus diesem Grund elastisch, weil in ihnen unterschiedlichste Erfahrungen zusammengefasst sind und dieser Erfahrungsschatz veränderlich ist. Die Begriffsbildung, die auch Abstraktion genannt wird, steht oft mit Wertungen und Positionierungen in Verbindung. Das Wort für einen Begriff ist zwar etymologisch aufschlussreich, aber im Prinzip - rein logisch gesehen – gleichgültig und deshalb auch austauschbar43. Die Absicht des Abstrahierens oder Abziehens ist, die Dinge der Welt in den Griff zu bekommen, sie zu begreifen, - eine Bewegung von Dingen zu 41 Helga de la Motte-Haber, Konzeptionen von Klangkunst. Berlin 2002. Aus: http//www.floraberlin.de/soundbag/sbimages/motte.htm (11. 04. 2009) 42 Helga de la Motte-Haber (2002) 43 Vgl. Franz Austeda, Wörterbuch der Philosophie. Berlin 1975, S. 31, Alfred Wieser, Philosophie. Einführung und Orientierung. Wien 1972, S. 30 f und Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band I/A – C, Basel 1971, Sp. 780 ff 22 Informationen44. In der heutigen Informationsgesellschaft stellen diese Informationen schließlich unsere Wirklichkeit dar45. Begriffe sind nach Vilém Flusser wie das Alphabet eindimensionale Codes und damit Teil unseres historischen Bewusstseins. Wie an anderer Stelle noch ausgeführt werden wird, sieht Flusser aufgrund des Ansteigens der Wichtigkeit zweidimensionaler Codes die eindimensionalen Codes in einer Krise46, das heißt, sie werden von jenen abgelöst bzw. allmählich nicht mehr verstanden. Beide Aspekte, - die innere Vieldeutigkeit (Regenschirm) und die Dialektik zwischen Begriff und Bild (Codes) geben dazu Anlass, die aktuelle Begrifflichkeit im Bereich des Musikgeschehens zu diskutieren. Ein Paradigmenwechsel in der Musik, der in dieser Arbeit dargestellt werden soll, wird sich vielleicht schon auf der Ebene der Begriffe abbilden. 1.2.1 Neue Musik und Moderne Wenn der künstlerische Leiter des Festivals Wien Modern im Jahr des 20-jährigen Bestehens dieses größten und wichtigsten Festivals seiner Art in Österreich das Projekt Avantgarde und damit seine Kurzformel Neue Musik (mit großem N) als historisches Phänomen, das der Geschichte angehört, bezeichnet, so in erster Linie deswegen, um das musikalisch Neue, das heute geschaffen wird, von Früherem abzugrenzen47. Der Ausdruck Neue Musik dürfte sich etwa um 1919 als Begriffswort im deutschsprachigen Raum durchgesetzt haben und 1925 endgültig als Begriff gefestigt gewesen sein48. Vor allem der Dirigent, Musikkritiker und Intendant Paul Bekker49 hat zur Begriffsbildung erheblich beigetragen. Ein Ausdruck, der ursprünglich nicht Kontext gebunden war, wurde zum Brand- bzw. Markennamen einer Epoche stilisiert und damit auch einem Bedeutungswandel unterzogen, - schließlich aber auch grundsätzlich in den Kontext einer bestimmten Sprache und einer bestimmten musikalischen Entwicklung gestellt. Arnold Schönberg hat sich 1933 in einem Vortrag bzw. Aufsatz zur Problematik des Begriffs Neue Musik und offensichtlich auch zu Paul Bekker polemisch geäußert: Was 44 Vilém Flusser, Medienkultur. Frankfurt am Main 1997, S. 185 f Wolfgang Welsch, Perspektiven für das Design der Zukunft. In: Ders., Ästhetisches Denken. Stuttgart 2003, S. 209 46 Wolfgang Welsch (2003) S. 12 47 Berno Odo Polzer in einem von Carsten Fastner geführten Interview Das Projekt Avantgarde ist Geschichte. In: Falter 42a/08, Beilage Wien Modern zum Falter 42/08. Wien 2008, S. 20 48 Christoph von Blumröder, Der Begriff „neue Musik“ im 20. Jahrhundert. München, Salzburg: Musikverlag Emil Katzbichler, 1981 (= Freiburger Schriften zur Musikwissenschaft, Bd. 12), S.49 ff 49 geboren 1892 in Berlin - gestorben 1937 in New York (Aus: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), Personenteil 2. Stuttgart 1999, S. 967) 45 23 ist „Neue Musik“ ? Offenbar doch eine solche, die es vor ihr noch nicht gegeben hat? So neu muss aber Musik immer sein, sofern es sich um Kunst handelt! Denn nur das Neue, Ungesagte ist in der Kunst sagenswert. So neu war tatsächlich Kunst zu jeder Zeit, und wir hätten danach die Wahl, Werke von Josquin des Prés, oder von Bach oder von Haydn oder von welchem großen Meister immer, als neue Musik zu verstehen; denn Kunst heißt: Neue Kunst. Aber das haben die Erfinder dieses Schlagwortes nicht gemeint. Erfinder ist etwas zu viel gesagt. denn es waren keine Erfinder, die der in den letzten Jahren entstandenen Musik den Titel einer neuen Musik verliehen haben; sondern im Gegenteil eine Art Historiker, wenn man Leute so nennen will, die vielleicht die wichtigsten Tatsachen der Musikgeschichte, aber nicht deren Sinn kennen. (...) Neue Musik ist die Musik neuer musikalischen Gedanken. Neue Gedanken zeigen sich in einer neuen äußeren Gestalt. Musik aber, die einmal wahrhaft neu gewesen ist, kann in Wirklichkeit nicht veralten... 50. Carl Dahlhaus spricht von der fundamentalen Veränderung der Situation der Neuen Musik durch die Zäsur des 2. Weltkrieges und bezweifelt, von Neuer Musik als einer geschlossenen, in sich zusammenhängenden Entwicklung sprechen zu können. Für Dahlhaus ist Neue Musik Idee, Institution und Prestigevokabel, welche nur einen quantitativ geringen Teil der Kompositionsgeschichte des 20. Jahrhunderts repräsentiert51. Hermann Danuser weist in seinem MGG-Artikel zum Thema Neue Musik52 darauf hin, dass die europäische Musikgeschichte der letzten tausend Jahre durch Prozesse der Innovation vielfältig bestimmt war, und dass die Faktoren, die für unsere Neue Musik gelten, auch schon früher – wenngleich in anderer Form, Qualität und Dichte – für Neuerungen in der Musik bestimmend waren53. Er betont auch die Internationalität der Kategorie Neue Musik, die in den einzelnen Sprachen nur unterschiedliche terminologische Erscheinungsformen hat. Damit widerspricht er Christoph von Blumröder, der Neue Musik begriffsgeschichtlich zunächst auf die deutsche Sprache beschränkt sieht54. 50 Arnold Schönberg, Neue und veraltete Musik, oder Stil und Gedanke. 3. Fassung eines Vortrags. In: Ivan Voitêch (Hsg.), Arnold Schönberg, Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik. Nördlingen 1976, S. 466 ff 51 Carl Dahlhaus, Vorwort. In: H. H. Stuckenschmidt, Neue Musik.Frankfurt/Main 1981, S. VII ff 52 Hermann Danuser, Neue Musik. In: Ludwig Finscher (Hsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. (MGG), Sachteil Band 7, 1997 Kassel, Stuttgart, Sp. 75 f 53 Danuser nennt als Faktoren: terminologischer Neuansatz, kompositorische Neuerung, Schaffung einer neuen Institution, Herausbildung einer neuen Gattung, Bestimmung einer bisher unbekannten Funktion, Entgrenzung eines bestehenden Musikbegriffs, Beteiligung des Publikums, Entfaltung von Reflexionsstrukturen, Einführung neuer Spiel- und Gesangsweisen. In: Hermann Danuser (1997)Sp. 75 54 Christoph von Blumröder, Neue Musik. In: Hans Heinrich Eggebrecht (Hsg.), Handwörterbuch der musikalischen Terminologie. Stuttgart 1995, S. 300 24 Blumröder gibt in seiner 1981 als Buch erschienenen Dissertation55 über den Begriff Neue Musik einen umfassenden und genau recherchierten Einblick in die Entstehungsgeschichte, das historische Umfeld und auch die internationalen Erscheinungsformen dieses Begriffs. Die Details dieser Darstellung, auf die ich hier näher eingehen werde, betreffen vor allem die Entstehungsgeschichte und die damit verbundenen Begriffskonstanten. Dabei folge ich im Weiteren auch der heute üblichen Schreibweise des Begriffs mit großem N. Etwa 80 Jahre nach der Begriffsfestigung des Ausdrucks Neue Musik ist der Begriff auch heute noch in Gebrauch. Nachdem der ursprünglich sehr eng gegenüber zeitgenössischen musikalisch-ästhetischen Haltungen und Strömungen abgegrenzte Begriff entsprechend den musikalischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, die jeweils durch ihn bezeichnet worden sind, Bedeutungswandel erfahren hatte, ist er heute unscharf geworden56. War die Großschreibung des Adjektivs, die sich bald durchzusetzen begann57, ein zusätzliches Merkmal der Begriffsfestigung, ging diese nicht mit einer Schärfung des Begriffs einher. Die Großschreibung ist heute die gängige Form, - der Hinweis auf das große N der Versuch einer groben stilistischen Zuordnung von Musik, - gleichzeitig aber auch Beleg für den Markencharakter. Schon nach dem zweiten Weltkrieg und dem damit verbundenen Traditionsbruch wurde zwischen neuer Neuer Musik und älterer Neuer Musik unterschieden58. Alle anderen Begriffe, die seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts für die Bezeichnung neuer musikalischer Strömungen verwendet wurden und die Blumröder von dem Begriff Neue Musik abzugrenzen versucht, sind ebenfalls auch heute noch im Gebrauch: Moderne Musik, Avantgarde, Experimentelle Musik, Aktuelle Musik, Musik der Gegenwart. Hermann Danuser dagegen ortet zwischen diesen allein im Deutschen verwendeten einschlägigen Begriffsvarianten eine so große Unschärfe, dass er den Versuch unterlässt, sie scharf gegeneinander abzugrenzen, - was aber auch nicht heißen soll, dass sie dasselbe 55 Christoph von Blumröder, Der Begriff „neue Musik“ im 20. Jahrhundert. München, Salzburg: Musikverlag Emil Katzbichler, 1981 (= Freiburger Schriften zur Musikwissenschaft, Bd. 12) 56 Alfred Baumgartner, Musik des 20. Jahrhunderts. Salzburg 1985 (5. Band der Reihe Der große Musikführer) Baumgartner erwähnt den Begriff Neue Musik lediglich im dem Band beigefügten Kurzlexikon zur Musik des 20. Jahrhunderts: ...nur unscharf abzugrenzende Musik des 20. Jahrhunderts, die keine älteren Formen und Techniken konserviert. Ob die Bezeichnung zum Epochenbegriff werden wird, ist nicht abzusehen (S. 696) 57 Christoph von Blumröder (1981) S. 61, sowie Hans Heinrich Eggebrecht (Hsg.), Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert. Mainz 1995 58 Rudolf Stephan, Neue Musik. Versuch einer kritischen Einführung. Göttingen 1958, S. 60 und S. 63 25 bedeuten59. Danuser stellt diesen terminologischen Normen lieber eine Pragmatik der Neue-Musik-Kultur entgegen, - eine ausschließlich die Fakten berücksichtigende Betrachtungsweise. Adäquate historische Erkenntnis Neuer Musik ist für ihn nur möglich, wenn diese als allgemeine Kategorie musikalischer Modernität begriffen wird. Auch Andreas Ballstaedt kommt in seiner Habilitationsschrift, die sich dem Thema Neue Musik widmet, zum Schluss, dass jeder Versuch einer terminologischen abgrenzenden Bestimmung angesichts eines häufig sich überschneidenden Begriffsfeldes aussichtslos wäre60. Die Begriffe Zeitgenössische Musik und Musik der Gegenwart sind als chronologische als einzige wertneutral, werden aber heute auch als Synonym für Begriffe, die innovative Strömungen in der Musik bezeichnen, verwendet. Beispiele für diese Unschärfe sind Namen von Institutionen, Ensembles und Vereinen, die sich über diese Titel inhaltlich oder ästhetisch positionieren, wie etwa die Internationale Gesellschaft für Neue Musik (die englischsprachig Internatonal Society for Contemporary Music heißt, wobei das englische Wort contemporary zeitgemäß oder zeitgenössisch heißen kann, - „der Zeit gemäß“ wäre ein Ausdruck, der dem Begriff modern nahe steht und somit als wertend zu betrachten ist, zeitgenössisch hingegen ist als rein chronologisch aufzufassen), die Österreichische Gesellschaft für Zeitgenössische Musik, das Ensemble Modern, das Festival Wien modern, die Dresdner Tage Zeitgenössischer Musik, das Start Festival für aktuelle Musik, oh ton Förderung aktueller Musik e.V., der Verband aktuelle Musik Hamburg61, und viele mehr. War bei der Gründung der IGNM z. B. die Namensgebung noch umstritten, wobei die Bezeichnungen neue Musik, Zeitgenössische Musik und Moderne Musik diskutiert wurden62, so ist die Bezeichnung heute selbstverständlich geworden und meint ein breites und, wie ich meine, ungenau definiertes Feld des zeitgenössischen Musikschaffens und Musiklebens. Das Ringen um Begrifflichkeit war um und nach der Wende zum 20. Jahrhundert ein Merkmal des Ringens um Etablierung des noch nicht Etablierten. Seit etwa 1954 verbreitete sich ein pluralistisches Verständnis des Begriffswortes Neue Musik der als neu 59 Hermmann Danuser (1997) Sp. 76 „Alle drei Begriffe, Neue Musik, moderne Musik und Avantgarde sind [...] durch ihren sprachlichen Gebrauch in Musikgeschichtsdarstellungen nicht generell zu differenzieren, vielmehr lässt sich jeder der drei Begriffe in jeder der drei Verwendungsweisen (temporal, epochal und imperativ) finden.“ In: Andreas Ballstaedt, Wege zur Neuen Musik. Berlin 1995, Typoskript S. 48, zitiert nach Danuser S. 76 61 http://www.vamh.de/index.php?what=verband (Angesichts der Zersplitterung zeitgenössischer Musik in immer mehr Szenen, angesichts der politischen und wirtschaftlichen Lage wurde es auch in Hamburg Zeit für einen Zusammenschluss, eine Vernetzung von Hamburgs experimenteller Musikszene.) 62 Christoph von Blumröder (1981) S. 67 60 26 empfundenen Musik des 20. Jahrhunderts seit etwa 191063. Bereits 1955 proklamiert Herbert Eimert das Ende der Neuen Musik, weil er im seriellen Denken und der elektronischen Musik ein Neues repräsentiert sah, das mit dem alten Begriff unvereinbar geworden war64. Die etablierten Institutionen des Musiklebens waren den Anforderungen, die die Neue Musik an sie stellte, nicht gewachsen. Es ergab sich eine tief greifende und lang andauernde Umwälzung des Musiklebens, in dem zu den traditionellen Institutionen neue hinzutraten, welche die Kultur der Neuen Musik darstellten, - spezielle Institutionen wurden auch deshalb gegründet, weil das traditionelle Konzertpublikum nicht bereit war, die Neue Musik zu rezipieren. Die so entstandenen Spannungen führten regelrecht zu einer Aufspaltung der bürgerlichen Musikkultur65. Die Aktivität der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik z. B. ist heute zu einem weltweit wirkenden Kultursystem geworden. Diese wie auch etwa die 1946 gegründeten Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt waren und sind nicht nur Plattformen für kompositionsgeschichtliche Entwicklungen, sondern gleichzeitig selbst künstlerische Produktionsstätten. Das heißt, dass die in diesem Kontext entstandenen und entstehenden Werke in engem Zusammenhang mit den Intentionen stehen, die die Geschichte der Institution Neue Musik ausmachen66. Die Neue Musik erscheint auch hier als das zu einer Marke stilisierte Label musikgeschichtlicher Entwicklungen. Im immer unübersichtlicher werdenden Pluralismus des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts kommt in den 80er Jahren noch ein weiterer Begriff, der für neue Tendenzen bzw. ein neues Denken auch in der Musik steht, hinzu: der Begriff der Postmoderne, der in Bezug auf Musik zunächst nicht präzise ausdrücken kann, ob er eine Zeitperiode, eine Ästhetik, ein Rezeptionsverhalten oder eine Kompositionsmethode benennt. Die für das zeitgenössische Musikschaffen nach wie vor gebräuchlichsten Begriffe im deutschsprachigen Raum, die zum Teil ursprünglich musikalische Stile oder historische 63 Christoph von Blumröder (1981) S. 114 Christoph von Blumröder (1981) r S. 127 65 Hermann Danuser (1997) Sp. 79 66 Hermann Danuser (1997) Sp. 81 64 27 Strömungen bezeichneten, sind also folgende, die ich im Anschluss auch einzeln diskutieren werde: • Neue Musik • Moderne Musik • Avantgarde • Experimentelle Musik • Aktuelle Musik • Musik der Gegenwart • Zeitgenössische Musik • Musik der Postmoderne • Klangkunst und Musikperformance • E-Musik/U-Musik 1.2.2 Das Begriffspaar alt und neu Das Attribut neu (lat. novus modern) ist im Zusammenhang des Begriffspaares alt-neu {bzw. alt – jung) zunächst ein chronologisches. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm unterscheidet zwar zwischen neu und jung, stellt aber beiden alt entgegen. Alt bedeutet hoch aufgewachsen und hoch dem neuen jungen Schoß entgegenstehend67. Neu bedeutet erst oder unlängst entstanden bzw. zum ersten Male, - etwas anderes als das frühere und bisherige und etwas ganz neues, bisher Unbekanntes. Etymologisch scheint neu mit nu (nun, jetzt) zusammenzuhängen68. Im Zusammenhang mit Innovationstendenzen in den Künsten war und ist es auch immer ein (um-) wertendes. Als Beispiel sei hier die Ars nova (14. Jhdt.) angeführt, die in der Ars antiqua (13. Jhdt.) ihren Gegenpart hatte. Diese Übergangszeit zwischen Notre-Dame-Schule und Ars nova war durch die Entstehung der Motette und die damit in Zusammenhang stehende Entwicklung der Mensuraltheorie bzw. -notation gekennzeichnet. Der Name Ars antiqua kam gemeinsam mit dem der Ars nova um 1320 in Paris auf. Ars nova war der Titel des um 1320 von Philippe de Vitry verfassten Traktates, mit dem sich der Autor auf eine neue Sinngebung in der Kunst einerseits und die Neuerungen der Mensuralnotation andererseits bezieht. Als Begriff für eine ganze Epoche wurde er von Hugo Riemann (Handbuch der 67 68 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854, Bd. 1, Sp. 263 Jacob Grimm/Wilhelm Grimm (1854) Bd. 13, Sp. 644 28 Musikgeschichte, Leipzig 1905) eingeführt. In Johannes de Muris hatte die Ars nova einen weiteren Theoretiker, dessen Werk Ars novae musicae bereits ein Jahr vor Vitrys Traktat im Jahr 1319 erschien. Das zentrale theoretische Werk für die Ars antiqua, das Speculum musicae des Jacobus von Lüttich, entstand um 1330 in einer Zeit, in der die Ars nova sich bereits etabliert hatte69. Ein Beleg für die Konflikthaftigkeit dieses Paradigmenwechsels am Beginn des 14. Jahrhunderts ist die Bulle Docta sanctorum patrum des Papstes Johann XXII. in Avignon (1324 – 1325), in der dieser gegen die Musik der Ars nova Stellung bezog und unter Androhung von Kirchenstrafen die Rückkehr zur alten Kunst (Ars antiqua, NotreDame-Schule) forderte. Die bedeutendsten Neuerungen hatten künstlerische wie gesellschaftliche Aspekte: die neue Art der Mensuralnotation, das Übergewicht der weltlichen über die geistliche Musik, die fast ausschließliche Geltung der mehrstimmigen Musik, die Unabhängigkeit der Musik als autonomes, von den bisher bestimmenden außermusikalischen Kräften unabhängiges Kunstwerk, und die Autonomie des Komponisten70. Der Dualismus von alt und neu war auch in der Verschiedenheit der englischen von der kontinentalen Musik in der Mitte des 15. Jahrhunderts gegeben. Der für die damalige Zeit ungewöhnlich kantable, improvisatorisch freie Stil John Dunstables und der Komponisten der Englischen Schule hatte großen Einfluss auf die Komponisten des Festlandes und begründete einen neuen Musikstil, der vom Komponisten und Theoretiker Johannes Tinctoris ebenfalls mit Ars nova bezeichnet wurde71. Ein letztes Bespiel für das Spannungsverhältnis zwischen alt und neu im Kontext der Musikgeschichte ist der Traktat Della Musica antica e della moderna (1581) von Vincenzo Galilei, in der dieser zugunsten des monodischen Stils gegen die kontrapunktische Musik Stellung bezieht. Giulio Caccini fordert schließlich in seiner Vorrede zu Nuove Musiche 69 Karl H. Wörner, Geschichte der Musik, Göttingen 1972, S. 127 ff Karl H. Wörner (1972) S. 130 71 Johannes Tinctoris, Proportionale musices. (1472/73) In: Edmond de Coussemaker (Hsg.) Scriptorum de musica medii aevi nova series a Gerbertina altera. Hildesheim 1963 70 29 (1601), einer Sammlung von Sologesängen, und im Sinne des neuen monodischen Stils, dass der Gesang sich dem Wort unterzuordnen habe72. Hans Vogt stellt in Frage, ob Neu-Sein in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts noch eine fruchtbare künstlerische Prämisse, - ein künstlerisches Qualitätsmerkmal sein kann und identifiziert dieses Moment als Folge des materialistischen Denkens und der Fortschrittsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts73. In diesem Zusammenhang erscheint auch die Frage nach dem Alten, der Tradition in anderem Licht. Wystan H. Auden bemerkt dazu, dass Tradition nicht mehr die Schaffensweise meint, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird, sondern dass man sich des Ganzen der Vergangenheit als eines Gegenwärtigen bewusst ist74. Schließlich wäre hier noch ein Aspekt erwähnenswert, auf den ich in Kapitel 2.2 näher eingehen werde: Das Neue impliziert nicht nur Fortschritt, sondern auch Entwicklung. Entwicklung wieder hat einerseits die fast aufklärerische Bedeutung von Freilegen, sogar Entwirren, andererseits die der technisch wie spirituell interpretierbaren Höherentwicklung des Menschen, die im Prinzip auch mit der Idee der Evolution in Verbindung steht. Das idealistische Excelsior war eine Formel, die unter Künstlern im 19. Jahrhundert verbreitet war75. 1.2.3 Neue Musik Die Bildung und Bedeutung des Begriffs Neue Musik wird vor dem Hintergrund des Paradigmenwechsels und der Neuorientierung in allen Künsten um 1900 verständlich76. Enthielt bereits der Begriff der Moderne die Absicht der Abwendung von der Romantik, so stand das Wort neu für die Überwindung derselben77. Um 1920 waren folgende Konstanten 72 Karl H. Wörner (1972) S. 282 und 216. Hier beschreibt Wörner die weitere Entwicklung: Claudio Monteverdi unterscheidet 1607 zwischen der Seconda Prattica und der Prima Prattica. Diese ist der Kompositionsstil seit Ockeghem, bei dem „die Musik nicht Dienerin, sondern Herrin des Wortes“ ist, bei der Seconda Prattica ist die dichterische Rede die Herrin der Musik. Geschichtlich wirkt sich diese Situation anders aus, indem nämlich nunmehr das Alte nicht mehr überholt wird und der Vergessenheit anheimfällt, sondern einen eigenen, selbständigen und konstitutiven Anteil behält. Das betrifft speziell das Fortleben des Palestrinastiles (stile antico, stylus gravis), an dem durch die Jahrhunderte zäh festgehalten wird...Jeder Komponist bis in unsere Gegenwart beherrscht den Palestrina-Stil und schreibt in den modernen Stilen der Zeit...Eine Rivalität beider Stile besteht überhaupt nicht mehr. 73 Hans Vogt (1972) S. 94 74 Wystan H. Auden, Des Färbers Hand und andere Essays, Gütersloh 1962, S. 104, zitiert nach Hans Vogt (1972) S. 97 75 Vgl. Rolf Zuberbühler, Excelsior!, in: Amrein, Ursula; Dieterle, Regina (Hsg.), Gottfried Keller und Theodor Fontane. Vom Realismus zur Moderne. Berlin, New York 2008 76 Christoph von Blumröder (1981) S. 23 77 Diese grobe und standardisierte Kategorisierung der genannten Epochen hält einer genaueren Betrachtung schon nicht ganz stand. Denn die Moderne scheint vielmehr in der Romantik zu wurzeln. Der deutsche Dichter Novalis 1772 – 1801 (eigentlich Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg) drückt etwa in der Wahl seines Pseudonyms, das er von dem Geschlechternamen von Roden, dem er entstammt, ableitet 30 mit dem Begriff Neue Musik verbunden78: kultureller Universalismus, geistige Neuorientierung, Aktualitätsanspruch, Gegenposition zur Romantik, der epochale Aspekt und die Einbindung in die Tradition. Auch Fortschritt und Avantgarde wurden und werden noch immer als mit dem Neuen verwandt begriffen. Wichtig ist mir, anzumerken, dass der Begriff Neue Musik nie wirklich bestimmte kompositionstechnische oder stilistische Aspekte meinte, sondern unterschiedlichste innovative Strömungen79. Er entstand im deutschsprachigen Kulturraum und wurde selten wörtlich in andere Sprachen übersetzt. In der französischsprachigen Literatur finden sich die Ausdrücke musique moderne oder musique contemporaine (zeitgenössische Musik), in der englischsprachigen die Bezeichnungen modern music und contemporary music, nur in Ausnahmefällen auch new music80. Für Hermann Danuser resultiert das breite Bedeutungsspektrum des Begriffs Neue Musik aus seinem Status als Relations- und Funktionsbegriff, dem fast jede Bedeutung zugewiesen werden konnte, sofern sie sich in einem nachvollziehbaren Sinn gegen eine bereits existierende Musik, die damit zu einer „älteren“ wurde, absetzen ließ. In diesem Sinn betrachtet er Neue Musik als eine plurale Kategorie der Musik des 20. Jahrhunderts81. Ulrich Dibelius, der durch den Begriff zunächst die Zeitspanne zwischen 1908 und 1950 eingegrenzt sehen will, sieht in ihm auch etwas von den auslösenden Postulaten und der bewusst antiromantischen Haltung der Nachkriegsgeneration erhalten. Mit vielen anderen Autoren ist er der Meinung, dass die Entwicklungen in der Musik nach 1950 im Begriff (latinisiert und interpretiert als "einer, der Neuland bestellt" http://www.whoswho.de/templ/te_bio.php?PID=687&RID=1/24. 05. 08) eine Haltung aus, die in seinem Werk Abbildung findet und durchaus Aspekte der Moderne vorwegnimmt: Alte und neue Welt sind im Kampf begriffen, die Mangelhaftigkeit und Bedürftigkeit der bisherigen Staatseinrichtungen sind in furchtbaren Phänomenen offenbar geworden. (Novalis, Die Christenheit und Europa. In: Novalis, Fragmente und Studien. Die Christenheit und Europa. Stuttgart 2006, S. 85) Vgl. dazu auch Ritwik Sanyal, Philosophy of Music. New Delhi 1987, S. 52 f: Non-communist new music is characrterised by novelty, i. e., newness in form or in content; romanticism (of the recent past) is characterised by the supremacy of the artiste over art-work, listeners, and other elements of the art situation. The meeting ground of the two is freedom: freedom of creativity. There is a continuity of the ideological and historical line between romanticism and avantgardism. Classicists (mostly natuarlists) attack the avantgarde as an extreme case of the disease of romanticism. Favourable critiscs, however, feel that romanticism not only survived decadence and symbolism but remained one of the major factors in avant-garde art-music and culture. 78 Christoph von Blumröder (1981) S. 54 79 vgl. Hermann Danuser (1997) Sp. 77: Neue Musik des 20. Jahrhunderts ist weder eine Stilrichtung noch eine ästhetische Idee noch auch eine zusammenhängende Epoche. Als Fundamentalkategorie entfaltet sie vielmehr nicht nur verschiedenartige, sondern gegensätzliche Bedeutungen und lässt sich in einer Vielzahl von Antinomien formulieren, denn: Neue Musik ist immer eines und sein Gegenteil. Ein Aufweis dieser Antinomien soll eine vereinfachende Sicht, , einen monomythischen Zugriff auf die Kategorie 'Neue Musik' in Zukunft erschweren oder verunmöglichen. 80 Christoph von Blumröder (1981) S. 141 81 Hermann Danuser (1997) S. 76 31 Neue Musik nur mehr mit Mühe unterzubringen sind, es sei denn unter Einbußen an definitorischer Bestimmtheit. Der von ihm vorgeschlagene Begriff Moderne Musik sei aber hinlänglich präzise82. Christian Demand verweist auf die zentrale Rolle der Kategorie des Neuen in der Geschichte der europäischen Kunst seit etwa der Französischen Revolution. Innerhalb kurzer Zeit wird – so Demand – der bis dahin gültige ästhetische Leitwert der Schönheit durch den Begriff der Innovation ersetzt. Es handle sich dabei nicht um eine normale Stilablösung, sondern um die Etablierung eines radikal Neuen, um einen Bruch, der die Kategorie der Kontinuität infrage stelle. Der Versuch, mit dem einen Begriff der Moderne oder später des Zeitgenössischen die unüberschaubare Vielfalt dessen, was – jeder normativen Ästhetik widersprechend – als Kunst angesehen wird, zu fassen, erweise sich als Fiktion83. Das Neue, aus der diese Moderne ihre Legitimation bezieht, ist - im Unterschied zum vor der Französischen Revolution geltenden Neuen als einer Kategorie der Gefälligkeit des Künstlers dem Publikum gegenüber – unbedingt, kompromisslos und missionarisch. Es definiere sich vor allem als etwas, das mit dem Alten als Inbegriff des Heteronomen und Uneigentlichen gar nichts gemeinsam hat, es negiere Tradition schlechthin. Es gehe – wie auch Nietzsche schreibt - um das Abwerfen des historisch zivilisatorischen Ballastes, um über die ganze mögliche Fülle der Existenz verfügen zu können. Nur die unversöhnliche Opposition zum Alten garantiere einen unverstellten Blick auf das Dasein84. 1.2.4 Moderne Musik Zunächst gilt es, den Begriff modern (lat. modernus neu bzw. neuzeitlich, modo eben erst, der neuesten Mode entsprechend, dem neuesten Stand der gesellschaftlichen wissenschaftlichen und technischen Entwicklung entsprechend, zeitgemäß, der neuen und neuesten Zeit zuzurechnen85) von dem der Mode (lat. modus Art und Weise, allgemeine Bezeichnung für etwas, das dem gerade vorherrschenden Geschmack entspricht, die Kleidung etc.86) zu unterscheiden und abzugrenzen. Der Ausdruck moderne Musik wurde bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts als gleich bedeutend mit modisch (modus) auch 82 Ulrich Dibelius, Moderne Musik nach 1945. München 1998 (1966), S. 358 f Christian Demand (2008) S. 34 f 84 Christian Demand (2008) S. 36 f 85 Meyers großes Taschenlexikon in 24 Bänden Band 14. Mannheim Leipzig Wien Zürich 1995, S. 299 86 ebda, S. 297 f 83 32 abwertend verstanden87. Die positive Bedeutung im Sinne von zeitgemäß (modernus) ist auch heute noch gebräuchlich, ist aber sinngemäß im Begriff Neue Musik subsumiert. Schon um 1919 vage geworden, wird der Begriff moderne Musik heute als Synonym für Neue Musik verwendet. Natürlich hängt dieser Begriff mit dem großen Begriff der Moderne zusammen, die als Projekt – wie man es nimmt – noch nicht abgeschlossen oder aber gescheitert ist. Der Begriff entstand bereits im Mittelalter, als sich die so genannten moderni von den antiqui im heidnischen Rom zu unterscheiden versuchten. 1860 führte Charles Baudelaire den Begriff la modernité ein, womit das Zeitbewusstsein des Heutigen charakterisiert war88. Mit den Gesellschaftsutopien wechselte die Moderne vom Pradigma der Gegenwart zu dem der Utopie. Um die letzte Jahrhundertwende wurde die Diskussion, in welcher Moderne wir uns befinden, wieder aufgenommen. Ein Ende der Moderne – so Hans Belting – könne sich heute niemand vorstellen, nachdem uns die Postmoderne nicht daraus entlassen habe, obwohl sie alle Mittel der eigenen Abschaffung immer schon in sich getragen habe. Auch das Zeitalter globaler Telekommunikation werde prophezeit, mit dem die Moderne erst richtig beginnen würde. Heinrich Klotz spricht von der zweiten Moderne, während andere diese als die dritte Neuzeit bezeichnen. Belting sieht die Moderne von Anfang an als einen Endbegriff, - neu seien heute die neuen Medien sowie die Erfahrungen mit einer durch die Telekommunikation ermöglichten globalen Moderne. Sie sei heute längst kein Zeitbegriff mehr, sondern eine Frage des Bewusstseins. Thesen, durch die uns die Welt vorstellbar werden soll, gehören zu ihrem Zustand der Vorläufigkeit. In der Begegnung mit anderen Kulturen stelle sich die Frage nach unserem Kulturverständnis wieder neu. Die lange eingeübte Selbstreflexion ende gezwungenermaßen in einem Dialog mit neuen Partnern, die neueste Moderne wäre dann Thema einer weltweiten, den Westen mit einbeziehenden Ethnologie89. Christian Demand beschreibt die Pole der Diskussion der Moderne in den 80er Jahren mit einerseits dem Bekenntnis zur Kategorie der Moderne90 als nach wie vor gültigen Rahmen für die Deutung der Gegenwart, und andererseits der Verweigerung eines solchen Bekenntnisses im Namen der Post-Moderne. Diese sei aber keine neue, die Moderne 87 Christoph von Blumröder (1981) S. 15 Hans Belting (2005) S. 338 f 89 Hans Belting (2005) S. 327 -345 90 Diese meint das Ergebnis einer langwierigen zivilisatorischen Entwicklung, die in ihren wesentlichen Zügen nicht mehr umkehrbar ist. Vgl. Christian Demand (2008) S. 31 88 33 ablösende Epoche, sondern die Aktivierung eines in der Moderne selbst schon angelegten Impulses zur Selbstkritik. Im Sinne Lyotards also ein ewiger ideologiekritischer Aufstand gegen das Ganze, die Kohärenz, gegen das Dauerhafte und Darstellbare91. 1.2.5 Avantgarde Das Wort avant-garde (frz. Vorhut), ursprünglich ein militärischer Ausdruck, wurde seit 1845 als Bezeichnung für künstlerische Positionierungen verwendet92, in denen der Künstler, dem Fortschrittsgedanken folgend, in einer Art Vorreiterrolle neue, Richtung weisende bzw. als Reaktion gegen die Tradition verstandene Konzepte entwickelte. Nach 1950 wurden mit dem Wort Avantgarde besonders extrem geltende Vertreter der Neuen Musik etikettiert, - um 1960 ist es die gängige Bezeichnung für die Vertreter der seriellen Musik93. Auch heute ist der Begriff Avantgarde zwar noch eine übliche Etikettierung für die Vertreter der Neuen Musik, obwohl der ursprünglich kämpferische Aspekt, der durch das Militärwort noch unterstrichen wird, heute keine Rolle mehr spielt. Außerdem hat sich der Anspruch der Avantgarde, in der Entwicklung der Künste einen Fortschritt zu verkörpern, als problematisch erwiesen. Das Scheitern des Anspruchs einer Vorreiterrolle94 äußert sich in den Bezeichnungen Postavantgarde und Transavantgarde95. Eine gewisse Rehabilitierung erfuhr die Avantgarde in der Diskussion der Postmoderne96. Danuser bezeichnet sie in ihrer postmodernen Vielfalt am Ende des 20. Jahrhunderts sogar noch als aktuell, weil sie anstrebt, was Adorno 1961 als die Quintessenz Neuer Musik gefordert hatte: Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind97. Jean François Lyotard konstatiert 1985, dass auf dem Gebiet der Künste, und da speziell auf dem der visuellen und bildenden Künste, die Meinung vertreten wird, dass es heute mit der großen Bewegung der Avantgarde zu Ende ist. Man hätte beschlossen, über die Avantgarden als 91 Christian Demand, Revolution oder Reformation? – Über das Ethos des Neuen in der Kunst der Moderne. In: Leander Kaiser/Michael Ley (Hsg.), Die ästhetische Gnosis der Moderne. Wien 2008, S. 31 f 92 Christoph von Blumröder (1981) S. 21 93 Christoph von Blumröder (1981) S. 134 94 Aus dieser Feststellung des Scheitern folgt nicht, dass die avantgardistischen Anti-Werke des 20. Jhdts. künstlerischer Qualität entbehrten (Danuser Sp. 87) 95 Hermann Danuser (1997) Sp. 86 f 96 Hermann Danuser (1997) Sp. 112: Aufgrund der inneren Offenheit, nicht begrenzten Vielbezüglichkeit und anderer experimenteller Eigenschaften erklärte Lyotard die künstlerische Avantgarde – zentral darin John Cage - zum Vorbild postmodernen Denkens... War Habermas’ traditionalistischer Begriff der Postmoderne gegen die Avantgarde gerichtet, entwirft Lyotard einen avantgardistischen, der gegen die Tradition und die innerhalb der Moderne verborgenen Elemente hoher, traditioneller Kunst gerichtet ist. 97 Hermann Danuser (1997). S. 112. Das Adorno Zitat stammt aus Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt am Main 1989, S.102 (Erstausgabe 1962) 34 Ausdruck einer veralteten Moderne zu lächeln oder gar zu lachen. In der Folge verwendet Lyotard den Begriff Avantgardismus, den er als lange, verbissene, höchst verantwortungsvolle Arbeit würdigt. Die darin aufrecht erhaltene Suche nach den in der Moderne enthaltenen Voraussetzungen sieht er als wesentliche Funktion, das Vergessen dieser zu verhindern. So versteht Lyotard auch das post von postmodern im Sinne eines Prozesses der Analyse und Anamnese98. In diesem Sinne ist die Postmoderne dem Avantgardismus verwandt, insofern nämlich, als der Postmodernismus nicht das Ende des Modernismus, sondern dessen Geburt, dessen permanente Geburt bedeutet99. 1.2.6 Experimentelle Musik Das Experiment (lat. experimentum, Versuch/Erfahrung) als naturwissenschaftliche Methode steht in engem Zusammenhang mit Aspekten der Begriffe Avantgarde und Fortschritt. Experimentelle Musik ist ein Begriff, der eher den Werkstattcharakter, also mehr die Methoden und Inhalte der musikalischen Komposition, als deren (womöglich gesellschaftlich relevanten) Ziele beschreibt. Experimentelle Musik ist in so ferne als Synonym für Neue Musik aufzufassen, als Experiment und Forschung die permanente Bedingung des Neuen ist. Die Problematik, dass Experimentieren und Forschen selbst zwar künstlerische Prozesse sind, jedoch nicht von vorn herein schon Kunst bzw. Musik sein müssen, weist auf eine unserem traditionellen Werkbegriff entgegenstehende Haltung, die in der Gedankenwelt der Postmoderne zu Hause ist. Der Begriff Experimental Music wurde 1958 von John Cage in die Diskussion eingebracht, um damit eine Aktion zu bezeichnen, deren Ausgang nicht vorherzusehen ist100. Helmi Vent bezeichnet die Werke Experimenteller Musik als offene Spielfelder, in deren Mittelpunkt das Interesse für Klangerkundung, Klangherstellung und –entwicklung steht. Es sei das Spiel mit dem, was zufällig passiert und was aus spielerischem Zugang resultiert, die Spielfelder verdichten sich zu intermedialen Aktionen und sind wie ihre Spieler in Bewegung. Vent sieht in der musikalischen Probe das Potenzial des Ausprobierens im Sinn von experimentum, dem sich Einlassen auf Unbekanntes angelegt, doch sei die Probe im heutigen Musikeralltag zu einer Routine des wiederholten Übens einer Textvorlage, des Nachvollzugs bestehender 98 Jean François Lyotard, Postmoderne für Kinder. Wien 1987, S. 104 f Jean François Lyotard (1987) S. 26 100 John Cage, Silence. Lectures and Writings. New Hampshire 1961, S. 7 und S. 13 99 35 Kompositionen geworden und habe die Offenheit und Unsicherheit des Ausprobierens verloren101. 1.2.7 Aktuelle Musik Aktuell meint im augenblicklichen Interesse liegend, auf dem neuesten Stand, zeitgemäß, gegenwartsnah, gegenwärtig, ganz neu. Der Begriff Aktuelle Musik ist ebenfalls dem der Neuen Musik verwandt, ohne dessen Begriffsgeschichte zu teilen. Aktualität spiegelt keine Haltung wieder, wie etwa die des Anti-Romantizismus der Neuen Musik. Noch verweist sie auf konkrete musikalische Inhalte oder kompositorische Absichten. So scheint der Begriff Aktuelle Musik ebenfalls ein chronologischer zu sein, der nicht wie das Wort zeitgenössisch auf Lebenszeiten fokussiert, sondern auf den Puls der Zeit, auf den Augenblick. Es muss nicht unbedingt Tagesaktualität gemeint sein, doch weist es künstlerische Ereignisse oder Ergebnisse als Neuigkeiten im Sinne journalistischer Nachrichten aus. 1.2.8 Musik der Gegenwart Gegenwart102 ist im philosophischen Sinn der Zeitpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft. So verstanden zielt der Begriff Musik der Gegenwart auf den (geschichtlichen) Kontext Vergangenheit und Zukunft. In diesem Sinn ist er auch ein chronologischer, der zunächst weder musikalische Inhalte noch Werte widerspiegelt. Bei genauerem Hinsehen jedoch lässt sich doch eine Auffassung des Neuen als – zumindest im philosophischen Sinn - zwischen Traditon und Vision Eingebettetes ablesen. Das Festival Wien modern etwa hat Musik der Gegenwart in ihrem Untertitel, - ein Festival, das schwerpunktmäßig im Rahmen von Komponistenportraits renommierte und gleichermaßen Richtung weisende Künstlerpersönlichkeiten würdigt. 1.2.9 Zeitgenössische Musik Obwohl eindeutig ein rein chronologischer Begriff, wird Zeitgenössische Musik ebenfalls als Synonym für Neue Musik verwendet. Die Problematik dieser Gleichsetzung wurde schon rund um die Gründung der IGNM (Internationale Gesellschaft für Neue Musik) 101 Gabriele Klein/Wolfgang Sting (Hsg.), Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst. Bielefeld 2005, S. 151 102 gegenüber, in meinem Gesichtskreis gegen mich gekehrt oder gegen mich herkommend. In: Jakob Grimm/Wilhelm Grimm (1854) Bd. 5, Sp. 2281 36 deutlich103. Die Differenz zwischen den Bezeichnungen der einzelnen Sektionen begünstigte das Verständnis der Neuen Musik als zeitgenössische Musik, obwohl die Innovation als ästhetisches Qualitätsmerkmal gegenüber dem rein chronologischen Aspekt der Novität hervorgehoben wurde. In dem Sinne, in dem alles Zeitgenössische bzw. Gegenwärtige neu sein muss, weil noch nie da gewesen, wird klar, dass hinter den Begriffen, die, grob betrachtet, alle das selbe oder sehr Ähnliches meinen, Haltungen stehen, die sehr unterschiedliche, mitunter einander widersprechende Sicht- und Handlungsweisen (Weisen des Fortschreitens in der Geschichte) zeitigen. 1.2.10 Musik der Postmoderne Der Begriff der Postmoderne104 bezeichnet zunächst eine Theorie, die in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts in allen künstlerischen Disziplinen ihren Niederschlag gefunden hat, relativ spät in der Musik105. Es war im Grunde eine Diskussion, die sich nicht von der Moderne distanziert (so wie die Moderne sich von der Romantik distanziert hat), sondern deren Ende schlicht und einfach feststellt hat106. Aus der Sicht Jürgen Habermas resultiert die Postmoderne aus einem Neokonservatismus, der sich gegen die von der Moderne verfochtenen aufklärerischen Positionen richtet107. So wie diese Sicht zu kurz greift, tut 103 Christoph von Blumröder (1981) S. 67 Der Begriff post-modern ist – obwohl schon seit mehr als einhundert Jahren in Gebrauch – erst 1959/60 in den USA zum Leitbegriff einer Debatte geworden, von der die heute weltweite Diskussion ihren Ausgangspunkt nahm. In: Wolfgang Welsch, Perspektiven für das Design der Zukunft. In: Ders.. Ästhetisches Denken. Stuttgart 2003, S. 202, vgl. auch Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne. Weinheim 1988, S. 1-43 105 vgl. Hermann Danuser (1997) Sp. 109 f: Die musikalische Postmoderne kam in Deutschland auf, als in der Entwicklung der Neuen Musik Mitte der 1970er Jahre eine junge Generation von Komponisten – der bedeutendste unter ihnen Wolfgang Rihm – jene Tabus kühn durchbrach, die die Entwicklung der Avantgardemusik im Ausgang von Adornos ‚Philosophie der neuen Musik’ getragen hatten,...Präfiguriert Ende der 1970er Jahre durch schlagwortartige Formeln wie ‚Neue Einfachheit’, ‚Neue Ausdrucksmusik’ oder ‚Neue Subjektivität’, welche eine Opposition gegen die Geschichtsphilosophie der Neuen Musik bekundeten, wurde der musikologische Diskurs über die ‚Postmoderne’ durch Jürgen Habermas’ Adorno-Preis-Rede (1980) ausgelöst und verdichtete sich gegen Ende dieses Jahrzehnts zu einer zusammenhängenden Diskussion. 106 Im Vorwort zur deutschen Fassung von Jean-François Lyotards Schlüsseltext für die Diskussion der Postmoderne La condition postmoderne (Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Wien 1986, S. 9f), schreibt der Herausgeber Peter Engelmann: Im Auftrag der Regierung von Québec erarbeitete er als Philosoph einen Bericht über das Wissen in den höchst entwickelten Gesellschaften, für die er von amerikanischen Soziologen die Bezeichnung „postmodern“ übernahm. Was als Bericht geplant war, wurde dann aber zu einem Versuch, neue Entwicklungen in Wissenschaft und Technik, in der Politik, im Alltagsleben und in der Kunst, nicht nur, wie sonst üblich, als Fortschreibung des Projektes der Moderne zu verstehen, sondern sie als Phänomene des Bruches mit diesem Projekt zu begreifen. Lyotard geht davon aus, dass wir die aktuellen Entwicklungen mit unseren traditionellen Theorien nicht mehr adäquat erfassen können.“ 107 Hermann Danuser (1997) Sp. 110 und weiter: Mit der Zeit allerdings drängte sich die Erkenntnis auf, dass - entgegen Habermas’ Sicht – zwischen Moderne und Postmoderne eine Dialektik waltete, und man rückte von der Annahme ab, bei der Postmoderne handle es sich um eine schlichte Negation der Moderne. 104 37 dies auch der Slogan anything goes, der Eklektizismus und falsch verstandene Pluralität abbildet, wobei die eigentliche Stoßrichtung der Postmoderne gegen die Uniformierungsdynamik der Moderne zielt108. Charles Jencks hingegen sieht die Postmoderne als Fortsetzung der Moderne und der Transzendenz (the continuation of modernism and transcendence)109. Um die Jahrhundertwende (20./21. Jahrhundert) wieder abgeflaut, ist die Thematik meiner Meinung nach nach wie vor aktuell und zu Unrecht wenig berücksichtigt. In jedem Fall ist die Bildung des Begriffs Postmoderne die Folge eines Paradigmenwechsels, der in der kontinuierlichen Beibehaltung etwa des Begriffes Neue Musik keine Möglichkeit einer Abbildung findet. In der Literatur fanden postmoderne Tendenzen bereits in den sechziger Jahren Beachtung, - vor allem in einer neuen Verbindung von Elite- und Massenkultur110. In seinem programmatischen Essay Cross the Border – Close the Gap drückte Leslie Fiedler die neue Haltung so aus: Wir leben jetzt in einer sehr anderen Zeit – apokalyptisch, antirational, offen romantisch und sentimental. ... Die Kluft zu schließen bedeutet auch, die Grenze zwischen dem Wunderbaren und dem Wahrscheinlichen zu überschreien, zwischen dem Wirklichen und dem Mythischen ... Der Postmodernismus schließt die Kluft zwischen Kritiker und Publikum ... Wichtiger ist, dass er die Kluft zwischen Künstler und Publikum schließt, oder, in jedem Fall, zwischen Professionalismus und Amateurtum ... Der postmoderne Künstler ist ein „Doppelagent“ ... gleichermaßen zu Hause in der Welt der Technologie und in der Welt des Wunders111. Hier kommen Aspekte zur Sprache, die durchaus auch in der Musik dieser Zeit zu finden sind, etwa im Werk Karlheinz Stockhausens. Seit der Mitte der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts und nach einer anfänglich sehr breit geführten Diskussion des Gedankens der Postmoderne, entstand - vorwiegend im englischsprachigen Raum - eine postmoderne Musikwissenschaft (New Musicology), die neue Paradigmen, Musik zu verstehen, definierte112. Hier spielte die Berücksichtigung der technologischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert, im Speziellen der Aufnahmetechnologien für Musik, eine wichtige Rolle. Um die Jahrtausendwende wurde 108 Wolfgang Welsch, Perspektiven für ein Design der Zukunft. In: Ders., Ästhetisches Denken. Stuttgart 2003, S. 214 f 109 Vgl. Charles Jencks, What is Postmodernism. London 1986, S. 15 110 Wolfgang Welsch (2003) S. 202 f 111 Leslie Fiedler, Überquert die Grenze, schließt den Graben! In: Wolfgang Welsch (Hsg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte aus der Postmoderne-Diskussion. Weilheim 1988, S. 57 - 74 112 Judy Lochhead, Introduction. In: Judy Lochhead and Joseph Auner (Hsg.), Postmodern Music/Postmodern Thought. London/New York 2002, S. 2 38 die Weiterführung der Diskussion der Postmoderne in der Musik weit gehend infrage gestellt, wie auch die Brauchbarkeit des Begriffswortes selbst, das vielen Autoren zu unklar und schlüpfrig war. Doch gerade in der weiteren aktiven Beteiligungen der Musikwissenschaft an den aktuellen Fragen, sieht Judy Lochhead Notwendigkeit, Herausforderung und Chance: If musicology and music theory hope to be more than parasitic on intellectual developments in other fields, they must take up the debates, showing how musical production is implicated in its social context – how it reflects and constructs that context. And while such study of music should rightly consider how music of the past is used in the context of contemporary consumer society, it should also consider the musics that are produced in all of the various traditions of music-making – popular, jazz and concert music113. [Wenn Musikwissenschaft und Musiktheorie hoffen, mehr als nur parasitär an den intellektuellen Entwicklungen in anderen Bereichen Teil haben zu können, müssen sie die Debatten wieder aufnehmen und zeigen, wie Musikproduktion im sozialen Kontext eingebettet ist und wie sie diesen Kontext reflektiert und konstruiert. Während eine solche Studie der Musik zeigen sollte, wie die Musik der Vergangenheit im Kontext der gegenwärtigen Konsumgesellschaft verwendet wird, sollte sie auch die verschiedenen Traditionen der Musikproduktion – Pop, Jazz und Konzertmusik – berücksichtigen. Übers. d. Verf.] Als die für das Denken über Musik im Kontext der Postmoderne-Debatte relevanten radikalen Veränderungen bezeichnet Judy Lochhead die von der Wissenschaft neu definierten Konzepte der Zeit und der Zeitlichkeit, die erhöhten Reise- und Kommunikationsgeschwindigkeiten, neue Konzepte des Raumes in Zusammenhang mit der Geschwindigkeit des weltweiten Reisens und dem visuellen Zugang zu weit entfernten Orten und lang vergangenen Zeiten durch elektronische Medien. Damit verbunden ist die sich verändernde Wahrnehmung physischer und sozialer Distanz. Diese Veränderungen zeitigen körperliche Interaktionen über Raum- und Zeitunterschiede hinweg. Weiters verweisen veränderte Konzepte von Distanz auf eine Perspektivität im Rahmen der Erkenntnistheorie. Zeit und zeitliche Prozesse können nicht mehr länger als Zukunft orientiertes Fortschreiten, in welchem Ereignisse kausal miteinander 113 Judy Lochhead (2002) S. 4 [2005 widmet die Deutsche UNESCO-Kommission der UNESCO-Konvention zum Schutz der kulturellen Vielfalt ein eigenes Themenheft ihrer Publikation "UNESCO heute - Zeitschrift der Deutschen UNESCO-Kommission, 52. Jahrgang, Ausgabe 1/2005 (1. Halbjahr)] 39 zusammenhängen, betrachtet werden. Postmoderne Theoretiker verstehen die so genannte große Erzählung114 als einschränkend und ausschließend mit negativen sozialen und ökonomischen Folgen für jene Gruppen, deren Geschichten ausgelöscht wurden. Die Konzepte perspektivischen Wissens haben die Idee der Wahrheit infrage gestellt, - ein Verstehen der Welt im absoluten Sinn ist nicht möglich, das Wissen ist somit ausschließlich interpretativer Natur, - Wahrnehmen ist vielmehr ein kreativer Akt. Roland Barthes sieht die Quelle der Bedeutung eines Textes nicht mehr im Autor, sondern in der Interaktion zwischen diesem und dem Leser. Michel Foucault verweist in seinen Arbeiten auf die soziale Komponente von z. B. den hierarchischen künstlerischen Kategorien hoch und nieder115. Die heute in Europa noch übliche Unterscheidung zwischen ernster (E) und unterhaltender (U) Musik ist ein Beispiel für das Existieren solcher Kategorien in einem kulturellen Kontext, in dem die Moderne bzw. die Neue Musik längst zu Standards im kulturellen Leben geworden sind. Die Abgrenzung und Schärfung des Begriffes gegenüber dem der Antimoderne, welche das goldene Zeitalter Klassik und Romantik hochhält, zeigt die Postmoderne als anti-elitär und offen gegenüber der Vielfalt der Musik. Sie entwickelt neue Hör-Strategien, in dem sie das Bedeutungsfeld der Musik mehr im Hörenden ortet und nicht so sehr in Partituren, Aufführungen oder den Musikschaffenden116. Jonathan D. Cramer versucht, die Kennzeichen postmoderner Musik zusammenzufassen117: Postmodern music is: (1) not a simple repudiaton of modernism or its continuation, but has aspects of both a break and an extension; (2) is, on some level and in some way, ironic; (3) does not respect boundaries between sonorities and procedures of the past and of the present; 114 Die große Erzählung als Form des so genannten historischen Bewusstseins, welchem nach Vilém Flusser die Einführung des alphabetischen Codes zugrunde liegt, wird – ebenfalls nach Flusser – durch die Krise dieses Codes infrage gestellt. (Vgl. Kapitel 2.3) 115 Judy Lochhead (2002) S. 6 f 116 Jonathan D. Cramer, The Nature and Origins of Musical Postmodernism. In: Judy Lochhead and Joseph Auner (Hsg.) (2002) S. 13 ff 117 Jonathan D. Cramer (2002) S. 16, vgl auch dazu Hermann Danuser (1997) Sp. 111: Wenn wir ausgehen von Wolfgang Welschs begriffsgeschichtlicher Rekonstruktion (W. Welsch 1987, S. 9ff.), sind unter den allgemeinen Bestimmungen der Postmoderne für die Musik vor allem zwei Theoreme wichtig: zum einen Leslie Fiedlers und Charles Jencks Forderung nach ‚Mehrsprachigkeit’ bzw. Mehrfachkodierung eines Kunstgebildes – insbesondere im Blick auf eine Vermittlung zwischen ‚hoher’ und populärer Kunst bzw. zwischen Elite- und Alltagskunst. 40 (4) challenges barriers between“high“ and „low“ styles118; (5) shows disdayn for the often unquestioned value of structural unity; (6) questions the mutual exclusivity of elitist and populist values; (7) avoids totalizing forms (e.g., does not want entire pieces to be tonal or serial or cast in a prescribed formal mold); (8) considers music not as autonomous but as relevant to cultural , social, and political contexts; (9) includes quotations of or references to music of many traditions of cultures; (10) considers technology not only as a way to preserve and transmit music but also as deeply implicated in the production and essence of music; (11) embraces contradictons; (12) distrusts binary oppositions; (13) includes fragmentations and discontinuities; (14) encompasses pluralism and eclecticism; (15) presents multiple meanings and multiple temporalities; (16) locates meaning and even structure in listeners, more than in scores, performances, or composers. Zusammenfassend ergibt sich aus diesen letzten Betrachtungen die von mir eingangs postulierte Unschärfe des Begriffs bzw. der Kategorie Neue Musik, die im heutigen Musikleben zwar eine elitäre Rolle spielt, deren Vertreter und Anhänger eine Minderheit darstellen, aber keine einheitliche Haltung mehr repräsentieren. Dass jede neue Kunst von der Menge immer erst nachträglich begriffen wird und in diesem Sinne stets der Zeit voraus sei119, wurde schon um 1900 festgestellt. Da unter ihn auch postmoderne und andere Positionen subsumiert werden, ist der Begriff Neue Musik eigentlich zu einem chronologischen Sammelbegriff geworden, der am ehesten noch an der im postmodernen Sinn obsolet gewordenen Kategorie der ernsten Musik orientiert ist. 118 siehe auch Hermann Danuser (1997) Sp. 111 f: ‚Cross the Border, Close the Gap’ lautet der Titel des berühmten, 1969 veröffentlichten Ausfsatzes des amerikanischen Literaturkritikers Leslie A. Fiedler, der zu den Ursprungsdokumenten der Postmoderne gehört. 119 Christoph von Blumröder (1981) S. 28 41 1.2.11 Klangkunst und Musikperfpermance Klangkunst ist ein Begriff, der aus dem englischen Wort Soundart entwickelt wurde. Er bildet insofern ein erweitertes Verständnis von Musik bzw. die Abgrenzung zum engeren Begriff Musik ab, indem das Wort Musik explizit in ihm gar nicht vorkommt120. Soundart ist schließlich eine Variante des englischen Wortes für bildende Kunst - Visual Art. Die ursprüngliche Bedeutung von Soundart ist das Phänomen, dass bildende Künstler mit Klängen arbeiten. Heute ist der Parallelbegriff Klangkunst ein Gattungsbegriff, der sich auf den Bereich zwischen den traditionellen Kunstgattungen bezieht und wurde vor allem durch Helga de la Motte-Haber geprägt und gefestigt121. De la Motte-Haber weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich der traditionelle Kanon der Künste durch die Entwicklung der Technik und der Medien (Mixed Media/Multimedia) aufgelöst hat und die Feststellung eines Dazwischen heute gar nicht mehr möglich bzw. gegeben ist. Klangkunst beinhaltet – entsprechend der oben erwähnten Metapher des Regenschirmbegriffs – eine Vielzahl von Vorstellungen, die nicht in jeder künstlerischen Arbeit vorhanden sein müssen bzw. können. Grundlagen und Aspekte von Klangkunst, die von De la Motte-Haber herausgestrichen werden, sind 1. der fortschreitende Prozess der Individualisierung und Autonomisierung der Künstler seit dem 19. Jahrhundert, 2. die Standortbezogenheit, 3. das Moment der Präsenz und Vergegenwärtigung, 4. den ephemeren Ereignischarakter, 5. die Synästhesie im Sinne von Allgemeinqualität oder multisensorischer Zusammenwahrnehmung und 6. der Fokus auf Wahrnehmung schlechthin. Während traditionelle Kunst in der Formulierung Ludwig Tiecks als Fernrohr der Sinne zu verstehen ist, ist die Klangkunst die Lupe und widmet sich vor Allem dem Rätselhaften der menschlichen Wahrnehmung122. Gingen die ersten interdisziplinären Impulse für Soundart bzw. Klangkunst von den bildenden Künstlern aus, gibt es inzwischen ebensolche Ansätze und Initiativen auf der Seite der auditiven Künste, soweit man diese Unterscheidung noch aufrecht halten will. Erwähnt seien hier das Audio Art Festival123 in Krakau und Warschau, das seit 1993 120 Schon Edgar Varèse hat die Bezeichnung Musik für seine Arbeit durch die Bezeichnung son organisé (organisierter Klang) ersetzt. Vgl. Christian Utz, Musikperformance als Akt realer Gegenwart. Verstreute Anmerkungen zur Phänomenologie und Geschichte. In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.), Musik, Labyrinth, Kontext. Musikperformance. Linz 1995, S. 39 121 Helga de la Motte-Haber (2002) 122 Helga de la Motte-Haber (2002) 123 http://www.audio.art.pl/ (11. 04. 2009) 42 besteht und vom Komponisten Marek Choloniewski geleitet wird, das Dialogues Festival124, das 1999 von den Komponisten Martin Parker und Pedro Rebelo gegründet wurde, das Festival Soundframe125 in Wien, das seit 2007 besteht und von Eva Fischer kuratiert und geleitet wird, und das internationale Festival Phonofemme126 in Wien (21. – 25. April 2009), das von der Komponistin und Musikerin Mia Zabelka initiert wurde. Schließlich gehört auch das Werk des Komponisten Peter Ablinger hierher, auf dessen Arbeit an anderer Stelle ausführlich eingegangen wird. Den Intentionen der Klangkunst verwandt sind die der Performance Art127. Hier ist besonders der Aspekt der Körperbezogenheit oder Leiblichkeit zu erwähnen, der mit dem neuen Verständnis von Präsenz und einer neuen Konzeption des Raumes zusammenhängt. Die Dimension des Leiblichen, die in der westeuropäischen christlichen Tradition eher ausgespart ist, hat durch den Mesmerismus128 erstmals wieder Aufmerksamkeit bekommen129. Die Musikperformance ist nur unscharf von der musikalischen Aufführung zu trennen, In einer Zeittafel zu Musikperformance kennzeichnet Christian Utz den Beginn der Musikperformance mit Vexations von Eric Satie. Das Klavierstück, das 840 Mal wiederholt werden muss und – je nach gewähltem Tempo – 12 bis 24 Stunden dauert, hat insofern eindeutig performativen, ritualhaften Charakter, als es die traditionelle Form sprengt und eine auch körperliche Herausforderung an den Musiker wie an das Publikum darstellt130. Seit den 20er Jahren habe sich diese – so Martin Sturm im Vorwort des Kataloges zum Festival zeitgenössischer Musikperformance in Linz 1995 Das Innere Ohr – analog zu anderen Künsten, in eine Richtung entwickelt, die den Raum als Musik- und Klangkörper, die Aufführung, die Anwesenheit und Wahrnehmung des Zuhörers in einer neuen Weise betrachtet. Christian Scheib zitierend schreibt er, dass Musikschaffende heute mit multidimensional verflochtenen Tonräumen, mit Konzepten der Raumklangteilung und Simultaneität, mit dynamischem Einsatz von Elektronik und Licht arbeiten, wobei der 124 http://www.dialogues-festival.org/ (11. 04. 2009) http://www.soundframe.at/ (11. 04. 2009) 126 http://www.theaterkanal.de/theater/oesterreich/wien/kosmostheater/phonofemme--intenationalesklangkunstfestival-in-wien (11. 04. 2009) 127 Vgl. Kapitel 3.2 128 Vgl. Kapitel 2.1 129 Karl Baier (2009) S. 228 130 Christian Utz, Zeittafel. Einige Daten zur Musikperformance im 20. Jahrhundert. In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.), Musik, Labyrinth, Kontext.Musikperformance. Linz 1995, S. 9. In dieser Publikation weist Gregor Schmitz-Stevens auf den Ursprung aller Arten der Performance-Kunst im Dadaismus hin. Vgl. Gregor Schmitz-Stevens, Die Geburt der Aktion aus dem Geist der Kunstunterhaltung. In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.) (1995) S. 51 125 43 Zuhörer vielmehr in der Rolle eines Eingebundenen gesehen werde. In Bezug zum zeitgenössischen Musiktheater, das durch eine neue Beziehung zum szenischen charakterisisert ist, werde die Handlung zum Kompositionsmaterial, das Bühnenbild zur Partitur und die Musiker zu Akteuren131. Die so genannte Performance-Art und die Musikperformance, beide elastische Begriffe, lassen sich nur schwer voneinander abgrenzen. Thomas Dézsy erscheint die Performance-Art als eine Mischung von Aktualität und überzeitlichem Ritual, eine Reflexion zur Gegenwart132. Sie erhebe Anspruch auf ein bewusst und aktiv agierendes Publikum. Im Gegensatz zum Meisterwerk vergangener Epochen bleibe die Performance im Hier und Jetzt, flüchtig und ohne Spur und beinhalte auch das Scheitern quasi aus Absicht als komplementär zur kommerziellen Massenproduktion133. Diese zeitigt durch Industrialisierung und Maschinisierung der Produktion die radikale Änderung des akustischen Alltags. Die Musikperformance reagiere auch auf diese Entwicklung, in dem sie durch naturwissenschaftlich-forschende, laborversuchartige Strategien der akustischen Umwelt den Schrecken des Unerforschten und Unkalkulierbaren zu nehmen versucht. Grundsätzlich sei Musikperformance das Gegenstück zum Museum und zur reproduzierbaren Konsereve der Medienkonzerne, Musikperformance ist Anti-Gedächtnis134. 1.2.12 E – Musik und U – Musik Die Kategorisierung Ernste Musik – Unterhaltungsmusik ist kein Spezifikum des aktuellen Musikgeschehens135. Es erscheint mir dennoch wichtig, dieses Begriffspaar hier zu untersuchen, weil es auch im Kontext aktuellen Musikschaffens heute noch immer 131 Martin Sturm, Vorwort. In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.) (1995) S. 7 Christian Utz nennt diesbezüglich zwei prototypische Klangzustände: den überdurchschnittlich lauten Klang und die Klangverteilung. Während der laute Klang rituellen Ursprungs und somit Teil einer primitivistischen Seite sei, könne die Klangverteilung als Errungenschaft neuester Technologien gesehen werden. Der Schrei schaffe Unmittelbarkeit, die Klangverteilung löse die Distanz zwischen Ereignis und Rezipienten auf und erfordere somit dessen selbständige Suche nach seinem individuellen Klangraum. In: Christian Utz, Musikperformance als Akt realer Gegenwart. Verstreute Anmerkungen zur Phänomenologie und Geschichte. In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.) (1995) S. 40 f 133 Thomas Dézsy, Im Staub der Geschwindigkeit. Notate zum Einfluss der Performance-Art auf die MusikPerformance. In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.) (1995) S. 23 f 134 Christian Utz, Musikperformance als Akt realer Gegenwart. Verstreute Anmerkungen zur Phänomenologie und Geschichte. In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.) (1995) S. 33 f 135 Einschränkend muss festgestellt werden, dass die Existenz der so genannten Entertainmentindustrie diese Kategorisierung rechtfertigt, obwohl in diesem Fall nicht der Unterhaltungswert Ausschlag gebend ist, sondern der kommerzielle Erfolg. Harold L. Vogel definiert Unterhaltung bzw. Entertainment so: anything that stimulates, encourages, or otherwise generates a condition of pleasureable diversion (alles, das einen Zustand angenehmer Zerstreuung anregt, fördert, oder sonst wie erzeugt), in: Harold L. Vogel, Entertainment Industry Economics. A guide for financial analysis. Cambridge 1994, S. 1 ff und S. 29 132 44 verwendet wird und unsere Wertung von und Haltung zur zeitgenössischen Musikproduktion beeinflusst und schließlich auch ein Thema in der PostmoderneDiskussion ist136. Das Begriffspaar E und U gehört zu jenen Begriffen, die uns programmieren, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, die, solange sie noch im Gebrauch sind, ihre Wirkung tun und unser Denken in überkommene Kategorien zwängen. Theodor W. Adorno hat in seiner Philosophie der neuen Musik137 den unüberwindlichen Gegensatz zwischen Avantgarde und Trivialmusik erkannt und damit die Kluft zwischen so genannter E - und U – Musik manifestiert138. Am Überleben dieses Begriffspaares, das seit Anfang des 20. Jahrhunderts gebräuchlich ist und auch durch die Verteilungspraxis der Verwertungsgesellschaften gepflegt wird, wird deutlich, wie sehr Werte zugunsten der Aufrechterhaltung traditioneller sozialer Unterschiede unreflektiert übernommen wurden und werden. Erst mit den Argumenten der Postmoderne wird diese Kategorisierung zumindest infrage gestellt. Leslie Fiedler und Charles Jencks fordern die Mehrfachkodierung eines Kunstwerkes in Hinblick auf die traditionelle Unterscheidung hoher von populärer Kunst, - von Elite und Alltagskunst139. Die Geschichte der Unterscheidung zwischen ernster und unterhaltender Musik hängt aber offensichtlich eng mit der Entwicklung des Bürgertums im 19. Jahrhundert zusammen. Thomas Nipperdey beschreibt das Ausscheiden des Unterhaltungsmomentes aus der ernsten Kunst als Folge der Kunstrevolution in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Ursache für die gesonderte Existenz einer Trivial- und Unterhaltungskunst. Mit Kunstrevolution meint Nipperday die Autonomiebestrebungen der Kunst, die keinen Auftraggebern mehr verpflichtet ist, einerseits sowie ihre Verbürgerlichung andererseits, welche gleichzeitig geschehen und in Wechselwirkung stehen. Der emphatisch autonome Kunstbegriff tendiert dazu, die Momente von Unterhaltung und Vergnügen, Schau- und Hörlust aus der Kunst auszuscheiden...noch bei der Uraufführung von Schuberts nachgelassener großer C-Dur Sinfonie wurde die Satzfolge durch eingeschobene Donizetti-Arien „aufgelockert“, aber seit der Jahrhundertmitte setzt sich das geschlossene, „ernste“, werkorientierte Programm 136 Vgl. David Brackett, "Where's It At"- Postmodern Theory and the Contemporary Musical Field. In. Lochhead, Judy (2002) S. 207 ff 137 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, Tübingen 1949/Frankfurt am Main 2003 138 zitiert nach Hermann Danuser (1997) Sp. 112 vgl. dazu auch Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie. Frankfurt am Main 1989, S. 145 f.: "Die konziliante Güte, die dem Zitherspieler auf dem Land dasselbe Recht zubilligt wie dem verständnisvollen Hörer komplexer Stücke des späten Bach ..., unterdrückt nicht nur die Qualitätsunterschiede sondern den Wahrheitsanspruch der Musik selbst“ 139 zitiert nach Hermann Danuser (1997) Sp. 111 45 durch...der Ernst des Kunstwerks setzt sich durch140. Im Prolog der Oper Ariadne auf Naxos (1912) von Richard Strauss (Libretto Hugo von Hofmannsthal) wird dieser Konflikt thematisiert wie paraphrasiert. Der emphatische Kunstbegriff steht in Zusammenhang mit zunehmender Individualisierung und damit der Zunahme der Bedeutung des Gefühls. Mit diesem neuen Bedürfnis nach Sentimentalität ging der Aufstieg der Trivialkunst und des Kitsches einher. Mit der Verbürgerlichung der Kunst werden nach Nipperday die Konsumenten zur Masse, die sich nicht mehr an den ständisch-traditionellen Normen orientiert, - der „Geschmack“ individualisiert sich und pluralisiert sich zugleich...In dieser Situation konnte sich das Bedürfnis nach Unterhaltung und Sentimentalität, nach dem es von der ernsten Kunst ausgegrenzt worden war, verselbständigen141. Pierre Bourdieu nennt es den Ekel vor dem „Leichten“, der den so genannten „reinen“ Geschmack kennzeichnet, welcher die ursprüngliche Form des auf das Vergnügen der Sinne reduzierten sinnlichen Vergnügens der Sinne ablehne. Das Leichte sei Hingabe an die unmittelbare Empfindung, die mit Sorglosigkeit verbunden ist. Er betont, dass die gesamte Sprache der Ästhetik in einer fundamentalen Ablehnung des Leichten befangen sei, und dass der „reine Geschmack“ seinem Wesen nach negativ, auf physischem Widerwillen, auf Ekel beruhe, sich selbst durch „Distanziertheit“ und „Teilnahmslosigkeit“ auszeichne. Der Grund für die Ablehnung des Leichten im Sinne von „einfach“ und „ohne Tiefe“ ist seine leichte Entzifferbarkeit, seine unmittelbare Zugänglichkeit. Vom Aufwand an Bildung her gesehen ist das Leichte „billlig“. Im Bereich der Musik werde im Fall der „leichten Musik“ von gefälligen Effekten und „vulgärer Sinnlichkeit“ gesprochen. Das Leichte stelle eine Beleidigung der Raffinesse des Kenners dar, die Methoden der Verführung werden als „niederträchtig“ und „entwürdigend“ verworfen. Die populären Veranstaltungen stehen im schroffen Gegensatz zur bürgerlichen Unterhaltung was zum Beispiel die Publikumsbeteiligung betrifft: im einen Fall lautstark und direkt, im anderen distanziert und stark ritualisiert. Der reine Geschmack verwirft die Gewalt, der sich das populäre Publikum unterwirft, - ist der Ausdruck des Ekels als die pardoxe Erfahrung des gewaltsam aufgezwungenen und Schrecken einflößenden Genusses142. 140 Thomas Nipperdey, Wie das Bürgertum die Moderne fand. Stuttgart 1998, S. 29 ff Thomas Nipperdey (1998) S. 32 f 142 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1998, S. 757 f. Bourdieu zitiert hier E. H. Gombrich, der den „guten Geschmack“ aus der Ablehnung elementarer, folglich vulgärer Befriedigungen, - aus den „modernen Verboten“ ableitet (E. H. Gombrich, Meditationen über ein Steckenpferd, Frankfurt am Main 1978, S. 76 ff). Bei Schopenhauer findet sich die 141 46 Auch die historischen Unterscheidungen zwischen den unterschiedlichen Funktions- bzw. Gebrauchsfeldern der Musik im wissenschaftlichen Sinn stehen hier zur Debatte, weil sie im Sinn des postmodernen Postulats Teil einer Geschichtsauffassung sind, die heute nicht mehr haltbar zu sein scheint. In den heute noch üblichen Kategorisierungs- und Bewertungssystemen orte ich die nicht hinterfragte Aufrechterhaltung überkommener hierarchischer Systeme. Die Vielfalt heutigen Musikschaffens lässt sich mit diesen Kategorien längst nicht mehr begreifen, wird aber, zumindest was die Klassifizierungspraxis der Verwertungsgesellschaften betrifft, heute noch angewandt. Um sich in der Vielfalt und Vielzahl der zeitgenössischen Genres und Stile orientieren zu können, bedarf es einer Aktualisierung der Definition von Musik sowie eines an dieser Definition orientierten neuen Begriffskanons für Teilbereiche des großen Feldes Musik. Die Beispiele historischer und aktueller Auseinandersetzung mit diesem Thema sind vielfältig. Erwähnt sei hier etwa die Äußerung Karlheinz Stockhausens im Gespräch mit David Paul143 im Jahr 1997 auf die Frage, ob er zwischen der so genannten ernsten und der populären Musik unterscheide: Das Wort „ernst“144 ist vielleicht missverständlich. Ich bin nämlich todernst, wenn ich versuche, etwas zu erfinden oder etwas zu entdecken, das ich nicht kenne, und das ist jedes Mal so, wenn ich eine neue Arbeit beginne. Die Musik, die der Mode unterworfen ist, die also im Radio gespielt und von vielen Menschen gekauft wird und die auch von den Produzenten leicht verkauft werden kann - das ist eine Art von Musik; sie passt sich der Nachfrage, dem Geschmack, der Werbung etc. an. Wohingegen sich die Musik, die mir seit 1959 vorschwebt, einer derartigen Beziehung zwischen mir und den Menschen verweigert. Ich mache nämlich das, was ich im Inneren höre, was ich spannend finde und was mir selbst oft gänzlich neu ist. Es gibt also einen enormen Unterschied zwischen Gebrauchsmusik oder kommerzieller Musik und Kunstmusik. Ich sage dazu Kunstmusik, nicht „ernste“ Musik. Oft ist es sehr humorvolle Musik; sie ist nicht Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Reinen. Das Reizende in Form der Darstellung von Esswaren und nackten Gestalten in der Kunst lehnt er ab (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. In. Sämtliche Werke, Bd. 2. Wiesbaden 1961, § 40, S. 245) 143 Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008. Saarbrücken 2008, S. 69 144 Im Wörterbuch der Brüder Grimm [Jakob Grimm/Wilhelm Grimm (1854) Bd. 3 Sp. 924 f] liest man über dieses Wort: ernst bezeichnet immer das wirklich gemeinte, wahre, feste und eifrige, den gegensatz von scherz und spasz... zugleich liegt dem ernst die bedeutung von eifer und zorn unmittelbar nah... und so stellen sich ërnst und spil, ernster kampf, wo es ans leben geht, und spil, bloszes ritterspiel, turnier einander oft entgegen... und da mhd. ërnst wirklichen streit und kampf, ags. eornest sogar zweikampf bedeutet 47 nur ernst. Also, sie ist beides. Aber ich nenne sie Kunstmusik im Gegensatz zur kommerziellen Musik. In der Programmierung des Festivals Wien Modern, in dessen Programmbuch 2008 dieses Zitat abgedruckt war, spielt die Berücksichtigung des so genannten Pop im Spannungsfeld zwischen Mode und innovativen künstlerischen Ansätzen eine gewisse Rolle. Die subtile Verbindung aus elektronischer Klangforschung und popkulturellen Energien sind für den künstlerischen Leiter Berno Odo Polzer eine spannende Kombination, die den Mechanismen der Gegenwart entstamme. Er erwähnt, dass für viele Musikschaffende aus diesem Zwischenbereich zwischen E und U die Auseinandersetzung etwa mit Stockhausen, Xenakis und Cage wichtig war145. Das bestätigt Karlheinz Stockhausen in erwähntem Gespräch mit David Paul auch schon 1997, in dem er auch auf seine populärmusikalischen Wurzeln verwies. Viele Popmusiker hätten behauptet, von ihm gelernt zu haben, die Musiker von Grateful Dead und Jefferson Airplane z. B. besuchten 1966-67 seine Kompositionsklassen in Davis/Kalifornien. 1.2.13 Zusammenfassung Die Begriffe, die im deutschsprachigen Raum für die heute entstehende abendländischartifizielle Musik verwendet werden, sind im heutigen Verständniskontext in erster Linie chronologisch (Neue Musik, Moderne Musik, Aktuelle Musik, Musik der Gegenwart oder heutige Musik, Zeitgenössische Musik). Der Begriff Avantgarde bezeichnet eine gewisse Dynamik (Vorreiterrolle) des Neuen, die mit dem Experiment in Verbindung steht, heute aber meiner Meinung nach ein historischer ist. In der Diskussion der Postmoderne ist der Begriff der Avantgarde allerdings wieder aktuell. Auch der Begriff Experimentelle Musik bekommt im Zusammenhang mit postmodernen Konzepten wieder Aktualität, - der Begriff der Musik der Postmoderne ist bezüglich der Haltung, die hinter dem Begriff steht, der aktuellste und am meisten geladene. Der Begriff Neue Musik als eine plurale Kategorie der Musik des 20. Jahrhunderts wurde gleichzeitig zu einer Marke stilisiert und ist als solche nur scheinbar als ein Mittel der Orientierung in der gegebenen pluralistischen Vielfalt zu sehen. Stephen Davies führt in diese Diskussion noch einen anderen Aspekt ein, nämlich die öffentliche Einschätzung, dass Musik auch ein Wort der öffentlichen Sprache sei. Er argumentiert, dass Kreative 145 Berno Odo Polzer in einem von Carsten Fastner geführten Interview Das Projekt Avantgarde ist Geschichte. In: Falter 42a/08, Beilage Wien Modern zum Falter 42/08. Wien 2008, S. 20 48 zwar die geltenden Normen ihrer Musikkultur herausfordern, zurückweisen oder zu unterlaufen versuchen, trotzdem aber an vielem festhalten müssten, das für den Begriff Musik charakteristisch ist. Im Laufe der Zeit, so Davies, können alle Regeln erodieren, so dass die zeitgenössische Musik nur mehr wenig wie ältere Musik klinge und von denen, die mit der älteren Musik vertraut waren, nicht mehr als Musik aufgefasst werden könnten. Die Tatsache, dass dieser Prozess sich nur schrittweise vollziehe, sei dafür verantwortlich, dass das Neue mit dem Vorangegangenen soweit in Verbindung bleibe, dass es vernünftigerweise als Musik gelten könne. Wenn wir eine Zeit erreicht haben, in der Stille, Fabriklärm und vieles andere mehr als Musik gelten kann, dann zeigt das nicht, dass der Begriff leer ist, sondern dass die geschichtliche Entwicklung des Begriffs eine zentrale Rolle für seine Identität spielt146. 146 Stephen Davies (2007) S. 72 f. David Brackett entwickelt einen ähnlichen Zugang zur neuen Begrifflichkeit. Nicht der Zusammenbruch der Kategorien, sondern die Entdeckung neuer Verhältnisse in und zwischen diesen, sowie eine neue Art, diese neuen Verhältnisse auf ökonomischer und technischer Ebene zu artikulieren, sei gefragt. (Rather than the collapse of categories, it seems to me that one of the explanatory uses of a term like postmodernism is to shed light on new relationships within and between categories, and new ways in which those relationships are articulated with shifts in the economic and technological levels of cultural production. In: David Brackett, "Where's It At"- Postmodern Theory and the Contemporary Musical Field. In: Judy Lochhead (2002) S. 224 49 1.3 Music – Antimusic 1.3.1 Ritwik Sanyal Der Indische Musikwissenschafter und Dhrupad147-Meister Ritwik Sanyal unternimmt in seiner Dissertation Philosophie der Musik148 den Versuch einer Definition des Begriffes Musik als Wort, als Konzept und als Situation unter Berücksichtigung Indischer und westlicher Begrifflichkeit, Logik und ästhetischer Theorie. Entlang seiner Methode der philosophischen Analyse ergibt sich eine Definition von Musik als Wertbegriff sowie in Form eines Kriterienkataloges zur Klassifizierung bzw. Beurteilung von Musik auf der Basis der Vorstellung des musikalischen Prozesses als Interaktion aller an der musikalischen Kommunikation Beteiligten. In Betrachtung der Vielfalt musikalischer Phänomene orientiert er sich zunächst an Begriffspaaren aus der musikalischen Praxis (regional/global, indisch/westlich, klassisch/modern, etc.) zu denen er auch das Begriffspaar Musik – Antimusik (music – antimusic) setzt. Die Unterscheidung music – antimusic hängt von Regeln ab, welche traditioneller bzw. konventioneller Weise anerkannt sind und unter deren Befolgung Musik den Menschen berühren und mystische Dimension erreichen kann bzw. wird. In diesem Fall nennt er Musik Musik. Mit dem Begriff Antimusik meint Ritwik Sanyal aber zwei Bereiche. Im ersten wird diesen Regeln oder Prinzipien aus Unkenntnis oder Unvermögen nicht entsprochen. Diese Antimusik wäre als defekte oder fehlerhafte Musik zu bezeichnen. Dazu zählt Sanyal auch vulgäre Musik, die die genannte mystische Ebene nicht anstrebt. Werden die Regeln aber experimentell gebrochen, um etwa neue Regeln aufzustellen oder einzigartige musikalische Artefakte zu schaffen, spricht er von Antimusik oder Avantgarde149. 147 Dhrupad ist der strengste der Indischen Gesangstile. Da der klassische Dhrupad (Dhruvapada) als sehr schwierig gilt, wird er heute nur noch von einigen wenigen großen Musikern vorgetragen. Aus: Alain Danielou, Einführung in die Indische Musik. Wilhelmshaven 1996, S. 82 f 148 Ritwik Sanyal, Philosophy of Music. New Delhi 1987 149 Die experimentelle Musik der Avantgarde entspringt aus der Sicht Sanyals mehr dem Intellekt und weniger dem Herzen und meint damit die mystische Ebene. Das Herz wird im Hinduismus auch als der Ort, an dem alles grundgelegt ist und Ruhe findet beschrieben, sowie als Zustand der Vibration und als Strahlen, das zu einer Identifikation (Energie der Freude) führt, bezeichnet. (In: Bettina Bäumer, Trika: Grundthemen des kaschmirischen Sivaismus. Innsbruck 2003, S. 109. Diese Ansicht reflektiert Clytus Gottwald ähnlich: Die musikalische Moderne wird mit Begriffen wie Aufklärung, Rationalität, Intellektualität, negativ mit Begriffen wie Gefühlskälte, Traditionsfeindschaft oder Dogmatik zusammengebracht, kaum jedoch mit dem Begriff Religion. In: Clytus Gottwald (2003) S. 5. Der romantische Mesmerismus, der eindeutige Verbindungen zu indischem Gedankengut sowie zum Yoga aufweist, nimmt zwei unterschiedliche Nervensysteme im menschlichen Körper an, das sympathische Nervensystem und das des Gehirns. Die Aktivität des sympathischen Systems wird im magnetischen Zustand vor allem in Herz bzw. Herzgrube als 50 Der Begriff antimusic oder anti-music ist zwar auch in der westlichen Welt da und dort in Gebrauch150, jedoch nicht (mehr) für die so genannte Avantgarde oder Neue Musik. Das Präfix anti (griechisch gegen, wider) impliziert eine Haltung, die nur bedingt mit der der Neuen Musik identisch ist. Im Kontext dieser identifiziert Sanyal antimusic als creative noise, silence, or a shift from nice noise to noise which is more noisy than nice151. Er unterscheidet drei Arten von Antimusik: 1. technologische Musik, 2. höllische Musik, die die soziale Realität der Zeit widerspiegelt, und 3. mystisches Geräusch. Für Sanyal ist antimusic (Gegenmusik) nicht mit nonmusic (Nichtmusik) gleichzusetzen, - antimusic sei eine Art der Gattung music. Er nennt einerseits die Zweiheit von Musikalischem und Nichtmusikalischem, - andererseits - im Bereich des Musikalischen - die der Musik und der Antimusik. Im Rahmen der Fragestellung nach einer Möglichkeit der Definition von Musik nennt er als eines der Gegenargumente die zeitgenössische Praxis der so genannten Avantgarde, die er größtenteils als anti-music bezeichnet: Side by side with the serious experimentalists unfolding the meaning of music and extending its boundaries, there are those who indulge into anti-musical antics and reduce music to absurdity. This anti-music can be identified with silence, noise or a shift from musical sound to noise which is more noisy than nice and yet to be called music. Er konstatiert zwei Extreme in der Neuen Musik, Geräusch und Stille. Diese Stille, hier dem Nihilismus zugeordnet, findet sich als Theorie in alten Texten wieder (struck – unstruck, audible – inaudible), - Geräusch und Stille sind aber auch integrale Teile der Musik. Das Konzept ãghãta ist sowohl dem Geräusch verwandt als auch der von Deutlichkeit und Schärfe abhängigen Resonanz, - das Konzept von laya liegt in der Pause, die Stille ist. Laya wird als Pause definiert, die unmittelbar auf eine Aktion folgt152. In diesem Zusammenhang ist Musik bzw. Klang ein Ereignis, das die ursprüngliche Stille unterbricht und schließlich wieder in Stille endet. Sie vermindert diese nicht, sondern gibt ihr vielmehr eine Form. Tibeter und Hindus betrachteten die Geburt des Klanges als ein dem sensiblen Mittelpunkt der Gesichte und Gefühle gespürt. Diese Mitte wird auch sympathisches Herz genannt, die allgemeine Lebensmitte. Im stillen Verkehr, also einer Wechselwirkung bzw. einem Zusammenspiel mit dem Gehirn, ist das Herz das rastlose, leibliche Gewirke der imaginativen, bildend, zeichnend, mahlend, musikalisch und poetisch thätigen Seele. In: Karl Baier (2009) S. 229 150 etwa: http://www.anti-music.com/29. 02. 2008, Ritwik Sanyal hat diesen Begriff vom Westen übernommen. Nach seiner Auskunft war der Begriff Anti-music zurzeit der Abfassung seiner Dissertation eine damals übliche Bezeichnung für die Musik der westlichen Avantgarde. 151 Ritwik Sanyal (1987) S. 7 [kreatives Geräusch, Stille, oder der Wechsel von angenehmem Geräusch zu einem, das mehr geräuschhaft als angenehm ist] Als Beispiel bringt er John Cage, 4’33’’ 152 Ritwik Sanyal (1987) S. 39 ff 51 religiöses Geheimnis, in das die Seele nicht unwürdig eintreten dürfe. Die Geburt des Klanges existiere nur für diejenigen, die, sich der ursprünglichen Stille bewusst, die verborgenen Quellen der Innerlichkeit in sich wachsen fühlen. Musik ist die Tochter der Stille, ....es liegt in der Abwesenheit von sich selbst, in der Musik ihre Erfüllung erreicht. Deshalb müssen Klänge verklingen und sterben, um der musikalischen Arbeit zum Leben zu verhelfen153. Auch die psychologischen und soziologischen Aspekte seiner Fragestellung beinhalten die Diskussion der Neuen bzw. Anti-Musik: moderne Kunst im Allgemeinen und Neue Musik im Speziellen hätten sich einer negativen Kritik des Lebens hingegeben. Adorno versuchte, die Dissonanz in der Musik als einen Ausdruck der gegenwärtigen sozialen Realität zu rechtfertigen, - ihr unharmonischer und geräuschhafter Charakter korrespondiere mit der Umweltverschmutzung und dem der Natur entfremdeten Menschen der modernen Gesellschaft. Ernest Ansermet, der in seiner an Husserl orientierten Phänomenologie der Musik ein geschlossenes System des musikalischen Hörens und musikalischen Bewusstseins vorgelegt hat, ordnet - seinen Studien zufolge – die späteren Werke John Cages und die elektronische Musik einem außermusikalischen Bereich zu, weil diese Art von Musik keine mitteilbare Sprache sein kann. Das tonale Gesetz ist für Ansermet eines des musikalischen Bewusstseins, - ein inneres Gesetz, während Gesetze wie das der Reihe äußere darstellen. In diesem Fall sei die Transzendenz materialisiert und hätte die Tiefendimension eingebüßt154. In diesem historischen Dokument können wir auch über die Nachkriegsgeneration von Boulez, Stockhausen und Nono lesen, deren „Musik“ (unter Anführungszeichen!) sich auf Klangstrukturen beschränke, die für den Hörer äußerliche Phänomene bleiben würden, weil alle Voraussetzungen für ihre Verinnerlichung dahin sind. Das innerliche Phänomen, das aus den klanglichen Phänomenen erst „Musik“ macht – der Einbildungsakt und seine sinngebende Tätigkeit – kann nicht sattfinden: die Musik ist aus155. 153 Gisele Brelet, zitiert in Ritwik Sanyal (1987) S. 41 Ernest Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewusstsein. München 1965, S. 545 f 155 Ernest Ansermet (1965) S. 575 154 52 Ansermet, der von seinem auf die Tradition bezogenen System ausgeht, beschreibt wie Sanyal die aus einer geschlossenen Systematik herausfallendes Phänomene, die er an anderer Stelle Auch-Musik und Nichts der Musik156 nennt. In jedem Fall aber, auch in der Bewertungsfrage, die die objektiven Komponenten untersucht und etwa die Möglichkeit zu unterhalten nennt, ist anti-music im weit gefassten Begriffsfeld Musik als ein Randbereich enthalten. Im Kapitel Music of the Seven Spheres nennt Sanyal die sieben Stufen des Lebens (infancy/frühe Kindheit, childhood/Kindheit, youth/Jugend, manhood/Mannesalter, elderliness/reifes Mannesalter, old age/hohes Alter und ripe old age/reifes hohes Alter) und setzt diese mit den sieben Bereichen des Klanges in Beziehung. Zu diesen gehören Klänge, die im überirdischen Klang eintauchen bzw. als Infra- und Supraschall für uns Stille bedeuten und als solche das Gegenteil von dem darstellen, das den Hintergrund der Musik ausmacht157. 1 Bereich der körperlichen Empfindung (bodily sensation) 2 Bereich der Sinnesempfindung (sense perception) 3 Bereich der Wahrnehmung (perceptual conception) 4 Bereich der Logik (conceptual reasoning) 5 Bereich der logischen Beurteilung (reasoned judgement) 6 Bereich der gerichteten Handlung (judged action) 7 Bereich der handelnden Bewusstwerdung (acted realization) Diese Bereiche werden in zwei Hemisphären unterteilt, - in der einen (sieben Welten) sind die Musik und das Entzücken angesiedelt, in der anderen (sieben Unterwelten) Antimusik und deren Wüst- und Verworrenheit (revelry). Diesen gibt Sanyal dem Sanskrit entliehene 156 Ernest Ansermet (1965) S. 575 f: Eine Dame hat einmal zu mir gesagt: „Wissen Sie- diese Musik hat mich mein Ohr zu üben gelehrt.“ Wahrhaftig! Sie hat sich wohl noch nie darüber Rechenschaft gegeben, dass beim Musikhören die Aufmerksamkeit gänzlich auf das Erlebnis gerichtet ist und dass man dabei nicht mehr auf die Ohren achtet als beim Gehen auf die Beine. Selbige Dame aber behauptete keineswegs, etwas „verstanden“ zu haben, und es ist ja auch tatsächlich unmöglich, dass diese Auch-Musik mehr als Anwandlungen eines Sinnes für den Zuhörer haben könnte; denn die Sinn-Voraussetzungen der Musik, die wir ja kennengelernt haben, sind hier ausgeschlossen. ... Nun wissen wir aber, dass der Sinn der Musik durch ein nichtreflexives System von Logarithmen bedingt ist und dass willkürliche Berechnungen, die mit den tonalen gesetzen nicht übereinstimmen, diese Logarithmen von außen her in keiner Weise beeinflussen können. ... Und aus ihren Formeln, ihren Berechnungen und ihrer Ästhetik machen sie Auslegungen, die ihnen das einzige Mittel liefern, das Nichts ihrer Musik zu verteidigen. 157 Ritwik Sanyal (1987) S. 175 f 53 Namen (Himmel: bhÚrloka, bhuvarloka, svarloka, maharloka, janaloka, tapoloka, satyaloka. Höllen: atala, vitala, sutala, mahÁtala, talÁtaka, rasÁtala, pÁtÁla), verwendet sie aber nicht in ihrer mythologisch-kosmologischen Bedeutung. Im Vergleich dazu erwähnt er die in seinem ersten Kapitel genannten sieben Modi der Erfahrung (1 bodily sensation, 2 sense perception, 3 perceptual conception, 4 conceptual reasoning, 5 reasoned judgement, 6 judged action, 7 acted realization), die den sieben Stufen der Erkenntnis entsprechen: Theorie Praxis 7 Mysticism Yoga 6 Religion Morality and ritual 5 Philosophy Fine Arts 4 Formal logic Arguments 3 Science Technology 2 Commonsense Crude arts 1 Prelogical apprehension Bodily behaviour Die Musik gehört in dieser Darstellung dem 5. Bereich an, erscheint aber auch in allen anderen Bereichen. Sie steigt zu niederen Sphären ebenso hinab, wie sie zu den höheren aufsteigt (bis zur Kunst des Yoga in mystischer Musik). Die Struktur der Musik als praktische Verwirklichung auf jeweils diesen sieben Stufen stellt sich wie folgt dar: 1 prelogical natural 2 commensenseical 3 scientific 4 formal logical 5 philosophical 6 religious 7 mystical 54 Abb. 1: Ritwik Sanyal, Die sieben Sphären des Klanges158 Swami Pratyagatmananda159 verwendete die genannten Sanskrit-Namen, um die Stufen der spirituellen Entwicklung zu bezeichnen. An der aufgegliederten Darstellung interessiert mich hier wieder die Position der Antimusik, die jedes Mal extra erwähnt und explizit dem Bereich der Hölle zugeordnet ist : 1 Music of bhÚrloka vom Körper wahrgenommen als Klang- oder Sprachmuster, die gleichförmige Bewegungen stimulieren Antimusic of atala ist charakterisiert durch vulgäre Körperbewegungen, schlechte Eigenschaften auf der körperlichen Ebene (Anatonie und Physiologie) 2 Music of bhuvarloka die organischen Empfindungen werden zu den einzelnen Sinnesorganen (Ohren, Augen, Nase, Zunge, Haut) geleitet und von diesen als Objekte wahrgenommen. Das allgemeine Kriterium für Realität auf dieser Ebene ist wahrgenommen zu werden. Die meisten von uns leben die meiste Zeit auf dieser Ebene. 158 Ritwik Sanyal ( 1987) S. 176 Japasutram, The Science of Creative Sound/Swami Pratyagatmananda Saraswati. Reprint. Chennai, Vak Parampara, 2007 159 55 Ein solches Publikum legt Wert auf laute Musik, - auf Musik, die laut genug ist, um gehört zu werden Antimusic of vitala überschreitet diese Grenzen quantitativ und qualitativ, - hier findet man alle Arten von bizarren, dünnen und lauten Klängen und Stimmen, - schlechte Eigenschaften wie gedämpfte, nachlassende Stimme, aufgeblasener Hals 3 Music of svarloka Konzepte und Strukturen, Klangmuster als tonale Bewegung wahrgenommen, die Eigenschaft ist Kompaktheit, die ein besonderes Merkmal der westlichen technologischen Musik ist. Hier drückt Sanyal seine Besorgnis aus, dass die technologische Lawine die Kreativität des Menschen auslöschen und ihn gegen seinen Willen der Kunst enteignen könnte. Antimusic of sutala meint nicht die gesamte technologisch orientierte Musikproduktion, aber vieles entbehrt differenzierte künstlerische Dimension. Die Neue Musik oder Avantgarde des Westens hat viele antimusikalische Experimente gemacht, wie auch die Avantgarde im Allgemeinen (Antidichtung, Antikunst, Antitheater). In ihren Disziplinen Metaethik, Metaphilosophie usw. hat sie versucht, die Grenzen der Verständlichkeit zu erreichen. Die Mittel waren: neue Kombinationen bereits existierender Instrumente, unübliche Verwendung gebräuchlicher Instrumente, und Experimente mit neuen Tongeneratoren. Entwicklungen in der physikalischen und elektronischen Akustik haben zu zahlreichen Experimenten in der Produktion musikalischer Klänge geführt. Die neuen Klänge, verbunden mit neuen rhythmischen, harmonischen, melodischen und tonalen Konzepten machen es schwierig, die Musik in Begriffen herkömmlicher Ästhetik zu fassen. Einer der signifikantesten Aspekte moderner Musik betrifft neue Konzepte der Tonalität, die sich nie zuvor so radikal geändert haben wie im 20. Jahrhundert. Antimusik meint gestörte oder fehlende Kompaktheit tonaler Bewegung. 4 Music of maharloka konzeptuell logisch durchdachte Subjekte einer Klangmatrix, Anteilnahme und Verständlichkeit Antimusic of mahÁtala überschreitet diese Grenzen quantitativ und qualitativ und zerstört sie zugunsten einer Unmenge an bizarren Tonkombinationen. Die schlechten Eigenschaften wären unangebrachte Mikrotöne, Verwirrung, Überschreitung angemessener Ordnung 56 5 Music of janaloka erscheint als rational ausgerichter Wert der Klangmatrix, als selbst geleiteter innerer Verstand Antimusic of talÁtala ist durch das Gegenteil der Eigenschaften weich (creamy) oder Vollständigkeit charakterisiert. Die schlechten Eigenschaften sind u. a. heiser, krähenartig, bedeutungslos, unanständig oder unkultiviert, unvollständig 6 Music of tapoloka Sanyal unterscheidet hier zwischen geistlicher und weltlicher, tiefgründiger und weltlicher Musik. Geistliche Musik ist dasselbe wie religiöse Musik, aber unter profunder, tiefgründiger Musik verstehen wir beides, religiöse und mystische Musik. Religiöse Musik ist reich an Gefühlen der Frömmigkeit, der Moral und des Patriotismus. Sie ist ergreifend und wunderbar. Antimusic of rasÁtala ist durch das Gegenteil von ergreifend, erhaben und den anderen guten Eigenschaften der religiösen Musik charakterisiert. Die schlechten Eigenschaften Trockenheit, Fröhlichkeit und Ekel verletzen die religiösen Gefühle der Zuhörer mit Absicht. 7 Music of satyaloka entspricht der mystischen Realität, die durch yogische Praxis erreicht wird, sowie der musikästhetischen Eigenschaft ruhig/friedvoll. Antimusic of pÁtÁla ist durch das Gegenteil von Ruhe charakterisiert. Die schlechten Eigenschaften sind: zu hohe Tonlage, der Bruch mit allen musikästhetischen Regeln, Künstlichkeit, Entstellung und laute, gespreizte Stimme Während in dem von Sanyal beschriebenen System die Musik letzten Endes in den Himmel führe, führe die Antimusik in die Hölle. 1.3.2 Athanasius Kircher und Robert Fludd Ähnliche zweipolige kosmologische Systeme finden sich in der europäischen Kulturgeschichte wieder. In der barocken Antithetik, der etwa Athanasius Kircher nahe stand, war der Kampf der katholischen Kirche gegen die Reformationsbestrebungen ein 57 Kampf des Guten gegen das Böse. Kirchers Denken war ebenfalls diesem zweipoligen Denken verpflichtet, indem er Konsonanz und Dissonanz, Licht und Schatten gegenüberstellte. Die Idee der Aufhebung dieser Polaritäten durch Mischung ihrer Substanzen ist eine, die in der Alchemie zu Hause ist. Die Musik nahm in seinem Weltbild einen wichtigen Platz ein. In Kirchers an Pythagoras orientierter Vorstellung sind mathematisch-physikalischer Prozess und göttlicher Äußerungsakt eins. Harmonisch vollkommene, also schöne Musik könne stark heilend wirken, disharmonische Musik bewirke das Gegenteil und versetze die Seele in Turbulenzen. Seine Idee der musica pathetica entsprach der damaligen Vorstellung vom Zweck der Musik, Rührung hervorzubringen160. Vergleichbare Vorstellungen entwickelte Robert Fludd, der die Welt u. a. durch das Monochord zu beschreiben versuchte. Ebenfalls entlang den Entdeckungen von Pythagoras kommt er zur Analogie von Wirklichkeit und Zahl. Die Grundlagen seines Modells bilden zwei vertikale gleichschenkelig spitzwinkelige und in einander geschobene Dreiecke, von denen eines die Basis in der hellen himmlischen Sphäre hat, das andere ruht in der dunklen Materie des Erdinnern. Auch hier deutet die Sphäre der Äquivalenz in der Mitte, die die Konstruktion im Gleichgewicht hält, auf alchemistisches Gedankengut. Die beiden Dreiecke verhalten sich reziprok dynamisch zueinander und repräsentieren den Aufstieg der Materie zum Göttlichen sowie das Wirken des göttlichen Prinzips zur Erde hin. Diese beiden Elemente sind in dem Modell, dem das Monochord zugrunde liegt, durch die beiden Oktaven der einzigen Saite repräsentiert, die sich über die gesamte vertikale Hierarchie zwischen äußerster Dunkelheit und strahlendem Licht erstreckt. Das Verhältnis von Dunkelheit und Licht erkennt Fludd als das theologische Problem von Finsternis und Entbehrung, - in der Entbehrung die Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit. Die Dunkelheit bzw. das Böse sei nicht einfach die prinzipielle Abwesenheit von Licht bzw. des Guten, sondern seien komplementär zu begreifen. Sie durchdringen einander wie die Dreiecke seines Weltmodells161. 160 Siegfried Zielinsky (2002) S. 147 ff Siegfried Zielinsky (2002) S. 128 ff. Vgl. dazu Slavoj Zizek (2003) S. 89, der von der positiven Kraft des Bösen spricht, die es anzuerkennen gelte, ohne zu einem manichäischen Dualismus zu regredieren. Schelling entwickelte die Methode dazu: Das Böse unterscheide sich nicht „substantiell“ vom Guten, es sei keine positive Kraft, die diesem entgegengesetzt ist, sondern das Böse sei substantiell dasselbe wie das Gute, lediglich ein anderer Modus (oder eine andere Sichtweise) desselben. Kierkegaard sah das Böse als das im Werden begriffene Gute, sowie den radikal negativen Bruch mit der alten substantiellen Ordnung als Bedingung einer neuen Universalität. 161 58 Abb. 2: Robert Fludd, Das Weltmonochord162 Abb. 3: Robert Fludd, Dreiecksmodell163 Die prominenteste abendländische Darstellung eines polaren Weltbildes, das, wie die beiden zuvor beschriebenen, eine dritte Vermittlungsebene vorsieht (hier das Purgatorio), ist die schon wesentlich ältere in Dante Alighieris Göttlicher Komödie. 1.3.3 Dante Alighieri Der Begriff anti-music erscheint in ganz anderem Zusammenhang als dem vorher erwähnten in einem Essay von Maria Ann Roglieri164. Im Inferno, dem ersten Teil der Göttlichen Komödie165, beschreibt Dante seine Reise durch das Jenseits. In lebendiger, bildhafter Metaphorik schildert er neben den visuellen auch die akustischen Eindrücke, die seinen Weg säumen. Maria Ann Roglieri erkennt in diesen verbal evozierten Klangkulissen nicht Musik im gewohnten Sinn, sondern eine Musik, die unserer menschlichen Musik 162 Siegfried Zielinski (2003) S. 131 http://z.about.com/d/altreligion/1/0/T/-/-/-/2triangles.jpg 164 Maria Ann Roglieri, Twentieth-century musical interpretations of the „anti-music“ of Dante’s Inferno. Italica 2002 165 Dante Alighieri (1265 – 1321), Die Göttliche Komödie. Stuttgart 1949 163 59 entgegengesetzt ist: Anti-Musik. Dante selbst verwendete diesen Begriff nicht, - es war Edoardo Sanguineti166, der ihn eingeführt hat. Dieser schreibt in seinem Text über höllische Akustik, dass die Geräuschkulisse der Hölle nicht ausschließlich Leerheit oder Lücke ist, sondern vielmehr eine Fülle einer unharmonisch harten und akustisch widerwärtigen Antimusik vermittle. Das im Inferno beschriebene Gehörte, das im Text dem Gesehenen meistens vorausgeht, ist oft auf Verzerrungen und Verdrehungen des Heiligen gerichtet, - am bemerkenswertesten ist der Venantius Fortunatus Hymnus im 34. Gesang167. Diese Parodie baut im Purgatorio II eine Zweiteilung zwischen dem Himmels- (In Exitu Israel de Aegypte) und dem Erdenlied (Amor che nella mente mi ragiona) auf. Diese Zweiteilung dramatisiert den Beginn der Bewegung „Vom ästhetischen zum ethischen Leben“ und einer Überschreitung (transcendence) beider168. Die sprachlich evozierten, unterschiedlichen und meist vokalen Klangwelten in Dantes Göttlicher Komödie sind kalkuliert und präzise eingesetzt. Der Klangraum ist meist vom Schreien und Wehklagen, von einer gedemütigt menschlichen und dämonischen Vokalität im unvermeidlichen Register von Schreien und Zähneknirschen besetzt169. Roglieri stellt nun die Frage, was an dieser Musik so schrecklich sei, dass sie genau das Gegenteil von dem repräsentiere, was konventionelle Musik bedeutet. Antimusik sei, aus 166 Edoardo Sanguineti, Infernal Acoustics: Sacred Song and Earthly Song, Lectura Dantis 6. Charlottesville/VA 1990. 167 Dante S. 403, Vexilla regis prodeunt inferni – Virgil parodiert mit diesen Worten den Karfreitagshymnus des Vernantius Fortunatus, indem er ihn von dem kreuztragenden Christus auf Luzifer überträgt: Vexilla regis prodeunt, Fulget crucis mysterium, Quo carne carnis conditor Suspensus est patibulo Der Hymnus wirkt hier doppelt ironisch dadurch, dass der Herr der Hölle unbeweglich ist und nur die Wanderer sich ihm nahen. Durch den Zusatz inferni wird zugleich auch das Motiv der Höllenfahrt Christi angeschlagen, das auch in dem Hymnus selbst vorkommt. Es ist übrigens die Tageszeit, zu der droben auf der Erde dieser Hymnus erklingt; vgl. F. D’Ovidio, Studi 562 f. A. De Vit, Illustrazione del vesro dantesco... Alighieri III, 1891/2, 462-465 weist auf ein historisches Ereignis hin: bei der schauerlichen Plünderung Paduas durch ein guelfisches Kreuzfahrerheer gegen Ezzolino da Romano im Jahre 1254 ließ der päpstliche Legat wie zum Hohn diesen Hymnus singen. Aus: Hermann Gmelin, Vierunddreißigster Gesang. In: Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie. Band IV – Kommentar Erster Teil – Die Hölle. München 1988, S. 485 168 ebda, zitiert nach: Christopher Kleinhenz, American Dante Bibliography for 1990. In: Dante Studies vol.109, Waltham/MA 1991. Drawing on therminology set forth by Boito and Shafer, the author argues that "the soundscape of Hell ... cannot be reduced to mere musical emptiness" (excluding Nimrod's horn and Mastro Adamo's belly); rather, there is a "meditated and meaningful plenitude of 'antimusic' ... [of] disharmonic ha.rshness and acoustic unpleasantness." In the Inferno listening, which usually precedes seeing, is often directed toward distortions and perversions of the sacred, most noteworthy the parody of Venantius Fortunatus' hymn in canto XXXIV. This parody throughout the Inferno sets up the dichotomy in Purgatorio II between the sacred song and the earthly song __ In Exitu Israel de Aegypto and Amor che nella mente mi ragiona. This dichotomy dramatizes the beginning of the movement "from the esthetic to the ethical life" and to a transcendence of both. 169 Edoardo Sanguineti (1990) S 69-79 60 Schreien und Klagen komponiert, eine pervertierte Form der Vokalmusik. Im Text des Inferno erscheinen aber auch Instrumente wie Horn, Laute und Trommel sowie die Form des Tanzes. Diese radikal neue Antimusik in Dantes Inferno war bzw. ist eine faszinierende Anregung für Komponisten, Stücke zu schreiben, die auf dessen klanglicher Ästhetik basieren. Diese Fundgrube blieb aber vom 16. bis zum 19. Jahrhundert aufgrund der jeweils herrschenden Konventionen praktisch unberührt und wurde erst von Komponisten im 20. Jahrhundert aufgegriffen, begünstigt durch die neuen Techniken und Formen wie etwa die der elektronischen Musik. Eine Ausnahme bildeten die Madrigalisten des 16. Jahrhunderts, welche die im Inferno beschriebenen eigentümlichen Klänge des Wehklagens der Verdammten in mehrstimmig chromatischen ausdruckstarken Sätzen abgebildet haben. Roglieri nennt mehr als fünfzig Werke des 20.Jahrhunderts, denen Dantes Inferno zu Grunde liegt170. Diese lassen sich in zwei Gruppen einteilen, diese, die einzelne Charaktere wie Francesca oder Ugolino behandeln, und jene, die bestimmte einzelne Episoden beschreiben171. 1.3.4 Noh-Theater In der Suchbewegung noch weiter ausholend, widme ich mich nun einem Bereich, in dem Musik ebenfalls eine tragende Rolle spielt. Musik, die Elemente in sich trägt, die - aus unserer Perspektive betrachtet – der Idee der Antimusik entsprechen bzw. verwandt sind: dem japanischen Noh172-Theater. Bevor ich auf dessen Musik eingehe, möchte ich einige wesentliche Merkmale des Noh-Theaters erwähnen. Es gibt zwei japanische traditionelle Künste, die in Europa relativ bekannt sind: Die Kunst des Haiku und die des Noh-Theaters173. Das Wort Noh selbst ist ein buddhistischer Begriff und bezeichnet die mentale Verbindung zwischen dem Darsteller und dem Publikum174. Der Ursprung von Noh liegt im chinesischen bzw. koreanischen Sangaku, das zur Zeit der alten Monarchie im 8. Jhdt. (Nara-Ära) nach Japan gekommen ist. In einigen Details ähnelt das Noh-Theater der griechischen Tragödie, mit dem es den auf historischen oder 170 Ann Roglieri, Dante and Music. Musical Adaptions of the Commedia from the Sixteenth Century to the Present. Hampshire 2001 171 Der Verfasser dieser Arbeit hat sich ebenfalls kompositorisch in seinem Werk für Altus und Elektronik Don Giovanni /Introduzione (2006) mit diesem Thema auseinandergesetzt 172 Ich folge hier der in Europa üblichen Schreibweise 173 Kazuya Takaoka, Mutsuo Takahashi, Toshiro Morita, Noh. Tokyo 2004 174 aus: http://www.bookmice.net/darkchilde/japan/jnoh.html (1. 6. 2008) 61 legendären Figuren basierenden erzählerischen Charakter, die Verwendung von Masken und die Miteinbeziehung von Musik und Tanz gemeinsam hat. Werden die Masken in der griechischen Tragödie getragen, um dem Publikum die Unterscheidung der Rollen und Charaktere zu ermöglichen, haben sie im Noh-Theater die Funktion, dem Schauspieler das Einfühlen in die Rolle, die Identifikation mit dem jeweiligen Charakter zu erleichtern. Die Hauptfiguren des Noh-Theaters gehören nicht unserer realen Welt an, sondern einer Traumwelt, die ein reisender Mönch – eine Figur, die in allen Noh-Spielen in dieser Funktion vorkommt - mit dem Publikum teilt. Die meisten Noh-Stücke haben eine Struktur gemeinsam: ein Mönch (der keine Maske trägt) tritt auf, von seiner Pilgerreise erzählend. Im Traum erscheint ihm der Geist eines Verstorbenen, der ihm von seiner Fixierung auf seine Vergangenheit und von seinen Qualen, die er nun aushalten muss, erzählt und den Mönch bittet, für seine Befreiung zu beten. Nachdem er durch das Gebet des Mönchs Befreiung erlangt hat, drückt er seine Freude darüber mit einem Tanz aus. Um eine solche Rolle zu spielen, genügt es nicht, nur ein Kostüm zu tragen, - der Schauspieler muss in den Geist des darzustellenden Charakters eintreten, bevor er zu spielen beginnen kann. Die Maske (omote) hilft ihm dabei, diese Tiefe der Identifikation zu erreichen und die Konzentration während des Spiels aufrecht zu halten, um die größtmögliche Wirkung auf das Publikum erzielen zu können. die Maske ist sozusagen die Tür zu dieser anderen Welt. Omote meint die Vorderseite der Maske, die dem Publikum zugewandt ist. Die Innenseite der Maske heißt ura, hinter der sich der Noh-Spieler in eine Person aus einer anderen Welt verwandelt, in dem Bestreben, das Publikum dorthin mitzunehmen. Er versucht, diesem mit seiner Ausstrahlung die Weise dieses Daseins und Nicht-Daseins in dieser anderen Welt zu vermitteln. Die Masken selbst zeigen keinen speziellen Ausdruck, doch gilt das nur für das Sichtbare. Im Dunkel des Maskeninneren findet eine intensive Interaktion zwischen der Person der anderen Welt und dem NohSpieler statt. Diese Interaktion – von der ausdrucksneutralen Maske ausstrahlend - macht das Spiel erst lebendig und wird als Überhöhung des Ausdrucks verstanden, - als ein spiritueller Aspekt. Die Maske tragend, ist der Schauspieler vom Geist des von der Maske repräsentierten Charakters beseelt. Diese Schauspieler müssen täglich üben, um diese spirituelle Transformation vollbringen zu können. Zeami Motokiyo (14. Jhdt.), der als Begründer des Noh-Theaters gilt, gab folgende Regel: Dô jûbu shin, dô nanabu shin 62 (Aktivität des Geistes 10, Aktivität des Körpers 7)175. Sie drückt das Prinzip aus, wonach bei voller geistiger Aktivität des Schauspielers die körperliche zurückgehalten werden sollte, sodass die spirituelle Energie von innen nach außen strahlen und eine Aura erzeugen kann. Diese Aura wird vom Publikum als wesentlich Aspekt des Gelingens einer Aufführung wahrgenommen und geschätzt. Für die Rolle des Mönches gibt es kein Äquivalent in der griechischen Tragödie: er ist der Vermittler zwischen dem Geist und dem Publikum, oder – in anderen Worten – dessen Stellvertreter. Es handelt sich also in diesem Sinn um ein Drama, in dem der Geist durch seinen Eintritt in die Traumwelt des Mönches in das Unterbewusste jedes einzelnen Zuschauers gelangt. Die Zuschauer teilen sein Schuldbekenntnis bezüglich seiner Anhaftung an das irdische Leben und seine Qualen in seinem Zustand nach dem Tod. Der Geist repräsentiert die Toten. Das Miterleben erzeugt im Publikum ein Schuldgefühl, das auftritt, wenn Lebende an die Toten denken, - das Gefühl, dass diese jenen etwas schulden, - eine Schuld, die durch Gebete abgebüßt wird, die den Toten ermöglichen, Frieden zu finden. Durch diesen Moment der engen Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten hat Noh fundamentale Relevanz und wird als die Essenz der japanischen Kultur angesehen. Im Noh-Theater wird die Grausamkeit oder Schwere unseres Lebens aus einer jenseitigen Sicht beleuchtet. Noh-Stücke sind Dramen von der Erlösung der Seelen, - auch wenn oft nur unbewusst, sind sie für das Publikum spirituelle Therapie176. Auch die Musiker des Noh-Theaters gehören zur Gruppe der Schauspieler bzw. Darsteller. Sie eröffnen das Spiel und gehen zuletzt. Sie werden sogar als Hauptcharaktere bezeichnet. Das Instrumentenensemble, das von ihnen gespielt wird, heißt shibyôshi (4 Rhythmen) und besteht aus 4 verschiedenen Instrumententypen:nôkan (Flöte), kotsuzumi (kleine Handtrommel), ôtsuzumi (große Handtrommel) und taiko –Trommel. Sie bilden ein Quartett, das sich aber vom westlichen Begriff des Quartetts wesentlich unterscheidet. Sie sitzen in einer Linie - nicht so, dass sie einander sehen können bzw. einen gemeinsamen Klangkörper ergeben. Jeder Noh-Musiker konzentriert sich auf sein Instrument, das Aufeinanderprallen der von ihnen erzeugten Klänge sowie die Spannung, die es erzeugt, sind wichtige Bestandteile des musikalischen Effekts. Während ein westliches Ensemble 175 Meister Seami, Die geheime Überlieferung des Nõ. Aus dem Japanischen von Oscar Benl, Frankfurt am Main 1986, S.89 176 Meister Seami (1986) S. 82 f 63 darauf abzielt, Klang zu schaffen, ist die Funktion der Noh-Musiker, Stille zu erzeugen, die Abwesenheit von Klang. Diese Stille wird ma (Raum, Vakuum) genannt. Noh ist auch die Einheit von Gesang und Tanz. Gesang ist hier der Ausdruck der Dichtung in der Stimme des Hauptdarstellers. Die Instrumente begleiten diesen Gesang nicht, sie erschaffen den Raum, in dem sich Gesang und Tanz entfalten können177. Ein wesentliches und für europäische Ohren sehr auffälliges Element178 der Musik des Noh-Theaters sind die so genannten Trommelrufe oder kakegoe. Diese von den Trommlern ausgestoßenen Rufe, die sich stark von der übrigen vokalen Ästhetik unterscheiden und zum Teil wie Tierlaute klingen, haben eine wichtige Funktion im musikalischen Gesamtablauf. Sie können mit der Rolle des Dirigenten in der westlichen Musik verglichen werden, sind aber als klingende Elemente einerseits Fremdkörper, andererseits selbst Teil der Musik. Die Trommler spielen untereinander synchron und folgen grundsätzlich einer Struktur von jeweils acht Schlägen. Ihre Rufe geben dieser rhythmischen Struktur Elastizität, die den Eindruck von Zufall erzeugt, trotzdem aber für Klarheit sorgt. Aus diesem Grund ist es auch für Ungeübte unmöglich, die acht Schläge zu zählen bzw. zu erfassen. Die Kakegoe koordinieren die Aktionen der Schauspieler, Sänger und Instrumentalisten, tragen bzw. kontrollieren die Spannung des ganzen Stücks179 und unterstreichen emotionale Wechsel. Es gibt vier Grundtypen von kakegoe: yo, ho, iya und yoi. Yo und ho sind die am häufigsten vorkommenden, die die musikalische Struktur schaffen und begleiten, während yoi das baldige Ende eines Abschnitts signalisiert und iya das Ende bzw. den Anfang eines neuen Abschnittes bezeichnet oder bestimmte musikalische Phrasen begleitet. Diese Rufe sind Silben, die an sich keine Bedeutung haben, die aber alle am Spiel Beteiligten quasi zusammen halten. Deshalb ist auch die Meinung verbreitet, dass die Trommelrufe für den rhythmischen Ablauf des Noh-Spiels wichtiger sind als die Trommelschläge selbst180. 1.3.5 Fréderic Chopin Alexander Becker bringt gegen Ende seines Artikels Wie erfahren wir Musik181 177 Meister Seami (1986) S. 346 f Vgl. http://www.bte.org/index.php?page=drum-calls (29. 05. 2009): The first time I heard the music of noh I nearly doubled over with laughter. The strange gutteral grunts of the drummers was too much for my Western ears attuned to choral harmonies. 179 Richard Emmert, aus: http://www.bte.org/index.php?page=noh-music (29. 05. 2009) 180 Aus:. http://www.bte.org/index.php?page=drum-calls : [From the author’s Noh Preview column in the Mainichi Daily News, April 22, 1986.] (29. 05. 2009) 181 Alexander Becker, Wie erfahren wir Musik. In: Alexander Becker/Matthias Vogel (2007), S. 306 ff 178 64 als Modell für den Nachvollzug182 den vierten und letzten Satz aus Fréderic Chopins Klaviersonate in b-Moll op. 35. Dieser kurze Finalsatz ist deshalb bemerkenswert, weil ihm alles, was eine strukturierte und nachvollziehbare Form ausmachen könnte, fehlt183. Robert Schumann hat zu diesem Satz immerhin...denn Musik ist das nicht184 geschrieben. Becker schließt aus der Analyse des Satzes und dem dazugehörigen Zitat Schumanns, dass der Hörer sich durch diese quasi Anti-Musik verspottet fühle bzw. sie als unauflösbare Irritation hinnehmen müsse185. Interessant ist in diesem Zusammenhang Beckers Deutung als Modell für den Nachvollzug: der Hörer scheitert ja mit jedem Versuch, den Satz in einer Weise nachzuvollziehen, die ihn als einheitliches, einen internen Zusammenhang artikulierendes Gebilde erfahrbar macht. Der Bann, in dem der Satz den Hörer hält, ist keine fassbare Einheit; es ist eine Einheit, die der Hörer unterstellt und die ihm zugleich gänzlich entzogen bleibt. Dieser Bann zeitige die Suche nach einer Form auf seiten des Hörers. Das anhaltende Scheitern beim Versuch, den Satz nachzuvollziehen, erzeugt eine unauflösliche Spannung, die – wie Becker vermutet – der Musikerfahrung grundsätzlich innewohnt186. Das vorerst als Anti-Musik gekennzeichnete Musikstück wird in diesem Zusammenhang zu einem Musterbeispiel für Musik an sich, – im Speziellen für das, was die Neue Musik erreichen wollte und eine heutige noch zu erreichen versucht, – für Musik als ein Sensorium für Prozesse, denen wir begrifflich (noch) nicht gewachsen sind187. 1.3.6 Anästhetik Der Philosoph Wolfgang Welsch hat im Rahmen seiner Arbeit über Ästhetik188 den Begriff der Anästhetik eingeführt, den er als Gegenbegriff zu Ästhetik verwendet. Er meint damit jenen Zustand, in dem die Bedingung des Ästhetischen, die Tätigkeit des Empfindens, aufgehoben ist. Während die Ästhetik das Empfinden stark macht, thematisiert Anästhetik die Empfindungslosigkeit, und zwar im Sinne von Verlust, 182 vgl. Kapitel 1.4 Alexander Becker (2007) S. 308 184 Robert Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker. Leipzig 1883, zitiert nach Alexander Becker (2007) S. 309 185 Alexander Becker (2007) S. 310 186 Alexander Becker (2007) S. 310 f 187 Matthias Vogel, Nachvollzug und die Erfahrung musikalischen Sinns. In Becker/Vogel (2007), S. 351 188 Welschs Definition von Ästhetik unterscheidet sich von der traditiionellen als einer, die auf das Schöne bzw. die Kunst beschränkt ist. Er versteht sie als Aisthetik, - als Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art, sinnenhaften, geistigen, alltäglichen, sublimen, lebensweltlichen und künstlerischen. Aus: Wolfgang Welsch, Ästhetik und Anästhetik. In: Ders., Ästhetisches Denken, Stuttgart 2003, S. 9 f 183 65 Verhinderung oder Unmöglichkeit jeglicher Sensibilität, von physischer Stumpfheit bis geistiger Blindheit. Es ist ihm wichtig, Anästhetik von Anti-Ästhetik (die die Dimension des Ästhetischen pauschal verwirft), vom Un-Ästhetischen (dem negativ Qualifizierten) und dem Nicht-Ästhetischen (das keinerlei Bezug zu ästhetischen Fragen aufweist) zu unterscheiden. Für Welsch ist Anästhetik vielmehr ein grenzgängerisches Doppel der Ästhetik selbst. Bezug nehmend auf die Doppeldeutigkeit des Begriffs Aisthesis, der sowohl Wahrnehmung als auch Empfindung, Gefühl oder Erkenntnis meinen kann, stellt er in der traditionellen Auffassung von Ästhetik die Betonung des Kognitiven fest und ordnet der Anästhetik primär die Empfindung zu. Anästhetik thematisisert einerseits die Bedingung, andererseits die Grenze des Ästhetischen, also dessen Elementarschicht. Anästhetische Tendenzen sieht Welsch in der Verfasstheit heutiger Wirklichkeit, nämlich ihre zunehmende Bildwerdung, - die Bildlichkeit der medialen Welt. Krasser formuliert, ist es die Auflösung der Wirklichkeit durch ihre simulatorische Überbietung. Telekommunikation und zunehmende Medialität lassen die Menschen gegenüber der eigentlichen, konkreten Wirklichkeit kontakt- und fühllos werden und zeitigen so soziale Desensibilisierung. Die Formel, die Welsch für diese aktuelle Entwicklung findet, bezeichnet er selbst als teuflisches Gesetz: Je mehr Ästhetik, desto mehr Anästhetik189. Interessant ist Welschs Zuordnung der beiden Begriffe Ästhetik und Anästhetik in Hinblick auf die Epochen Metaphysik, Moderne und Gegenwart. In der Metaphysik ist der Mensch auf das Übersinnliche hin, also weg vom Sinnlichen, ausgerichtet. Metaphysik handle vom Unbewegten, Unveränderlichen, Unsinnlichen. vom Nichträumlichen und Nichtzeitlichen. Das Unsinnliche ist das Anästhetische. Die Moderne vertritt das gegenteilige Ideal, nämlich das der Ästhetik. Die Gegenwart, die Welsch als die Postmoderne bezeichnet, sieht er im Lichte einer Dialektik von Ästhetischem und Anästhetischem. Diese Dialektik sehe ich auch in dem in diesem Kapitel thematisierten Begriffspaar Musik und Antimusik. Die Verbindung bzw. das Wechselspiel dieser beiden Begriffsmodule ist für die dialektische Dynamik des Begriffs Musik verantwortlich, welche die Hauptthese Wolfgang Welschs unterstützt, nach der die Anästhetik der Ästhetik nicht von außen zustößt, sondern aus ihrem Inneren kommt190. Um diese Feststellung zu untermauern, bedient sich Welsch wahrnehmungspsychologischer und wahrnehmungsphänomenologischer Berfunde. Aus der Gesaltpsychologie 189 190 Wolfgang Welsch, Ästhetik und Anästhetik. In: Ders. (2003), S. 9 ff Wolfgang Welsch, Ästhetik und Anästhetik. In: Ders. (2003), S. 31 66 stammt die Erkenntnis, dass zu jedem Wahrnehmen ein Nicht-Wahrnehmen gehört, und dass diese Selektivität für das Wahrnehmen konstitutiv ist. Die Neurophysiologie ist heute fähig, diese Erkenntnis noch besser darzustellen: kognitive Systeme können nur dann umweltoffen operieren, wenn sie auf sich selbst bezogen geschlossen sind, was heißt, dass wir nicht aus dem Grund sehen, weil wir nicht blind sind, sondern weil wir für das meiste blind sind, - etwas sichtbar machen heißt, etwas anderes unsichtbar zu machen. Weiters ist es wichtig – nicht zuletzt für die weiter unten versuchten Analogieschlüsse zwischen Bildern und Musik – auf die unterschiedliche Struktur der Wahrnehmungsfelder des Sehens und des Hörens hinzuweisen. Das visuelle Wahrnehmungsfeld ist eines des Überblicks, das des Hörens ist bipolar und ereignishaft strukturiert. Die Bevorzugung eines Sinnestyps ist für Welsch deshalb nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine anästhetische Entscheidung, weil sie die jeweils andere Struktur ins Abseits, sogar ins Vergessen drängt. Welsch findet in der abendländischen Bevorzugung des Sehens das Ideal der Theorie wieder, das – im Gegensatz zum Betroffensein und Involviertsein des Hörens - ein Betrachten auf Distanz anstrebt. Am abendländische Visualprimat, das wesentliche Konsequenzen und Gefahren gezeitigt hat, hat nicht zuletzt auch Michel Foucault191 Kritik geübt. Aber auch jeder Sinn für sich beinhaltet eine Art interner Anästhetik, welche eine notwendige Bedingung für die externe Effizienz des Wahrnehmens darstellt. Indem das jeweilige Wahrnehmen als objektiv und richtig erscheint, negiert es guten Gewissens die gleichen Rechte anderer oder abweichender Wahrnehmungsformen. Wolfgang Welsch ortet vor allem in der Kunst Bestrebungen, diese latenten Strukturen aufzubrechen, - sieht besonders in der künstlerischen Arbeit die Kompetenz für die Aufdeckung und Neutralisierung ästhetischer Prägungen, - und darin sogar ihre Pflicht. Der Kunst des 20. Jahrhunderts sei das Ästhetische suspekt geworden, - sie misstraue den durch die Kunsttradition eingeübten ästhetischen Gewohnheiten. Das sei auch der Grund für die radikalen Schnitte, für die Welsch zwei Beispiele bringt: die berühmte Szene aus Luis Buñuels Andalusischem Hund (1928), in der ein Rasiermesser ein Auge durchschneidet, und Marcel Duchamps Readymades. Seither arbeite die Kunst an Überschreitungen, am Bruch mit dem Ästhetischen, - in einem Bereich des Übergangs zu Doppelbewegungen von Ästhetik und Anästhetik. Das sei der Pulsschlag der heutigen Kunst. Kunst trete als Instanz des Anästhetischen der schwülen Sensitivität der 191 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 1977 67 Aneignungsgesellschaft mit Werken der Verweigerung entgegen, deren Aneignung fehlschlägt. Allgemeiner gesprochen handelt es sich um einen Wechsel vom modernen Programm ästhetischer Akkumulation zu einer Sensibilisierung für Pluralität und Differenz, - von einer Integration unterschiedlicher Perspektiven zu einem klaren Bewusstsein ihrer konstitutiven Divergenz und Unversöhnbarkeit192. In diesem Sinn ist zumindest eine Bedeutungsebene des Begriffs Antimusic zu lesen. Die von Welsch zitierten Beispiele aus der bildenden Kunst haben durchaus ihre Entsprechungen in der Musik des 20. Jahrhunderts. Als Paradebeispiel ist hier wieder John Cages 4’33’’ zu nennen. Das Modell Ritwik Sanyals integriert diese Positionen in ein kosmologisches System, in dem Musik und Antimusik, Himmel und Hölle stabil und ausbalanciert erscheinen. 1.3.7 Satanismus Zurückkommend auf Sanyals Unterscheidung dreier unterschiedlicher Formen von Antimusik, sei hier in Bezug auf höllische Musik, die die soziale Realität der Zeit widerspiegelt (2) ein musikalischer Bezug zum Satanismus erwähnt, der in der Geschichte der Rockmusik des 20. Jahrhundert eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Josef Dvorák, Psychotherapeut, Mitbegründer des Wiener Aktionismus und Autor des einschlägigen Standardwerks Satanismus193 schreibt über die Präsenz des Teufels: Angefangen haben damit die Rolling Stones auf Anregung von Kenneth Anger mit 'Sympathy for the Devil'. 1969 startete Black Sabbath in Birmingham. Deren Sänger Ozzy Osborne machte mit seiner Picture-Disc 'Mr. Crowley' große Umsätze. „Satan“ wurde 1980 in Newcastle gegründet, andere Gruppen heißen „Hellhammer“, „Judas Priest“ und „KISS“ (Knights in Service of Satan). „Venom“ ist in 'Leage with Satan' und orientiert sich an LaVeys Satansfibel. Satanistisch ist das manchen Bands vorgeworfene 'Backward Masking': Botschaften, die unterschwellig wirken sollen, werden bei der Aufnahme auf einer von 24 oder 32 Spuren rückwärts eingespielt (oder die Texte werden so gewählt, dass sie bei rückwärtigem Abspielen einen satanischen Wortlaut ergeben). Erstmals eingesetzt wurde die Technik 1968 von den Beatles ('Revolution Nr. 9' in 'The Devils White Album'). ... 'Listen! I will sing, because I live with Satan', tönt es, wenn man Led Zeppelins Lied 192 193 Wolfgang Welsch, Ästhetik und Anästhetik. In: Ders., Ästhetisches Denken. Stuttgart 2003, S. 31 ff Josef Dvorák, Satanismus. Geschichtze und Gegenwart. Frankfurt am Main 1989 68 'Stairway to Heaven' zurücklaufen lässt (als erstes hört man dabei: 'Backward' ). Weiter heißt es dann: 'There's no escaping it; it's my sweet Satan. The one will be the path, what makes me sad, whose power is Satan.' Jimmy Page, ein Anhänger Crowleys, war Lead-Gitarrist der Band. 'Hotel California' bezieht sich auf den alten Ziegelbau in der California Street von San Francisco, wo die Church of Satan gegründet wurde. Spielt man die Passage aus der ersten Strophe 'I saw shimmering light...' rückwärts, so hört man: 'Yes, Satan: he organized his own religion.'194 Aleister Crowley (1875 – 1947), der Schwarze Romantiker195, wie ihn Josev Dvorák nennt, vertrat eine individualanarchische und nietzscheanische Religion, deren Kern die Erleuchtung und Bewusstwerdung der Göttlichkeit des Menschen mithilfe sexualyogischer und sexualmagischer Handlungen war. Dabei bediente Crowley sich religiösen, magischen, mystischen, kabbalistischen, rosenkreuzerischen, alchemistischen, templerischen und freimaurerischen Traditionen. Ähnlich wie die Theosophie verband er diese zu einem großen System. Bezugnehmend auf die vier indisch-mittelalterlichen Zeitalter (Yugas), deren letztes, das bleierne (schwarze) Kali Yuga dasjenige sein soll, in dem wir uns heute befinden, ist der am Tantrismus orientierte Heilsweg die Fixierung der Menschen an die Leidenschaften (vor allem Sex und Macht) durch deren Ritualisierung religiös zu transformieren. Das tantrische Shri Yantra stellt die Entfaltung der Urkraft durch aktives Wechselspiel von Lingam und Yoni in Form von neun einander druchdringender auf- und abwärtsgerichteter Dreiecke196 dar. Diese Symbolik soll mit der jüdisch-kabbalistischen verwandt sein. Im Abendland entspreche dem Tantrismus der Satanismus, - aus christlicher Sicht sei Gott Shiva identisch mit dem Teufel. 194 Aus: Die Zeit, als alle Platten rückwärts liefen: Satanszeit. In: Falter Nr. 20/09, 13.5.2009, S. 3 bzw. Josef Dvorák (1989) S. 284 f 195 Wie Josef Dvorák bemerkt, sind es die Schriftsteller der Romantik, die eine Erlösung Satans (des Teufels oder Luzifers) thematisieren. Überhaupt kann – nach Dvorák – der neuzeitliche Spiritismus als eine Folge des Scheiterns der Revolution von 1848 angesehen werden. Für Victor Hugo ist das Böse lediglich ein Nichts im aufklärereischen Sinn von Abwesenheit von Licht. Für ihn ist der Dichter Priester, das Genie aber Hohepriester, - der Künstler schließlich Magier und Numerologe, - ein geheiligter Träumer [rêveur sacré]. Zur Zeit der bürgerlichen Revolution wird der vertriebene Tyrann in der Figur Satans, des Prinzips der Negation des Bestehenden, zum edlen Menschen typisiert und heroisiert, der sich in Rebellion gegen eine allumfassende Ordnung und darauf folgendem Sturz zum Individuum emanzipiert hat (...). Dieselbe Gestalt deuteten die englischen Romantikerals Inbegriff des Volkswillens und und Helden der geistigen Revolution. Aus: Josef Dvorák (1989) S. 205 ff und 234 196 Vgl. die Dreiecksdarstellung Robert Fludds (Abb. 3) 69 Am 1. Oktober 1983 zelebrierte Josef Dvorák Aleister Crowleys gnostisch-theosophische Missa Phoenix im burgenländischen Breitenbrunn197. Den musikalischen Beitrag lieferte der Wiener Künstler Konrad Becker mit seiner Heavy-Metal Gruppe Monoton. Becker, der u. a. Mitgründer des Instituts für neue Kulturtechnologien/t0 und Initiator von Public Netbase ist, galt als Führer der österreichischen Anhänger des indischen Gurus Maharaji Ji. Im österreichischen Fernsehen propagierte er die gesetzliche Zulassung der Satansreligion. Becker definiert Teufel und Dämonen als archaisches System zu Erfassung psychologischpsychosomatischer Energiefunktionen. Die personifizierte Fiktion des Bösen sei ein Instrument zur Machtausübung, die Tabuisierung ein Mittel zur Unterdrückung von Information. Die Musik der Gruppe Monoton wollte die reale Existenz als Erfahrung von Leben im Jetzt erreichen. Monoton arbeitete mit integraler Massage durch Schalldruck bzw. Vibration198. Die Funktion klangvoluminöser, großen Schalldruck erzeugender Musik sei der Perversion und dem Konsum von Pornographie vergleichbar. Besonders im Falle mangelhaften Selbstempfindens von Jugendlichen, die von der Gesellschaft narzisstisch frustriert sind, können besonders intensive Sensationen Vernichtungsängste abwehren. In diesem Sinn spricht Dvorák von Selbst erhaltender und reparierender Funktion. Diese kann meiner Meinung nach in eben dem Sinn als heilend bezeichnet werden, in dem der Musik grundsätzlich heilende Wirkung zugeschrieben wird. Besonders wirksam gegen Depersonalisation sollen sich Beat- und Rockmusik erwiesen haben. Der große Schalldruck überwältige nicht nur das Gehör, sondern wirke direkt auf den Körper ein, mobilisiere und stütze ihn. Die kompromissloseste Richtung der Rockmusik, der Hardrock oder Heavy Metal bekenne sich übrigens offen zu Satan. Dvorák weist darauf hin, dass nicht nur Pubertierende starke Stimuli bräuchten, um dem Gefühl der inneren Leere zu entkommen, sondern auch normale Erwachsene. Normopathie, ein von Joyce McDougall geprägter Begriff, bezeichnet das Sympton der Unterwerfung unter soziale Verhaltensnormen, durch die das in jedem Erwachsenen verborgene Kind unterdrückt werde. Die Infantilität der Erwachsenen sei der Ursprung der Kunst und Poesie des Lebens. Zur schöpferischen „Anormität“ gehören auch perverse „sexuelle Innovationen“. Das zunehmende Bedürfnis Erwachsener nach Panik- und Horrorprodukten der verschiedenen Medien dürfte den Zweck haben, das „tödliche Gespenst“ der Normopathie zu verscheu- 197 Dieses Ritual wurde von der Burgenländischen Landesregierung unterstützt und im Fernsehen übertragen, - vgl. Josef Dvorák (1989) S. 10 198 Josef Dvorák (1989) S. 9 - 17 70 chen199. Diese Beispiele zeigen, dass auch Musik, die im Sanyalschen Sinn der höllischen oder zumindest der vulgären Musik zuzuordnen wäre, durchaus gegenteilige Aspekte in sich trägt und sogar die mystische Ebene anstrebt. 1.3.8 Zusammenfassung Im Kontext kosmologischer Betrachtungen stehen Gut und Böse, Himmel und Hölle, und in unserem Fall Musik und Antimusik polar gegenüber. In gewisser Weise bedingen die einzelnen Pole einander, die Polarität stellt Gleichgewicht her. In Ritwik Sanyals Musikphilosophie stehen die jeweils siebenfach strukturierten Bereiche der Musik und der Antimusik symmetrisch zueinander. Sanyals sowohl an der Indischen Musiktheorie, als auch an der europäischen Avantgarde orientierter Begriff der antimusic ist nicht als Abwertung oder Provokation zu verstehen, sondern vielmehr als ein Versuch der Integration widersprüchlicher Ästhetik in ein geschlossenes funktionales System. Auch die im Weiteren angeführten Dokumente antimusikalischer Phänomene (Dante, Noh, Chopin, Satanismus) scheinen darauf hinzudeuten, dass den Antiwelten wesentliche Bedeutung zukommt. Sind es in Dantes Inferno die zur Abschreckung eingesetzten Wehklagen, die den Leser (bzw. Hörer) auf dem Weg zum Paradiso begleiten, sind die tierhaften, gutturalen Laute der Trommler im Noh-Theater das wesentliche, Form bildendende Element. Das Presto aus Chopins op. 35 schließlich markiert am deutlichsten die Funktion des Antimusikalischen als eines sich den Konventionen Entziehenden. Hier zwingt die Musik den Hörer, selbst aktiv zu werden, zwingt ihn in die Musik hinein, womit der im folgenden Kapitel untersuchte Begriff der prehension (Zugriff) angesprochen ist. Schließlich baut auch WolfgangWelsch der Einführung des Begriffs Anästhetik einen Gegenpol zum Begriff der Ästhetik. Die Dialektik von Ästhetischem und Anästhetischem entspricht durchaus der von Musik und Antimusik. Die Kompetenz künstlerischer Arbeit, ästhetische Prägungen zu neutralisieren, wird zu einer positiven Eigenschaft der Anti-Kunst Geste, weil sie die soziologische Wirklichkeit der Moderne ausdrücken will und sich nicht bloß an einem bestimmten Kunstbegriff reibt200. 199 200 Josef Dvorák (1989) S. 285 Hans Belting (2005) S.13 71 1.4 Der Begriff prehension 1.4.1 Sammlung In der im Folgenden ausgearbeiteten Bedeutung des Begriffes prehension Begriff steckt das Moment der Sammlung als ein wesentliches Merkmal. Um jene Aspekte dieses aus dem Kontext der christlichen Meditation stammenden Begriffes zu berücksichtigen, möchte ich hier die wesentlichsten historischen Positionen, die meines Erachtens im weitesten Sinn auch in der Kunstrezeption von Belang sind, herausarbeiten. Der Umgang mit Musik verlangt – sei es im produzierenden oder konsumierenden Modus – eine der Sammlung ähnliche, wenn nicht mit ihr identische Vorbereitung oder Haltung. Schließlich aber versuche ich, die dialogische Struktur, Aktivität und Qualität des Musikschaffens wie Musikerlebens am Begriff der Sammlung zu schärfen und die spirituelle Grundlage derselben zu beleuchten. 1.4.2 Der Begriff der Sammlung in der christlichen Gebetspraxis Der Begriff der Sammlung spielt in der christlichen Gebetspraxis des 20. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle. Verwandt mit den aus der mittelalterlichen Gebetspraxis stammenden Begriffen Kontemplation (contemplatio) und Meditation (meditatio)201, ist Sammlung ein Begriff der Neuzeit, der mit den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen202 in Beziehung steht. In der Bedeutung der Gebetsvorbereitung (wie etwa bei Otto Zimmermann203) ist er mit der mittelalterlichen 201 Edgar Friedmann, Die Bibel leben. Lectio divina heute. Münsterschwarzach 1995, S 18: die vier Teile der lectio divina nach Guigo (12. Jhdt.): lectio, meditatio, oratio, contemplatio 202 Es sind dies vor allem die nach dem Krieg auf Wiederaufbau und technischen Fortschritt gerichteten Werte sowie Stress als Symptom der modernen Gesellschaft. Romano Guardini (1885-1986) schreibt 1943 vom Widerwillen des Menschen aus Zeitmangel und 1958 von der Unrast und von „vollgestopften“ Tagen im Zusammenhang mit Gebet und Meditation. In: Romano Guardini, Vorschule des Betens. Mainz 1986 (Erstveröffentlichung 1943), S. 12 f. Siehe auch: Romano Guardini, Wille und Wahrheit. Geistliche Übungen. Mainz 1958, S. 34 und: Romano Guardini, Tugenden. Meditationen über Gestalten sittlichen Lebens. Mainz 1987 (Erstveröffentlichung 1963) S. 149 203 Otto Zimmermann verwendet den Begriff der Sammlung im Lehrbuch der Aszetik (Freiburg im Breisgau 1929). Für ihn ist Sammlung die (unabgelenkte) Zusammenfassung der inneren Tätigkeit auf einen bestimmten Gegenstand im Gegensatz zum Zustand der Zerstreuung. Als besonderes Mittel der Vollkommenheit sei sie eine außerhalb der Gebetszeiten durchgeführte innere geistliche Tätigkeit, die er auch als Immerbeten außerhalb des Gebets bezeichnet. Sammlung ist für ihn sozusagen eine Grundhaltung. In diesem Sinne trägt sie Züge der Achtsamkeit, die in der buddhistischen Lebenshaltung eine wesentliche Rolle spielt. Siehe dazu Jiddu Krishnamurti, Der unhörbare Ton. Briefe über die Achtsamkeit. München 1993, S. 48 f. Hier stellt Krishnamurti die Begriffe Empfindsamkeit und Aufmerksamkeit dem Begriff der Konzentration gegenüber, den er als Prozess des Widerstandes bezeichnet. Karlfried Graf Dürckheim, Mein Weg zur Mitte. Gespräche mit Alphonse Goettmann. Freiburg, Basel, Wien 1988, S.96: Aber das Meditieren als Exerzitium führt zu nichts, wenn die in ihm geübte Haltung nicht zum 72 meditatio zu vergleichen, nur teilweise aber auch mit den Begriffen Betrachtung und Meditation, wie sie seit der Mitte des 20. Jahrhunderts verwendet werden204. Im ZenBuddhismus gibt es den Begriff des Sesshin, der den Geist sammeln oder konzentrieren bedeutet205. Insgesamt scheint die Sammlung ein durch die neuen Technologien und Lebensstrukturen herausgefordertes Konzept zu sein, das nicht nur die geistige Dimension des Menschen zu verteidigen bzw. zu retten versucht (Günter Stachel/schweigt ihr nicht, so bleibt ihr nicht), sondern – entsprechend zeitgenössischen Strömungen in der Philosophie und Kunst – neue, dynamische Strukturen einer neuen Innerlichkeit zeitigt bzw. entwirft. 1.4.3 Die Schule der Sammlung206 1.4.3.1 Gabriel Marcel Eine Kernaussage zum Thema Sammlung in Marcels Schriften ist der Satz: In-sich-gehen bedeutet im Grunde Aus-sich-heraus-gehen207. Marcel geht vom Begriff der Kontemplation aus, den er auf den einfacheren, aber mehrdeutigen Begriff des Blickens zurückführt. Hier unterscheidet er den Zweckblick oder Ziel gerichteten Blick (looking for) und die Kontemplation, die ein nicht auf ein Bestimmtes gerichtetes Blicken ist, - die sogar die Vorzeichen wechselt und das Außen nach innen kehrt. [...] Kontemplation heißt, sich angesichts von etwas sammeln – so zwar, dass eben die Wirklichkeit, vor der man die Gedanken zusammennimmt, in das Insichgehen gewissermaßen selber eingeht.208 An einem Beispiel aus Corneilles Cinna209 zeigt Marcel den Moment der Sammlung als ein In-sich-gehen und Wiederfinden des Wesens, in dem die Situation vom anderen Ende her betrachtet wird. Kaiser Augustus kann erst im Aus-sich-heraus-gehen vom Gesetz des Verhaltens im Alltag, d. h. des Verhaltens überhaupt wird. Die Grundtugend ist dann die Wachsamkeit auch im Alltag und in allem Tun, in Einstellung und Haltung in Fühlung mit dem Wesen zu bleiben. [...] Alltag als Übung bedeutet nie aufhörende Sammlung und Wandlung. S. 107 204 vgl. z. B. Carl Happich, Anleitung zur Meditation. Darmstadt 1948: hier entspricht die Meditation noch der meditatio aus dem monastischen Sprachgebrauch; anders bei Lasalle (H. M. Enomiya Lasalle, ZenMediation für Christen. Weilheim 1968, S. 14): die von ihm vorgestellte Zen-Meditation ist eher mit der mittelalterlichen contemplatio zu vergleichen. 205 Daisetz T. Suzuki, Die große Befreiung. Einführung in den Zen-Buddhismus. Bern 1976, S.176 f. 206 Im Werk von Gabriel Marcel (1889 – 1973), Romano Guardini (1885 - 1968), Philipp Dessauer (1898 – 1966) und Günter Stachel (1922) spielt der Begriff der Sammlung eine zentrale Rolle und wird deshalb als Schule der Sammlung bezeichnet. Vgl. Karl Baier, Die Schule der Sammlung. In: Ders. (Würzburg 2009) S. 695 - 812 207 Gabriel Marcel, Geheimnis des Seins. Wien 1952, S. 180 208 Gabriel Marcel (1952) S. 174 f. 209 Pierre Corneille 1606 – 1684, die Tragödie Cinna ou la Clémence d’Auguste (1639) ist die Geschichte einer Verschwörung republikanischer römischer Patrizier gegen Kaiser Augustus und der großzügigen Vergebung des Letzteren, als er die Verschwörung entdeckt 73 ursprünglich unwiderruflichen Verdammungsurteil Abstand nehmen, - erst im Wahrnehmen eines größeren Zusammenhanges gelangt er zur Sammlung210. Anhand eines weiteren Beispiels aus der Kunst (Vermeers Ansicht von Delft) zeigt Marcel die Abhängigkeit des Künstlers von seinem Motiv. Bewundern ist schon in gewissem Maße Schöpfertum, weil tätiges Empfangen211. Auf diesem Weg kommt Marcel zu einem tieferen Verständnis des Wesens von Sammlung in der Feststellung des Abstands zwischen Sein und Leben: Ich bin nicht mein Leben. Und wenn ich imstande bin, mein Leben zu beurteilen, so unter der Bedingung, vorerst in der Sammlung, in der Einkehr zu mir selbst zu kommen, jenseits jeder Beurteilung, jeder Vorstellung meines Lebens212. Von hier aus ergibt sich der Begriff der Begegnung, die nur zwei mit Innenheit begabten Wesen möglich ist. Begegnung liege auf der Ebene der schöpferischen Entfaltung213. Sowohl im Aus-sichheraus-gehen als auch im tätigen Empfangen liegt die Aktivität des ursprünglich eigentlich Passiven, - des aktiven Zugriffs. 1.4.3.2 Romano Guardini Für Guardini bedeutet Sammlung zunächst, dass der Mensch, der gewöhnlich durch die Vielheit der Dinge hin und her gezogen ist, ruhig werde, - das schweifende Begehren wegtut und sich dem Gebet bzw. Gott zuwende214. Dem Ursinn des Wortes entsprechend sei Sammlung Ruhe, Anwesenheit, Geeintheit (Zusammennehmen) und schließlich wach werden. Ruhe und innere Wachheit ermöglichen Begegnung, - erst Sammlung ermöglicht dem Menschen, zu Menschen und Dingen in die richtige Beziehung zu kommen215. Auch Guardini sieht erst den gesammelten Menschen als fähig, mit Gott in Beziehung zu treten. Hier erwähnt er das Antlitz216, das bedeutet, dass der Mensch fähig sei, sein Inneres zu richten, sich einem Menschen zuzuwenden,... [...] dass die Person den Entgegenkommenden aufnimmt, das Verhalten der anderen Person empfängt217. Auch Guardini sieht in der Begegnung eine Dynamik, die er so beschreibt: Wie lebendig das Antlitz werden kann, kann man erfahren, wenn man etwa sieht, wie sich das Gesicht eines Menschen im Lauf 210 Gabriel Marcel (1952) S. 180 Gabriel Marcel (1952) S. 185 212 Gabriel Marcel (1952) S. 187 213 Gabriel Marcel (1952) S. 188 214 Romano Guardini, Vorschule des Betens. Mainz 1986 (Erstveröffentlichung 1943), S. 19 215 Romano Guardini (1986) S. 21 f. Im Gegenüber zu Gott und dem Ich-Du Verhältnis, von dem Guardini spricht (S. 24), klingen die Dialogphilosophie Martin Bubers (Martin Buber, Ich und Du. Heidelberg 1983, Erstveröffentlichung 1923) sowie Rainer Maria Rilkes Mystik mit 216 Antlitz eigentlich das uns entgegen gewendete Gesicht; mhd. antlitze 217 Romano Guardini (1986) S. 29. 211 74 eines Gesprächs, das ihn packt, oder einer Begegnung, die ihm nachgeht, auf einmal öffnet, so dass man meint, jetzt erstehe es erst von innen her218. Guardini sieht das menschliche Dasein nach zwei Polen ausgerichtet, zwischen denen es quasi pendelt219. Die Innerlichkeit oder Mitte des Menschen und der Zusammenhang der Dinge in der Welt, - Innen und Außen. Diese beiden Pole sollten im Idealfall in einem ausgewogenen Verhältnis stehen, - im Alltagsleben hätten die Dinge des äußeren Lebens aber für gewöhnlich, und besonders zur Zeit Guardinis, die Übermacht220. In einer Zeit, die von den Medien beherrscht wird, - in der das Öffentliche immer mehr ins Private eindringt, verdunste die innere Welt förmlich221. Diesen auflösenden Tendenzen entgegenzuwirken, schlägt er die Frömmigkeit vor, die er als im Gespräch mit Gott stehen beschreibt. Aus diesem Gedanken heraus entwickelt Guardini seine sehr dynamische Interpretation des Gewissens: Um mit Gott im Gespräch stehen zu können, muss sein Angesicht gesucht werden. Zum Gespräch mit Gott gehört aber auch Gottes Stimme, - wir können Gott nur anreden, wenn er sich anreden lässt. Sein Sprechen und unser Hören und Antworten nennt Guardini Gewissen. Und das „Gewissen“ ist die Fähigkeit, den Anruf zu vernehmen, zu verstehen und sich zu entscheiden222. Diese innere Haltung, die Aufmerksamkeit, Bereitschaft und vollzogenes Stehen vor Gott bedeutet, ist für Guardini Sammlung. Die ganze Existenz vollziehe sich in der Ich-DuBeziehung zwischen Gott und dem Menschen, - das Leben vollzieht sich in einem ständigen Gespräch: Durch alles, was ihm geschieht – ebenso auch durch jede Regung seines eigenen Lebens, redet Gott zu ihm. Diese Haltung gelinge aber nur durch Achtsamkeit, die er ebenfalls – so wie schon die Haltung an sich – Sammlung nennt223. Ohne Sammlung sind auch Ich-Du-Verhältnisse zwischen den Menschen unmöglich. Gerne bezieht Guardini die Kunst in seine Betrachtungen mit ein. Sammlung sei die Grundlage des Verstehens von Kunstwerken, auch dem Kunstwerk gegenüber bilde sich 218 ebenda S. 31 Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung. In: Martin Buber, Ich und Du, Stuttgart 2006, S.3, Und die Liebe selber kann nicht in der unmittelbaren Beziehung verharren; sie dauert, aber im Wechsel von Aktualität und Latenz. ebda S. 17. Diese polare Sichtweise ist auch z. B. in der balischen Musik zu finden, die auf der Harmonie zweier essentieller Gegensätze beruht (Hans Oesch, Außereuropäische Musik, Band 2. Regensburg 1987, S. 82, in: Carl Dahlhaus, (Hsg.) Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Band 9. Regensburg 1987) 220 Romano Guardini, Tugenden. Meditationen über Gestalten sittlichen Lebens. Mainz 1987 (Erstveröffentlichung 1963), S.147 f. 221 Romano Guardini (1987) S. 149, vgl. auch Vilém Flusser (2000) S. 17 222 Romano Guardini (1987) S. 151 f. 223 Romano Guardini (1987) S. 153 219 75 eine Art Abglanz des Ich-Du-Verhältnisses224. Das dialogische Prinzip – initiiert durch die Haltung der Sammlung - als Voraussetzung für die Balance zwischen (gerichtetem, zu gewandtem) Innen und Außen ist hier die zentrale Aussage. 1.4.3.3 Philipp Dessauer Philipp Dessauer sieht wie Guardini im Innewerden wie im Verharren in diesem Innewerden eine Grundlage des vollmenschlichen Lebens. In der nativen Sammlung, - in der absichtslosen Sammlung des Kindes, sieht er die ideale Meditation, die drei Gefahren ausgesetzt ist: der verfrühten Gewohnheit des Zugriffs, dem Besetztsein des Menschenherzens mit einer Sorge, und der echten Neurose225. Das Bewusstsein, das Dessauer als eine Vermittlung, die uns von innen und von außen die Gehalte zuführt, sodass der Mensch darauf antworten kann, urteilen kann und dabei reicher wird, sieht, unterteilt er in verhangenes, schweifendes, gestrafftes und gesammeltes Bewusstsein. Er unterscheidet besonders die letzten beiden Bewusstseinsformen (Konzentration, Sammlung226). Im Gegensatz zur Ziel gerichteten Konzentration ist die Sammlung eine Bereitschaft aller geistigen Kräfte, - ein Zustand, zu dem der Mensch immer wieder zurückkehren muss. Auch Dessauer sieht die Probleme des heutigen Menschen, sich sammeln zu können und schlägt die Gegenwärtigung als Abhilfe vor. Dessauer sieht wie Guardini227 erst in der Gegenwärtigung bzw. der Sammlung die Möglichkeit, den Anderen zu erkennen, des Anderen Inne-zu-werden. In der Gegenwärtigung trifft der eigene Innenraum mit seiner ganz hohen Aufmerksamkeit mit der durch den Menschen gestalteten Umwelt zusammen. Innenweltfühligkeit und Außenweltfühligkeit gehören zusammen228. Der gesammelte Mensch könne verweilen, sei anwesend. Als eine Gelegenheit, in der die Sammlung den ganzen Menschen erfassen kann, - in der sich das Dasein ausweitet, sieht Dessauer den Kunstgenuss, die Hingabe an das Kunstwerk229. In der Bereitschaft aller geistigen Kräfte, der Gegenwärtigung, der ganz 224 Romano Guardini (1987) S. 154 f. Philipp Dessauer, Die naturale Meditation. München 1961, S. 25 f. 226 Die Unterscheidung Konzentration – Sammlung übernimmt Dessauer von Thielmann 227 Dessauer war Schüler Guardinis 228 Philipp Dessauer (1961) S. 42 ff. 229 Philipp Dessauer (1961) S. 46 f 225 76 hohen Aufmerksamkeit und Hingabe schwingt ebenfalls die Dynamik des Innen und Außen mit, die das Inne-werden als höchst aktiven Prozess definiert. 1.4.3.4 Günter Stachel Für den Religionspädagogen Günter Stachel ist die Sammlung zur Welt hin offen230. Im Gegensatz zu Dessauer ist seine Interpretation des Verhältnisses des Menschen zu Gott sowie des Begriffs der Sammlung nicht phänomenologisch, sondern dialektisch. Die Dialektik von Gott und Welt wird im Menschen bzw. in dessen Sammlung realisiert, - die Sammlung entscheide über die Zukunft der Welt231. Die Begriffspaare Innen und Außen, Materie und Form, das Eine und die Vielheit, Integration und Zerrissenheit, Zeit und Ewigkeit, Leben und Tod, Individuum und Gesellschaft sieht er als das dialektische Feld, dessen Spannungen durch die Sammlung ausgeglichen werden und die auf die Grunddialektik von Gott und Welt verweisen, - manifestieren Antithese und Synthese des Menschenherzens als eines Ortes möglicher Präsenz Gottes in der Welt. Die Sammlung bewege sich stets zwischen diesen Polen232. Die Dynamik der Sammlung ist bei Stachel eine des Geschehen-Lassens, also eine eher passive233. Zur Praxis der Sammlung empfiehlt Stachel unter anderem Humanität und Kultiviertheit, - Kunstwerke (Bild, Musik, Gedicht) lehren meditieren234. Auch hier begegnen wir der Polarität von Innen und Außen in einer Dialektik, die die Aktivität im Dialogischen sehr subtil vermittelt. 1.4.4 Der Begriff avÁdhana Während der vom Sanskritwort avÁdhana abgeleitete und in diesem Zusammenhang von Ritwik Sanyal eingeführte Begriff prehension235 mit der Nähe zu Meditation einen starken spirituellen Bezug aufweist, sind die entsprechenden Begriffe (Mitvollzug/Nachvollzug/Vermittlung) der aktuellen westlichen Philososphie technisch funktional. Bei genauerem Studium dieser Zugangsweisen zum Phänomen der 230 „Weltoffene Sammlung“ anerkennt die Entgöttlichung der Welt und setze alles auf die Bedeutung der Gottzugewandtheit. In: Günter Stachel, Aufruf zur Meditation. Graz, Wien, Köln 1972, S. 19 f. vgl. auch Gabriel Marcel, In-sich-gehen bedeutet im Grunde Aus-sich-heraus-gehen 231 Günter Stachel (1972) S. 21 232 Günter Stachel (1972) S. 23 ff. vgl. dazu auch das Pendeln zwischen Innen und Außen bei Guardini (S. 6) 233 Stille, Schweigen, Geschehenlassen als Grundlage der Glaubensfähigkeit. Stachel vergleicht diesen modernen Weg der Stille mit dem einfachen Weg Buddhas in der Zen-Meditation, der er sich seit seiner Begegnung und Zusammenarbeit mit Lasalle 1968 gewidmet hat 234 Günter Stachel (1972) S. 62 ff. 235 in meiner Übersetzung sinngemäß Zugriff. Prehension wird auch mit Ergreifen übersetzt. Ergreifen, das zwar auch Aktivität ausdrückt, erinnert jedoch sehr an die passive Form des sprichwörtlichen Ergriffenseins durch Musik 77 musikalischen Kommunikation lassen sich durchaus Parallelen zwischen diesen beiden durch kulturelle Unterschiede geprägten Positionen finden. In Bezug auf das Thema des in dieser Arbeit fokussierten Paradigmenwechsels in der westlichen Musikwelt gibt es aber noch eine zweite Diskussionsebene, die sich von der der Untersuchung musikalischen Verstehens grundsätzlich abhebt. Die aktuellen Studien zu diesem Thema beziehen sich auf musikalisches Hören und Verstehen an sich. Sosehr zwar allgemeine soziale und kulturelle Unterschiede in die Diskussion miteinbezogen sind, sowenig sind die aktuellen, radikal geänderten Hörgewohnheiten und Bedürfnisse berücksichtigt. Das Wissen um die Ergebnisse dieser Untersuchungen, nicht zuletzt die der Gehirnforschung, sensibilisiert die Wahrnehmung für neue Strategien vor allem von Musikschaffenden, traditionelle Kommunikationsstrukturen in Hinblick auf gelingende musikalische Kommunikation zu hinterfragen und zu verändern. Auf dieser Ebene kommen sehr wohl spirituelle Ansätze ins Spiel. Spirituelle Ansätze, die in der westlichen Musikgeschichte durchaus nicht neu und einmalig sind, die jedoch gezielt auf die Dimension der Musik hinweisen, die in kapitalistischen Systemen zur Ware zu verkommen droht. Im Umgang mit Musik wie auch im Umgang mit Religion spiegelt sich gesellschaftliche Realität wider. Die Gesellschaft entscheidet jeweils über das Verhältnis des Menschen zu den greifbaren und weniger greifbaren Dingen, - zum Materiellen wie zum Sublimen. Die radikale Nichtgegenständlichkeit236 der Musik ist einer der Gründe für das relative Desinteresse der Philosophie. 1.4.4.1 avÁdhana 237 in Abgrenzung zu dharana238 und dhyana239 Das Sanskritwort avÁdhana wird auch mit Konzentration übersetzt240. Im Zusammenhang mit Meditation wird es gemeinsam mit den Wörtern dharana und dhyana 236 Alexander Becker/Matthias Vogel, Einleitung. In: Ders. (Hsg.) Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Frankfurt am Main 2007, S.7 237 Ritwik Sanyal, Philosophy of Music. Mumbay, New Delhi 1987, S. 100 (The Sanskrit term „avadhÁna“ is a fluid word drwan upon general semantics. It is frequently used in aesthetic semantics, especially in music; then, it becomes a technical word. It means attention or concentration with a purpose.) Auf S. 73. benennt Sanyal die alte Bedeutung mit intuition bzw. imagination. Vgl. auch: avadhÁna =attention, devotion (Arthur Anthony Macdowell, A practical Sanskrit Dictionary) 238 Abhinavagupta, Para-trisika-Vivarana. The Secret of Tantric Mysticism. New Delhi 1988, S. 37: dharana (concentration) 239 ebda S. 37: dhyana (meditation) 240 Emmie te Nijenhuis, Sangitasiromani - A Medivial Handbook of Indian Music. Brill 1992, S. 591 78 erwähnt, in dem avÁdhana die Bedeutung von Aufmerksamkeit, dharana die von Konzentration, und dhyana die von Meditation zugeordnet wird241. Virgil C. Aldrich hat avÁdhana mit dem englischen Wort prehension (etwa dem deutschen Wort Zugriff entsprechend) übersetzt242. avÁdhana (attention, attentiveness, intentness) setzt sich aus dem Präfix avÁ (off, away, down) und dhana zusammen, - die Wurzel dha bedeutet eintauchen. Somit wäre die Bedeutung das Ein-, Hinein- oder Hinuntertauchen243. 1.4.4.2 Der Begriff avÁdhana (prehension) bei Ritwik Sanyal Sanyal bezieht sich zunächst auf alte Quellen indischer Musiktheorie und Musikphilosophie. Der Musiktheoretiker Dattila (4. Jhdt. vor Chr.) verwies auf die Bedeutung von avadhÁna als wesentliches Element von gÁndharva (Bezeichnung für Musik, Sprache der Engel244). Sanyal sieht in seiner Deutung ebenfalls den Aspekt der ästhetischen Einsicht, des Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitspotentials, das jeder Künstler entwickeln und kultivieren muss, um gute Musik machen zu können. Abhinavagupta245 betrachtete avÁdhana nicht als Teil von gÁndharva, sondern vielmehr als Konzentration, - und rechnete avÁdhana nicht zu den musikalischen Parametern svara (Ton), tÁla (Schlag) und pada (Vers). Der Indische Musiktheoretiker und Arzt SÁrÉgadeva (13. Jhdt.) schenkte dem Begriff Aufmerksamkeit, indem er ihn den Qualitäten der besten Komponisten und Sänger zu ordnete und seine Bedeutung für die Demonstration der sthÁya-s betonte246. 241 vgl. ebda S. 37: Bhavana [contemplation, vgl. S. 274] in a general sense includes dharana (concentration), dhyana (meditation), samadhi (absorption) [entranced attention, vgl. S. 179]; in a specific sense, it means creative contemplation. Acharya Mahaprajna schreibt in einem Artikel (HereNow4U/07.05.2007): AvadhÁna a is the first stage of meditation (attention), the next state is that of Dharana (concentration). This state succeeds that of Avadhãna (meditation)and precedes that of Dhyana proper. 242 Ritwik Sanyal (1987) S. 101, Prehension is the aestethic perceptiveness or attentiveness required for the purpose of creating or enjoying or understanding a work of art. [...das ästhetische Wahrnehmungs- oder Aufmerksamkeitsvermögen, das durch die Absicht des Schaffens und Verstehens von bzw. des Erfreuens an einem Kunstwerk gefordert ist] 243 Monier Monier-Williams, Sanskrit-English Dictionary, new edition 1899, Reprint Delhi: Munshiram Manoharlal 2002, Seite 99 und nach Auskunft von Dr. Ernst Fürlinger, Wien 244 Alain Danielou, Einführung in die indische Musik. Wilhelmshaven 1996, S. 169 und Ritwik Sanyal (1987) S. 122: gÁndharva ist die organische Einheit von Ton, Schlag (beat) und Vers 245 etwa 950-1020 Indischer Gelehrter, Philosoph, Mystiker, Musiker 246 Ritwik Sanyal (1987) S. 104. Der Begriff sthaya bedeutet musikalische technische Phrase oder tonale Bewegung (Emmie te Nijenhuis, Sangitasiromani - A Medivial Handbook of Indian Music. Brill 1992, S. 505 ff) 79 Simhabhûpãlã, der Kommentator SÁrÉgadevas, zitierte Daksprajapati, der avÁdhana als den bestimmenden Faktor von gÁndharva bezeichnete247. Ritwik Sanyal verwendet den von Aldrich vorgeschlagenen Begriff prehension248 für das Sanskritwort und spricht von prehension (avÁdhana) als einem Begriff für Konzentration und Aufmerksamkeit speziell in Bezug auf Kunst und Ästhetik. Es komme auf die Absicht des Betrachters an, ob er einen Gegenstand als ästhetisches Objekt sieht oder nicht, ob er es nur qualifiziert oder animiert, es beobachtet oder belebt. Ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit und Aufmerksamkeit sind für ihn spezielle Fähigkeiten, sich mit Dingen zu beschäftigen, - ein Kunstwerk sei ein materieller Gegenstand, - speziell für diese Art von Wahrnehmungsfähigkeit und Aufmerksamkeit hergestellt. Er grenzt die ästhetische Aufmerksamkeit (prehension) vom Begriff der allgemeinen Aufmerksamkeit (attention) ab. Entsprechend den in Sanyals Arbeit unterschiedenen drei Positionen der musikalischen Betätigung, der des Spielers (saÉgÍtakrt), des Hörers (saÉgÍtabhuk) und des Kritikers/Theoretikers (saÉgÍtajna), nennt Sanyal drei Modi des Zugriffs (prehension) auf sowie der Realisierung (realization) von Musik, in der Empfindsamkeit249 und psychische Distanz250 wesentliche Rollen spielen. In jeder dieser Kategorien gibt es wieder Stufen auf dem Weg zum höchsten Ziel, nämlich dem Entzücken (delight), das er als Subjekt-Objekt Verhältnis identifiziert und in kreatives, ästhetisches und intellektuelles Entzücken gliedert. Auf der höchsten Stufe des Entzückens wiederum erlange der Musiker Nähe (kinship) zum Schöpfer und einen flüchtigen Eindruck von Freiheit (mokÒa), - der Zuhörer erlebe einen ähnlich mystischen oder ekstatischen Zustand. Interessant dabei ist die in jedem der drei Bereiche geforderte Aktivität bzw. das aktive Zugreifen zur Realisierung von Musik als einer letztlich spirituellen Erfahrung. Ein Blick auf traditionelle Kulturen in nicht industrialisierten Ländern zeigt übrigens, dass dort das Moment des aktiven Mitgestaltens fest eingebettet ist und nur in unserer Kultur 247 It is avadhãna which forms gãndharva; svara, pada etc. come after it. Without avadhãna the three elemnst cannot be achieved.(R. K. Shringy, Prem Lata Sharma, Sangitaratnakara of SÁrÉgadeva, Vol I and II. Poona, Anandashram 1897) 248 Vgl. dazu Apprehension von lat. apprehendere: das Ergreifen oder Erfassen einer Sache, aber auch die sinnlich-geistige Vergegenwärtigung. In. Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried/Gabriel, Gottfried (Hsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band I/A – C, Basel 1971, Sp. 459 f 249 Ritwik Sanyal (1987) S. 111. Das äquivalente Sanskritwort sahrdayatÁã meint, die Qualität, ein Herz zu haben 250 Sanyal S. 106: Virgil C. Aldrich has clinched the issue of psychic distance as being the ground of objectivity of beauty (that is rasa, the obejct of aesthetic experience). 80 einem kommerzialisierten Musikleben und einem Konsumentenverhältnis zwischen Musiker und Hörer gewichen ist251. Der französische Musikwissenschaftler Alain Daniélou erwähnt in seiner Einführung in die indische Musik252 einen doch bemerkenswerten Aspekt bezüglich des Hörens Indischer Musik. Der immer präsente Grundton ist die Grundlage allen musikalischen Geschehens, wobei jedes melodische Element in Beziehung auf diesen Grundton wahrgenommen wird, und zwar ohne einer melodischen Linie zu folgen. Die Wahrnehmung in der modalen Musik ist vertikal ausgerichtet. Aus den musikalischen Phrasen erschafft der Hörende in seinem Bewusstsein eine Architektur aus übereinander geschichteten und nebeneinander existierenden Tönen, die den Modus und die entsprechende Stimmung ausdrücken. Die einzelnen Bausteine dieses musikalischen Bauwerks werden zugunsten von Präzision und Klarheit der Musik nacheinander geliefert, wobei die Reihenfolge (die melodische Folge) der Töne nicht maßgeblich sei, sondern ihre Gesamtheit. Auch das Bewusstsein des ausschließlich improvisierenden Musikers ist auf das Ganze, auf die vertikale Summe gerichtet. Dieses Modell ist ein weiteres Beispiel für die Aktivität und Kreativität des Hörens, das die Musik nicht konsumiert, sondern diese überhaupt erschafft. 1.4.5 Verstehen und Nachvollzug Das Verstehen von Kunst bzw. von Musik wird auch in der westlichen Musiktheorie als Aktivität oder aktives Mitgestalten des Zuhörers verstanden. So schreibt etwa Theodor Adorno 1961: Man versteht ein Kunstwerk nicht, wenn man es in Begriffe übersetzt – tut man einfach das, so ist es vorweg missverstanden -, sondern sobald man in seiner immanenten Bewegung darin ist; fast möchte man sagen, sobald es vom Ohr seiner eigenen Logik nach nochmals komponiert, vom Auge gemalt, vom sprachlichen Sensorium mitgesprochen wird253. Verstehen als Erfolgsverb funktioniert nur, wenn auch Misserfolg, Missverstehen oder Nichtverstehen, denkbar sind. Dieser Gedanke inneren Wiederholens findet sich auch bei Ludwig Klages, der festhält, dass das Kennertum dem Könnertum nachfolge, dass der Kenner sich in die Leistung des Könners hineinversetze, was nichts anderes sei als ein Wiederhervorbringenin der Phantasie und demnach eine abgekürzte Erneuerung des Gestaltungsvorganges selbst, die 251 Artur Simon, Kategorien des Musiklebens in traditionellen Kulturen Afrikas, Asiens und Ozeaniens. In: Ekkehard Jost, Musik zwischen E und U. Mainz 1984, S.39 252 Alain Daniélou, Einführung in die indische Musik. Taschenbücher zur Musikwissenschaft Bd. 36, Wilhelmshaven 1996, S. 16 f 253 Theodor W. Adorno, Voraussetzungen. In: Ders., Noten zur Literatur. Frankfurt am Main 1981, S. 433 81 als überhoben jeder Einlassung mit der ablenkenden Technik die „Intention“ des Könners sogar reiner nachzubilden vermag, als sie im Werk verwirklicht wurde254. Der Komponist Peter Ablinger, auf dessen Arbeit vor allem im Kapitel 3.2 (Fallbeispiele) eingegangen wird, thematisiert in seinem Werkzyklus Weiss/Weisslich mimetische Prozesse, also Prozesse der Abbildung von Klangereignissen. Durch intensive Annäherung an eine Klangquelle mittels akribischer Untersuchungen der Klangspektren wird die Abbildfunktion zugunsten der Selbständigkeit der daraus resultierenden Klänge aufgehoben,- die Klangbilder werden nicht mehr als Stellvertreter der Quelle gehört. Die Tonaufnahmen etwa von Rauschen sind durchaus mit der Abbildfunktion der Fotografie vergleichbar, doch ist das Ohr nicht ausreichend geschult, um die Eindrücke erkennend wahrzunehmen. Das hat zur Folge, dass das Abbild selbstreferenziell bzw. abstrakt wird255. Ablinger gelingt es auf diese Weise, im Hörenden Aufmerksamkeit für das augenblickliche Ereignis zu erzeugen. Chico Mello erkennt in der hier sichtbar werdenden Funktion der Kunst als eine Membran zwischen verschiedenen Zuständen des Wahrnehmens und Erkennens eines der Grundmotive in Ablingers Werk. In der Installation Quadraturen III für maschinell gesteuertes Klavier etwa, in der das Klavier die menschliche Stimme imitiert und gleichzeitig als Aufnahme- und Wiedergabegerät fungiert, werden zwei unterschiedliche Systeme – Musik und Sprache – verbunden und die unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen thematisiert. Das derart sprechende Klavier ist eine mimetische Maschine256. Das Faszinierende an dieser Arbeit ist die Gleichzeitigkeit von Wahrnehmungsebenen. Einerseits das verblüffende Phänomen der Erkennbarkeit des mittels Computer übertragenen Klangspektrenrasters des gesprochenen Textes, andererseits die abstrakte Ebene, auf der diese Musik als Klaviermusik (nicht-referienzielle Klangkaskaden) wahrnehmbar ist. Es spielt quasi mit unseren Hörgewohnheiten, stellt diese einerseits in Frage und schärft andererseits Wahrnehmung und Konzentration. Nach der Aufführung von Quadraturen IIIf (A Letter from Schönberg, 2006) im Rahmen des Festivals Wien Modern am 3. November 2008 in Wien erklärte der Gehirnforscher Stefan Koelsch, was beim Hören dieses Stückes im Gehirn passiere. Die durch den Übertragungsprozess und das Medium vorgegebene Unschärfe verlange gesteigerte 254 Ludwig Klages (1968) S. 201 Chico Mello, Zwischen Abbild und Selbstreferenzialität: Mimesis und Rauschen bei Peter Ablinger. In: Katja Blomberg (2008) S. 99 256 ebda S. 100 255 82 Aktivität vom Hörer, der das Gehörte mit seiner Erfahrung vergleicht. Die Tätigkeit des Gehirns ist also eine sehr aktive, interpolierende, die gerade durch die grobe Rasterung, das Lückenhafte, zur erhöhten Aufmerksamkeit gezwungen ist257. In dieser Übertragung des gesprochenen Wortes auf ein Musikinstrument haben Berechnung mittels Computer und Ausführung durch eine Maschine nur insofern Bedeutung, als die Genauigkeit der Übertragung maximiert und die Ausführung des für einen menschlichen Pianisten unspielbaren Stückes möglich ist. Hier ist die Parallele zu technischen Entwicklung in der bildenden Kunst besonders deutlich und es wird auch klar, dass hier eine andere Mimesis angesprochen ist, als die in der Musik traditionellerweise angestrebte. Die Parallele zur Fotografie wird von Peter Ablinger selbst erwähnt. Nicht erst die Fotografie, sondern schon die Camera Obscura war für Maler technisches Hilfsmittel zur Bewältigung der Aufgabe der Abbildung der Wirklichkeit. Die Fotografie selbst hat die Malerei ihrer ursprünglichen Funktion des Abbildens enthoben. Parallelen zur Musik liegen zwar nicht auf der Hand, doch lassen sie sich durchaus finden bzw. vermuten. Die abbildende Funktion der Musik ist zunächst schwer festzumachen. Das Beispiel Quadraturen IIIf ist eine Ausnahme, weil die Musik nicht die Sprache imitiert, sondern eine menschliche Sprache ist, die ihre Regeln an den grammatikalischen und rhetorischen Regeln der Sprache bzw. Rede orientiert. Ist es durchaus auch Naturnachahmung, die den Musiker antreibt, so wird dieses mit der Verwendung von Instrumenten verdoppelt, wenn diese im Prinzip die menschliche Stimme nachahmen oder im Sinne eines Werkzeuges verlängern und um Ausdrucksmöglichkeiten bereichern. Die technische Entwicklung der Tonaufnahme hat die Musik von dieser quasi Pflicht der Repräsentation der Natur (auch in Bezug auf ihre Regeln, die mit den Naturgesetzen korrelieren) ebenso befreit wie die Fotografie die Malerei. Was dadurch wieder freigelegt oder sichtbar wird, ist der rituelle Aspekt bzw. der des nicht-referenziellen Ereignisses, auf den gerade die Arbeit Peter Ablingers verweist. Musik wird wieder selbst zur Trägerin der Energie, oder vielmehr - um noch genauer zu sein - zu einer die Energiezentren in uns selbst aktivierenden bzw. stimulierenden Instanz (Membran). 257 aus der persönlichen Mitschrift vom 03. 11. 2008. In diesem Konzert wurde Quadraturen IIIf übrigens zweimal gespielt, einmal ohne und einmal mit dem Text quasi als Untertitel. 83 1.4.6 Codes Pierre Bourdieu sieht den Konsum von Kunst als einen Akt der Dechiffrierung oder Decodierung, der die Beherrschung einer Art Geheimschrift voraussetzt. Die Fähigkeit des Sehens bemisst sich am Wissen, oder wenn man möchte, an den Begriffen, den Wörtern mithin, über die man zur Bezeichnung der sichtbaren Dinge verfügt und die gleichsam Wahrnehmungsprogramme darstellen258. Kunst ist also nur für denjenigen von Interesse, der die Kompetenz, d. h. den angemessenen Code besitzt bzw. versteht. Diejenigen aber, denen diese Codes fehlen, fühlen sich überfordert, wenn nicht überwältigt, weil sie das offensichtliche Chaos an Tönen und Rhythmen, Farben und Zeilen ohne Vers und Verstand nicht verstehen können. Bourdieu unterscheidet zwischen primären oder natürlichen und sekundären oder konventionalen Bedeutungen. Während zum Verständnis der primären Bedeutungen nur ein gewisses Maß an Sensibilität und Emotionalität notwendig ist, verlangt das Verstehen der sekundären Bedeutungsebene die Kenntnis der Begriffe oder Codes, mithilfe derer jenseits der natürlich-sinnliche Ebene etwa die stilistischen Merkmale von Kunstwerken erfasst werden können. Die Betrachtung eines Kunstwerkes verlangt keine Spontanreaktionen, sondern setzt einen Erkenntnisakt voraus und impliziert die Anwendung eines kognitiven Potentials, eines kulturellen Codes. Der reine Blick ist insofern geschichtliche Erfindung, als er mit dem Auftreten einer autonomen Kunst korreliert, die in Produktion und Konsum die eigenen Normen durchsetzen. In diesem Sinn fordert etwa die postimpressionistische Malerei aus dem Postulat heraus, welches die Darstellung über das Dargestellte stellt, die ausschließliche Aufmerksamkeit für die Form. Das so genannte offene Kunstwerk259 ist das letzte Stadium der Eroberung künstlerischer Autonomie, welche der Form, dem Stil, der Manier und eben nicht dem Inhalt Vorrang gibt, denn Inhalt würde die Unterwerfung unter Funktionen bedeuten. Bourdieu bezeichnet das als den Übergang von einer die Natur imitierenden Kunst zu einer die Kunst imitierenden Kunst. Die ästhetische Einstellung, die Produktionen eines zu hoher Autonomie gelangten künstlerischen Feldes erheischen, ist nicht zu trennen von einer 258 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1982, S. 19 259 vgl. Umberto Eco, Das offene Kunstwerk. Frankfurt am Main 1977. Auf S. 271 schreibt Eco: Der Künstler muss, sobald er bemerkt, dass das Kommunikationssystem mit der geschichtlichen Situation, von der er reden möchte, nicht mehr zusammenstimmt, begreifen, dass er die Situation nicht durch Exemplifizierung eines geschichtlichen Sujets zum Ausdruck bringen kann, sondern allein durch die Verwendung und Erfindung von formalen Strukturen, die zum Modell dieser Situation werden. Der eigentliche Inhalt des Kunstwerks wird somit seine Art, die Welt zu sehen und zu beurteilen, ausgedrückt in einem Gestaltungsmodus, und auf dieser Ebene muss dann auch die Untersuchung der Beziehungen zwischen Kunst und Welt geführt werden. 84 besonderen kulturellen Kompetenz260. Der so genannte reine Blick bedeutet einen Bruch mit dem allgemeinen Verhältnis zur Welt, und gleichzeitig auch einen gesellschaftlichen Bruch, - Verfremdung (etwa im Brecht’schen Sinn), auf die ich weiter unten noch zu sprechen kommen werde. Die systematische Ablehnung alles Menschlichen, die Ortega y Gasset der modernen Kunst attestiert, ist die Ablehnung aller Leidenschaften, Gefühle, Empfindungen, mit denen sich die gewöhnlichen Menschen in ihrem gewöhnlichen Dasein herumschlagen. Die populäre Ästhetik ordne die Form unter die Funktion. Aus diesem Grund sperrt sich das Publikum aus unteren Klassen gegen jede Art formalen Experimentierens und gegen alle Effekte, die dadurch, dass sie gegenüber den einschlägigen Konventionen (...) eine Distanz einführen, auch zum Zuschauer oder Leser auf Distanz gehen, diesen damit den Zutritt zum Spiel und die volle Identifizierung mit den Gestalten verwehren (...). Die populäre Ästhetik verweigert daher die Ablehnung des Leichten, Oberflächlichen, Trivialen und Vulgären, auf der das formal Experimentelle basiert. Die aus populären Schichten Stammenden beziehen sich auf die Normen der Moral oder des Vergnügens, ihre Wertung wird immer auf ein ethisch fundiertes Normensystem zurückgreifen261. Die Ablehnung des niedrigen, groben und vulgären, sprich des natürlichen Genusses, einhergehend mit der Zuwendung zum sublimierten. raffinierten, interesselosen und zweckfreien Vergnügen, mit dem die Kunst Überlegenheit demonstriert, ist der Grund, warum Kunst und Kunstkonsum sich – ganz unabhängig vom Willen und Wissen der Beteiligten – so glänzend eignen zur Erfüllung einer gesellschaftlichen Funktion der Legitimierung sozialer Unterschiede262. Für Vilém Flusser beruht die menschliche Kommunikation auf zu Codes geordneten Symbolen. Die Kultur sei eine aus diesen Codes gewobene Hülle, die zwischen Mensch und Welt vermittelt, indem sie einerseits für den Menschen die Welt bedeutet, andererseits ihn von der Welt abschirmt, ihn vor ihr schützt. Die kodifizierte Welt steht zwischen Mensch und Welt zugleich wie ein Wall und wie eine Brücke. Mit Absicht ordne der Mensch Symbole zu Codes, um erworbene Information speichern und damit die Welt leugnen zu können. Diese Leugnung oder Entfremdung wird philosophisch als Existenz (ek-sistere = außerhalb stehen), theologisch als Sündenfall (Vertreibung aus dem Paradies) verstanden. 260 Pierre Bourdieu (1982), S. 22 ebda S. 23 f 262 ebda S. 27 261 85 Als Symbol bezeichnet Flusser ein Phänomen, das nach Übereinkunft ein anderes Phänomen bezeichnet. Code dagegen meint jedes System, das die Manipulation von Symbolen ordnet. Diese Hülle aus Symbolen wird gewoben, um dem Leben einen Sinn zu geben. Flusser unterscheidet drei charakteristische Codes, nämlich vor-alphabetische, alphabetische und nach-alphabetische. Bereits die Vorstufen zum Alphabet (Piktogramme, Ideogramme, Hieroglyphen) stellen Formen der Verfremdung dar, - weg von der Welt – Bewegungen. Während die Hieroglyphen von Priestern für Priester geschaffen wurden, ist der alphabetische Code, ursprünglich für Händler und Kaufleute entwickelt, hingegen ein für das Rechnen und Zählen, Wiegen und Messen vereinbarter Code. Dieser Code, der die Desakralisierung des Daseins enthält, kennzeichnet die gesamte Geschichte. Flusser identifiziert den Bilderstreit als einen Kampf zwischen dem Alphabet (dem Code der Elite) und dem Code der Bilder (dem Code des Volkes), - als Kampf zwischen dem historischrechnenden und dem imaginierend-magischen Bewusstsein. Zum Verständnis der Dynamik und inneren Zerrissenheit der westlichen Gesellschaft sei wichtig, dass die Träger des neuen Bewusstseins (oder Codes) Juden und Griechen waren, weil diese, die westliche Gesellschaft, sich heute noch in einem ständigen inneren Dialog zwischen ihrer jüdischen und griechischen Komponente befinde. Die feinen Unterschiede, auf die Bourdieu anspielt, sind hier alos schon in der Zeit zwischen Bibel und Gutenberg angelegt. Die heidnische Masse stellt diesen Streit der kleinen Eliten immer wieder in Frage263. Durch die Erfindung des Buchdrucks und der dadurch möglich werdenden Verbreitung der Texte werden zunächst die Bürger, dann die Proletarier alphabetisiert. Auf dieser Grundlage erst entwickeln sich Wissenschaft und Technik der so genannten Neuzeit. Die Moderne sei aufgrund der neuen Errungenschaften zwar sicher und mächtig, aber unfruchtbar. Die innere Sicherheit des historischen Bewusstseins (...) verleiht diesem Bewusstsein eine Verschlossenheit der Welt gegenüber, welche an Paranoia erinnert264. 263 Vilém Flusser (2000) S. 74 – 94 ebda S. 97. Vgl. dazu das Fragment 87 von Novalis, in dem er über die Werkzeuge schreibt, die den Menschen armieren, also bewaffnen. ...der Mensch versteht, eine Welt hervorzubringen - es mangelt ihm nur am gehörigen Apparat... Er verwirklicht (verkörpert) einen Gedanken, indem er durch alles dieses [Werkzeug] sich gleichsam zu einer ungeheuren Maschine macht. Aus: Novalis (Friedrich von Hardenberg), Fragmente und Studien. In: Carl Paschek (Hsg.), Novalis (Friedrich von Hardenberg), Fragmente und Studien. Die Christenheit oder Europa. Stuttgart 2006, S. 27 f. Man könnte das Werkzeug, das den Menschen mit der Welt verbinden soll, ihn aber letzten Endes von ihr trennt, mit Flussers Codes bzw. Apparaten vergleichen. 264 86 Ludwig Wittgenstein erkennt diesen Sachverhalt ebenfalls und benennt ihn so: Ein „Bild“ hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in der Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen265. Flusser schließlich sieht diese heute noch gültigen Codes in einer Krise. Die Welt der alphabetisch verschlüsselten Texte sei nicht mehr gültig, der Glauben an sie sei im Schwinden. Der nachalphabetische Code, der nun im Begriffe sein soll, den alphabetischen abzulösen, ist der Code der so genannten Technobilder. Die Bilder dieses Code-Modells haben nichts mit den vor-alphabetischen Bildern gemeinsam. Während die voralphabetischen Bilder die Welt bedeuten sollten, bedeuten die Technobilder nun Texte. Dabei skizziert Flusser ein Szenario, das dem nach der Erfindung des Buchdrucks entspricht, in dem die neuen Codes von der Mehrheit bzw. der Masse noch nicht verstanden werden. Das mache die heutige Situation krisenhaft, denn die Codes programmieren uns, ohne dass wir es wissen266. So kann der Dirigent Ernest Ansermet in seiner Phänomenologie der Musik schon 1961 feststellen, dass bei der modernen Musik in der Vielzahl der Fälle niemand das gespielte Werk wirklich versteht oder verstehen kann. Man erfasst „Effekte“, partielle Sinnereignisse, Sinnbrocken, die sich nicht zusammenreimen und die kein Ganzes bilden. Dafür gibt es (wenn man die Wirkung der rein spekulativen Verfahren beiseite lässt, deren Tragweite durchaus gefährlich ist) zwei Gründe: Die Komplexität oder, wenn man will, die Beladenheit der Struktur ist solcher Art, dass viele dieser sinnhaltigen Elemente gar nicht „über die Rampe“ kommen und vom Hörer (und wenn es der Komponist selbst ist) nicht bemerkt werden. Zum zweiten kann das Werk nicht in seiner Ganzheit erfasst werden, weil es der Komponist selbst nicht in seiner Ganzheit erfasst hat267. Der britische Philosoph Roger Scruton unterstreicht Bemerkungen dieser Art, die in der traditionellen bürgerlichen Ästhetik fußen, indem er schreibt, dass die atonale Musik sich als unfähig erweise, eine Zuhörerschaft zu finden oder sie zu erschaffen. Die harschen Verbote und untadeligen Theorien dieser Musik bedrohten die musikalische Kultur, indem sie das natürliche bürgerliche Leben herabsetzten, von dem sie abhängt268. Das heißt soviel wie „Die Hand, die uns füttert, beißt man nicht“. Für Scruton ist das bürgerliche 265 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1953), Nr. 115, zitiert nach: Wolfgang Welsch, Ästhetik und Anästhetik. In. Ders. (2003) S. 35 266 Ludwig Wittgenstein (1953) S. 98 ff 267 Ernest Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewusstsein. München 1965, S. 20 268 Roger Scruton, The Aesthetics of Music. Oxford 1997, S. 506 87 Bewusstsein das absolute Maß, - Musik muss sich nach diesen Normen richten, wenn sie als verständlich gelten soll269, sie muss die Spielregeln befolgen, muss die Codes verwenden, die verstanden werden können. Dem schließt sich auch Stephen Davies an, wenn er sagt, dass Musik, die inkohärent, unvorhersehbar oder von Zufall gesteuert ist, im Unterschied zum Normalfall nur in einem institutionellen, musikhistorischen oder sonstigen Kontext als Musik gilt, nicht aber aus der Erfahrung des Hörers. Solche Musik bezeichnet Davies sogar als parasitär gegenüber den Werken, die einer kontinuierlichen Tradition entspringen270. Musik, die sich den traditionellen Werten verweigert, wird also zunächst nur von Spezialisten verstanden werden können, da dem breiten Publikum der Schlüssel zum Verständnis fehlt. Musik Verstehen heißt, das eigene Hören an einer implizit erfassten Struktur auszurichten271. Ein wesentlicher Aspekt dieses Verständnisses ist die Wiedererkennung, die Davies als nahtlos mit der Wahrnehmung verbunden sieht, als einen Aspekt des Wahrnehmungsprozesses also. Im Fall komplexer musikalischer Strukturen werden die Schwierigkeiten bei der Rezeption durch Übung, Konzentration und große Aufmerksamkeit bewältigt. Viele Hörer würden bezeugen, dass die Anstrengungen, langen und komplexen Musikstücken zu folgen, durch das sich einstellende erweiterte Verständnis belohnt werden. So genannte normale Hörer, die keine formale Ausbildung besitzen, verfügten trotzdem über eine Art Alltagsmusikologie272. 1.4.7 Musikalischer Sinn und Musikverstehen Musik als Teil unserer kodifizierten Welt zu verstehen, legt den Schluss nahe, dass entsprechend der von Vilém Flusser konstatierten Krise, in der sich die von den alphabetischen Codes geprägte bzw. programmierte menschliche Kommunikation befindet, auch die Musik in einer vergleichbaren Krisensituation sei. So wie das Alphabet ist das heute gebräuchliche musikalische Zeichensystem eines, das wie das alphabetische (in unserem Kulturkreis) von links nach rechts gelesen wird und somit ganz wesentliche Vorstellungen vom musikalischen Zeitlauf prägt. Auch die Entwicklungen und 269 Max Paddison, Die vermittelte Unmittelbarkeit der Musik: Zum Vermittlungsbegriff in der Adornoschen Musikästhetik. In: Alexander Becker/Matthias Vogel (Hsg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Frankfurt am Main 2007, S. 178 270 Stepen Davies, Musikalisches Verstehen. In: Alexander Becker/Matthias Vogel (Hsg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Frankfurt am Main 2007, S. 29 271 ebda S. 40, vgl. Alan H. Goldman, The Value of Music. In: Journal of Aesthetics and Art Critscism 50, 1992, S. 38 272 Stepen Davies (2007) S. 41 f und 48 f 88 Verbreitung dieser beiden Systeme lassen sich nicht nur vergleichen, sondern stehen in einem gemeinsamen Kontext. Die Vervollkommnung des Notensystems im 13. Jahrhundert leitete eine Desakralisierung ein, und auch die für die Verbreitung des Alphabets wichtige Erfindung des Buchdrucks war in der Form des Notendrucks273 für die Verbreitung des neuen musikalischen Codes verantwortlich. So wie die Menschen, die eine Schriftsprache erlernten, eigentlich nicht mehr im ursprünglichen Sinn sprachen, sondern unsichtbare Texte vorlasen (vgl. Kapitel 2.3), führte die Notenschrift zu ähnlichen Phänomenen und trug zur Ausbildung des historisches Bewusstseins bei. So wie die alphabetische Schrift gibt die Notenschrift die durch sie schriftlich festgehaltenen musikalischen Phänomene nur unvollkommen wieder, und doch hat sie sich, so wie das Alphabet, weltweit durchgesetzt. Dennoch gibt es noch immer Kulturen, deren Musiktradition ausschließlich mündlich überliefert ist. An diesem Punkt wird der grundsätzliche Unterschied im Verstehen, - im nachvollziehenden Hören von Musik, deutlich. Während die durch Notenschrift codierte Musik zunächst von Musikern gelesen bzw. entschlüsselt werden muss, wird die über orale Traditionen vermittelte Musik ohne diese Zwischenstufe der Codierung ausgeführt und wahrgenommen. Der in dieser Arbeit angenommene Wertewandel oder Paradigmenwechsel in der Musik, der durch die Digitalisierung eingeleitet wurde, erweist sich hier als Teilaspekt eines größeren Zusammenhangs, eines kontinuierlichen Prozesses: Digital und komprimiert ist die akustische Botschaft erneut vereinfacht. Die Wirkung des Realen wird auf Distanz gehalten, und man ist sich nicht immer darüber im Klaren, dass man das Logo der Werke oder Dinge vor sich hat, nicht sie selbst. Wie die Musik im iPod wird die Welt komprimiert, 273 Die älteste Form des Notendrucks war der so genannte Typendruck, der erstmals 1476 in Rom entwickelt wurde. 1498 übertrug Ottaviano de Petrucci in Venedig den Typendruck auf Mensuralnoten. Seine ersten Drucke niederländischer Chansons erschienen 1501. Vgl. Karl H. Wörner, Geschichte der Musik. Göttingen 1972, S. 158 und Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), Personenteil Bd. 13, Stuttgart 2005, Sp. 426 f Theodor W. Adorno bezeichnete die Partitur in gewisser Weise als Feind des Gedächtnisses, auch wenn sie als Gedächtnisstütze betrachtet werden könne. Das Werk als Partitur ist für ihn die erste Verdinglichung der Musik, - in seiner Objektivierung sei es die Verräumlichung der musikalischen Zeitlichkeit. Als Zeichensystem sei es ein Bild des Werkes. Die musikalischen Zeichen, welche die Musik der Vieldeutigkeit und Vergänglichkeit entwanden, sind dafür Bilder von Gesten. Als Rationalisierung der Magie hat die Notenschrift die mimetische Praxis festgehalten, während der musikalischen Übung das Gedächtnis an jene bereits zu entschwinden begann. Das Aufkommen der Partitur in der westlichen Gesellschaft seit dem Mittelalter bedeute das Verschwinden des Gedächtnisses als Speicherort der kollektiven Musiktradition. Aus: Theodor W. Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Frankfurt am Main 2001, S. 224, zitiert nach Max Paddison (2007) S. 220 89 das Leben erreicht uns als Abklatsch, leeren Körpern gleich, die auf einem unbekannten Planeten herumirren274. Ansermet, der die Musik als eine melodische Sprache bezeichnet, die man lernen kann wie jede andere275, erwähnt einen - den bereits genannten Folgen der Codierung ähnlichen Aspekt im Bereich der musikalisch-melodischen Erfindung. Nach Abschluss des historischen Ausbildungsprozesses der musikalischen „Sprache“ ist die musikalische Erfindung notgedrungen stärker eingeschränkt, weil diese „fertige“ musikalische Sprache die Erfindungsgabe einschränke. Der Komponist sei dazu gezwungen, „Musik über Musik“ zu schreiben – der zeitgenössische Komponist komponiert tatsächlich „über“ Musik, weil er sich der schöpferischen Tätigkeit erst nach der Erlernung der musikalischen Sprache widmet. Insbesondere seine Beherrschung des Kontrapunkts macht ihn glauben, es genüge hinfort , Kontrapunkt zu machen, wenn er Musik machen will276. Diese Verwechslung der auf der Grundlage dieser musikalischen Sprache möglichen mittelbaren Technik mit dem spontanen unmittelbaren Ausdruck wurde vom Komponisten Otto M. Zykan als Verwechslung des Komponierens mit Buchhaltung entlarvt277. Diese Momente der Entfremdung sind Merkmale von Kodierungsprozessen, die nicht erst in der Geschichte der Medien zu finden sind. Für Ansermet ist der authentische und sinnerfüllte Ausdrucksakt durch die reflexive Haltung zwar nicht ausgeschlossen, aber doch problematisch278. Kontrapunkt und Zwölftontechnik etwa sind aber als Methoden bereits Apparaturen, die – im Sinne der Technobilder Flussers – die Ergebnisse sowie auch deren Erfahrbarkeit, deren Nachvollzug auf eine andere Ebene stellen. Ein Beispiel aus der bildenden Kunst möge hier den Paradigmenwechsel von der analogen zur digitalen Welt veranschaulichen. Der Galerist Claus Baumann schrieb über seine 274 Jean de Loisy, Im Angesicht dessen, was sich entzieht. In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München 19. September 2008 bis 11. Jänner 2009. München 2008, S. 22 f 275 Ernest Ansermet (1965), S. 464 276 Ernest Ansermet (1965) S. 465 f 277 Die Methode betrachte ich als mein persönliches Eigentum. Sie ist also unverkäuflich und geheim, um Nachahmer vor unbedachtem Fehlverhalten zu schützen. Man denke nur an die verheerenden Folgeerscheinungen der Publikmachung von Schönbergs so genannter Zwölftonerfindung. (Jahrzehnte – wie man weiß – verwechselten hoffnungsvolle Tonsetzer das Komponieren mit Buchhaltung.) Aus: Hannes Raffaseder, Zur Datenskulptur im Klangturm 08 – ein Projekt von Markus Wintersberger und Irene Suchy, gemeinsam mit Studierenden der FH St. Pölten. In: Irene Suchy, Otto M. Zykan. Band I, Materialien zu Leben und Werk. Wien 2008, S. 6 278 Ernest Ansermet (1965) S. 467 90 Erfahrungen bzw. Empfindungen beim Aufbau der Ausstellung Zweidimensionale (2004): Gleichsam wie über eine fast mannshohe Mauer hinwegschauend, sah ich auf der anderen Seite dieser Mauer eine Welt, zu der ich nicht gehörte. Und zu der ich nie gehören würde. Selbst wenn ich es mit ganzem Herzen und Verstand wollen würde. Ich schaute in die Welt einer Generation (vielleicht sogar der ersten), die vom ersten Augenschlag an über die Medien auf die Welt blickt. Die erste digitale Generation. Ich aber gehörte zu den Analogen. Und da man nicht wieder zur Jungfrau werden kann, würde ich meine analoge Prägung nie austauschen können mit dieser digitalen Prägung, wie diese Generation wohl nie unmittelbar erfahren wird, um welche Weltsicht es sich bei den Analogen handelt279. 1.4.8 Der Werkbegriff Das romantische Ziel des Surrealismus bestand in einer unmittelbaren Subversion der Codes (also z. B. der Sprache), welches Roland Barthes zwar als illusionäres Ziel bezeichnete, da Codes nicht zerstört, sondern nur gespielt werden könnten, - trotzdem aber waren die surrealistischen Strategien wie etwa das plötzliche Durchkreuzen der Sinneswahrnehmungen (der surrealistische Stoß), die automatische Schreibweise und das kollektive Schreiben dazu geeignet, das Bild des Autors zu entsakralisieren280. Roland Barthes spricht vom Verschwinden des Autors, - von dessen Tod. An seine Stelle tritt der Schreiber [scripteur], der im selben Moment geboren wird wie sein Text selbst, und keine Existenz habe, die dem Text voranginge oder es übersteigen würde. Draus schließt Barthes, dass Schreiben nicht länger eine Tätigkeit des Registrierens, Konstatierens, des Repräsentierens ist, sondern ein Performativ, in dem die Äußerung keinen anderen Inhalt habe als den Akt, durch den sie sich hervorbringt. Die Abwesenheit des Autors mache es überflüssig, einen Text zu entziffern [dechiffrer], diese hier postulierte vielfältige Schrift könne vielmehr nur entwirrt, nicht entziffert werden. Sie bilde unentwegt Sinn, aber nur um ihn wieder aufzulösen, - führe zu einer Befreiung von Sinn. Diese Schrift verweigere dem Text und somit der Welt einen endgültigen Sinn und setze eine Art gegentheologische und revolutionäre Tätigkeit frei. Denn eine Fixierung des Sinns zu verweigern heißt 279 Claus Baumann, Die Leipziger Schule. Blick in die Sammlung/6. Die Neue und die Alte?. Leipzig 2005, zitiert nach Flora Miranda Seierl, Regressiv oder progressiv – realistische Malerei der Gegenwart. Versuch einer Positionierung des gegenstandsbezogenen Darstellens im 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund vergangener kunsthistorischer Entwicklungen. Salzburg 2009, S. 43. Flora Miranda Seierl spielt mit diesem Zitat auf die Traditionsgebundenheit als einer speziellen Form der Kontextgebundenheit an, Mit dieser hier zitierten selbst erkennenden Feststellung aber habe sich der Galerist von den Fesseln der Vergangenheit befreit. (ebda S. 44) 280 Roland Barthes (2000) S. 188 91 letztlich, Gott und seine Hypostasen (die Vernunft, die Wissenschaft, das Gesetz) abzuweisen. Als Beispiel erwähnt Barthes die Zweideutigkeit der Worte, aus denen die griechische Tragödie gewoben ist und die die Voraussetzung für die ewigen Missverständnisse sind, die die Grundlage des Tragischen ausmachen. Der, der jedes Wort in dieser Zweideutigkeit verstehe, sei der Leser bzw. in diesem Fall der Hörer. Ein Text sei heute aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die aus verschiedenen Kulturen kommen und miteinander in Dialoge treten, auch einander infrage stellen. Der Ort, an dem diese Vielfalt zusammentrifft, sei nicht der Autor, sondern der Leser. Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors281. Hans Belting sieht diese Subjektflucht des Künstlers als einen Verzicht auf die Bürde der Autorenschaft. Die Stelle, die das persönliche Werk innehatte, nehmen heute CopyrightFragen ein. Kapital und Technologie seien die Kultobjekte unserer Zeit geworden282. Diese Entwicklung ist in der aktuellen Musikpraxis abgebildet, besonders in der Kultur des DJing, auf das im Kapitel 4.2 nochmals eingegangen wird. Der Werkbegriff ist von dem des Autors (Komponisten, Urhebers usw.) nicht zu trennen. Dieses Verhältnis gründet letzten Endes auf der Funktionalität der Codes, die unsere Kultur bestimmen. Das Verhältnis von Werk und Autor ist als Teil der Wertschöpfungskette von Musik ein heute vor allem an ökonomischen Zwängen gemessenes. Ein vorwiegend ökonomisches Problem ist auch das der Vervielfältigung. Wir wissen, dass das willkürliche Nachdrucken von Geld zu dessen Entwertung führt, - und aus der bildenden Kunst, dass der Wert von Druckgrafik im Verhältnis zur Auflagenhöhe sinkt. Durch die Möglichkeit der Reproduzierbarkeit hat die Vervielfältigung von musikalischen Werken seit der Digitalisierung musikalischer Medien phantastische Maße angenommen. Im Kontext dieses globalen Überangebots verschwindet das Werk hinter der Funktion des Konsumenten. Wenn diese Entwicklung für viele Anlass zur Sorge darstellt, so ist sie doch grundsätzlich als Phänomen zu werten, das überkommene bzw. veraltete Strukturen auf- bzw. ablöst. Ein wesentlicher Aspekt, der sich in vielen Teilen dieser Untersuchung zeigt, ist die (neue) aktive Rolle des Hörenden. Auch sie stellt den traditionellen Werkbegriff infrage. Bereits um 1960 war vor allem in der bildenden Kunst von der Auflösung des Werkbegriffs die Rede, auch vom Ende der Avantgarden und sogar vom Ende der Kunst selbst. Der Pflicht der Abbildung und der Repräsentation der aktuellen Machthaber 281 282 Roland Barthes, Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis et al (Hsg.) (2000) S. 191 ff Hans Belting (2005) S. 286 92 enthoben, wurde der Begriff des Werkes bald hinterfragt. Die Werkaura war als Theorie der Romantik dazu da, die Utopie der Kunst auf physische Werke zu übertragen. Hans Belting ist der Auffassung, dass es ein stabiles Werkideal der Moderne, von dem die Generation um 1960 sich distanzierte, nie gegeben habe. Vielmehr sei dieses ein Produkt von Konflikten gewesen, etwa von solchen zwischen Kunst und technischen Alltagsmedien. Konzeptkunst, Fluxus, Happening und Body Art kündigten anschauliche wie ästhetische Werkformen auf, sodass das Werk zu einem nicht mehr künstlerisch legitimierten institutionellen Begriff schrumpfe. Dabei bildete die Verdinglichung der Kunst im Werk ein Problem der Moderne von Anfang an. Aus der Sicht Duchamps etwa waren Werke imaginäre Tauschwerte, die sich auf die Kunst als Idee ähnlich bezogen wie Geldscheine auf eine Währung. Die Werkkrise sei nach dem ersten Weltkrieg zu einem Hauptthema der Kunstwelt geworden. Die Folgen der Auflösung des Werk- bzw. Kunstbegriffs waren einerseits der Primitivismus als Suche nach vergessenen Ritualen und dem Ursprung der Kunst, andererseits das Theater (Malewitsch, Kandinsky), letzten Endes aber auch die Traumwelt des bereits erwähnten Surrealismus283. 1.4.9 Zusammenfassung Der Begriff prehension sowie das hier skizzierte Umfeld steht für mich für das Wesentliche an der musikalischen Kommunikation. Der bei Ritwik Sanyal gegebene Kontext der ästhetischen Aufmerksamkeit, Konzentration und Meditation weist auf die spirituelle Qualität des Musizierens und Musikhörens. Prehension als aktives Mitgestalten verlagert das Zentrum des musikalischen Geschehens einerseits vom Musiker oder Produzierernden auf den Zuhörer oder Konsumierenden, - andererseits auf Kommunikation und Austausch zwischen beiden. Diese Gedanken sind auch der westlichen Musiktheorie nicht fremd und finden sich etwa auch in der Theorie der Postmoderne wieder, die sinngemäß den Werkbegriff und damit die Autorenschaft radikal in Frage stellt. Im Vergleich mit dem Begriff der Sammlung im Kontext christlicher Gebets- und Mediationspraxis zeigt sich, dass die Entwicklung der christlichen Spiritualität und Tendenzen in der Kunstmusik des 20. Jahrhunderts Parallelen aufweisen, die schließlich auch die spirituelle Krise in diesem Jahrhundert abbilden. Die von christlichen Denkern formulierten Aufrufe zur Sammlung, die in einer Welt der immer größer werdenden Zerstreuung die einzige Möglichkeit des seelisch-geistigen Überlebens darstelle, entspricht 283 Vgl. Hans Belting, Szenen der Moderne. Kunst und ihre offenen Grenzen. Hamburg 2005, S. 65 - 80 93 meiner Meinung nach den Bestrebungen der Vertreter bzw. Verfechter der Neuen Musik, die vor allem ein aufmerksames, aktives und gesammeltes Hören fordern. Da wie dort ist es ein Versuch, den Menschen mittels meditativen Praktiken bzw. mittels Musik in die Gegenwart zu zwingen, die – mit dem Hier und Jetzt der buddhistischen Lehre vergleichbar – den Ort darstellt, an dem der Mensch mit seiner Energie verbunden ist. Dieses Moment der Gegenwärtigkeit (Gegenwärtigung/Dessauer) hat politische wie spirituelle Dimension, - der aktive und gestaltende Zugriff auf die Wirklichkeit ist der einzige, der als eingreifend, d. h. verändernd verstanden werden kann. Der buddhistischen Forderung nach stetiger Achtsamkeit, die auch in der Schule der Sammlung ihren Widerhall findet, entspricht die konsequente und oft elitär anmutende Haltung der Neuen Musik, die extreme An- und Herausforderungen an den Hörer stellt und diesen als aktiven, mitgestaltenden, ja konstitutiven Teil des Musikgeschehens ernst nimmt. Die genauere Untersuchung des Verhältnisses des Hörenden zur Musik öffnet das weite Feld der Bedingungen von Kommunikation, die nach Flusser auf zu Codes geordneten Symbolen beruht. Zugriff ist nur auf etwas möglich, das begreifbar ist, – und auch musikalische Codes müssen dechiffriert werden, um als Musik verstanden werden zu können. Die von Flusser prognostizierte Krise dieser Codes und damit der Kommunikation an sich stellt auch das Problem des Musikverstehens als ein aktives Mitgestalten in ein vollkommen neues Licht. Die neuen Codes, die Flusser Technobilder nennt, verändern unsere Vorstellung und damit auch unser Erleben der Welt radikal. In die Musik übersetzt, repräsentieren diese jede mittels technischer Apparate hergestellte Musik, mit denen wir erst lernen müssen, umzugehen. Diese so entstehende Musik ist nicht Musik im herkömmlichen Sinn, auch wenn sie dieser ähnlich zu sein scheint (z. B. recorded music284), und wir deshalb der Meinung sind, sie verstehen und beurteilen zu können. Je mehr also die Kommunikation auf dieser (musikalischen) Ebene in Gefahr ist, umso mehr steigt auch die Chance, über die Auseinandersetzung mit aktueller Kunst bzw. Musik zu einem neuen, kybernetischen Verständnis der Wirklichkeit zu gelangen. 284 Vgl. Bill Drummond, 17. London 2008, S. 5: ...all the recorded music that has ever meant anything to you or me or anybody else is speeding its way to irrelevance. The whole canon of recorded music that has been stockpiled over these past 110 years is going rotten, rapidly losing any meaning for anybodyexcept historians and those who want to exploit our weakness for nostalgia.[...] The sheer availability and ubiquity of recorded music will inspire forward-looking music-makers to explore different ways of creating music, away from something that can be captured on a CD, downloaded from the internet, consumed on an MP3 player; and the very making of recorded music will seem an entirely two-dimensional 20th-century aspiration to the creative music-makers of the next few decades. 94 2 Energieströme 2.1 Okkulte Strömungen in Europa Das Centre Pompidou in Paris zeigte vom 7. Mai bis 11. August 2008 eine von Jean de Loisy und Angela Lampe kuratierte Ausstellung mit dem Titel Traces du Sacré (Spuren des Geistigen oder eigentlich des Heiligen). Diese Ausstellung wurde unter dem Titel Spuren des Geistigen/Traces du Sacré vom Has der Kunst in München übernommen (19. September 2008 bis 11. Jänner 2009). Im Grußwort zum Katalog zur Münchener Ausstellung schreiben Alain Seban, Präsident des Centre Pompidou, und Alfred Paquement, Direktor des Musée national d’art moderne, dass man mit dieser Ausstellung in einer Zeit der Entzauberung der Welt die alte Frage, ob es jenseits der Trivialität dieser Welt etwas anderes geben könnte, wieder aufgreifen und die Geschichte eines zerrissenen Bandes, das einmal zwischen Menschen und Göttern, dem Absoluten und seinen unvermeidlichen Illusionen bestanden hat, verfolgen wollte285. Der Direktor am Haus der Kunst, Chris Dercon, spricht in seinem Grußwort sogar vom Boom des Religiösen in der Kunst. Zahlreiche zeitgenössische Künstler treten mit religiösen Sujets oder an religiösen Orten vor ihr Publikum286. Mit dem Aufkommen der Moderne und des modernen Künstlertums vor 150 Jahren wich die religiöse Kunst einer neuen geistigen Epoche, die zunächst von Kandinsky eingefordert wurde. Die Künstler um die Wende zum 20. Jahrhundert bezogen ihre Inspirationen aus okkulter und philosophischer Literatur, von den Entdeckungen außereuropäischer Kulturen, von alten Mythen und ostasiatischen Religionen. Dabei spielte die Erweiterung des Bewusstseins durch Trance und Halluzination eine nicht unwesentliche Rolle. Dercon zitiert den griechischen Künstler Jannis Kounnellis, der diese neu entwickelte bzw. sich entwickelnde Haltung der Kunstschaffenden auf den Punkt gebracht hat: ..., dass die Fähigkeit, eine Erscheinung des Göttlichen herbeizuführen, ohne Sentimentalität, nämlich eines Säkular-Göttlichen, das in die Geschichte eingebettet ist, vorzüglich zum Beruf des Künstlers gehört. Aber vor allem sei es das Feld des Publikums, dem die religiöse Erfahrung angehöre287. Und dieser Zusatz ist sehr wichtig, denn er dokumentiert eine radikale Änderung der Sichtweise: Es geht gar 285 Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München 19. September 2008 bis 11. Jänner 2009. München 2008, S. 5 286 ebda S. 7 287 ebda 95 nicht mehr sosehr bzw. allein um die Haltung und Intention des Künstlers288, sondern gleichermaßen um die des Rezipienten, in diesem Fall um dessen religiöse oder spirituelle Erfahrung und Bedürfnisse. Wassily Kandinskys Schrift Das Geistige in der Kunst (1911), auf die der Titel dieser Ausstellung rekurriert, wurde sofort nach Erscheinen zum Kultbuch, weil es offensichtlich aktuelle Tendenzen und Bedürfnisse abbildete. Erst nach dem 2. Weltkrieg beschäftigten sich Kunsthistoriker mit den geistigen und vor allem mystischen Wurzeln von Künstlern der Avantgarde wie Kandinsky und Mondrian. 1995 zeigte die Schirn Kunsthalle Frankfurt mit der von Veit Loer kuratierten Ausstellung Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian, 1900 – 1915, wie zu Beginn des Jahrhunderts Künstler aller Disziplinen Inspiration in okkulten, spirituellen Themen fanden. Weitere Ausstelllungen vor allem in Deutschland versuchten, religiösen Tendenzen der bildenden Kunst dieser Zeit und später nachzuspüren. In jedem Fall befreiten sich die Künstler von christlich-religiösen Themen, um neue und eigene Antworten auf die metaphysischen Fragen nach dem Unendlichen und Kosmischen zu finden289. Jean de Loisy verweist auf die entscheidende Rolle der spirituellen Krisen, die die westliche Welt ästhetisch geprägt haben290. Die Entzauberung der Welt291 ist eine Entwicklung, die mit der protestantischen Aufklärung, der französischen Revolution und mit dem Fortschritt der Wissenschaften einhergeht und zu sozialen wie politischen Umbrüchen führt. Das Gott ist tot ist eine Umwertung der traditionellen Werte, - der eine, alles ordnende Wert zerbricht in viele Werte. Was im Begriff ist, aus der okzidentalen Welt zu verschwinden, ist das Absolute292. Trotzdem trägt die modere Kunst immer noch die Spuren des Sakralen - heute Spiritualität genannt – und bekennt sich zu der Aufgabe, die metaphysischen Geheimnisse zu durchdringen293. 288 Die deutsche Künstlerin Daniela Leiter stellt etwa die Frage: Ist ein Kunstwerk religiös, wenn der Künstler religiöse Intentionen hat? In: Chris Dercon, Grußwort. In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München 19. September 2008 bis 11. Jänner 2009. München 2008, S. 7 289 Angela Lampe, Auf den Spuren des Geistigen. In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München, 19. September 2008 bis 11. Jänner 2009. München 2008, S. 9 ff 290 Jean de Loisy, Im Angesicht dessen, was sich entzieht. In: In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München 19. September 2008 bis 11. Jänner 2009. München 2008, S. 13 ff 291 Marcel Gauchet, La Désenchantement du monde. Paris 1985 292 André Malraux, Les Voix du silence. In: ders. Œuvres complète. Paris 1989 – 2004, Bd. IV, S. 722 293 Barnett Newman, The Plasmic Image. In: Bonn/Sally, L’Expérience éclairante sur Barnett Newman. Brüssel 2005, S. 78, zitiert nach Loisy (2008) S. 14 96 Ein Brief Egon Schieles an Hermann Engel aus dem Jahr 1911, der eine Interpretation seines Bildes Die Offenbarung enthält, ist ein weiteres Dokument für das um die Jahrhundertwende herrschende Interesse an theosophischem Gedankengut und Okkultismus294, speziell in Wien295. Schiele schreibt vom eigenen Licht der Körper, von astralischem, farbigem Licht und von der Vereinigung positiver und negativer Elektrizität, - Begriffe, die auf spiritistische, theosophische Quellen schließen lassen296. Dass Schiele kein Einzelfall war, belegen Zeugnisse vom Interesse zahlreicher Künstler um die Jahrhundertwende. Es war die Wiederentdeckung eines durch die Aufklärung verdrängten Kulturguts, - in Alchemie, Kabbala und neuplatonischen Spekulationen fand man die geheimen Entsprechungen des Innen und Außen sowie des Oben und Unten wieder. Aber bereits der europaweit erfolgreiche Mesmerismus markierte den Beginn der wissenschaftlichen Erforschung okkulter Phänomene. 2.1.1 Mesmerismus und Theosophie Schon Mitte des 18. Jahrhunderts begannen die Naturwissenschaften sich für die Elektrizität zu interessieren. In ihr fanden die Frühromantiker die Bestätigung dafür, dass der Pulsschlag des Menschen der Rhythmus des Universums sei und umgekehrt297. Aber schon 1641 bezeichnet Athanasius Kircher den Magnetismus als universelle Kraft, die alles 294 Okkultismus leitet sich von lat. occultus (dunkel, verborgen) ab. Okkultismus wird heute vorwiegend pejorativ, also abwertend verwendet. Als okkult galten Handlungen und Ereignisse, die dem Wissensstand entsprechend nicht erklärbar waren oder diesem widersprachen. Vgl. Astrid Kury, Heiligenscheine eines elektrischen Jahrhundertendes sehen anders aus... Okkultismus und die Kunst der Wiener Moderne. Wien 2000, S. 17 f 295 Egon Schiele, Brief an Dr. Hermann Engel. Wien 1911. Schwarz-braune Tusche auf Papier, 22,5 x 14,4 cm, Leopold Museum, Wien – Inv. Nr. 4497. Vgl. auch: Astrid Kury, Heiligenscheine eines elektrischen Jahrhundertendes sehen anders aus... Okkultismus und die Kunst der Wiener Moderne. Wien 2000. Band 9 der Studien zur Moderne, Spezialforschungsbereich Moderne, Universität Graz. Hrsg. Karl Acham, Moritz Csáky, Rudolf Flotzinger, Dietmar Goltschnigg, Rudolf Haller, Helmut Konrad, Götz Pochat). 296 Vgl. Rudolf Steiner, Vor dem Tore der Theosophie. Dornach 1991, S. 16: Es ist so, dass, wenn man physischen Leib und Ätherleib absuggeriert, alles ausgefüllt ist von einer feinen Lichtwolke mit innerer Beweglichkeit. In dieser Wolke, in dieser Aura sieht der eingeweihte jede Begierde, jeden Trieb und so weiter als Farbe und Gestalt des Astralleibes; so sieht er zum Beispiel heftige Leidenschaft als blitzartige Strahlen aus dem Astralleib hervorschießen. Der Terminus astralisches Licht geht auf Paracelsus zurück und gehört zum elementaren Vokabular der Thesosophen. Das Leuchten der Körper lässt an die Forschungen des Freiherrn Karl von Reichenbach über das Od-Licht denken, der dieses Eigenleuchten von Körpern als Folge chemischer Prozesse erklärte. Darauf wieder bezog sich Schieles Briefpassage. Vgl. Astrid Kury, Heiligenscheine eines elektrischen Jahrhundertendes sehen anders aus... Okkultismus und die Kunst der Wiener Moderne. Wien 2000, S. 201 f. Auch der Mesmerismus interpretierte das alte Konzept des Ätherbzw. Astralleibes. So war auch der Begriff des Lichtkörpers im seinem Vokabular. Vgl. Karl Baier (2009) S. 188 297 Siegfried Zielinsky (2002) S. 189 und 197 sowie Walter D. Wetzels, Johann Wilhelm Ritter: Physik im Wirkungsfeld der deutschen Romantik. Berlin 1973, S. 1 97 in der Natur und alle Wissensgebiete miteinander verbinde298. Experimente mit Magnetismus bei der Heilung psychisch Kranker brachten Franz Anton Mesmer ( 1734 – 1815) zu der Ansicht, dass die Natur von einer unsichtbaren Kraft, einem magnetischen „Fluidum“ erfüllt sein müsse, das sowohl Ursache als auch Heilquelle der Krankheit sei299. Der Magnetismus fand in der Folge breite Beachtung, - das romantische Schrifttum beweist die intensive Auseinandersetzung mit ihm. Von besonderem Interesse war die im magnetischen Zustand gegebene Erweiterung seelischer und sinnlicher Fähigkeiten, welche als Verfeinerung der Sinne auch für die moderne Kunst von Bedeutung war. Der Magnetismus schien die Einlösung der das gesamte 19. und beginnende 20. Jahrhundert bestimmenden Sehnsucht nach einer neuen Synthese von Religion und Wissenschaft, einer Vereinigung von wissenschaftlichem Rationalismus und intuitiver Erkenntnis zu bieten und bildete die Basis des modernen Okkultismus. Das Ziel des Okkultismus um 1900 war die Untersuchung und experimentelle Erforschung der unsichtbaren Kräfte in der Natur und im Menschen300. Der Theologe Karl Baier schenkt in seiner umfassenden Studie über die Meditationspraxis moderner Spiritualität301 dem Mesmerismus besondere Aufmerksamkeit. Experimente mit Trance und Ekstase erzeugenden Methoden sowie ein therapeutischer Ansatz, der den Mesmerismus als Vorform heutiger Psychotherapie erkennen lässt, stecken diese Entwicklung ab. Der therapeutische Bezug und die Beachtung des Leibes als Ausdruck der bis dahin zu kurz gekommenen Leiberfahrung sind Aspekte, die noch heute in spirituellen Praktiken eine Rolle spielen302. Viele alternativreligiöse Richtungen erlagen der Faszination, dass die Grand Unified Theory des Mesmerismus auch eine kontemplative Seite hatte, verbunden mit dem Anspruch, tiefe Versenkungszustände, Visionen, religiöse Ekstase und paranormale Fähigkeiten hervorrufen zu können. Für die Religionswissenschaft gilt der Mesmerismus als Vorbereiter der modernen Esoterik303. Zudem öffnete sich der Mesmerismus außereuropäischen, vor allem indischen Meditationsformen und anderen magisch-mystischen Traditionen. So nahm etwa der 298 Athanasius Kircher, Magnes sive de arte magnetica. 1641, zitiert nach Siegfried Zielinsky (2002) S. 203 Astrid Kury (2000) S. 19 300 Astrid Kury (2000) S. 19 ff. Okkultistische Systeme sind meist atheistisch, nicht-christlich und pseudobzw. parawissenschaftlich, das Gottesbild weicht vitalistischen Konzepten bzw. schöpferischen Schwingungen. Ein weiteres Kennzeichen für Okkultismus sind umfassende Welterklärungs- und Evolutionsmodelle sowie Systeme, die ihre Inhalte aus den heiligen Texten verschiedenster Kulturkreise beziehen. 301 Karl Baier, Meditation und Moderne. Würzburg 2009 302 Karl Baier (2009) S. 23 f 303 Karl Baier (2009) S. 180 f 299 98 weltweit verbreitete neo-hinduistische Yoga mesmeristische Einflüsse auf. Das Interesse galt asiatischen Religionen, chinesischen Heilmethoden, sibirischem Schamanismus und magischen Traditionen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich aus mesmeristisch-magischen einerseits und den daraus hervorgegangenen amerikanischspiritistischen Strömungen andererseits der Okkultismus. Die führende okkultistische Vereinigung war die Theosophische Gesellschaft, die mit der Vermittlung indischer Mediationspraxis nach Europa und Amerika Pionierarbeit leistete. So wurde der Kundalini-Yoga und die Lehre von den cakras entdeckt und mesmeristisch interpretiert. Die daraus resultierende Cakra-Meditation trug zur Popularität dieses Themas im 20. Jahrhundert wesentlich bei304. Neben dem Indienbezug, den Baier umfassend darstellt305, hatte der Mesmerismus wie Mesmer selbst Verbindungen zu Geheimgesellschaften, - er war Feimaurer und Zirkelmeister der Gold- und Rosenkreuzer306. Die Theosophie (göttliche Weisheit) ist ursprünglich ein Sammelbegriff mystisch religiöser und spekulativ-naturphilosophischer Geistesströmungen, zu denen etwa Neuplatonismus, Gnosis, Alchemie und Kabbala gehören. Theosophen in diesem Sinn waren Paracelsus, Jakob Böhme, Emmanuel Swedenborg und andere. Die Theosophische Gesellschaft okkupierte den Begriff der Theosophie, der eigentlich aus der europäischen Tradition kam, und füllte ihn mit Inhalten spiritistischer, buddhistisch-propagandistischer Natur307. Ziele dieser neuen Theosophie sind das Streben nach Erkenntnis der einen Wahrheit, die Entdeckung unbekannter Naturkräfte und die Entwicklung latenter geistiger Kräfte im Menschen. Die Russin Helena Petrovna Blavatsky308, die gemeinsam mit Henry Steele Olcott 1875 in New York die Theosophischen Gesellschaft gegründet hatte, beeinflusste mit der von ihr und ihrer Gesellschaft vertretenen, an der Indischen Philosophie orientierten Geheimlehre 304 Karl Baier (2009) S. 23 f und 182 Karl Baier (2009) S. 200 f 306 Karl Baier (2009) S. 192 307 Astrid Kury (2000) S. 23 308 Helena Petrovna Blavatsky (1831 – 1891) erwarb sich einen Ruf als spiritistisches Medium, bevor sie 1977 ihr erstes Buch Isis Unveiled veröffentlichte und 1879 zum Buddhismus konvertierte. 1881/82 verlegte sie das Hauptquartier der Theosophischen Gesellschaft nach Madras/Indien, wo diese bis heute hohes Ansehen genießt. Heute wird der Wert und die Originalität der Schriften Blavatskys angezweifelt. Aus: Astrid Kury (2000) S. 23 f 305 99 die Begründer der abstrakten Malerei, allen voran Wassily Kandinsky309. Der Maler und Philosoph Leander Kaiser weist in diesem Zusammenhang auf eine Entwicklung in der Ästhetik hin, die fast einhundert Jahre vor Kandinsky eingesetzt hatte. Der deutsche Pädagoge und Philosoph Johann Friedrich Herbart (1776 – 1841) erklärte die Musik zur einzigen Kunstlehre, die der Lehre Kants vom interesselosen Wohlgefallen310 entspreche. Auch für Kandinsky sei das Schöne das von Begierde und Interesse Reine und Freie, - das Geistige. Für Kandinsky ist die Musik das Vorbild als eine Kunst, die ihre Mittel nicht zum Darstellen der Erscheinungen der Natur brauchte, sondern als Ausdrucksmittel des seelischen Lebens des Künstlers und zum Schaffen eines eigenartigen Lebens der musikalischen Töne311. Kandinskys Begriff des inneren Klanges lässt auch den Einfluss der Theosophie Rudolf Steiners vermuten, der in einem 1909 in Berlin gehaltenen Vortrag Das Wesen der Künste von dem Inneren der Farbe312 sprach. Im Werk und Denken Kandinskys wird ein grundsätzlicher Aspekt deutlich, der eine Tendenz im Denken der Zeit illustriert. Es ist die Höherentwicklung und Verfeinerung des Menschen im Gegensatz zum Materialismus, - in Kandinskys Worten der Gegensatz zwischen dem weißen fruchtbaren Strahl und der schwarzen todbringenden Hand. Der Begriff des Neuen wird so mit der Idee des sich von der Materie befreienden Geistes verknüpft313. Astrid Kury interpretiert eine solche Tendenz zum Blick nach innen in der Wiener Moderne als Ausdruck eines Abstraktionsbedürfnisses. Das Weltgefühl der Abstraktion verbindet sie mit einem Gegenweltbedarf. Die Künstler entwarfen aufgrund der immer 309 Leander Kaiser, Kandinsky, die Musik und Madame Blavatsky. In: Zwischenwelt, Jg. 19, Nr. 1, Wien 2002, S. 13 ff 310 Die Ästhetik als Wissenschaft von dem, was als schön gefällt, und zwar ohne Grund, willenlos, hat dies zuerst von dem Begehrten, das ein Unvollendetes, und dem Angenehmen, das sich nur auf einen subjektiven Zustand bezieht, zu sondern und dann in seine einfachsten Elemente zu zerlegen, d. h. da nur Verhältnisse gefallen, die einfachsten Verhältnisse aufzustellen, die ein begierdeloses Wohlgefallen hervorrufen. Nur in einer Anwendung der Ästhetik oder einer Kunstlehre ist dies geschehen, in der Musik. Zitiert nach: Johann Eduard Erdmann, Philosophie der Neuzeit. Der deutsche Idealismus. Geschichte der Philosophie VII. Hamburg 1971, S. 21, vgl. auch: Michael Ley/Leander Kaiser (Hsg.), Von der Romantik zur ästhetischen Religion. München 2004, S. 103 f 311 Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst. Bern 1965, S. 54 312 Zitiert nach Leander Kaiser (2002), S. 13 ff. In der Einleitung zu Punkt und Linie zu Fläche spricht Kandinsky vom inneren Pulsieren des Werkes. (Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche. München 1926, S. 14) 313 ebda. Ein damit in Zusammenhang stehender Aspekt ist die Verfeinerung der Seele, die Kandinsky zum Ziel der Kunst erklärt (Wassily Kandinsky, Essays über Kunst und Künstler. Bern 1973, S. 49). Kaiser erwähnt August Endell und Wilhelm Worringer, die schon vor Kandinsky systematisch daran arbeiteten, mit Formen ohne mimetischen Bezug Seelenbewegungen im Betrachter auszulösen, Vgl. Kaiser (2002), S. 13 ff 100 verwirrender werdenden Außenwelt bzw. gesellschaftlichen Realität künstlerische Gegenwelten oder bezogen sich auf die transzendenten Aspekte des Menschen (etwa wie Kokoschka und Schiele), die oft auch im katholischen Kontext gesucht wurden. Technische, soziale und ökonomische Veränderungen ließen die Realität zunehmend flüchtig, also nicht fassbar erscheinen314. Der Okkultismus war für viele ein Ausweg aus dieser Krise, - in der einschlägigen Literatur war von höheren Wirklichkeiten und höheren Existenzformen des Menschen die Rede. Die Kunst war so – mit den Worten von Ludwig Hevesi - ein Tauchen in tiefere Tiefen, ein Aufschwingen in höhere Höhen. Die Künstler hatten offensichtlich auch den Eindruck, dass die okkulten Weltanschauungen dem aktuellen Stand der Wissenschaften vorauseilten und in diesem Sinn avantgardistisch bzw. fortschrittlich waren. Auf jeden Fall befriedigte die Beschäftigung mit dem Okkultismus das Bedürfnis nach einem umfassenden Welterklärungsmodell. Mit der Rückkehr zu dem, was hinter den Dingen liegt (Max Messer), beschworen die Künstler das Ende des materialistischen Zeitalters und verkündeten das Herannahen einer neuen Kulturepoche der Menschheit, einer neuen Erleuchtung und Vertiefung der menschlichen Seele (Max Messer)315. Ludwig Hevesi spricht überhaupt von der Wiederentdeckung der Seele als Tat der modernen Kunst316. Diese Konzeption einer Kunstreligion verweist nach Kury auf eine Kunstwelt, die sich strikt von der sozialen Wirklichkeit fernhält. Denn die metaphysische Verunsicherung des Ich wurde in den Jahren um 1910 durch die Rezeption des Okkultismus aufgefangen und fand durch die Konzentration auf die psychischen und esoterischen Innenwelten eine innovative künstlerische Umsetzung317. Anders ausgedrückt, wurde aus dem gesellschaftlichen Krisenbewusstsein ein spirituelles Sendungsbewusstsein und die Forderung nach einer geistigen Wende abgeleitet318. Auch Arnold Schönberg bewegte sich in diesem geistigen Umfeld, vor allem vor und während dem 2. Weltkrieg. Die Idee der Moderne war mit dem gnostischirrationalistischen Denken verknüpft, das sich als das Denken der Zukunft begriff. Das 314 Vgl. die von Flusser beschriebene Situation, in der aufgrund des Paradigmenwechsels oder der Krise überkommener Codes (Vereinbarungen) Unsicherheiten entstehen. (vgl Kapitel 2.3) 315 Astrid Kury (2000) S. 340 ff 316 Ludwig Hevesi, Jan Toorop. In: Ders., Acht Jahre Sezession. S. 375, ziziert nach Astrid Kury (2000) S. 342 317 Ludwig Hevesi (2000) S. 343 318 Astrid Kury (2000) S. 344 101 Neue im Sinne des Höhersteigens der Seele legitimierte die künstlerische Avantgarde319. Die Festschrift zum 50. Geburtstag des Komponisten enthielt u. a. einen Beitrag des Theosophen Walter Klein, der sich vor allem auf den Text von Schönbergs Oratorium Die Jakobsleiter bezieht320. Clytus Gottwald weist in Zusammenhang mit Schönbergs Die Jakobsleiter auf den damals herrschenden Synkretismus, den Schönberg zu überwinden bestrebt war. Schönberg war von der Theosophie und im Besonderen von Helena Blavatsky (Helen Petrowna Blavatskaja) begeistert und fühlte sich – zumindest nach Meinung Gottwalds – zur Theosophie hingezogen321. Leander Kaiser kennt zwar keine direkten Äußerungen Schönbergs zur Theosophie, Anthroposophie und Gnosis, doch findet er in einem Aufsatz Schönbergs entsprechende indirekte Hinweise zu einer solchen Verbindung322. Schönberg bezieht dort die Inspiration des Komponisten auf die Gabe des reinen Schauens, die nur wenigen reinen und hoch stehenden Menschen gegeben sei. Dies seien die gnostischen Geistesmenschen, die im Unterschied zu den der Materie verhafteten Menschen zur Schau der geistigen Wesenheiten fähig sind, womit auch gezeigt ist, wie sich die um Anerkennung kämpfende künstlerische Avantgarde positionierte323. Das elitärmissionarische Moment der bildenden Kunst um 1900, das von okkultem Gedankengut zumindest unterstützt wurde324, lässt sich also auch in der Musik feststellen. Astrid Kury bringt Schönbergs Entwicklung der Atonalität mit seinem Interesse für Mystik und Okkultismus in Zusammenhang. Auch Schönbergs Schüler, Alban Berg und Anton 319 Leander Kaiser: Eine ästhetische Religion? Schönberg und der moderne Irrationalismus. In: Arnold Schönberg und sein Gott. Arnold Schönberg-Center, Wien 2003, zitiert nach http://www.leanderkaiser.com/texte/downloads/t_01.pdf S. 2 f (10. 04. 2009) 320 Walter Klein, Das theosophische Element in Schönbergs Weltanschauung. In: Arnold Schönberg zum fünfzigsten Geburtstag. S. 273 Vgl. auch Astrid Kury, die in Die Jakobsleiter Elemente der Reinkarnationsund Korrespondenzlehre der Theosophie erkennt. (Astrid Kury, Heiligenscheine eines elektrischen Jahrhundertendes sehen anders aus... Okkultismus und die Kunst der Wiener Moderne. Wien 2000, S. 120) 321 Clytus Gottwald, Neue Musik als spekulative Theologie. Religion und Avantgarde im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2003, S. 32 322 Der im Blauen Reiter abgedruckte Aufsatz Das Verhältnis zum Text. (Arnold Schönberg, The Relationship to the Text. In: Ders., Style and Idea. Selected writings. London 1984, S. 141 ff) 323 Leander Kaiser (2003), S. 6, vgl. auch Astrid Kury (2000) S. 344: Kury spricht hier von der außergewöhnlichen Sensibilität, die sich die Künstler selbst zugeschrieben haben, - Schiele etwa schreibt in einem Brief von 1911, dass er wissend geworden sei, die Fähigkeit habe, zu schauen, und die astralischen Schwingungen, die die Körper emittieren, wahrnehme. Eine weitere interessante Tatsache ist, dass Schieles einzige Buchillustrationen für das 1917 erschienene Buch Wesen der Menschheit von Eduard Hanslik entstanden sind. Dabei handelt es sich um Zeichnungen von menschlichen Schädelformen, die Hansliks Auffassung vom Zusammmenhang der Physiognomie des Menschen mit dessen geistigen Eigenschaften illustrieren. Hansliks nationalistische sowie der Gnosis nahe stehende Gesinnung, in der der Kampf zwischen Gesunden und Schwachen, der Dualismus einer materialistischen und idealistischen Menschheit und der Ruf nach einer neuen Menschheit zum Ausdruck kommt, enthält sich allerdings jeder wertenden Beurteilung der Rassen. Schiele hatte sich offensichtlich von dieser gnostischen Geiteshaltung begeistern lassen. In: Franz Smola, Vom „Menschenbewusstsein“ zum neuen Menschenbild – Egon Schiele und der Anthropograph Erwin Hanslik. In:Leander Kaiser/Michael Ley (Hsg.) (2008) S. 128 ff 324 Astrid Kury (2000) S. 344 102 Webern, beteiligten sich an dieser Auseinandersetzung, sei es durch die Lektüre von Balsacs mystischen Novellen Seraphita und Louis Lambert oder Strindbergs Inferno. Strindberg wurde von Schönberg und seinem Kreis vor allem wegen der Beschreibungen okkulter Erlebnisse geschätzt. Die Beschäftigung mit Mystik und Theosophie hinterließ aber auch in der Malerei Schönbergs ihre Spuren325. Während Egon Schiele von der Kunst als einer gläubig scheinenden Religion spricht326, entlarvt Oswald Spengler den Synkretismus dieser Zeit als Zerfallsprodukt der Religion: Dem entspricht in der heutigen europäisch-amerikanischen Welt der okkulte und theosophische Schwindel, die amerikanische Christian Science, der verlogene Salonbuddhismus, das religiöse Kunstgewerbe327. Es soll in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, dass der Nationalsozialismus sich ideologisch stark an theosophischen Ideen orientierte. Das mag einer der Gründe dafür sein, dass die Tatsache der großen Relevanz der Theosophie und verwandter esoterischer bzw. okkulter Lehren für die damalige Kunst heute nur wenig bis gar nicht bekannt ist. In gewissem Sinn kann die Theosophie sogar als die Vorläuferideologie des Nationalsozialismus gesehen werden328. In der Anfangsphase der Naziherrschaft zeigten etwa Künstler des Bauhauses gegenüber dem Nationalsozialismus eine gewisse Offenheit329. Eine nicht unumstrittene zeitgenössische Publikation330 zu diesem Thema versucht zu zeigen, dass die Denkweise des Nationalsozialismus nicht nur mit der des Buddhismus und Hinduismus kompatibel sei, sondern dass dieser bewusst aus der "indoarischen" Tradition schöpfte. In diesem Zusammenhang sind die religiös spirituellen Auffassungen Adolf Hitlers und Joseph Goebbels aufschlussreich. Arfst Wagner betont in seiner diesbezüglichen Studie, dass durch den nationalsozialistischen Begriffsmissbrauch der Zugang zur geistigen Welt erschwert wurde. Die in dieser Zeit durch die nationalsozialistische Ideologie geschaffenen geistigen Tatsachen seien heute geistige Hindernisse. Wagner sieht darin die tiefere 325 Astrid Kury (2000) S. 120 f Egon Schiele in einem Brief an Reichel (1911), zitiert nach Astrid Kury (2000) S. 344 327 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. München 1999, S. 941 328 Vgl. Leander Kaiser (2001) S. 5 329 Kandinsky soll sich in einem Brief vom 23. April 1933 an den Maler Willy Baumeister sogar dafür eingesetzt haben, daß die modernen Künstler in den „Kampfbund für Deutsche Kultur“, der von Alfred Rosenberg geleitet wurde, eintreten sollten. (Vgl. Jean Clair: Die Verantwortung des Künstlers. Avantgarde zwischen Terror und Vernunft. Aus dem Französischen von Ronald Vouillé. Köln 1998, S. 52ff. In. Leander Kaiser (2001) S. 9 330 Victor und Victoria Trimondi, Hitler, Buddha, Krishna. Eine unheilige Allianz vom Dritten Reich bis heute. Wien 2002 326 103 Ursache der heutigen Renaissance nationalsozialistischen Gedankenguts331. 2.1.2 Joachim-Ernst Berendt 1983 veröffentlichte Joachim-Ernst Berendt, u. a. Autor des Bestsellers Das Jazzbuch, Festivalleiter und Musikproduzent, das Buch Nada Brahma332, das – auf Grundlage einer Serie erfolgreicher Radiosendungen im Südwestfunk entstanden – zum Kultbuch avancierte. Der Erfolg dieses eher popularwissenschaftlichen Werkes liegt in der Thematik begründet, die in den 80er Jahren in der Luft lag und die in ihrer Nähe zu Esoterik und New Age einen Nerv und ein Bedürfnis der Zeit getroffen hat. Es ist nicht von ungefähr, dass dieser Impuls von einem Jazzmusiker kommt. Der Jazz ist als vorwiegend improvisierte und ursprünglich auch nicht aufgeschriebene Musik dem Indischen Musikdenken näher als der Europäischen Musiktradition. In seinem Nachwort nennt Berendt seine wesentliche Motivation beim Namen: nach seiner ersten Asienreise begann er zu meditieren und legte kurz darauf die Leitung der Berliner Jazztage zurück, weil er es als unmöglich empfand, im Mafia-Dschungel des Jazz-Business zu arbeiten und gleichzeitig Meditierender zu sein333. 1975 erschien ein erster spiritueller Text (Der Jazz und die neue Religiosität), den Berendt ein Jahr später an den Anfang seines Buches Ein Fenster zum Jazz stellte. 1981 veröffentlichte er Mein Lesebuch, in welchem er Texte vereinte, die im Prinzip nur zwei Themenkreisen angehörten, - dem der Unterdrückung und dem der Spiritualität. Dabei betrachtet Berendt die Spiritualität als eine Jazzerfahrung seit John Coltrane, bezieht sich aber auch auf die alten schwarzen geistlichen Gesänge (Spiritual, Gospel, white gospel etc.). War sein Engagement für den Jazz nicht nur musikalisch, sondern auch politisch, gesellschaftlich, aufklärerisch und antifaschistisch orientiert, so bezeichnet Berendt sein Interesse für Spiritualität als dialektisch zu seiner Ausgangshaltung und den Paradigmenwechsel vom Sehen zum Hören als Ausweg für die katastrophale Situation der westlichen Welt334. Das große, für Berendt, den Jazzautor unerwartet große Echo macht dieses Buch, das wie der Autor selbst schreibt, zunächst ein persönliches Bekenntnis sein sollte, auch zu einem Zeitdokument. 331 Vgl. Arfst Wagner, Nationalokkultismus. Aus: http://www.lohengrinverlag.de/artikel/nationalokkultismus%202.htm, nach Auskunft von Arfst Wagner finden sich die beiden Teile dieses Ausatzes in den Flensburger Heften Nr. 40 und 41 332 Joachim-Ernst Berendt, Nada Brahma. Die Welt ist Klang. Frankfurt am Main 1986. Nada Brahma bzw. Nada Brahman ist ein Begriff aus der altindischen Musikphilosophie und bedeutet heiliger Klang. 333 Joachim-Ernst Berendt (1986) S. 270 334 Joachim-Ernst Berendt (1986) S. 10 104 Diesen von Berendt mehr geforderten als festgestellten Übergang von einer visuellen zu einer auditiven Kultur greift Wolfgang Welsch zehn Jahre später wieder auf. Er spricht bereits vom Verdacht, dass unsere vom Sehen dominierte Kultur im Begriff sei, zu einer Kultur des Hörens zu werden und bezeichnet dies als wünschenswert und notwendig. Nicht nur die bereits zweitausendjährige Vorherrschaft des Sehens und der Bilder spreche für die Emanzipation des Hörens bzw. einen Herrschaftswechsel, sondern der hörende Mensch sei auch der bessere Mensch335. Das begründet er damit, dass der hörende Mensch fähig sei, sich auf Anderes einzulassen und es zu achten, statt es bloß zu beherrschen. Wie Berendt vertritt er die Auffassung, dass der Mensch nur dann fortbestehen könne, wenn unserer Kultur in der Zukunft das Hören zu Grunde gelegt werde. Die Dominanz des Sehens in der von der Technik dominierten Moderne würde uns einer Katastrophe zutreiben, die nur das rezeptiv-kommunikativ-symbiotische Verhältnis zur Welt, wie es das Hören darstellt, verhindert werden könne. Schon vor Berendt hätten der Philosoph Martin Heidegger und der Soziologe Eugen Rosenstock-Huessy für diesen Paradigmenwechsel vom Sehen zum Hören plädiert. Auch Peter Sloterdijk und Dietmar Kamper sprächen vom Ende des optischen Zeitalters und einer geheimen Prävalenz des Hörens336. Marshall McLuhan sehe den Übergang von der visuellen zur auditiven Kultur bereits als gegeben337. Schließlich schlägt der Neurowissenschaftler Gerold Baier eine entsprechende Berücksichtigung des Hörens etwa im Bereich der medizinischen Diagnostik vor, die heute fast ausschließlich von Bild gebenden Methoden Gebrauch macht338. In seinem Vortrag, aus dem ich hier zitiere, untersucht Wolfgang Welsch das traditionelle Visualprimat und die typologischen Unterschiede zwischen Sehen und Hören, um zu Überlegungen zu einer künftigen akustischen Kultur zu gelangen. Ursprünglich – so Welsch – war die abendländische Kultur eine Kultur des Hörens. Die griechische Gesellschaft des Altertums etwa sei vom Hören bestimmt gewesen. Aus diesem Grund konnte Friedrich Nietzsche die griechische Tragödie aus dem Geist der Musik ableiten. Das Primat des Sehens entwickelte sich erst um die Wende zum fünften Jahrhundert vor Christus, vor allem in den Bereichen Philosophie, Wissenschaft und Kunst. 335 Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart 1996, S. 231 Dietmar Kamper, Vom Hörensagen. Kleines Plädoyer für eine Sozio-Akustik. In: Ders./Christoph Wulf (Hsg.), Das Schwinden der Sinne. Frankfurt am Main 1984, S. 112 ff, Peter Sloterdijk, Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung. Ästhetischer Versuch. Frankfurt am Main 1987, S. 95. Auch Sloterdijk bezieht sich hier auf Berendt (S. 85 ff). Zitiert nach Wolfgang Welsch (1996) S. 232 337 Marshall McLuhan und Bruce R. Powers, The Global Village. Transformations in World Life and Mediain the 21st Century. New York 1989, S. 15. Zitiert nach Wolfgang Welsch (1996) ebda. 338 Vgl. Kapitel 2.3 336 105 Heraklit, der erklärte, dass die Augen genauere Zeugen als die Ohren seien, nannte Pythagoras, den Theoretiker der Sphärenharmonie, den Ahnherrn der Schwindler339. Seit Platon setzte sich die Vorherrschaft des Sehens dann vollends durch. Der Weg des Menschen ist fortan – durch die Schau der Ideen – visuell bestimmt. Die Wahrheit des Kosmos wurde nunmehr in der Grammatik des Sehens und nicht mehr in den Strukturen des Hörens gesucht. Wissen ist etymologisch gleich bedeutend mit gesehen haben340. Dieses Visualprimat werde nach Ansicht Welschs aufgrund des weichenden Vertrauens in die manipulierten Bilderwelten hochgradig immaterieller Technologien bereits seit Jahrzehnten in Frage gestellt. Diese Feststellung korreliert mit der Annahme Vilém Flussers, dass die aktuelle Krise unserer Codes bereits um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eingesetzt habe341. Welsch merkt an, dass sich bereits die Romantik der Nacht und dem Hören zugewandt hat, was meine Vermutung stützt, dass die Vorboten des in dieser Arbeit thematisierten Wertewandels in der Romantik zu finden sind. Wie oben erwähnt, hat Heidegger (wie übrigens auch Wittgenstein) Momente des Hörens gegenüber der Orientierung am Sehen zur Geltung gebracht, – mehr noch – Heidegger bezeichnete Platons Haltung bezüglich des Sehens als den Sündenfall der abendländischen Geschichte. Durch Platon und die Wende zum Sehen sei das Seiende zu einem Objekt geworden, womit die abendländische Rationalisierung begründet war342. Heidegger trat für einen Wandel zum Hören hin, - für den Wandel zum sorgenden Umgang mit den Dingen ein343. Ludwig Wittgenstein schließlich formulierte in seiner Gebrauchstheorie der Bedeutung, dass der Sinn unserer Ausdrücke in ihrem Gebrauch liege und dieser von sozialen Kommunikationsformen und somit vom Hören nicht zu trennen sei344. Welsch sieht im Übergang von der Bewusstseinsphilosophie zum Paradigma der Kommunikation den Übergang von der Favorisierung des Sehens zu einer neuen Aufwertung des Hörens. Von der Tödlichkeit des Sehens, einer Metapher, die auch auf die Katastrophe weist, von der in diesem Zusammenhang die Rede ist, zeuge auch der Mythos von Narziss und Echo. Narziss starb aufgrund der Liebe zu seinem Spiegelbild, doch das erst, nachdem er die 339 Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Berlin 1974, S. 169, zitiert nach Wolfgang Welsch (1996) S. 237 340 Wolfgang Welsch (1996) S. 239 341 Vgl. Kapitel 2.3 342 Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den „Humanismus“. Bern 1954, zitiert nach Wolfgang Welsch (1996) S. 242 343 Wolfgang Welsch (1996) S. 242, vgl. auch Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959, S. 176 ff, wo Heidegger das Hören als die eigentliche Gebärde des jetzt nötigen Denkens bezeichnet 344 Ludwig Wittgenstein, Philososphische Untersuchungen. In: Ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt am Main 1984, S. 225 - 580 106 Nymphe Echo – die Inkarnation des reinen Tons – verschmäht hatte. Dieses frühe Dokument zeigt die tödlichen Folgen des Sehprivilegs bei gleichzeitiger Hörverachtung und warnt somit vor einem Sehen, das das Hören verweigert345. Auch in diesem Kontext erscheint die jüdische Kultur als von der griechischen verschieden346. Die jüdische Kultur könne als eine Kultur des Hörens identifiziert werden347. Vilém Flusser sieht darin keinen Widerspruch, sondern eine Komplementarität, - und erklärt die Unfähigkeit des Westens, seine jüdischen und griechischen Wurzeln zu vereinen, mit der Kommunikationstheorie. Diese zeige, dass der vom Judentum analysierte Aspekt des Dialogs in den bisher verfügbaren Medien nicht zum Ausdruck komme. Der Dialog als Anerkennung des anderen sei nur in ganz engen bi-valenten Strukturen wie Liebe und Freundschaft realisierbar. Die jüdische Analyse des politischen Lebens konnte deshalb nicht einbezogen werden, weil – obgleich die Medien für utopische Dialoge existieren – jene für messianische Dialoge fehlen. Flusser fragt, ob nicht in Zukunft die Medien Post und Telefon der messianisierenden Politik dienen könnten. Man geht auf den Markt, um etwas zu tauschen, aber man telefoniert, um mit jemandem zu sprechen348. Die Feststellung Welschs, dass sich das Sehen primär auf räumliche, das Hören auf zeitliche Phänomene beziehe, ist insofern zu hinterfragen, als diese Zuordnung ja wieder nur durch die entsprechende Codierung unserer Wahrnehmung bestimmt ist. Richtig ist, dass – zumindest auf der uns zugänglichen Bewusstseinsebene – das Sichtbare in der Zeit verharrt, also dauerhaft Seiendes betrifft, das Hörbare aber in der Zeit vergeht. Er zitiert Hegels spekulative Interpretation des Hörens als im Vergleich zum Sehen weitaus geistigeren Sinn. Der Ton beinhalte nach Hegel eine doppelte Negation der Äußerlichkeit und stelle den Anfang des Übergangs in die Innerlichkeit, in die Subjektivität dar. In der akustischen Sphäre geschehe ein Übergang vom Materiellen zum Geistigen349. Das Hören habe es mit Flüchtigem, Ereignishaften zu tun und verlange das akute Aufmerken auf den 345 Wolfgang Welsch (1996) S. 245 Vgl. die Unterscheidung in: Vilém Flusser, Kommunikologie. Frankfurt am Main 2000, S. 286 ff. Die griechische Analyse hat ein visuelles Modell des Dialogs, und die jüdische ein auditives: Für die Griechen ist der Dialog die Methode, eine Idee sichtbar zu machen. Für die Juden ist er die Methode, auf die Stimme des anderen antworten zu können. (S. 269) 347 Vgl. Thorleif Bohmann, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen. Göttingen 1968, S. 9 und S. 181 (Weil die Griechen überwiegend visuell, die Hebräer überwiegend auditiv veranlagt waren, gestaltete sich allmählich die Wirklichkeitsauffassung der beiden Völker so verschieden) 348 Vilém Flusser (2000) S. 297 349 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, Bd. 2. Frankfurt am Main o. J., S.260, zitiert nach Wolfgang Welsch (1996) S. 247 f. Hier zitiert Welsch auch Theodor Adorno, der das Sehen als ein Medium der Herrschaft, das Hören als eines der Freiheit bezeichnet. Musik sei von jeder Bindung an die Gegenständlichkeit frei. (Theodor W. Adorno, Zum Verhältnis von Malerei und Musik heute. In: Ders., Gesammmelte Schriften, Bd. 18. Frankfurt am Main 1984, S. 145) 346 107 Moment, das Gewahren des Einmaligen und die Offenheit für das Ereignis. Dementsprechend habe das Hören eine Affinität zu Glaube und Religion, während das Sehen eine Affinität zu Erkenntnis und Wissenschaft habe. Ist das Sehen der Distanz bildende, objektivierende Sinn schlechthin, bringt das Hören die Welt nicht auf Distanz, sondern lässt sie ein, ist ein Sinn der Verbundenheit und deswegen auch einer von extremer Passibilität, - von Verletzlichkeit und des Ausgesetztseins. Zudem betont Welsch den Unterschied zwischen dem Sehsinn als einem Sinn der Individualität und dem Hörsinn bezüglich seiner Dienstfunktion für die Sprache als einem Sinn der Sozietät. Dass die lautlichen Elemente als solche gar nichts bedeuten, ist geradezu eine Bedingung ihrer Übermittlungsfunktion350. 2.1.3 Peter D. Ouspensky Joachim Ernst Berendt zitiert in seinem Buch Nada Brahma aus dem Werk des russischen Philosophen Peter D. Ouspensky351 und betritt damit auch die Welt des Okkulten. Ouspensky wurde 1878 in Moskau geboren. Von seinem Vater, einem Kirchenmaler, übernahm er das Interesse für die vierte Dimension und war von den wissenschaftlichen Zugängen zu diesem Thema enttäuscht. Er studierte Biologie, Mathematik und Psychologie, arbeitete als Journalist und bereiste Russland, den Orient und Europa. 1907 entdeckte er die theosophische Literatur, die damals in Russland verboten war. Von ihr bekam er neue Impulse zum Studium der höheren Dimensionen. 1908 verließ er Moskau und studierte okkulte Literatur, machte anhand yogischer und magischer Methoden psychologische Experimente, hielt öffentliche Vorträge über Tarot, Yoga und den Übermenschen und veröffentlichte mehrere Bücher. 1913 und 1914 unternahm er Reisen nach Ägypten, Ceylon (Sri Lanka) und Indien, die er mit einer Suche nach dem Wunderbaren verband. Den sich damals abzeichnenden Weg der westlichen Welt als Sackgasse erkennend, ist diese Suche nach dem Wunderbaren für ihn eine Suche nach einem Weg zur Verwirklichung des Höheren, den er glaubte, im Osten finden zu können. 1915 lernte er in Moskau G. I. Gurdijeff kennen, der eine philosophische Schule leitete und dessen Ideen ihn stark beeindruckten. Die darauf folgende jahrelange Zusammenarbeit mit Gurdijeff beendete er 1924. In den psychologischen Gruppen, die Ouspensky danach 350 Wolfgang Welsch (1996) S. 248 ff Joachim-Ernst Berendt (1986) S. 120 f. Berendt zitiert P. D. Ouspensky, Tertium Organum.der dritte Kanon des Denkens. Ein Schlüssel zu den Rätseln der Welt. Bern/München 1988 351 108 leitete, gehörte u. a. Aldous Huxley, der übrigens auch die psychodelische Bewegung mitbegründete (vgl. S. 135) zu seinen Mitarbeitern352. Ouspensky starb 1947 in London. In seinem Werk ist die Frage nach Zeit und Raum zentral. Nach der Auseinandersetzung mit dem Werk Immanuel Kants stellte Ouspensky sich die Frage, warum die zu seiner Zeit aktuelle Philosophie, das damals herrschende Denken den seiner Meinung nach unwiderlegbaren Beweisführungen Kants nicht Rechnung tragen konnte oder wollte. Kant bewies, dass Zeit und Raum sowie Kausalität nur in unserem Denken bestehen, nicht aber in der objektiven Welt. Ouspensky sah in dem Unbehagen, das die Erkenntnis Kants im westlichen Denken hinterlassen hatte, die Möglichkeit zum Weitergehen, zum Weitertreiben eines zum Stillstand gekommenen Denkens. Durch Analogieschlüsse versucht er, zu einer anschaulichen Vorstellung der vierten Dimension zu kommen, in der die Zeit aufhören würde, die Kategorie der Bewegung abzubilden. Jedes Wesen fühle das als Raum, was es über seinen Raumsinn erfassen bzw. sich mithilfe des Raumsinnes in einer Form außerhalb von sich vorstellen könne. Das mit diesem Sinn nicht Erfassbare ordnet es der Zeit zu: das unvollkommen Gefühlte wird der Zeit zugewiesen. ... d. h. als in ewiger Bewegung, unbeständig, unstetig, dass man es sich unmöglich im Sinn einer Form vorstellen kann353. Der Inhalt der komplexeren Empfindungen und höheren Gefühle unseres Bewusstseins, wie die moralischen, ästhetischen, religiösen und emotionalen, könne niemals korrekt bzw. genau in Wörtern ausgedrückt werden. Die Interpretation oder der Ausdruck emotionaler Gefühle und emotionalen Verständnisses sei das Problem bzw. die Aufgabe der Kunst. In Verbindung von Wörtern, in ihrer Bedeutung, ihrem Rhythmus und ihrer Musik; in Klängen, Farben, Linien, Formen – erschaffen die Menschen eine neue Welt und versuchen, darin das auszudrücken und zu übermitteln, was sie fühlen, was sie jedoch nicht einfach in Worten, d. h. in Begriffen ausdrücken und übermitteln können. Die emotionalen Töne des Lebens, d. h. die „Gefühle“ werden am besten durch Musik übermittelt, aber sie kann keine Begriffe, d. h. Gedanken ausdrücken. Die Poesie bemüht sich, sowohl Musik als auch Gedanken zusammen auszudrücken. Die Verbindung von Gefühl und Gedanken von hoher Intensität führt zu einer höheren Form des psychischen Lebens. Somit haben wir in 352 François Grunwald, Einführung in das Werk P. D. Ouspenskys. In: P. D. Ouspensky, Tertium Organum.Der dritte Kanon des Denkens. Ein Schlüssel zu den Rätseln der Welt. Bern/München 1988, S. 303 ff 353 P. D. Ouspensky (1988) S. 100 109 der Kunst schon die ersten Experimente mit einer Sprache der Zukunft. Die Kunst greift der psychischen Evolution voraus und erahnt ihre zukünftigen Formen. Entlang der Ideen Kants, wonach der Raum eine Eigenschaft unseres Bewusstseins ist und nicht der Außenwelt, müsse die Dreidimensionalität der Welt von der Beschaffenheit unseres psychischen Apparats abhängen. Seine Veränderung würde eine Veränderung der Welt um uns herum bedeuten354. Diese Veränderung bzw. die Erweiterung des Bewusstseins sei das Ziel aller religiös-philosophischen Bewegungen, der Mystik, des Okkultismus sowie des östlichen Yoga355. In der von Ouspensky vertretenen Theorie der Zeit berühren Ereignisse, die bezüglich der Zeit weit entfernt voneinander sind, einander in der vierten Dimension und wären gleichzeitig Ursache und Wirkung, - Ouspensky spricht von einer inneren Wechselbeziehung. Die sichtbare phänomenale Welt stelle den Querschnitt einer anderen, wesentlich komplexeren Welt dar, die sich in gegebenen Augenblicken in der ersteren offenbare356. Diese Ansichtsweise findet sich übrigens schon in der Romantik, etwa bei Novalis, der den Glauben als die hienieden wahrgenommene Wirksamkeit und Sensation in einer anderen Welt, - als einen vernommenen transmundanen Aktus bezeichnet. Der echte Glaube beziehe sich ausschließlich auf Dinge einer anderen Welt, - sei Empfindung des Erwachens und Wirkens und Sinnens in einer anderen Welt357. 2.1.4 Zusammenfassung Der Boom des Religiösen in den Künsten, von dem heute gesprochen wird, entspringt dem Bedürfnis nach einem Säkulär Göttlichen (Kounnellis), das vor allem durch die Kunst sichtbar wird. Jedoch bereits um 1900 fanden viele Künstler ihre Inspiration in okkulten und spirituellen Themen. Einer der Gründe dafür war die spirituelle Krise der westlichen Welt, in der der Begriff des Absoluten weich geworden war. Die durch die Aufklärung verdrängten Kulturgüter wie Alchemie und Kabbala wurdenn damals wiederentdeckt. Hinter dem breiten Interesse für Mesmerismus und Theosophie stand die Sehnsucht nach einer Synthese von Religion und Wissenschaft. Die von Helena Blavatsky 1975 gegründete Theosophische Gesellschaft hatte großen Einfluss auch auf die Künstler dieser Zeit. Für die bildenden Künstler wie etwa für Kandinsky war die Musik als das Geistige und Reine 354 P. D. Ouspensky (1988) S. 74 f P. D. Ouspensky (1988) S. 77 356 P. D. Ouspensky (1988) S. 135 f 357 Novalis, Der enzyklopädistische Entwurf (1798-1799), zitiert nach Jean-Louis Poitevin (2006) S. 187 355 110 vorbildhaft. Es war das Neue, das die Kunst vom Materiellen befreien konnte. Die Abstraktion in den Künsten war der Ausdruck eines Gegenweltbedarfs, die Künstler verkündeten das Ende des Materialismus und den Beginn einer neuen Kulturepoche. Damit verbunden war eine Höherbewertung des Hörens und seiner Affinität zu Glauben und Religion. Ob Kandinsky, Schönberg oder Schiele, - die führenden Künstler der Moderne waren wesentlich von okkulten Lehren beeinflusst. Theosophisches Gedankengut war nicht nur für viele Künstler Richtung weisend, sondern wurde auch zu einer der Grundlagen der nationalsozialistischen Ideologie. Das könnte erklären, warum die Bedeutung des Okkulten für die Kunst um 1900 und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts heute nur wenig bekannt ist. 2.2 Spirituelle Tendenzen in der europäischen Kunst bzw. Musik Die spirituellen Grundlagen der Musik werden zwar in den verschiedenen musikalischen Epochen unterschiedlich wahrgenommen bzw. bewertet, man kann aber davon ausgehen, dass die ursprüngliche musikalische Betätigung des Menschen religiösen bzw. kultischen Charakters ist358. In der Diskussion spiritueller Grundlagen bzw. Tendenzen in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts ist eine Berücksichtigung des 19.Jahrhunderts bzw. der Romantik unabdingbar. Schon im frühen 19. Jahrhundert bekommt Kunst eine quasi religiöse Funktion. Das Kunstwerk wird, so bezeugt es der Sprachgebrauch der Romantik, Gegenstand von Weihe, Andacht, Pietät und Verehrung359. Thomas Nipperdey erörtert in seinem Essay Wie das Bürgertum die Moderne fand360 den Zusammenhang zwischen esoterischer Moderne und sich demokratisierender Bürgerkultur. Die Autonomie der Kunst gehe mit ihrer Verbürgerlichung einher. Im Zuge der Kunstrevolution lösen sich die Künste aus den traditionellen Dienstbarkeiten, Bindungen und Verbindungen. Sie geben sich selbst Ziel und Gesetz. Als weiteren Aspekt nennt Nipperdey die schwächer werdende Rolle der Religion. Während für Hegel noch 358 Karl H. Wörner, Geschichte der Musik, Göttingen 1972, S. 25 Die Anfänge der Musik wurden im Altertum und im Mittelalter durch Mythen erklärt. Man glaubte, der Ursprung der Natur sei göttlicher Natur. vgl. dazu auch die von Rüdiger Schumacher 1986 herausgegebene, übersetzte und kommentierte balische Lehrschrift Aji Gurnita (die heilige Schrift vom Klang), die noch auf präkoloniale Zeit zurückgreift. In dieser Schrift wird insbesondere der kosmologische Hintergrund balischer Musik zur Sprache gebracht, die Klangwelt in ein metaphysisch-mystisches Bezugssystem eingeordnet und auf den göttlichen Ursprung der Musik verwiesen. Aus: Hans Oesch, Außereuropäische Musik, Bd. 2, in: Carl Dahlhaus (Hsg.), Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 9. Regensburg 1987, S. 81 f 359 Thomas Nipperdey, Wie das Bürgertum die Moderne fand. Stuttgart 1988, S. 22 360 Thomas Nipperdey (1988) S. 29 111 Philosophie und Wissenschaft der moderne und wichtigste Zugang zum Sein der Welt waren, ist es für Schopenhauer und Nietzsche die Kunst, und unter den Künsten ist es die sprachlose Musik361. Dieses Moment ist die Grundlage für die spirituellen Tendenzen in den neuen Künsten. Die ästhetische Gnosis362 der Moderne richtet sich nach Leander Kaiser gegen eine Verweltlichung, die das Christentum nicht verhindern konnte. Vielmehr habe dieses die Verweltlichung noch befördert, was Kaiser an der Geschichte der Bilder zeigt. Eindeutig erkennt er die abstrakte Kunst der klassischen Moderne363 als spirituelle Gegenbewegung zu Materialismus und Kapitalismus. Die Revolution der modernen Kunst364 leite sich aus gnostisch manichäischen Ideen der Spätantike, aus Pseudowissenschaft, Okkultismus, Theosophie und Anthroposophie ab. Ziel dieser Bewegung sei die Vergeistigung, - die Überwindung des Menschen durch eine neue, feinstoffliche Gattung des Übermenschen. Die Werke fungieren als Wege in eine rein geistige, übersinnliche Welt. Im Zusammenhang dieser Moderne sind Ausdrücke wie Revolution, Rebellion, Subversion, Reaktion, Avantgarde, Frontline usw., die offensichtlich der militärischen Sprache entnommen sind, gebräuchlich und weisen – so Kaiser – auf die gemeinsamen weltanschaulichen Wurzeln der totalitären Vernichtungsapparate und der Kunst der Avantgarde hin365. Das Thema der Höherentwicklung, Verfeinerung, Vergeistigung, auch das der Reinheit und schließlich das der Überwindung des Menschen in der Metapher des Übermenschen durchzieht die menschliche Kulturgeschichte wie kein anderes Paradigma. Die von Ritwik Sanyal in seiner Philosophie der Musik erwähnte und seinem Ansatz der Definition von Musik zugrunde liegende Systematik366 bezieht sich auf alte indische Musiksysteme, die kosmologisch und soteriologisch aufgebaut sind. Entsprechend den sieben 361 Thomas Nipperdey (1988) S. 28 Die Gnosis geht von einer im Grunde negativen Weltsicht aus. Die Materie sei Teil des Bösen, nur die Seele könne an der göttlichen Erkenntnis teilhaben. Zentrale Forderung der Gnostiker ist, dass der kosmische Dualismus zwischen Materie und Geist die Menschheit von der Materie befreien und und zum übersinnlichen Geist führe. Aus: Franz Smola, Vom „Menschenbewusstsein“ zum neuen Menschenbild – Egon Schiele und der Anthropogeograph Erwin Hanslik. In: Leander Kayser/Michael Ley (Hsg.) (2008) S. 140 363 Vgl. dazu das weiter unten behandelte Interesse Karlheinz Stockhausens für die abstrakte Kunst eines Paul Klee, Piet Mondrian oder Kasimir Malewitsch. 364 Anspieleung Kaisers auf den Titel des umstrittenen Buches von Hans Sedlmayr Die Revolution der modernen Kunst (Hans Sedlmayr, Die Revolution der modernen Kunst. Hamburg 1955). In diesem Werk bezeichnet Sedlmayr das schwarze Viereck von Malewitsch und das verrückte Ding von Duchamp als die zwei letzten Möglichkeiten der modernen Kunst, - beide lägen jenseits der Kunst und hätten mit Kunst nichts zu tun. (S. 113) 365 Leander Kaiser, Moses und Perseus – Bildverbot und Bildlist als Voraussetzung der europäischen Malerei. In: Leander Kaiser/Michael Ley (Hsg.), Die ästhetische Gnosis der Moderne. Wien 2008, S. 59 f 366 Vgl. Kapitel 1.3 362 112 Entwicklungsstufen des Menschen, - frühe Kindheit (ÏaiÏava), Kindheit (bÁlya), Jugend (kaisora, tÁruÆya), Mannesalter (yauvane), reifes Mannesalter (prau±hatva), Alter (vÁrdhakya)und Greisenalter (sthaviratÁ), nennt Sanyal sieben Sphären des Klanges (Áhata nÁda), die von transzendentem Klang (anÁhata nÁda) umgeben sind. Diese sind 1. die Sphäre der körperlichen Empfindungen (bodily sensation), 2. die Sphäre der Sinneswahrnehmung (sense perception), 3. die Sphäre der Vorstellung (perceptual conception), 4. die Sphäre der Vernunft (conceptual reasoning), 5. die Sphäre des Urteilens (reasoned judgement), 6. die Sphäre der bewussten Handlung (judged action) und 7. die Sphäre der Verwirklichung (acted realization). Sie können in zwei Hemisphären eingeteilt werden, die den sieben Welten oder Himmeln (saptaloka) und den sieben Unterwelten oder Höllen (saptatala) entsprechen (die Himmel: bhÚrloka, bhuvarloka, svarloka, maharloka, janaloka, tapoloka, satyaloka, die Höllen: atala, vitala, sutala, mahÁtala, talÁtala, rasÁtala, pÁtÁla). Auf die Musik bezogen bezeichnet Sanyal diese sieben Bereiche als 1. prelogical natural music, 2. commonsense music, 3. scientific music, 4. formal logical music, 5. philosophical music, 6. religious music und 7. mystical music. Diese Klassifikation beschreibt eine aufsteigende Entwicklung der Verfeinerung, die auf der letzten Stufe zur höchsten Verwirklichung oder Erleuchtung führt. Der indische Musiktheoretiker SãrÉgadeva (13. Jhdt.) bringt die sieben Töne der Tonleiter mit sieben verschiedenen Punkten im menschlichen Körper in Verbindung. Diese entsprechen etwa den psychophysischen Zentren oder Chakren. Schon damals wurde musikalischer Klang (Áhata nada) mit der yogischen Erfahrung des anÁhata nada in Verbindung gebracht. Der uranfängliche Klang werde im Inneren des Kopfes gehört, wenn man ihm mit unbelastetem Geist folgt. Dieser Klang werde ohne jede physische Berührung erzeugt, also z. B. ohne den Anschlag einer Saite, und wird deshalb anÁhata (ungeprägt) genannt367. Auch MataÉga Muni (8. Jhdt.) erwähnt die sieben svaras (Töne) als abhängig von den sieben cakras oder sieben dvipas. Die Siebenzahl der svaras ist von der Siebenzahl der Minerale (dhÁtus) abgeleitet368. Die sieben Chakren369 sind nach SÁrÉgadeva: 367 R. K. Shringy/Prem Lata Sharma, SaÉgÍtaratnakÁra of SÁrÉgadeva, Vol. I. New Delhi 1991, S. 102 ff Prem Lata Sharma (Hsg.), Bhraddesi of Sri Mtanga Muni, Vol I. New Delhi 1992, S. 45. Die Theosophie bzw. später die Anthroposophie Rudolf Steiners übernimmt die Chakrenlehre, die auf das Yoga-Sutra des Pataújali zurückgeht. Vgl. Rudolf Steiner; Über einige Wirkungen der Einweihung. In: Ders., Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? Berlin 1909 bzw. http://www.dilloo.de/wie.htm (01. 06. 2009). In einem anderen Zusammenhang gibt Rudolf Steiner die Stufen der Entwicklung an: 1. Yama, 2. Niyama, 3. Asanam, 4. Pranayama, 5. Pratyahara, 6. Dharana, 7. Dhyanam, 8. Samadhi, in: Rudolf Steiner, Vor dem Tore der Theosophie. Dornach 1991, S. 123 ff. In diesem Zusammenhang schreibt 368 113 ÀdhÁra (zwischen Anus und Genitalien) SvÁdhiÒthÁna (Wurzel der Genitalien) MaÆipüra (Umgebung des Nabels) AnÁhata (Herz) ViÏhuddhi (Hals) ÀjúÁ (zwischen den beiden Augen) SahasrÁra (Öffnung des Gehirns) SãrÉgadeva bringt interessanterweise die Produktion von Musik nur mit den Chakren ÀdhÁra, ViÏhuddhi und lalanÁ (Halsrücken) in Beziehung370. Peter D. Ouspensky, der den Menschen als Maschine bezeichnet, benennt ebenfalls sieben Funktionen dieser menschlichen Maschine: 1. Das Denken (oder den Intellekt) 2. Das Gefühl (oder die Emotionen) 3. Die instinktive Funktion (die ganze innere Arbeit des Organismus) 4. Die Bewegungsfunktion (oder motorische Funktion, die ganz äußere Arbeit des Organismus, der Bewegung im Raum usw.) 5. Die Geschelchtsfunktion (die Funktion der beiden Prinzipien des Männlichen und Weiblichen in allen ihren Manifestationen) Für die zwei restlichen Funktionen gebe es in der gewöhnlichen Sprache keine Begriffe, sie können ausschließlich auf den höheren Bewusstseinsstufen in Erschienung treten und sind mit den Begriffen Samadhi, Ekstase, Erleuchtung oder kosmisches Bewusstsein kongruent: 6. Die höhere Gefühlsfunktion (die im Zusatnd des Bewusstseins seiner selbst erscheint) 7. Die höhere Denkfunktion (die im Zustand des objektiven Bewusstseins erscheint) Die einzelnen Stadien sind durch die jeweils vorhergehenden bestimmt, bilden also auch eine Entwicklung ab. Auch die Theosophie Rudolf Steiners unterscheidet sieben Grundteile des menschlichen Körpers bzw. der menschlichen Wesenheit: 1. physischer Leib, 2. Ätherleib, 3. Astralleib, Steiner auch über die Form, aus der jede Kultur herausgeboren werden müsse. Die moderne Kultur habe die Formen verloren und müsse sie wieder gewinnen. Sie müsse wieder lernen, auch äußerlich auszudrücken, was im Inneren der Seele lebt. (S. 127) 369 normalerweise spricht man von sechs, acht oder zehn Chakren, vgl. Prem Lata Sharma (1992) S. 175 370 Prem Lata Sharma (1992) S. 175 114 4. Ich, 5. Manas, 6. Budhi und 7. Atma. Die ersten vier habe jeder Mensch ausgebildet, den fünften nur teilweise, die übrigen seien angelegt. Durch sie habe der Mensch an drei Welten Anteil: an der physischen Welt, an der astralischen Welt, und an der Devachanoder Geisteswelt371. Ebenso teilt Ouspensky den Menschen in sieben Kategorien ein. Mensch Nr. 1 sei der Körpermensch oder physische Mensch, Mensch Nr. 2 der Gefühlsmensch oder der Emotionale, und Mensch Nr. 3 der intellektuelle Mensch. Die Kategorien vier bis sechs seien nur durch gezielte Schulung erreichbar : Mensch Nr. 4 besitze einen dauernden Schwerpunkt, Mensch Nr. 5 habe die Einheit und das Bewusstsein seiner selbst erlangt, Mensch Nr. 6 das objektive Bewusstsein, und Mensch Nr. 7 sei der, der alles erreicht hat, was ein Mensch erlangen kann, ein dauerndes Ich und einen freien Willen. In den Grenzen des Sonnensystems sei dieser Mensch unsterblich372. 2.2.1 Einspruch Eine weitere Fragestellung, die ich diesem Kapitel erörtern will, ist die bezüglich des Moments des Einspruchs in der Musik bzw. in der Neuen Musik. Den Begriff des Einspruchs verwende ich hier in dem Sinn, in dem ihn der Theologe KarlHeinz Steinmetz eingeführt hat373. In diesem Sinne wird es darum gehen, Aspekte des Einspruchs, wie sie sich in der Geschichte der Spiritualität bzw. der Theologie finden, in der Musik – im Speziellen in der Neuen Musik des 20. und 21. Jahrhunderts - aufzuzeigen. Die Geschichte der Moderne wie die der Neuen Musik im Speziellen ist auf den ersten Blick eine revolutionäre. Sie wird vor allem als die eines radikalen Bruchs mit der Tradition interpretiert. Vor allem die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts macht diesen Bruch zu ihrem Programm. Der aktuelle, zeitgenössische Kunstbegriff bewahrt dieses emanzipatorische Erbe der avantgardistischen Revolution noch immer, ohne sich jedoch inhaltlich oder formal festlegen zu müssen. Der Philosoph Christian Demand 371 Rudolf Steiner (1991) S. 18 Peter D. Ouspensky (20086) S. 55 ff 373 Steinmetz meint mit Spiritualität des Einspruchs die Haltung bzw. Aktivität von Einzelpersonen und Gruppen, die sich aufgrund ihres Glaubens aktiv oder passiv gegen „falsche“ gesellschaftliche oder politische Systeme auflehnen. Beispiele dafür sind der historische Jesus, die Märtyrer, Bettelorden, die Reformation, die Befreiungstheologie und neue politische Theologie. Methodisch ist der Begriff Einspruch anthropologisch-dialogisch (Nein - sagen), rhetorisch-naturwissenschaftlich-medienwissenschaftlich, sozialwissenschaftlich-systemisch und theologisch-eschatologisch gegliedert. Der Begriff Einspruch ist religionswissenschaftlich nicht etabliert. Aus einem persönlichen Gespräch mit Karl-Heinz Steinmetz am 15. 04. 2009 372 115 vermisst in diesem Zusammenhang aber das Heilsversprechen, das die Avantgarde mit dem Versprechen des Neuen als emphatischem Ereignis gegeben hat, - von dem heute aber nur mehr wenig wahrzunehmen ist. Demand schlägt vor, die politische Deutungsfigur der Revolution durch die theologische der Reformation zu ersetzen bzw. zu ergänzen, um mit diesem Kunstgriff einerseits die Begriffe Avantgarde und Innovation zu relativieren und andererseits den Blick auf eine Kontinuität wieder herstellen zu können. Re-formatio als konservatives Konzept sei der Versuch der Rückführung der Glaubenspraxis zur Reinheit der ursprünglichen Idee. Sie will also nicht die radikale Umwertung aller Werte, sondern im Grunde lediglich eine Kurskorrektur durch die bewusste Rückbesinnung auf eine ursprüngliche Wahrheit. Es gebe zwar Beispiele in der Geschichte der christlichen Reformation, die zeigen, dass auch revolutionäre Mittel eingesetzt werden können, - wenn evangelische Verkündigung und kirchliche Realität nicht wieder zur Deckung gebracht werden können, weil der Kurs der Ecclesia heillos von der Ideallinie abweicht, kann auch ein Reformator sich gezwungen sehen, den radikalen Bruch zu suchen – der Prozess sei trotzdem kein revolutionärer. Die Parallelität künstlerischer Revolution und christlicher Reformation werde über dieses Heilsversprechen hinaus auch durch die religiöse Terminologie in den frühesten Diskussionen der modernen Kunst deutlich. Demand erkennt im Pathos der künstlerischen Erneuerungsbewegungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts den eindeutig reformatorischen Anspruch, eine universale Wahrheit zu verteidigen. So sei das typische Künstlerbild seit dieser Anfangszeit der Moderne – offensichtlich religiösen Mustern folgend - von Sendungsbewusstsein, einer Haltung des Unbedingten und persönlichem Opferwillen geprägt. Das lässt sich, wie später gezeigt werden wird, auch noch im späten 20. Jahrhundert anhand von Biografien wie der von Karlheinz Stockhausen eindeutig nachweisen. Für beide, für die religiösen Häretiker wie für die ästhetischen Revolutionäre, gelte das Misstrauen gegen die herrschenden Institutionen, - für beide sei die Überzeugung typisch, die religiöse wie ästhetische Amtskirche sei bis ins Mark moralisch verdorben und habe ihre Prinzipien verraten, - ihre Würdenträger hätten sich an die Welt verkauft374. Den Eindruck des Bruches, den die Tabula-rasa-Rhetorik375 der Avantgarde vermittelt, beschreibt Demand mit der Rechtfertigung des soeben beschriebenen Anspruchs, in dem 374 Hier liegt eine der Wurzeln für die Unterscheidung ernster von unterhaltender, leichter bzw. kommerzieller Musik. 375 Vgl. dazu Stockhausens Ausspruch von der Chance der Künstler nach dem Krieg, bei Null anfangen zu können. Vgl. Christoph von Blumröder (1993) S. 143 ff 116 jeder Verdacht ausgeräumt werden müsse, das Neue könnte eine Kontinuität zum Alten haben. Der soteriologisch missionarische Ansatz im Sieg der Moderne über das Reaktionäre trage, vermittelt über das Bild von einer Entscheidungsschlacht des Reiches des Bösen gegen ein Reich des Lichts, eindeutig gnostische Züge. Die Kunst begnüge sich nicht damit, ein Subsystem unter vielen zu sein, vielmehr will sie das wesentliche Medium sein, das den Kontakt zum Dasein in seiner ganzen möglichen Fülle erst ermöglicht376. Die Bildung und Bedeutung des Begriffs Neue Musik wird vor dem Hintergrund des Paradigmenwechsels und der Neuorientierung in allen Künsten um 1900 verständlich377. Die Konnotation dieser Neuorientierung mit einer Spiritualität als Einspruch ist zunächst nicht offensichtlich. Hier empfiehlt es sich, den Blick auf die Zeit vor 1900 zu lenken. Enthielt bereits der Begriff der Moderne die Absicht der Abwendung von der Romantik, so stand das Wort neu für die Überwindung derselben378. Dieser gesellschaftlich wie künstlerisch relevante Einspruch gegen die überkommenen Werte des 19. Jahrhunderts war bereits in der Romantik vorgezeichnet und einerseits von den Gedanken der Aufklärung und den Bahn brechenden technischen Entwicklungen getragen, andererseits aber einer Spiritualität verpflichtet, die aus heutiger Sicht von eher rational bestimmten technischen Themen verstellt ist. Unser Bewusstsein blendet aus, filtert das heraus, was sich in den aktuellen Kontext des Denk- oder Geschichtsmodells fügt. 376 Christian Demand (2008) S. 38 - 41 Christoph von Blumröder, Der Begriff „neue Musik“ im 20. Jahrhundert. München, Salzburg 1981, S. 23 378 Diese grobe und standardisierte Kategorisierung der genannten Epochen hält einer genaueren Betrachtung schon nicht ganz stand. Denn die Moderne scheint vielmehr in der Romantik zu wurzeln. Der deutsche Dichter Novalis 1772 – 1801 (eigentlich Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg) drückt etwa in der Wahl seines Pseudonym, das er von dem Geschlechternamen von Roden, dem er entstammt, ableitet (latinisiert und interpretiert als "einer, der Neuland bestellt" http://www.whoswho.de/templ/te_ bio.php?PID=687&RID=1, 24. 5. 08) eine Haltung aus, die in seinem Werk Abbildung findet und durchaus Aspekte der Moderne vorwegnimmt: Alte und neue Welt sind im Kampf begriffen, die Mangelhaftigkeit und Bedürftigkeit der bisherigen Staatseinrichtungen sind in furchtbaren Phänomenen offenbar geworden. (Novalis, Die Christenheit und Europa. In: Novalis, Fragmente und Studien. Die Christenheit und Europa. Stuttgart 2006, S. 85) Vgl. dazu auch Ritwik Sanyal, Philosophy of Music. New Delhi 1987, S. 52 f: Non-communist new music is characrterised by novelty, i. e., newness in form or in content; romanticism (of the recent past) is characterised by the supremacy of the artist over art-work, listeners, and other elements of the art situation. The meeting ground of the two is freedom: freedom of creativity. There is a continuity of the ideological and historical line between romanticism and avantgardism. Classicists (mostly naturalists) attack the avantgarde as an extreme case of the disease of romanticism. Favourable critics, however, feel that romanticism not only survived decadence and symbolism but remained one of the major factors in avant-garde art-music and culture. 377 117 Die Wurzeln der Moderne und eine für sie durchaus symptomatische Spiritualität sind aber bereits in der Romantik angelegt. Das Geschichtsbild der Aufklärung war etwa bei Schiller, Lessing und Novalis verbreitet. Es kennt drei Phasen des historischen Prozesses, das goldene Zeitalter (bei Novalis nicht die mythische Vorzeit, sondern das europäische Mittelalter, eine Epoche echtkatholischer oder christlicher Zeiten), die Zeit der realen Geschichte, die durch Konflikte und Entfremdung (Herrschaft des Nutzens und des Verstandes) gekennzeichnet ist, und schließlich ein neues, visionäres Reich des Friedens, des Glaubens und der Liebe, das goldene Zeitalter. Das zweite Zeitalter ist von einer materialistischen und antireligiösen Haltung geprägt und durch den Verfall kirchlicher Autorität und revolutionäre Bewegungen gekennzeichnet379. Novalis erkennt auch in diesen antagonistischen Prozessen Keime für die Wiederbelebung des religiösen Sinnes, vor allem in Zusammenhang mit dem Wirken des Jesuitenordens und der Aufklärung in Deutschland und Frankreich380. Die Aktualität der Philosophie Novalis’ für die Moderne bezüglich ästhetisch-poetologischer wie geschichtlich-systematischer Themen, in denen die Ursprünge und Krisen des modernen Bewusstseins deutlich werden, wurde mehrfach nachgewiesen381. Eines der Grundthemen bei Novalis ist die geistig-religiöse Erneuerung des Menschen durch die Wiederbelebung des so genannten heiligen Sinns, eines Sinnes des Unsichtbaren, mit dessen Vertrocknung auch der Kunstsinn zurückgegangen war382. Wie eine Voraussicht auf die von Flusser konstatierte Krise des alphabetischen Codes stellt Novalis die Frage, ob Buchstaben Buchstaben Platz machen383. Alte Welt und neue Welt sieht er als im Kampf begriffen, und nur die Religion könne Europa wieder aufwecken384. Insgesamt stellt sich die Romantik als eine Vision dar, die die Werte nachhaltig geprägt hat, - die den Versuch unternommen hat, den spirituellen Inhalt des Christentums zu verwirklichen, - ihn der faktischen Wirklichkeit einzuverleiben. Die Romantik ist in diesem Sinn nicht Stil, sondern Utopie, nicht ästhetisches Konzept, 379 Novalis zählt zu den Maßnahmen, die vor zu schleuniger Auflösung bewahren sollten, auch die Abschaffung der Priester-Ehe, also das Zölibat, das heute ganz aktuell wieder thematisiert und in Frage gestellt wird. Aus: Novalis (Friedrich von Hardenberg), Die Christenheit oder Europa. In: Carl Paschek (Hsg.), Novalis (Friedrich von Hardenberg), Fragmente und Studien. Die Christenheit oder Europa. Stuttgart 2006, S. 71 f 380 Carl Paschek, Nachwort. In: Ders. (Hsg.) (1996) S. 150 f 381 Z. B. von Theodor Haering, Hugo Kuhn, vgl. auch Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Reinbeck/Hamburg 1968, S. 27 – 30 382 Novalis (2006) S. 74 ff (...und machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom de Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein echtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sei. S. 77) 383 Novalis (2006) S. 81 384 Novalis (2006) S. 87 118 sondern Gesellschaftsprojekt, worin die Kunst ein Werkzeug zur spirituellen Läuterung der Welt darstellt. Sie spricht vom neuen Menschen, der durch eine radikale Erneuerung der individuellen Werte in der Lage sein soll, die Krise des europäischen Menschen zu überwinden. Nicht nur Nietzsches Kritik an den überkommenen Moralvorstellungen gehöre hier her, sondern ein Großteil der Avantgarde in Europa, für deren Vertreter das angestrebte Neue nur spiritueller Natur sein konnte. Jean de Loisy sieht hier die Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts an diesen Zielen ausgerichtet, - und einen Großteil der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Folge des Scheiterns dieser Utopien385. Er erkennt William Blakes Satz über die Pforten der Wahrnehmung, die, würden sie geläutert sein, dem Menschen jedes Ding erscheinen ließen, wie es ist, nämlich unendlich386, als Programm vieler Künstler noch des späten 20. Jahrhunderts. Das Grund legende Manifest dieser Erweiterung der Welt erkennt er in John Cages 4’33’’ (1952), das, beeinflusst vom Zen-Buddhismus und Rauschenbergs White Paintings, auch das Manifest einer möglichen Versöhnung des Menschen mit der Welt darstellt und somit starkes spirituelles Potenzial in sich trägt. 2.2.1.1 Spiritualität als Einspruch Weltweit ist das Christentum die einzige Religion, die begriffen hat, dass einem allmächtigen Gott etwas fehlt. Nur das Christentum hat begriffen, dass Gott, um ganz und gar Gott zu sein, nicht nur König, sondern auch Rebell sein muss387. Rebellion388 überzeichnet den Begriff des Einspruchs389, ordnet sich aber doch der hier angesprochenen Thematik unter, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des 385 Jean de Loisy, Im Angesicht dessen, was sich entzieht. In: In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München 19. September 2008 bis 11. Jänner 2009. München 2008, S. 15 386 Vgl. Fußnote 382 387 G. K. Chesterton, Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen. Frankfurt am Main 2000, S. 258 388 Ein Aufstand ist eine gewaltsame Auflehnung mit dem Ziel, eine Änderung der sozialen oder/und politischen Zustände durchzusetzen bzw. eine Regierung zu stürzen. Nach österreichischem Recht ist ein Aufstand die Zusammenrottung mehrerer Personen um der Obrigkeit mit Gewalt Widerstand zu leisten. Die Absicht, in der die Zusammenrottung erfolgt, ist für den Tatbestand gleichgültig. Aus: Meyers enzyklopädisches Lexikon, Band 3. Mannheim 1971, S. 45 Rebellion bezeichnet (1) den Kampf um das Umarrangement der politischen Positionen, sodass es zu einer Änderung der bestehenden politischen Herrschaftsordnung kommen soll, (2) das Auflehnen gegen die bestehende politische, ökonomische und soziale Ordnung mit dem Ziel, diese zu beseitigen, ohne dass eine bestimmte neue Ordnung angestrebt und mit Gewalt durchgesetzt werden soll, (3) eine misslungene Revolution (4) und nach R. K. Merton eine Art der abweichenden Reaktion auf Stress, der durch die Dissoziation kultureller Werte und institutionalisierter Mittel ausgelöst wird. Aus: Werner Fuchs, Rolf Klima, Rüdiger Lautmann, Otthein Rammstedt, Hans Wienold (Hsg.), Lexikon zur Soziologie. Opladen 1978, S. 626 119 Alten und Neuen Testaments bzw. die des Christentums zieht. Dabei reicht die Bandbreite vom passiven Widerstand bis zum aktiven Aufstand. Die erste Symbolfigur christlichen Einspruchs ist Jesus selbst. Die Beispiele für Personen und Gruppen, die ihm in dieser Haltung nachgefolgt, aber auch schon ihm vorausgegangen sind, sind zahlreich. Unter anderem sind es Moses, die Märtyrer, Bettelorden, Reformation, Befreiungstheologie und die Neue Politische Theologie. Prinzipiell lassen sich die genannten Positionen des Einspruchs in zwei Gruppen unterteilen. In eine, die – religiös motivierten - Einspruch gegen Zustände oder Entwicklungen außerhalb der Religion, also im politisch – gesellschaftlichen und kulturellen Bereich einlegen390, und in solche, die gegen Zustände oder Entwicklungen innerhalb der eigenen Religion bzw. der Kirche Einspruch erheben391. Immer ist es aber die Verteidigung eines Inneren gegen ein Äußeres, eines Gesetzes, das als innen empfunden wird gegen eines, das von außen aufgezwungen wird. Während Inneres und Äußeres z. B. im Buddhismus392 zusammenzufallen scheinen, gehört die Differenz dieser beiden zu den Grundmomenten christlicher Haltung als die eines kontinuierlichen Einspruchs einer inneren christlichen Haltung gegen alles dieser Widerstehende393. 2.2.1.2 Revolutionäre und evolutive Systeme Die Begriffe revolutionärer und evolutiver Monotheismus stammen von Raffaele Pettazzoni394 und Henri de Lubac395. Dieses Konzept gilt allerdings als stark euro- bzw. christozentrisch; der entsprechende asiatische Entwurf sieht den revolutionären Monotheismus als „stecken gebliebene Mystik“396. Revolutionäre Religionen bringen Religion als Religion gegen die Kultur in Anschlag. Evolutive Religionen kennen das Moment des Einspruchs nicht. Während Evolution die langsame und kontinuierliche 389 Einspruch, Rechtsbehelf eigener Art, der ähnlich dem Widerspruch und im Unterschied zu einem Rechtsmittel grundsätzlich nicht zur Nachprüfung der Entscheidung oder Maßnahme durch eine übergeordnete Instanz führt. Der E. ist gegeben: 1. im Verfassungsrecht (Einspruchsgesetze) 2. im Zivilprozess (Versäumnisurteile und Vollstreckungsbefehle). Aus: Meyers enzyklopädisches Lexikon, Band 7. Mannheim 1973, S. 539 390 Als Beispiel für die christliche Haltung gegenüber totalitären Regimes wie dem Nationalsozialismus ist der passive Widerstand Franz Jägerstätters, der 1943 wegen Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen hingerichtet wurde 391 Hier ist als Beispiel die Reformation (16. Jahrhundert) zu nennen, 392 Auch im Buddhismus sind Momente des Einspruchs in einem Grund legenden Sinn als quasi atomisierte Aspekt spiritueller Haltung auszumachen, etwa in der Lehre vom Anhaften, die im weitesten Sinn Einspruch gegen Funktionsweisen des körperlichen und geistigen Systems des Menschen bedeutet. 393 etwa auch des geistigen gegen das Körperliche, wie es auch in der Gnosis der Fall ist. 394 Raffaele Pettazzoni, Der allwissende Gott, Frankfurt 1957, hier besonders S. 109–118 395 Henri de Lubac, Der Ursprung der Religionen, Graz 1956, S. 313–346 396 Auskunft Dr. Karl-Heinz Steinmetz am 31. 03. 2008 120 Veränderung der vererbbaren Merkmale von Lebewesen über Generationen meint397, ist Revolution398 ein Begriff für plötzliche, oft mit Mitteln der Gewalt herbeigeführte Veränderungen sozialer, wissenschaftlicher, gesellschaftlich-politischer und kultureller Strukturen. Ein Bespiel für ein evolutives System ist der Buddhismus (der übrigens auch für Gewaltfreiheit steht), eines für ein revolutionäres ist das Christentum. Evolutive Religionssysteme können als Teil einer universellen Kosmologie verstanden werden, ihnen zuzurechnen wären auch die heidnischen Religionen. Dort wo bzw. solange die Regeln für Zusammenleben und Denken von einer kosmologischen Gesamtschau abgeleitet sind, gibt es die oben genannte Unterscheidung zwischen innen und außen nicht. Erst die Formulierung eines so genannten zweiten Gesetzes erzeugt den Konflikt zwischen Anschauungen, die jeweils innen und außen sind. Das von Jan Assmann geprägte Begriffspaar „primäre und sekundäre Religionen“399 meint meiner Meinung nach genau diese Unterscheidung. Slavoj Žižek hingegen nennt den Gegensatz zwischen dem „äußeren“ gesellschaftlichen Gesetz (Rechtsvorschriften, bloße Legalität) und dem höheren „inneren“ moralischen 397 aus: Werner Fuchs, Rolf Klima, Rüdiger Lautmann, Otthein Rammstedt, Hans Wienold (Hsg.), Lexikon zur Soziologie. Opladen 1978, S. 213. Evolution, (1) Bezeichnung für allmählich fortschreitende Veränderungen in Struktur und Verhalten der Lebewesen, sodass die Nachfahren andersartig als die Vorfahren werden aufgrund von Variation, Selektion und Stabilisierung innerhalb der Organismen. (2) Bezeichnung für allmählich fortschreitende Veränderungen in der Gesellschaft, die in Hinblick auf ein sozial festgelegtes Ziel geplant sind. (2) Bezeichnung für den Entwicklungsprozess der Gesellschaft, der unabhängig vom sozialen Handeln einem bestimmten, objektiven Ziel zutreibt. 398 Der Revolutionsbegriff (Revolution von lat. revolutio, -onis, f, Umdrehung) ist neuzeitlich. Seit dem späten Mittelalter kommt das Wort in den politischen Sprachgebrauch, zunächst in Italien, dann in den westlichen Sprachen. Der Begriff, wie er heute verstanden und verwendet wird, ist streng genommen erst seit der französischen Revolution üblich geworden. Seitdem sind bestimmte Erfahrungen und bestimmte Erwartungen von einem Grundbegriff zusammengefasst worden, die einzeln auch schon vorher unter 'Revolution' begriffen, aber in ihrer Vielfalt und Komplexität erst seit 1789 gebündelt wurden. Analytisch gesprochen deckt der moderne Revolutionsbegriff mindestens zwei Erfahrungsbereiche ab, die nicht notwendigerweise zusammen gehören. Einmal meint der Begriff die mit Gewalt verbundenen Unruhen eines Aufstandes, der sich zum Bürgerkrieg steigern kann, jedenfalls einem Wechsel der Verfassung herbeiführt. Zum anderen indiziert der Begriff auch einen langfristigen Strukturwandel, der aus der Vergangenheit in die Zukunft reicht. Dann nähert sich der Begriff, etwa über 'permanente Revolution', 'Prozess' oder 'Entwicklung' an. Dann erstreckt sich der Begriff - über den engeren, mit Gewalt verbundenen, politischen Sinn hinaus - auf die ganze Gesellschaft und kann hier zahlreiche Sektoren erfassen, von der Industrie über die Wissenschaft bis zur Kultur. Es handelt sich also um einen komplexen Begriff, der eine primär politische Stoßkraft hat, aber ebenso einen weiteren, sozialen Kontext umgreift, der sowohl einen kurzfristigen gewaltsamen Umschlag bezeichnet als auch einen länger währenden geschichtlichen Prozess. Beide Bedeutungen können einzeln abgerufen werden, aber seit der Französichen Revolution ist es üblich, dass sie sich in ein und demselben Revolutionsbegriff gegenseitig bedingen. Der geschichtliche Aspekt erläutert den politischen Zweck, und umgekehrt wird durch die politische Zielsetzung die geschichtliche Dimension erschlossen. Der Begriff ist zugleich erkenntnisleitend wie handlungsanweisend. Darin liegt seine Modernität beschlossen. Aus: Otto Brunner (Hsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 5. Stuttgart 1984, S. 653 f 399 Jan Assman, Die Mosaische Unterscheidung. München 2003, vgl. auch dazu seinen Begriff der Gegenreligion 121 Gesetz eine Falle, die es zu vermeiden gelte, wobei uns das externe gesellschaftliche Gesetz als kontingent und irrational erscheinen mag, während das innere Gesetz vollständig als das „eigene“ angenommen wird. Es gilt, sich grundsätzlich von der Idee zu verabschieden, äußere gesellschaftliche Institutionen verrieten die authentische innere Erfahrung der wahren Transzendenz der Andersheit (etwa in Gestalt des Gegensatzes zwischen der authentischen „inneren“ Erfahrung des Göttlichen und ihrer „äußeren“ Vergegenständlichung in einer religiösen Institution, in der die eigentliche religiöse Erfahrung zu einer Ideologie verkommt, die bestimmte Machtverhältnisse rechtfertigt400. 2.2.1.3 Sinnkultur und Präsenzkultur Der Literaturwissenschafter Hans Ulrich Gumbrecht unterscheidet in einem Aufsatz401 zwischen Sinnkultur und Präsenzkultur, zwei Modellen unterschiedlicher Tendenzen in kulturellen Epochen, die nie ganz rein vorkommen, sondern jeweils mit dem anderen mehr oder weniger vermischt. In der Sinnkultur versteht sich der Mensch vornehmlich als Bewußtsein, (cartesianisch: als res cogitans, als Subjekt), in der Präsenzkultur als Körper (res extensa). Als Subjekt ist der Mensch der Sinnkultur exzentrisch gegenüber der Welt der Dinge (er ist ihr „Beobachter“), während auf der anderen Seite der Körper (nichtexzentrischer) Teil jener kosmologischen Ordnung ist, als welche die Präsenzkultur die Welt der Dinge auffaßt. Das Subjekt „interpretiert“ die Welt der Dinge, indem es ihre materiellen Oberflächen durchdringt und unter diesen Oberflächen Nichtmaterialles, nämlich Bedeutungen identifiziert. Dem Körper als Selbstreferenz der Präsenzkulturen hingegen kommt es zu, sich in die Rhythmen und Gesetzmäßigkeiten der Welt als kosmologische Ordnung einzuschreiben. Wissen von der Welt ist in der Sinnkultur immer vom Menschen durch Akte der Interpretation gewonnenens Wissen, während Wissen in der Präsenzkultur nur als transzendental offenbartes Wissen zu haben ist (...). In der Sinnkultur hat der Mensch das Recht – und manchmal die verpflichtende Aufgabe – die Welt durch sein Handeln beständig umzuformen. ... In der Präsenzkultur kann sich der Mensch zwar gewisse (...) Gesetze der Welt-Kosmologie zunutze machen (...), aber er kann nicht hoffen, den Lauf des Kosmos je zu verändern. Weil man Zeit benötigt, um Intentionen zu verwirklichen, ist Zeit 400 Slavoj Žižek, Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion. Frankfurt am Main 2003, S. 122 f 401 Hans Ulrich Gumbrecht, Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. Über Musik, Libretto und Inszenierung. In: Josef Früchl, Jörg Zimmermann (Hsg.), Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt am Main 2001, S. 66 f 122 die dominante Dimension der Sinnkultur. Präsenzkultur dagegen wird dominiert von der Dimension des Raums, denn Räume konstituieren sich um Körper – also um die zentrale menschliche Selbstreferenz der Präsenzkultur. Die (dominierende) Zeitlichkeit der Sinnkultur ist irreversible Zeit, die Zeit einer unvermeidlich verändert werdenden Welt, eine Zeit, in der das vergangene nie wiederkehren kann, weshalb es einzig für die Erinnerung zugänglich bleibt. Umkehrbar ist hingegen die Zeit der Präsenzkultur – und eben deshalb sind in ihr Magie und Re-Präsentation (Wieder-Gegenwärtigmachen) möglich. Präsenzkultur konstituiert sich um Ritual des Wieder-Gegenwärtigmachens, der Re-Inkarnation. Gumbrecht erwähnt in diesem Zusammenhang die Eucharistie nach katholisch-theologischem Verständnis als Beispiel für ein solches Ritual. Im Zusammenhang mit den in Kapitel 2.2.1.2 untersuchten Unterscheidungen steht die Präsenzkultur für evolutive Systeme, die Sinnkultur für revolutionäre (In der Sinnkultur hat der Mensch das Recht – und manchmal die verpflichtende Aufgabe – die Welt durch sein Handeln beständig umzuformen). Die Tatsache, dass die Merkmale von Sinn- und Präsenzkultur immer nur tendenziell vorherrschen, lässt den Schluss zu, dass sie durchaus auch äquivalent sein können. Das ist meiner Meinung nach in der Moderne bzw. der Neuen Musik des 20. (und 21.) Jahrhunderts der Fall. Beide Tendenzen, die des exzentrischen Subjekts und des rationalen Bewusstseins einerseits, und die des nichtexzentrischen Körpers als Teil einer kosmologischen Ordnung andererseits sind in den Künsten dieser Epoche wirksam. In welchem Verhältnis und welcher Ausprägung wir diese wahrnehmen, hängt auch von unserer eigenen Disposition als Betrachter und Interpreten kulturgeschichtlicher Prozesse ab. Wird die Neue Musik heute noch immer mit den der Sinnkultur zugehörigen Begriffen wie Experiment, Avantgarde, Provokation, Konstruktion, Zeitstruktur etc. in Verbindung gebracht402 und damit die Schwierigkeiten in ihrer Vermittelbarkeit erklärt, sind ihr gleichermaßen auch Begriffe aus dem Bereich der Präsenzkultur zuzuordnen: das Ritual, das Zyklische, der Raum, Transzendenz und Spiritualität. Der Aspekt des Einspruchs in der Neuen Musik im Sinne des Bruches mit Traditionen hätte neben der rationalen politischen Ebene, die im Kontext einer Zeit des allgemeinen Aufbruchs und technischen Aufschwungs mehr Aufmerksamkeit hatte, eine im gleichen Ausmaß spirituelle. 402 Vgl. auch Clytus Gottwald, Neue Musik als spekulative Theologie. Religion und Avantgarde im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2003, S. 5 123 2.2.1.4 Spirituelle Tendenzen in der Musik Eines der wichtigsten Einspruchszenarien in der Musikgeschichte fand bereits im 14. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Ars nova statt, die in der Ars antiqua (13. Jhdt.) ihren Gegenpart hatte. Diese Übergangszeit zwischen Notre-Dame-Schule und Ars nova war durch die Entstehung der Motette und die damit in Zusammenhang stehende Entwicklung der Mensuraltheorie bzw. -notation gekennzeichnet. Der Beleg für die Konflikthaftigkeit dieses Paradigmenwechsels am Beginn des 14. Jahrhunderts ist die Bulle Docta sanctorum patrum des Papstes Johann XXII. in Avignon (1324 – 1325), in der dieser gegen die Musik der Ars nova Stellung bezog und unter Androhung von Kirchenstrafen die Rückkehr zur alten Kunst (Ars antiqua, Notre-Dame-Schule) forderte. Die bedeutendsten Neuerungen hatten künstlerische wie gesellschaftliche Aspekte: die neue Art der Mensuralnotation, das Übergewicht der weltlichen über die geistliche Musik, die fast ausschließliche Geltung der mehrstimmigen Musik, die Unabhängigkeit der Musik als autonomes, von den bisher bestimmenden außermusikalischen Kräften unabhängiges Kunstwerk, und die Autonomie des Komponisten403. Es handelt sich hier also um eine eher der Sinnkultur nahe stehende Thematik. Dieser Konflikt zeigt ein Thema in der Entwicklung der Musik deutlich. Das Misstrauen der Theologen, Musik wolle für sich eine eigene Form religiöser Verkündigung, eine zweite Kanzel reklamieren404. Die Komponisten und Theoretiker dieser Zeit wollten die Musik aus dem engen Korsett der Kirche befreien, die bis dahin sozusagen die Musik verwaltet hatte. Die Ablehnung der außermusikalischen Aspekte, zu denen die Kirche bislang verpflichtete, war einerseits als Drang des Komponisten zur Autonomie (Subjekt) zu verstehen, andererseits ist diese aber auch als Ausstieg aus einem System zu werten, das die Entwicklung der Kunst behinderte und somit auch die ihr innewohnenden spirituellen Kräfte, die mit der in der Kirche herrschenden formalistischen Strenge nicht vereinbar war405. In der neueren Musikgeschichte sind dementsprechend vielfältige Aspekte eines Bezugs zur Religion, Kirche und Spiritualität zu finden, obwohl es die Musik der Moderne verschmähte, auf ihren himmlischen Ursprung zu verweisen. Vielmehr hat sie den 403 Clytus Gottwald (2003) S. 130 Clytus Gottwald (2003) S. 1 405 Die Idee einer Musik, die religiös ist, ohne liturgisch zu sein, war eines der zentralen Motive, die das ästhetische Denken der Epoche bestimmten. Aus: Carl Dahlhaus, Zur Problematik der musikalischen Gattungen im 19. Jahrhundert. Bern 1973, S. 884 404 124 Vorurteilen, die Musik sei nur warme Nebelerfüllung (Hegel), weil sie nicht in Begriffen spreche, dadurch entgegengearbeitet, dass sie die Rationalität ihrer Konstruktion steigerte, worin sich das reflexive Moment, das – auch kritisch – auf sich selbst Gerichtetsein sedimentierte406. Mit dem Rückzug auf den Palästrinastil verlor die Kirche den Kontakt zur zeitgenössischen Musik vollständig407. Clytus Gottwald unterscheidet zwischen liturgischer Musik, geistlichen Werken mit narrativen und explikatorischen Formgebungen (kirchliche Gebrauchsmusik) und Neuer Musik, die nach einer neuen Bestimmung des Geistlichen jenseits des Narrativen und Explikatorischen sucht408. Die im Folgenden genannten Werkbeispiele sind, dem Thema des Einspruchs folgend, nach einem anderen Modus ausgewählt. Zunächst sind es Werke, die Themen des (christlichen) Einspruchs aufgreifen und diese narrativ oder explikatorisch bearbeiten, was die Zugehörigkeit zur Neuen Musik aber nicht ausschließen soll. Schließlich sind es Werke oder Haltungen, die dem Thema des Einspruchs in der primären Struktur des Werkes folgen. 2.2.1.5 Aspekte des Einspruchs in der Musik Schon die emanzipierte Kunstmusik des 19. Jahrhundert hat eine große Zahl an religiösen Werken hervorgebracht, die die strenge Bindung an liturgische Vorgaben aufgekündigt haben. Unter diesen sind als Beispiele für Einspruch-Themen Franz Liszts Oratorium Christus und Gioachino Rossinis Oper Moses in Ägypten zu nennen. Im 20. Jahrhundert haben sich diese Themen nicht grundsätzlich geändert und sind u. a. bei Arnold Schönberg (Moses und Aaron), Francis Poulenc (Le Dialoque des Carmélites), Olivier Messien (St. François d’Assise) und Andrew Lloyd-Webber (Jesus Christ Superstar) zu finden. Sind diese eben genannten Werke narrativen Charakters, so ist eine der die Neue Musik bestimmende Haltung bis zur Jetztzeit eine, die das Narrative ausspart und primär auf Strukturen zielt, die das Spirituelle bzw. Sublime erlebbar machen. Eine diesbezügliche 406 Clytus Gottwald (2003) S. 1 Clytus Gottwald (2003) S. 6 408 Clytus Gottwald (2003) S. 2 In seinem Vorwort beschreibt Gottwald das Verhältnis von Religion zu Religiosität als eines des Allgemeinen (Kirche) zum Besonderen (wenig tolerierte Abweichungen). Die Häretisierung des Abweichenden führte unausweichlich zur Säkularisierung. Weil die heutigen Kirchen diese Abweichungen als besondere Spiritualität zu dulden gelernt haben, wird die subjektive Religiosität als Privatsache marginalisiert. 407 125 Symbolfigur ist Anton Webern409, der selbst alle Züge eines Heiligen besaß und nicht nur den Märtyrer-Tod von Hand eines nervösen GI starb, sondern trotz offenkundiger Misserfolge in einer tauben Welt unbeirrt seine Diamanten weiter geschliffen hat410. So schreibt Adorno über ihn: Hat Webern viele geistliche Texte komponiert, so ist sein Œuvre geistlich insgesamt wie kaum eines seit Bach, aber zugleich die unbestechliche Absage an etablierte Bindung, ...411. Diese Absage an die etablierte Bindung ist einer der Grundaspekte der Neuen Musik. Anton Webern drückte diese Haltung in einem Brief an Alban Berg so aus: Ich will keine Symbole: ich möchte die Dinge selber. Die ‚Realität’ eines Kunstwerks ist kein Symbol, keine Nachahmung der äußeren noch der inneren Natur...es ist etwas Eigenes412. Dieses Eigene ist das Reale, das Körperhafte, das die Musik als spirituelle dialogische Anwesenheit in den Raum stellt. Clément Rosset beschreibt die Wirkung der Musik als eine Wirkung des Realen: ... Und Vladimir Jankélévitch beharrt heute darauf: das Hören von Musik, das mit der philosophischen Aufmerksamkeit konkurriert, ist wesentlich Kontakt mit dem Realen, mit der so direkt wie möglich erfassten Realität, mit der Wahrheit , „als ob ihr wärt“413. Die Welt ist übervoll von Bildern, Verweisen, Bezügen und Abbildern: ihr Realitätsgehalt wird unaufhörlich durch Einwände und unterschiedliche Sichtweisen verdünnt. Während die Musik in die Enge treibt und plötzlich ein Reales schafft, ohne dass es Einwände oder Einsprüche geben könnte....Daher ist die Wirkung der Musik vor allem eine „Wirkung des Realen“, und deshalb ist das Reale die einzige Sache auf der Welt, an die man sich nie so richtig gewöhnen kann414. Dieser Gedanke weist auf die Merkmale der oben erwähnten Präsenzkultur, die eine Kultur des Wieder-Gegenwärtigmachens, des Rituals ist, - auch eine Kultur, in der das Subjekt des Autors zugunsten einer aktiven, kreativen und dialogischen Auseinandersetzung mit der Kunst aufgehoben ist415. Ein Blick auf traditionelle Kulturen in nicht industrialisierten Ländern zeigt übrigens, dass dort das Moment des aktiven Mitgestaltens fest eingebettet ist 409 Anton Webern steht hier für eine Reihe von Komponisten, die Clytus Gottwald in seinem Buch Neue Musik als spekulative Theologie. Religion und Avantgarde im 20. Jahrhundert als Vertreter der hier skizzierten Haltung sieht. Es sind neben Webern Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Arnold Mendelssohn, Mauricio Kagel, Dieter Schnebel, Heinz Holliger, Klaus Huber, Bernd Alois Zimmermann, Krzysztof Penderecki, Karlheinz Stockhausen, (der weiter untern weitere Erwähnung findet), Luigi Nono und Olivier Messiaen. Clytus Gottwald (2003) 410 Clytus Gottwald (2003) S. 36 411 Theodor W. Adorno, Klangfiguren. Frankfurt am Main 1959, S. 180 412 Barbara Zuber, Gesetz und Gestalt, München 1995, S. 26 413 Clément Rosset, Das Reale in seiner Einzigartigkeit. Berlin 2000, S. 96 Das Zitat von Jankélévitch stammt aus Vladimir Jankélévitch, Debussy et le mystère de l’instant. Pars 1989, S. 197 414 Clément Rosset (1989) S. 96 f 415 Roland Barthes, Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis et al (Hsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 192 126 und nur in unserer Kultur einem kommerzialisierten Musikleben und einem Konsumentenverhältnis zwischen Musiker und Hörer gewichen ist416. Die Postmoderne kritisiert die kommerzialisierten Verhältnisse im Bereich der Kultur in den hoch entwickelten Industrieländern, die etwa Musiker und Hörer in Konsumentenverhältnisse zwingen und von spirituellen Werten ablenken. Hier wird für die Position des Hörenden oder Lesenden Aktivität und Kreativität gefordert417. Die stetige Absage an etablierte Bindung allein ermöglicht lebendige Kommunikation im Hier und Jetzt. Sie ist einer der wesentlichen Aspekte des Unangepassten im Allgemeinen, der Neuen Musik im Speziellen und der Spiritualität im Besonderen. 2.2.1.6 Musik als Phänomen – Gegenargumente Die Frage, ob Musik bzw. die Neue Musik die Qualität des Einspruchs und damit grundsätzlich spirituelle Dimension für sich in Anspruch nehmen könne, relativiert sich in der Sichtweise, die Musik als solche als ein akustisches Phänomen sieht, das wir jeweils mit Funktionen und Inhalten verknüpfen, diese aber dem Phänomen zunächst nicht von vornherein innewohnen. Jede Interpretation, jede Annahme eines Überbaues lässt sich als Spekulation bezeichnen, denn jede Beweisführung würde an der Vieldeutigkeit und Unfassbarkeit musikalischer Phänomene scheitern. Ist nicht vielmehr allein die Haltung der Autoren und Reflektierenden entscheidend für die Definition von Konnotationen, Werten und Funktionen? Die Musik selbst wird immer nur die eine neutrale Sprache sprechen können. Markus Popp418 etwa stellte im August 1999 die Musik als „sentimentale Kategorie“ infrage und den bestehenden Musikbegriff zur Disposition. Unsere jeweilige Sichtweise lässt sich in jedem Fall als ‚Erkenntnis leitend’ bezeichnen, - unsere Vorstellungen, was Musik sei, sind in diesem Sinn wieder nur dem Phänomen Musik angedichtete oder übergestülpte Denkmuster. 416 Artur Simon, Kategorien des Musiklebens in traditionellen Kulturen Afrikas, Asiens und Ozeaniens. In: Ekkehard Jost, Musik zwischen E und U. Mainz 1984, S.39 417 Vilém Flusser unterscheidet in den modernen Kommunikationsstrukturen Diskurse von Dialogen. Nie zuvor in der Geschichte hat die Kommunikation so gut, so intensiv und so extensiv funktioniert wie heute. Was die Leute meinen, ist die Schwierigkeit, echte Dialoge herzustellen, das heißt, Informationen im Hinblick auf neue zu tauschen. Nach Meinung Flussers müssen müssen sich Dialog und Diskurs das Gleichgewicht halten. (Vilém Flusser, Kommuniklologie. Frankfurt am Main 1998, S. 17) 418 Zitiert nach: Peter Rantaša/Christian Scheib, Nur keine Angst vor der Unübersichtlichkeit. In: Marion Diederichs-Lafite (Hsg), Österreichische Musikzeitschrift. Jg55/7. Wien 2000, S. 18 f 127 2.2.2 Musik und Theologie Die Trennung der Musik von der Kirche um 1800 war der Endpunkt einer Entwicklung, die schon im 15. Jahrhundert durch das Streben der Komponisten nach Distanz zur Theologie gekennzeichnet war. Der damalige Vorwurf, Musik wolle für sich eine eigene Form religiöser Verkündigung, eine zweite Kanzel reklamieren, sollte sich später insofern als berechtigt herausstellen, als die Kunst nach 1800 sich von der Kirche emanzipiert und die religiöse Thematik erneuert und aus sich selbst hervor gebracht hat419. Die Neue Musik ist im Dilemma, dass zwar Geistliches wie Musik auf Befreiung hinaus will, als verbreitende weltliche Emanation des Geistes, als Emanzipation vom theologischen Ursprung420. Wir haben es hier offensichtlich mit zwei Bewegungen zu tun, die einander bedingen, die aber in unterschiedliche Richtungen weisen: Die Befreiung der Musik von der Last der Vergangenheit, der Fremdbestimmtheit, des geistigen Überbaues ist einerseits eine Entfernung von primären spirituellen Inhalten, andererseits bedeutet gerade diese Befreiung, der Einspruch gegen das Festigende, Festhaltende eine Öffnung für Spiritualität in einem viel weiteren Sinn. Musik, die diesen Überbau pflegt, sucht, zelebriert, ist in Gefahr, sich von der Spiritualität in diesem weiter gefassten Sinn zu entfernen. Für die Kunst hat das Jean Dubuffet schon 1949 erkannt. In einem Manifest anlässlich der ersten Art brut Ausstellung in der Pariser Galerie Drouin schreibt er: Die wahre Kunst ist immer da, wo man sie nicht erwartet. Da, wo niemand an sie denkt noch ihren Namen nennt. Die Kunst, die hasst es, erkannt und mit Namen begrüßt zu werden.(...) Die falsche Kunst sieht ganz so aus, als sei sie die richtige, und die richtige gar nicht.(...) Die Kunst legt sich nicht in die Betten, die man für sie vorbereitet hat; sie flüchtet, sobald man ihren Namen nennt421. 419 Clytus Gottwald (2003) S. 6 Dieter Schnebel, Denkbare Musik. Köln 1972, S. 424 421 Jean Dubuffet, L’art brut préféré aux arts culturels. Paris 1949 Parallelen dazu finden sich in der negativen Theologie: Hier zeigt sich das eigentümliche Paradox jeglicher negativen Theologie, dass sich das Absolute menschlichem Denken und menschlicher Erfahrung so unverzichtbar wie unerreichbar zugleich präsentiert und daher in bleibender Spannung steht sowohl zur Sache des Glaubens als auch zur Sache des Denkens. Dennoch bleibt sie, und darin unterscheidet sie sich von der ihr sehr verwandten mystischen Theologie, eine das Denken beanspruchende Prinzipientheorie. Als solche setzt sie allen existentiellen Zugriffen auf die Wirklichkeit Gottes ein Stoppschild in den Weg. (...) Es sollte sich deshalb von selbst verstehen, dass es für die Vernunft nicht um eine Erfassung des Unendlichen gehen kann (wie könnte das auch möglich sein?), sondern vielmehr um die konkrete Beziehung, die Denken und Fühlen, Sein und Werden auf die letzte Wirklichkeit hin gestalten. In dieser kommunikativen Funktion, dass sie gleichsam die Gottesfrage offen hält, sich vorschnellen Antworten und Zuschreibungen verweigert und das eigene Sein im Lichte dieser Beziehung zu verstehen sucht, liegt der Kairos gegenwärtiger negativer Theologie. 420 128 2.2.2.1 Karlheinz Stockhausen Die religiöse Grundlegung in der Musik von Karlheinz Stockhausen ist unbestritten, sein Bezug zu Spiritualität und Mystik – obwohl unterschiedlich beurteilt – ist evident und soll hier beispielhaft besondere Beachtung finden. Christoph von Blumröder hat in seiner Arbeit über die Grundlegung der Musik Karlheinz Stockhausens422 diese religiöse Ausrichtung freigelegt und zu beweisen versucht, dass die Entwicklung der Arbeit Stockhausens in Bezug auf Religiosität, Spiritualität und im Besonderen auf Intuition seit den Anfängen kontinuierlich verlaufen ist. David Paul sieht in Stockhausens Arbeit ein unermüdliches Streben, die äußersten Grenzen der profanen Welt des Menschen zu durchbrechen423. In einem Gespräch mit diesem spricht Stockhausen von seiner Arbeit als einem bescheidenen Versuch, die übergeordneten Prinzipien und Gesetze der Welt, das, was wir entdecken und studieren können, zu übertragen. Er spricht auch von der Wichtigkeit Neuer Musik, weil sie das Spektrum unserer Gedanken und Gefühle erweitere. Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre öffnete Stockhausen sich einer Vielzahl religiöser Strömungen, die seitdem Eingang in sein Werk gefunden haben. Zu nennen sind hier insbesondere das in den dreißiger Jahren auf dem Weg des Channeling entstandene „Urantia“-Buch, dessen Aussagen vor allem in seinem Werkzyklus LICHT eine große Rolle spielen, aber auch die Neuoffenbarung Jakob Lorbers, die Esoterik, Gnosis und Theosophie, - auch der indische Guru Sri Aurobindo sowie der Sufi-Meister Hazrat Inayat Khan haben Stockhausen stark beeinflusst. In bewundernswerter Unbeirrbarkeit steht er nach wie vor zum Anspruch, dass seine „astronische Musik“ als ein „schnelles Flugschiff zum Göttlichen“ den Zugang zur „fremden Schönheit“ in „transrealen“ Welten ermögliche, ja sogar ermöglichen muss. Denn Stockhausen ist der festen Überzeugung, dass eine fremde Schönheit zur Erhaltung der Hoffnung der Menschen unbedingt notwendig ist. (…) Eine Gesellschaft, die das vergessen hat, die ist wirklich krank. Und man muss diese Gesellschaft aufwecken und ihr Aus: Alois Halbmayr, Zur Renaissance der negativen Theologie. In: Salzburger Theologische Zeitschrift, Jg. 7, Heft 1. Salzburg 2003, S. 69 f 422 Christoph von Blumröder, Die Grundlegung der Musik Karlheinz Stockhausens. Stuttgart 1993. Vgl. auch Wolfgang Gratzer, Komponistenkommentare. Beiträge zu einer Geschichte der Eigeninterpretation. Wien/Köln/Weimar 2003, S. 310: Wie Schönberg machte Stockhausen, seit er um 1950 als Komponist in Erscheinung trat, kein Hehl aus seinem Gottglauben. ...Die frühesten Gedichte, Chöre und Lieder sind Zeugnisse dieses Glaubens. 423 David Paul, Karlheinz Stockhausen. Seconds#44 1997. Zitiert nach Berno Odo Polzer, Wien Modern 2008. Saarbrücken 2008, S. 67 129 sagen: ´Bitte orientiert euch wieder an den fremden Schönheiten.´ Wo ist unsere Fremde? Die Fremde ist in den Sternen heute, ist im Kosmos. Und: Wenn unser Verstand sich extrem anstrengt und an die Grenze dessen kommt, was analysierbar und beschreibbar ist, beginnt die Mystik. Dort ist für mich als Musiker meine Heimat. Da will ich hin. Claus Spahn hat unlängst in der „Zeit“ völlig zu Recht festgestellt, dass Stockhausen damit „heiligen Ernst mit dem alten Anspruch des Vorausseins der Avantgarde“ mache, von einem wie immer gearteten Verrat kann also wohl keine Rede sein. Wenn Stockhausen von der „fremden Schönheit zur Erhaltung der Hoffnung der Menschen“ spricht, wird jedoch deutlich, dass er seine Musik, und insbesondere LICHT, im Grunde als ein Erlösungsmedium versteht – und gerade das macht ihn verdächtig in einer Zeit, die Erlösungs- und Heilsversprechen (oft aus gutem Grund) skeptisch gegenübersteht. Doch wie sieht diese Erlösung konkret aus? Stockhausen geht es ganz eindeutig um eine Vervollkommnung des Menschen, und in diesem Punkt ist sehr deutlich der Einfluss Sri Aurobindos spürbar, den Stockhausen 1968 für sich entdeckte. In den siebziger Jahren erklärte der Komponist: „Wird solch eine neue Musik gemacht, so kündigt das einen neuen Menschen an. Dieser neue Mensch ist ein Geist, der immer weniger mit dem Tierkörper identisch ist, den er auf diesem Planeten für eine gewisse Zeit angenommen hat; ein Geist, der sich nicht mehr mit seinem Körper und dessen Möglichkeiten identifiziert, sondern der beliebige Möglichkeiten, die ihm einfallen, akzeptiert.“ So ist es nur konsequent, dass im ersten Akt des MONTAGs der Frauenchor „um ein neues Paradies zur Vervollkommnung des Menschen“ bittet. Ob man dem Komponisten auf diesem Weg folgen will, bleibt der individuellen Entscheidung überlassen. Doch egal wie diese ausfällt – sie ändert nichts daran, dass Stockhausens Opus magnum einen der wenigen aktuellen Versuche darstellt, eine Utopie konkret werden zu lassen. Es wird sich weisen müssen, ob er damit seiner Zeit hoffnungslos hinterherhinkt oder ihr vielmehr um Lichtjahre voraus ist. Mag sein, dass Stockhausen, wie es das Magazin „Wired“ einmal formulierte, „lost in the stars“ ist – doch sind nicht gerade jene, die ihrer Zeit weit voraus sind, ziemlich einsame und noch dazu unverstandene Geister?424. 1974 wurde Stockhausens Inori – Anbetungen für ein oder zwei Solisten und Orchester (1973/74) in Donaueschingen uraufgeführt. In Inori steigert Stockhausen das Ritual zur 424 Christian Ruch, Ein „Sphärentraum in ewgen Galaxien“ – zur Vollendung von Karlheinz Stockhausens Opernzyklus LICHT. Zürich 2002, aus: http://www.kath.ch/infosekten/text_detail.php?nemeid=33763 (28. 05. 2009) 130 sakralen Aktion425. Die Partie des/der Solisten ist die Aneinanderreihung seriell gestufter Gebetsgesten aus unterschiedlichen Kulturkreisen, die Stockhausen als chromatische Skala von Gesten streng komponiert hat (Betmelodie) und die mit den musikalischen Parametern der Partitur übereinstimmen. Die optische und die musikalische Ebene verschmelzen zu einer Einheit. Das eingestrichene g ist im ersten Teil des Werkes omnipräsent, - sie steht bei Stockhausen für die Mitte und als sinnliches Symbol für das höchste Wesen. Häusler beschreibt Inori deswegen als geistliche oder kultische Musik, die sich jeder Festlegung auf eine bestimmte Religion entzieht. Einflüsse sieht Häusler von indisch-buddhistischer Geisteshaltung, von visionären, mystischen und okkulten Quellen und Geheimlehren und von der Lehre des Sufismus mit deren System der stufenmäßigen Herbeiführung der Ekstase, die zur mystischen Vereinigung mit Gott hinleitet. Häusler vermutet, dass Inori nur verstanden und bewertet werden könne, wenn über Erfahrungen mit Meditation verfügt würde, womit er das an anderer Stelle thematisierte Problem der Kontextgebundenheit anspricht. Stockhausen selbst zu Inori: Dieses Werk lässt keine Wahl zwischen einer säkularisierten Ästhetik und einer religiösen Funktion, denn es ist ein Gebet, in dem jedes musikalische Intervall eine Gebetsgeste ist und als solche auch empfunden werden muss426. Zu den zum Teil massiven Einwänden seitens der Kritik meint Stockhausen: Ich wusste ja, was Donaueschingen damals für ein rotes Loch war, ein antireligiöses Loch, wie man es sich kaum vorstellen kann427, und grundsätzlich zum Wandel des Hörens: „Man kann an dem Wesen der jüngsten Musik erkennen, dass sich eine Umorientierung vom Wunsch-Hören zum meditativen Hören vollziehen wird, einbezogen in die allgemeine geistige Wandlung vom überspitzt Individualistischen zum Persönlich-Kollektiven.“428 Stockhausens Interesse an der zeitgenössischen bildenden Kunst lässt sich bis in seine Studentenzeit zurückverfolgen. Vor allem die das Irdische transzendierenden Momente im Werk von Paul Klee, Kasimir Malewitsch und Piet Mondrian faszinieren ihn. Christoph von Blumröder erkennt Analogien zwischen Stockhausens Klavierstück III und den Gedanken Paul Klees in Bezug auf Abstraktion, die beide Künstler angestrebt haben. Er stellt fest, dass die Ideen, die Klee in abstrakter Kunst sichtbar gemacht wissen will, und 425 Josef Häusler, Spiegel der Neuen Musik: Donaueschingen. Chronik – Tendenzen – Werkbesprechungen. Kassel 1996, S. 304 f 426 Josef Häusler (1996) S. 306 427 Stockhausen zu seinem Biographen Michael Kurtz, Josef Häusler (1996) S. 307 428 Karlheinz Stockhausen, Situation des Handwerks (Kriterien der punktuellen Musik). Manuskript, 1952, in: Texte I, S. 17 – 23, zitiert nach Wolfgang Gratzer (2003) S. 325 131 der Gehalt, den Stockhausens abstrakte ‚Musik als Tonordnung’ in sich birgt, nahezu kongruent sind. Stockhausen strebe seit 1952 ein Gleichnis zum Werke Gottes an, das dem Hörer absichtslose religiöse Versenkung abverlange429. Auch im schwarzen Quadrat von Kasimir Malewitsch, dem Sinnbild des Suprematismus, der einen Zustand der Kunst auf einem Nullpunkt kennzeichnet, sieht Blumröder eine Parallele zur Situation Stockhausens Anfang der 50er Jahre. Die Nachkriegszeit bot – so Stockhausen – die seltene Chance eines Neuanfangs. Ziel des Suprematismus war die Errichtung einer neuen, im Erfassen des Absoluten ‚wahrhaftigen’ Weltordnung und Weltanschauung430. Schließlich sind auch Parallelen zwischen der Theorie des Neoplastizismus Piet Mondrians, dessen Abstraktion das Absolute als Realität ins Werk setzen will, und den kompositorischen Auffassungen Karlheinz Stockhausens Anfang der 50er Jahre gegeben. In den Kunsttendenzen dieser Zeit sieht Blumröder den Versuch der Überwindung der chaotischen Zustände nach dem Krieg und darin eine mystisch-spirituelle, die Hoffnung auf einen neuen Menschen artikulierende, fast missionarisch anmutende Komponente. Die Abstraktion in diesem Zusammenhang ziele auf eine Wiederannäherung an Gott, den man selbst als abstrakt begreift431. 2.2.2.2 Musik als Religion Der französische Maler Henri Valensi stellte 1913 das so genannte Dominanzgesetz vor, nach dem es in jeder großen Kulturperiode eine dominierende Kunst gebe, deren Entwicklung durch die Verwendung immer leichterer Materialien charakterisiert sei. Dieses Leichterwerden gehe mit der geistig-sinnlichen Entwicklung des Menschen einher und bewirke in den übrigen Künsten ebenfalls ein proportional zu dieser dominierenden Kunst sich entwickelndes Leichterwerden. Henri Valensi vertritt die Meinung, dass im 20. Jahrhundert das Reich der Musik anbreche und damit eine Musikalisierung aller anderen Künste einsetze432. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass sich die Menschheit 429 Christoph von Blumröder (1993) S. 143 ff Christoph von Blumröder (1993) S. 146 f. Vgl. dazu Bill Drummond, der bezüglich seines Projektes The 17 (vgl. Kap. 3.2.3.5) ebenfalls von einem Nullpunkt, - einem erfrischenden Neuanfang spricht, den er u. a. so beschreibt: The 17 struggle with the dark and respond to the light. Bill Drummond (2008) S. 30 431 Chrsitoph von Blumröder (1993) S. 150 f. Blumröder erwähnt hier die bis heute nicht genügend gewürdigte Grundtendez einer universalen Geistigkeit im 20. Jahrhunderts, die der real vorherrschenden Barbarei entgegengehalten wird. Bezüglich der Abstraktion sieht Blumröder hier nicht nur Parallelen zum alttestamentarischen Abbildverbot, sondern auch zur islamischen Tradition der Ausschmückung der Moscheen nicht durch Bilder, sondern durch geometrische Muster. 432 Auch hier gibt es eine Parallele in der Frühromantik: Johann Wilhelm Ritter (1776 – 1810) vertrat die Ansicht, dass die drei sich an das Auge wendenden Künste Architektur, Skulptur und Malerei Künste der 430 132 zur zerebralen Abstraktion, d. h. zum Leichterwerden der Materie entwickle. 1932 wurde diese Auffassung im Manifest der Musikalisten bestätigt. Die Ideen des seit 1901 in Paris lebenden Italieners Ricciotto Canudo prägten einen Teil der damaligen Avantgarde. 1911 veröffentlichte dieser L’Essai sur la musique comme religion de l’avenir (Versuch über die Musik als Religion der Zukunft)433. Die in dieser und anderen Veröffentlichungen vertretenen Theorien basieren auf Canudos Begeisterung für Theosphie und Mystik. Für ihn ist die Kunst das Streben des Menschen nach dem Göttlichen, sie nehme bis zum Auftreten des Films die oberste Stelle in der Hierarchie der Künste ein. Musik hätte die Fähigkeit, eine Art Astralkörper jedes geschaffenen oder erdachten Dinges zum Klingen zu bringen. Abstraktion und Idealismus waren offensichtlich die Kennzeichen der Musik, die Canudo an die Musikalität aller Künste glauben ließ und auch die Anziehungskraft der Musik auf die Avantgarde ausmachte434. Die Abstraktion war eine an der Musik orientierte radikale Behauptung der Autonomie der Malerei gegenüber Sujet und äußerer Realität, die jedoch unterschiedliche Auffassungen widerspiegelte, - neben der der Wissenschaft und Technik auch jene der Theosophie. Alexander Skrjabin war bereits vom Übermenschen-Anspruch Nietzsches und der Idee Vladimir Solov’evs, dass das Schöpferische ein der göttlichen Offenbarung vergleichbarer Zustand mystischer Ekstase sei, vertraut, als er mit theosophischem und anthroposophischem Gedankengut in Berührung kam. 1908 traf er Rudolf Steiner, - die Schriften Helena Blavatskys waren ihm vertraut. Seine Philosophie, die seit 1904 auch Einfluss auf sein kompositorisches Schaffen hatte, weist Verwandtschaft zu den Lehren des Hinduismus auf. Skrjabin glaubte an den Gott-Menschen, für den er sich auch selbst gehalten hat. In der Symphonie Prométhée schließlich verbinden sich Musik, Farben, Erinnerung seien und ihr Zweck in der Vergegenwärtigung des Abwesenden liege. Mit der Musik verändere sich die Geschichte, denn diese beziehe den Zuhörer mit ein, - in ihm sei die so genannte Tat gegenwärtig. In: Siegfried Zielinsky (2002) S. 204 433 In diesem Werk legt Canudo seine Vorstellungen über die Musik dar: Abstraktion: die Musik löst sich von der Wirklichkeit (den Geräuschen), um reine Konstruktion des Geistes zu werden (Komposition-Ton). Bewegung: Die Musik versöhnt den Rhythmus von Zeit und Raum miteinander. Sie ist Äußerung einer kosmischen Energie im Sinne Nietzsches, eines Vitalismus im Sinne Bergsons, des Zeit-Raums im Sinne Einsteins. Gemeinschaft: durch die Vermittlung der Sinnlichkeit offenbart die Musik nicht nur den Geist des Künstlers, sondern auch den der Zeit und der Völker. Die Musik wird der große Schmelztiegel aller individuellen Rhythmen sein: in ihr wird die Menschheit wieder mit dem Unbestimmten kommunizieren, im Unendlichen aufgehen. Und wie früher im Tanz und wie früher im Gebet wird die Menschheit in der Musik die zahllosen Bewegungen ihrer Gemütsbewegungen verschmelzen und damit ihr neues synthetisches Bewusstsein, ihre neue Gottheit finden. In: Gladys C. Fabre, Vom Orphismus zum Musikalismus. In: Karin von Maur (Hsg.), Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts. München 1985, S. 360 434 Gladys C. Fabre, Vom Orphismus zum Musikalismus. In: Karin von Maur (Hsg.), Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts. München 1985, S. 360 f 133 Worte und Philosophie zu einer Art Gesamtkunstwerk. Der den Farben zugeordnete Inhalt entstammt der Farbenlehre Rudolf Steiners, die auch Kandinsky und Schönberg beeinflusst hat435. Auch die frühe amerikanische abstrakte bildende Kunst des 20. Jahrhunderts orientierte sich an der Musik. Wesentliche Anregungen dazu kamen von Arthur Wesley Dow, der, vom Mythischen fasziniert, einer religiösen Sekte angehörte, in der u. a. Helena Blavatsky als Meisterin verehrt wurde. 1917 proklamierte er die Nachahmung als Kriterium der Malerei aufzugeben und statt dessen die bildende Kunst an der Musik zu messen als eine der wichtigsten Aufgaben seiner Zeit436. Dazu gab es auch Gegenstimmen, etwa von Helmuth Plessner (1892 – 1985), der der ungegenständlichen Malerei, speziell aber dem Kubismus den Versuch einer Musikalisierung der Kunst vor vorwarf. Diese erkämpfe dem Auge jene Freiheit, welche das Ohr in der Musik genieße. Eben diese Anschauung Plessners geht jedoch an der entscheidenden Funktion der gegenständlichen Gerichtetheit des Sehrvorgangs vorbei437. Schließlich soll eine der wesentlichen Persönlichkeiten der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts, dessen Arbeit und Ausstrahlungskraft weit über die Grenzen dieses Genres reichen, nicht unerwähnt bleiben: Joseph Beuys, dessen Gedankengut Nähe zur Anthroposophie Rudolf Steiners zeigt, hat in vielen seiner Aktionen neben plastischen und szenischen Elementen auch akustische miteinbezogen. Für ihn waren die Aktionen zum Teil bewegte Skulpturen oder Symphonien im Sinn eines Konzertierens unterschiedlicher Elemente. Er bezeichnete den nach innen gerichteten Klang, um den es ihm ging, als Seelenton. Innere Bewegung und Inneres Hören schließen sich bei Beuys zu einem inwendigen Kreis und sind die Basis für ein organisches Bilden von innen. Bewegung steht bei ihm für Transformation, – nur über Bewegungsimpulse ließe sich die Erneuerung des Menschen einleiten. Dieser Idee von Transformation liegt die Spiegelung jeweils äußerer und innerer Bewegung im Menschen zugrunde. Beuys erweiterter Begriff der Plastik beinhaltet seine Bewertung des Ohrs als das sensible Wahrnehmungsorgan für diese. Bei 435 Dorothee Eberlein, Ciurlionis, Skrjabin und der osteuropäische Symbolismus. In: Karin von Maur (Hsg.), Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts. München 1985, S. 340 ff 436 Gail Levin, Die Musik in der frühen amerikanischen Abstraktion. In: Karin von Maur (Hsg.), Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts. München 1985, S. 368 437 Martin Asiáin, Sinn als Ausdruck des Lebendigen. Medialität des Subjekts – Richard Hönigswald, Maurice Merleau Ponty und Helmuth Plessner. Bonn 2004, S. 256 134 dem, der die Plastik aufnimmt, bohrt sie sich in das Ohr, dem plastischen Rezeptionsorgan, ein438. 2.2.2.3 Jugendbewegungen Neben der in der Einleitung erwähnten Punk-Kultur gibt es weitere und frühere Beispiele von Jugend- bzw. Subkulturen im 20. Jahrhundert, die im Einspruch zu herrschenden Gesellschaftsnormen neue Lebensformen und –haltungen proklamierten. Angeführt sei hier die Hippie-Bewegung, die in Bezug auf sowohl kulturelle als auch spirituelle Werte weltweit Beachtung fand. Die Hippie Bewegung geht zum Teil auf die deutsche Lebensreform- und Jugendbewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Von deutschen Migranten in die USA gebracht, ließ sie sich in Kalifornien nieder, wo die klimatischen Bedingungen die Umsetzung einer naturnahen Lebensweise möglich machten. In dieser internationalen spirituellen Subkultur spielte auch Meditation eine große Rolle439. Das legendäre Musik-Festival Woodstock im August 1969 war ein Höhepunkt der HippieBewegung. Viele der dort präsentierten Künstler gehören noch heute zu den Ikonen der Rock- bzw. Popmusik und repräsentieren – zwar in kommerzialisiertem Gewand – die musikalischen Reste dieser im Grunde gescheiterten Utopie. Mit Hippie-Bewegung und Woodstock sind nicht nur Erinnerungen an sehr nachhaltige musikalische Ereignisse verbunden, sondern auch solche an exzessiven Drogenkonsum. Die Einnahme so genannter halluzinogener Wirkstoffe wie Meskalin und LSD spielt in der psychedelischen Bewegung, die nicht auf die Jugendkultur der 1960er und 1970er Jahre beschränkt ist, eine wesentliche Rolle. Begründet wurde diese durch zunehmende Popularisierung gekennzeichnete Mystik von einem Kreis um Aldous Huxley, auf den auch der Begriff psychedelisch zurückgeht. Huxley, der drei für die psychedelische Kultur Grund legende Bücher verfasste, gehörte übrigens auch zu den Mitarbeitern Ouspenskys440. Der britische Psychiater Humphrey Osmond begleitete 1957 das erste Meskalin-Experiment Huxleys. Er war der Meinung, dass die psychedelischen Drogen zu religiösen Erfahrungen verhelfen würden. Huxley sah in Meskalin einen Wirkstoff, der die Filter der menschlichen Begriffssysteme und der nach Nützlichkeitsgesichtpunkten 438 Mario Kramer, Klang & Skulptur. Der musiklische Aspekt im Werk von Joseph Beuys. Darmstadt 1995, S. 15, zitiert nach Helmi Vent ( 2005) S. 153 f 439 Karl Baier (2009) S. 912 440 Vgl. Kapitel 2.1 135 selektierten Wahrnehmung zu überwinden hilft, um in einer beseligenden Schau das reine Sein zu erfahren. Dieses reine Sein ist für Huxley das in allem Vergänglichen gegenwärtige ewige Leben. Diese Schau könne aber auch durch Formen religiöser Praxis erreicht werden und sogar spontan auftreten. Huxleys Gruppe war durchaus elitär, sollte doch die Erforschung des mystischen Potenzials der Drogen zunächst nur experimentierenden Künstlern und Intellektuellen möglich sein. Populär wurde die Psychedelische Kultur erst über eine Gruppe von Psychologen unter der Leitung von Timothy Leary. Im Lebensstil der Beat Generation hatten Drogenexperimente bereits ihren festen Platz. Diese war es auch, die Leary in seiner Überzeugung von der revolutionären religiösen und sozialen Bedeutsamkeit seiner experimentellen Mystik stärkte. Die psychedelische Erfahrung wurde als Reise zu neuen, grenzenlosen Bereichen des Bewusstseins definiert. Ihre charakteristische Eigenschaft sei das Transzendieren sprachlicher Konzepte, raumzeitlicher Dimensionen und der Identität. Diese Erfahrungen seien u. a. über Yoga, Meditation, religiöse oder ästhetische Ekstasen oder auf spontane Weise möglich, aber auch durch die Einnahme von psychedelischen Drogen für jeden zugänglich441. 2.2.3 Zusammenfassung Die spirituelle Qualität der Musik liegt in ihrer Eigenschaft als in der Zeit stattfindende Kunst, die die Zeit durch ihre Präsenz aufhebt, die die Zuhörer durch ihre stetige Absage an etablierte Bindungen in den Augenblick zwingt, - in einen Zustand der Sammlung. Hier lassen sich Parallelen zum Buddhismus erkennen, der das Anhaften als das Grundübel der menschlichen Existenz bezeichnet. Das Geistliche in der Musik wird nicht nur durch die Texte definiert, die jene transportiert, sondern ist wesentliches Moment der Musik selbst. Das Anerkennen des Moments des Einspruchs in der Musik bzw. speziell in der Neuen Musik hängt jedoch von der jeweiligen Haltung der Hörenden ab. Erst im Dialog des Hörenden mit der Musik tritt die spirituelle Dimension zutage, wird Musik als Einspruch gegen das Etablierte wirksam. Bereits in der Romantik war die Kunstausübung und Kunstrezeption mit den Begriffen Weihe, Andacht, Pietät und Verehrung verknüpft. Der Beginn der esoterischen Moderne steht in engem Zusammenhang mit der sich demokratisierenden Kultur des Bürgertums sowie mit der schwächer werdenden Position der Kirche. Die ästhetische Gnosis der 441 Vgl. Karl Baier (2009) S. 912 ff 136 Moderne (Leander Kaiser) richtete sich gegen Verweltlichungstendenzen, denen gegenüber Kirche und Christentum machtlos war. In diesem Zusammenhang sind Themen wie Höherentwicklung, Verfeinerung und Vergeistigung essentiell für die Kunst der Moderne, die schließlich den Status einer Kunstreligion erreichte. Während diese Themen ein eher elitäres Denken widerspiegelt, ist ein anderes mir wesentlich erscheinendes Moment in der Kunst und im Speziellen in der Kunst des 20. Jahrhunderts der radikale Bruch mit der Tradition in Form von Revolution bzw. aus einer anderen Sicht der Reformationsgedanke, die Funktion des Einspruchs. Die Kunstund Musikgeschichte ist reich an Einspruchszenarien, - die so genannte Neue Musik scheint die Funktion eines permanenten Einspruchs bereits in ihrer Grundkonzeption angelegt zu haben, welche in gewissem Sinn mit der buddhistischen Achtsamkeit vergleichbar ist, die den Menschen vor der Anhaftung bewahren soll. Andererseits ist der Einspruch gegen das Etablierte, - das Establishment eine der Jugend und den großen Jugendbewegungen innewohnende Funktion. Karlheinz Stockhausens Bezug zu Spiritualität und Mystik ist beispielhaft für beides: die künstlerische Position des Unangepasstseins und des stetigen Suchens, sowie der des Verfeinerns und Strebens nach Höherem. 2.3. Verwandte wissenschaftliche Bereiche 2.3.1 Medizin und Gehirnforschung Bis vor wenigen Jahren wurde die Musik von den Kognitions- und Neurowissenschaften noch vernachlässigt442. Mit der Sprache hingegen beschäftigte sich die Hirnforschung schon seit der Endeckung des Sprachzentrums durch Paul Broca im Jahr 1861. Der Grund für die im Vergleich dazu relativ spät einsetzende Forschung bezüglich des musikalischen Bereichs ist, dass Hirnuntersuchungen zu Musikthemen wesentlich schwieriger zu bewerkstelligen sind. Beim Wahrnehmen bzw. Verarbeiten von Musik werden nicht nur isolierte Teile des Gehirns, sondern das gesamte Gehirn (etwa die Zentren für 442 Trotzdem gibt es Beispiele früher Forschungen auf diesem Gebiet: Vladimir Bechterev leitete das Staatliche Institut für Reflexologie und Gehirnforschung an der Technischen Universität in Petersburg, wo er Experimenten mit musikalischen Strukturen besonderen Stellenwert einräumte. Dabei ging es sowohl um die heilende Kraft harmonischer Musik als auch um den Einfluss von Dur- und Moll-Tonkombinationen auf Erregung und Hemmung der Gehirnrinde des Menschen. 1926 schrieb er in einem Aufsatz über den Einfluss von Beethovens Mondscheinsonate und Gounods Oper Faust auf die geistige Tätigkeit. Diese neurophysiologischen Experimente waren damals eine wichtige Waffe im Kampf gegen radikale künstlerische Experimente. Vgl. Siegfried Zielinsky (2002) S. 288 ff 137 Höreindrücke, Sprache, Gefühl, Rationalität, Bewegung usw.) aktiviert. Ein Musikzentrum als solches gibt es nicht443. 2.3.1.1 Musik und Sprache Die Kognitions- und Neurowissenschaftler Stefan Koelsch und Tom Fritz erkennen in der Musik einen Bereich, dessen Erforschung wesentliche Erkenntnisse zu menschlicher Kognition und den zugrunde liegenden Hirnmechanismen liefern kann. Musik ist einer der ältesten und grundlegendsten sozial-kognitiven Bereiche des Menschen. Es ist plausibel, dass die menschlichen musikalischen Fähigkeiten eine phylogenetische Schlüsselrolle für die Evolution von Sprache hatten und dass gemeinschaftliches Musikzieren wichtige evolutionäre Funktionen wie Gruppenkoordination und sozialen Zusammenhalt hatte bzw. hat444. Bei diesem gemeinschaftlichen Musizieren seien alle uns bekannten kognitiven Prozesse wie Wahrnehmen, Handeln, soziale Kognition, Emotion, Lernen, Gedächtnis usw. beteiligt. Aus diesem Grund sei die Musik der ideale Bereich zur Erforschung des Gehirns. In ihrer hier zitierten Studie beschäftigen sich Koelsch und Fritz vor allem mit den Zusammenhängen zwischen Musik und Sprache sowie zwischen Musik und Emotion. Ein Ergebnis ihrer Arbeit ist, dass die Fähigkeit, ein sehr genaues implizites Wissen über musikalische Regularitäten zu erweben, und die Fähigkeit, musikalische Information schnell und genau entsprechend diesem Wissen zu verarbeiten. eine allgemeine Fähigkeit des menschlichen Gehirns ist. Diese auch für Nichtmusiker geltende allgemeine Musikalität verdeutlicht die biologische Relevanz von Musik445. Eine weitere Erkenntnis ist, dass Musik schnell und genau im Gehirn verarbeitet wird, auch wenn wir uns nicht auf das Musikhören konzentrieren bzw. auch dann, wenn wir musiksyntaktische Information gar nicht wahrnehmen wollen. So wie Sprache vermittelt auch Musik semantische Informationen. Für Koelsch/Fritz ist die Musik in erster Linie ein Mittel zur Kommunikation, - sie unterscheiden folgende Aspekte musikalischer Semantik: 443 Christoph Drössler, Dossier. In : Falter 42/08 S. 5, Beilage 42 a/Wien Modern 08 Gerold Baier schreibt über die Popularität des Themas Musik und Gehirn erst in neuerer Zeit und erwähnt Buchtitel wie The Musical Mind und Das wohltemperierte Gehirn. Diese Bücher suggerieren, dass neurophysiologische und musikalische Prozesse einander entsprechen. Vgl. Gerold Baier, Rhythmus, Tanz im Körper und Gehirn. Hamburg 2001, S. 186 444 Stefan Koelsch/Tom Fritz, Musik verstehen – Eine neurowissenschaftliche Perspektive. In Alexander Becker/Alexander Vogel (Hsg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Frankfurt am Main 2007, S. 237 445 Stefan Koelsch/Tom Fritz (2007) S. 241 138 (1) Musikalische Bedeutung, die durch Informationen übermittelt wird, die an Objekte erinnern, oder durch Informationen, die Eigenschaften bezeichnen. (2) Musikalische Bedeutung, die durch Entstehen bzw. das Erkennen einer Stimmung vermittelt wird. (3) Bedeutung durch extramusikalische Assoziationen. (4) Bedeutung, die durch das Arrangement formaler Strukturen entsteht. Die Forschungen ergaben, dass Musik nicht nur emotionale Informationen, sondern sowohl abstrakte als auch konkrete semantische Informationen vermitteln und systematische Repräsentationen semantischer Konzepte aktivieren könne. Musik und Sprache werden vom menschlichen Gehirn zum Teil mit denselben kognitiven Prozessen und denselben Gehirnstrukturen verarbeitet. Auch sind diese Ergebnisse mit denen anderer Studien kompatibel, welche nahe legen, dass die musikalischen Fähigkeiten des Menschen Voraussetzung für Spracherwerb und Sprachverarbeitung sind446. Eine genaue Wahrnehmung der Tonhöhenrelationen sei auch für Verständnis und Sprechen von Sprachen wichtig, in denen die Semantik eines Wortes auch durch die Sprechmelodie vermittelt wird. Ein wichtiges Ergebnis der Studie von Koelsch und Fritz ist, dass das menschliche Gehirn Musik und Sprache zum großen Teil mit denselben kognitiven Prozessen (mit zum großen Teil denselben zerebralen Strukturen) verarbeite. Musik und Sprache seien im Gehirn eng miteinander verknüpft. – dieses mache oft keinen wesentlichen Unterschied zwischen beiden. W. A. Siebel vermutet in diesem Zusammenhang, dass das menschliche Gehirn (zumindest im Kindesalter) Musik und Sprache nicht als getrennt voneinander verstehe, sondern Sprache als einen Sonderfall von Musik447. In Bezug auf Emotion fanden Koelsch und Fritz heraus, dass emotionale Aktivität zur Handlung motiviere und dass diese Motivation Bedeutung für das Musik hörende Individuum habe. Musikrezeption – so wurde mittlerweile gezeigt – kann mit Handlungsplanung interferieren. Handlungsinduktion durch Musikrezeption (Mitklatschen, Mittanzen, Mitsingen) habe wahrscheinlich auch soziale Funktionen. Emotionale Aktivität beim Hören von Musik habe immer aber auch Effekte auf das vegetative Nervensystem und somit einen Vitalisierungseffekt und Einfluss auf das Immunsystem. Überhaupt sei unser Organismus so gestaltet, dass auf Gemeinschaft hin orientierte soziale Aktivität sich 446 447 Stefan Koelsch/Tom Fritz (2007) S. 250 zitiert nach Stefan Koelsch/Tom Fritz (2007) S. 251 139 regenerativ auf das Immunsystem auswirke. Dazu gehört gemeinschaftliches Musikmachen als interaktive, fein fühlende kooperative Aktivität448. 2.3.1.2 Musik, Gehirn, Plastizität Das Festival Wien Modern 2008 (26. Oktober bis 16. November 2008 in Wien) widmete sich in einem breit angelegten Programmbereich dem Thema Musik&Gehirn. Allein diese Themenstellung im Rahmen dieses größten Österreichischen Festivals für Musik der Gegenwart zeigt die Aktualität der Gehirnforschung und das Interesse der Musikwelt an dieser. Mit dem Schwerpunkt Musik&Gehirn begab sich das Festival bewusst in ein Neuland zwischen aktueller Neurowissenschaft und zeitgenössischer Musik449. In Verbindung mit Vorträgen namhafter Wissenschaftler450 wurden Konzerte programmiert, in denen dieses Neuland zu definieren versucht wurde. In ihrem Buch Was tun mit unserem Gehirn?451, dessen Einleitungskapitel im Programmbuch zu Wien Modern 2008 abgedruckt ist, schlägt Cathérine Malabou die Konstitution eines neuen Genres vor, nämlich das Bewusstsein des Gehirns. Sie stellt fest, dass die Menschen sich die revolutionären Entdeckungen, die seit 50 Jahren auf dem Gebiet der Neurowissenschaften gemacht wurden, noch nicht angeeignet haben. In diesem Sinn bleiben wir uns selbst fremd und verharren an der Schwelle dieser „neuen Welt, von der wir keine Vorstellung haben, obwohl sie unser Inneres selbst bildet. Ein zentraler Begriff in der aktuellen Neurowissenschaft ist der der Plastizität. Diese beschreibt das Gehirn in seiner Dynamik, Organisation und Struktur, - in seiner Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit sowie seinem Entwicklungsvermögen. Malabou spricht in diesem Zusammenhang von zwei polaren Faktoren der Plastizität des Gehirns: der des Formschöpfers und –empfängers sowie der des Ungehorsams gegenüber jeder geschaffenen Form – der Ablehnung, einem Modell unterworfen zu werden. Dazu gehören einerseits die Möglichkeit der Gestaltung durch die Erinnerung und die Fähigkeit, eine Geschichte zu formen, andererseits die – wie mit Sicherheit festgestellt wurde – lebenslange Fähigkeit zu lernen. Unser Gehirn wird 448 Stefan Koelsch/Tom Fritz (2007) S. 258 f Berno Odo Polzer, Vorwort. In: Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008, Saarbrücken 2008, S. 5. Berno Odo Polzer ist künstlerische Leiter des Festivals Wien Modern 450 Lutz Jäncke (Universität Zürich), Gerold Baier (Universität Manchester), Thomas Herrmann (Universität Bielefeld), Stefan Koelsch (Universität Sussex), Eckart Altenmüller (Hochschule für Musik und Theater Hannover/Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin), Vittorio Gallese (Universität Parma). In einem zweitägigen Symposium zum Thema Neue Musik im Spannungsfeld von Introspektion, Meditation und Motorik am 3. und 4. November 2008 referierten zusätzlich u. a. Hans-Ullrich Baltzer (Wien/Berlin), Alfred Lohninger (Wien) und Klaus Felix Laczika (Wien). 451 Cathérine Malabou, Was tun mit unserem Gehirn? Zürich-Bern 2006, S. 7 ff 449 140 ständig von unseren individuellen Erfahrungen modelliert452, - im Gegensatz zu dem, was man bislang glaubte, sei das Gehirn nicht „fertig“, - Erziehung, Erfahrung und Schulung machen aus jedem Gehirn ein Werk, das, sobald wir Bewusstsein darüber entwickeln können, uns einen Freiraum, ein genetisch freies Feld eröffnet. Malabou definiert diesen Freiraum als schwindelerregende Wechselwirkung der Formannahme, der Formgebung und der Aufhebung der Form, die das von ihr gemeinte neue Bewusstsein charakterisiert. Das neuronale Funktionieren sei als Ereignis in der Lage, selbst Ereignisse zu schaffen, das Programm in ein Ereignis zu verwandeln und es auf diese Weise zu entprogrammieren. Das allgemein fehlende Bewusstsein der Plastizität erklärt Malabou paradoxerweise durch die Vertrautheit, die diese eben zur Form unserer Welt macht. Bezüglich dieses Naturalisierungseffektes will sie nicht nur eine gewisse Freiheit des Gehirns aufzeigen, sondern diese Freiheit selbst befreien, - vor allem von ideologischen Vorurteilen. Ihre These ist, dass Plastizität in ihrer wahren Dimension heute verdunkelt bzw. mit dem in der heutigen Gesellschaft wichtigen Begriff der Flexibilität verwechselt wird. Während Elastizität und Anpassungsfähigkeit (auch im Sinne der Formannahme, des Gefügigseins) beiden Begriffen zugeordnet werden können, fehlt dem Begriff der Flexibilität das gestalterische Element, die Ressource der Formgebung, das Vermögen, etwas schaffen oder erfinden zu können. Es gehe nicht darum, was das Gehirn erdulden, sondern darum, was es tun könne im Sinne der Gestaltung der eigenen Geschichte im schon genannten Freiraum. Der neuronale Mensch sei eben nicht nur eine neuronale Gegebenheit, sondern auch eine politische und ideologische Konstruktion. Das Wissen um die Ergebnisse neuronaler Forschung sowie das Bewusstsein der Plastizität des Gehirns bedeute nicht zuletzt neue Verantwortung. Bereits 1984 erschien die Untersuchung Der Baum der Erkenntnis der beiden Biologen und Erkenntnistheorethiker Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela453. Diese Arbeit stieß damals auch in der Musik- bzw. Kunstwelt auf großes Interesse, weil in ihr die konventionelle Sicht der Realität bzw. der Welt ähnlich wie heute durch die Ergebnisse der Hirnforschung (und in der Studie von Cathérine Malabou explitit gefordert) deutlich korrigiert wurde. Ihre Kernaussage ist, dass die Welt, in der wir leben, eine Welt ist, die 452 Die Theorie der synaptischen Effizienz ermöglicht es, die zunehmende Modellierung eines Gehirns unter dem Einfluss der Erfahrung des Individuums zu erklären. (ebda) 453 Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Bern, München 1987, S. 260 ff 141 wir im Prozess des Erkennens gemeinsam erschaffen. Unsere Erfahrung ist mit der uns umgebenden Welt gekoppelt, deren Regelmäßigkeiten das Ergebnis unserer biologischen und sozialen Geschichte sind. Wenn irgendeine Interaktion uns aus dem Lot bringt – wenn wir zum Beispiel plötzlich in eine andere kulturelle Umgebung versetzt werden – und wir darüber reflektieren, dann bringen wir neue Konstellationen von Relationen hervor und erklären damit, dass wir „ihrer vorher nicht bewußt gewesen“ seien oder sie für „selbstverständlich“ gehalten hätten. ... Tradition ist nicht nur eine Weise zu sehen und zu handeln, sondern auch eine Weise zu verbergen. In ihrer Zusammenfassung betonen die Autoren, dass die Erkenntnis der Erkenntnis verpflichte. Sie verpflichte uns zu einer Haltung ständiger Wachsamkeit gegenüber der Versuchung der Gewissheit. Sie verpflichte uns, einzusehen, dass unsere Gewissheiten keine Beweise der Wahrheit seien, dass die Welt, die jeder sieht, nicht die Welt sei, sondern eine Welt, die wir mit anderen hervorbringen. In den Yoga-Upanisads aus dem 8. Jahrhundert nach Christus, von denen man aber annimmt, dass ihr Inhalt bereits zehn Jahrhunderte früher formuliert wurde, befindet sich das wahrscheinlich älteste Dokument eines Yoga des Klanges. Das ist eine Form des Yoga, in der die Konzentration auf den Klang im Mittelpunkt steht. Dabei handelt es sich um Klänge, die der Übende im Inneren seines Körpers wahr nimmt bzw. um auditive Phänomene, die gewisse Yoga Übungen begleiten. Im Nadabindu-Upanisad wird dieser Prozess als ein Hören von elf verschiedenen, jeweils graduell immer feiner werdenden inneren Klängen beschrieben454. In der Arbeit des Neurowissenschaftlers Gerold Baier gibt es dazu eine Parallele. 2.3.1.3 Hören, Rhythmus Er schlägt vor, ergänzend zu den Bild gebenden Methoden der Veranschaulichung, die in der Naturwissenschaft zurzeit dominieren, die Dimension des Hörens in den Naturwissenschaften wiederzubeleben, speziell in den Wissenschaften von den Erkrankungen des menschlichen Körpers. Untersuchungsmethoden, die das Hören miteinbeziehen, hat es durchaus gegeben, etwa das von Leopold Auenbrugger (1722-1809) entwickelte Beklopfen der menschlichen Brust bzw. das Hören des so erzeugten Klanges, 454 Guy L. Beck (1995) S. 92 f (beschrieben als Klänge wie: Meer, Wolke, Trommel, Wasserfall, kleine Trommel, große Glocke, Militärtrommel, kleine Glocke, Bambusflöte, Harfe, Biene) 142 oder die von René Théophile Hyacinthe Laënnec (1781-1826) entwickelten Methoden des Abhörens körpereigener Geräusche mittels seines Ohrs bzw. eines Papier- oder Holzzylinders. Seit der Entwicklung des Stethoskops war das wissenschaftliche Hören integraler Bestandteil der Medizin. Eine Schwierigkeit war (und ist es noch heute) die nachvollziehbare Beschreibung des Gehörten. Es gab keine gemeinsame akzeptierte Sprache dafür. Seit pathologische Anatomie und Radiologie visuelle Dokumente lieferten, wurde das Hören nach und nach durch das Sehen abgelöst455. In seiner Studie Rhythmus456 untersucht Gerold Baier die rhythmisch-musikalische Qualität vieler Vorgänge im menschlichen Körper457. Hinter dem Entstehen von einfachen und komplexen Rhythmen im Körper bzw. in der Natur vermutet er universelle Gesetzmäßigkeit. Er stellt rhythmische Phänomene nicht nur im Herzschlag fest, sondern auch in den Funktionsabläufen der Hormone und der Nervenzellen sowie in der Arbeit des Gehirns. Von einer klanganimierten Physiologie, einem hörbaren Stoffwechsel bzw. einer musikalischen Erfahrung von bisher klanglosen oder ungehörten Vorgängen im menschlichen Körper erwartet Baier medizinischen Nutzen458, doch ist sein Ansatz des hörenden und nach musikalischen Kriterien ausgerichteten Untersuchens eine grundsätzliche Interpretation des menschlichen Körpers459. Das elementare Ereignis der Verarbeitung von Information im Gehirn ist das Feuern einer Nervenzelle. Die Verarbeitung ist die Wiederholung dieses Feuerns. Diese Ereignisse gleichen einander insofern, als alle Spikes460 einer Nervenzelle dieselbe Form und nicht mehr als ein Bit Information haben können. Deshalb nimmt Baier an, dass die zeitliche Struktur der Spikes der Schlüssel zur Arbeit des Gehirns sein müsse. So antwortet die Zelle 455 Gerold Baier, Der Naturforscher als Hörer. In: Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008, Saarbrücken 2008, S. 19 ff 456 Gerold Baier, Rhythmus. Tanz in Körper und Gerhirn. Hamburg 2001. bereits Ludwig Klages weist auf die Wirksamkeit eines Pulses bis hinauf in die Höhenschichten des menschlichen Geistes als Grund der gestalteten Offenbarung des Lebens hin. Ludwig Klages (1968) S. 219. An anderer Stelle schreibt er: Das gesamte erscheinende Weltall ist ein rhythmischer Sachverhalt. Die Naturwissenschaft hat richtig herausgefunden, wenn auch schwerlich schon recht verstanden, die rhythmische Natur von Schall, Wärme, Elektrizität und Licht. Ebda S. 158 457 Bereits Mitte des 19.Jahrhunderts waren die Mikro-Schwingungen des menschlichen Körpers bevorzugtes Untersuchungsfeld der Physiologen und Physiker. Vgl. Siegfried Zielinsky (2002) S. 237 458 Entsprechend dem Aphorismus von Friedrich von Hardenberg (Novalis), wonach jede Krankheit ein musicalisches Problem sei, sieht Baier in der Berücksichtigung bzw. Korrektur der physiologischen Rhythmen Möglichkeiten der Diagnose und der Therapie. In: Gerold Baier (2001) S. 252 f 459 Karlheinz Stockhausen erkennt ebenfalls in den Rhythmen des menschlichen Körpers (Muskeln, Herz, Atmung) die Basis zumindest der Musik der Vergangenheit. Er selbst verlasse aber bewusst die Rhythmen seines Körpers. Die Pulse in Teilen seiner Werke bewegen sich im Bereich der Alpha-Wellen, - für ihn eine Art Grauzone zwischen zwei Wahrnehmungsbereichen, zwischen Rhythmus und Tonhöhe. (Aus einem Gespräch David Pauls mit Karlheinz Stockhausen 1997. In: Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008. Saarbrücken 2008, S. 72) 460 markante Spitzen 143 auf unregelmäßigen Input mit einem zuverlässigen und reproduzierbaren Rhythmus. Offenbar verschlüsseln Nerven im Gehirn nur einen simplen Input (den konstanten Strom) in eine mittlere Feuerrate. Wenn fast keine Information zu übertragen ist, brauchen auch keine komplexen Rhythmen bemüht zu werden. Einen komplizierteren (und potenziell informationsreichen) Input dagegen verarbeiten sie zu einer im Detail exakt wiederholbaren Folge von Spikes461. In diesem Zusammenhang liefert Baier auch Interpretationsmodelle für unregelmäßige und komplexe rhythmische Vorgänge, wobei er die Gesetzmäßigkeit vor allem dort, wo man Zufall vermuten würde, unterstreicht. Nicht nur die körperinternen Prozesse haben nach Baiers Ansicht rhythmisch-musikalische Dimension, auch an den Schnittstellen zur Außenwelt gibt es diese Bezüge. Das Ohr ist das Sinnesorgan, das am stärksten auf die Wahrnehmung zeitlicher Vorgänge spezialisiert ist. Dabei ist die eigentliche Schnittstelle, an der die Schwingungen der Luft in für das Gehirn interpretierbare Informationen umgewandelt werden, das Innenohr. Das Trommelfell folgt den Luftdruckschwankungen zunächst passiv, seine Schwingungen werden in wandernde Wellen verwandelt462, welche elektrische Signale auslösen, durch die schließlich die Nervenzellen zum Feuern gereizt werden. Nicht geklärt ist, warum viele Nervenzellen der beiden Gehörnervenbündel auch ohne akustische Reizung des Ohrs feuern. Die weitere Tatsache, dass nicht nur Nerven vom Innenohr wegführen, sondern auch Nerven vom Gehirn ins Innenohr führen, legt die Vermutung nahe, dass das Innenohr nicht nur den Schall originalgetreu in Signale für das Gehirn überträgt, sondern aktiv am Hörvorgang teilnimmt. Damit sei die technische Voraussetzung für eine Vorbereitung auf Frequenzen bzw. eine Vorauswahl gegeben, - eine Möglichkeit für das Gehirn, nicht nur zu hören, sondern gleichzeitig mitzubestimmen, was es hören will - und was nicht463. Für die Spracherkennung, die das Gehirn leistet, sind die rhythmischen Elemente unserer Sprachen wesentlich. Es wird vermutet, dass der natürliche Verlauf der Sprache einer rhythmischen Logik folgt. Baier sieht in der Sprache den vorläufigen Höhepunkt kommunikativer rhythmischer Komplexität. Sprache als Kombination von Schallerzeugung und der Aktivität des Gehirns zu einem einzigartigen Kreislauf von Rhythmen im Dienste der Verständigung wäre ohne das Gehör nicht möglich464. 461 Gerold Baier (2001) S. 188 ff Diese Verwandlung von Frequenzen in lokalisierbare Bewegungen der so genannten Basilarmembran wurde in den Vierziger Jahren durch Georg von Békésy entdeckt. Vgl. Gerold Baier (2001) S. 150 463 Gerold Baier (2001) S. 153 f 464 Gerold Baier (2001) S. 163 462 144 Grundsätzlich betont Baier die Verbindung des Rhythmus mit Bewegung schlechthin und vermutet, dass Rhythmen in der Evolution zuerst mit dem Gleichgewichtsorgan wahrgenommen wurden. Der Gehörsinn, der sich aus dem schallempfindlichen Gleichgewichtsorgan entwickelt haben soll, hat ebenso mit Bewegung zu tun, wie auch alle anderen rhythmisch interpretierbaren Vorgänge im menschlichen Körper. 2.3.1.4 Neuroplastizität Der Neurowissenschaftler Eckart Altenmüller, der auch ausgebildeter Musiker ist, beschäftigt sich mit der schon erwähnten Plastizität im Zusammenhang mit dem Musizieren, im Speziellen im bezüglich seiner Erfahrungen als Musiker mit der Musik des britischen Komponisten Brian Ferneyhoughs. Er beschreibt das Musikzieren als eine der anspruchsvollsten Leistungen des menschlichen Zentralnervensystems. Die neuronalen Grundlagen dieses komplexen Vorganges465 sind zwar erst ansatzweise erforscht, klar sei aber bereits, dass während dem Musizieren fast alle Gehirnareale beansprucht und miteinander vernetzt werden. Voraussetzung für derart vielschichtige Informationsverarbeitungsprozesse ist das Üben, durch das die sensomotorischen, auditiven und visuell integrativen Fertigkeiten erworben werden. Zusätzlich werden Gedächtnissysteme angelegt und strukturell analytisches wie expressiv emotionales Musizieren geübt. Das intensive Erarbeiten neuer Spieltechniken stelle einen starken Anreiz für plastische Veränderungen des Zentralnervensystems dar. Der Begriff Neuroplastizität bezeichnet die funktionelle und strukturelle Anpassung des Nervensystems an Spezialanforderungen. Plastische Anpassungen466 treten dann auf, wenn relevante und komplexe Reize über einen längeren Zeitraum womöglich unter Zeitdruck verarbeitet werden müssen und wenn der verarbeitende Organismus hoch motiviert ist (was mit der Ausschüttung von Glückshormonen einhergehen kann). Diese Anpassungen 465 dazu gehören die koordinierte Aktivierung zahlreicher Muskelgruppen mit höchster zeitlicher und räumlicher Präzision sowie mit hoher Geschwindigkeit, die ständige Kontrolle durch das Gehör, durch den Gesichtssinn und durch die Körpereigenwahrnehmung. Die an die Muskulatur vermittelte Kraftdosierung muss bis in die kleinste Nuance berechnet werden, - dabei handelt es sich um sehr große Mengen an Information von Millionen Sinneszellen der Haut, der Gelenke, Sehnen und Muskelspindeln, der Augen und des Gehörs, die ausgewertet und in die Planung der neuen Bewegungen miteinbezogen werden. Dazu kommt, dass das Ziel nicht nur eine mathematisch präzise Wiedergabe ist, sondern ein durch Affekt modulierter „sprechender“ Vortrag. Aus: Eckart Altenmüller, Brian’s Brain: Zur Neurophysiologie der hyperkomplexen Musik von Brian Ferneyhough. In: Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008, Saarbrücken 2008, S. 45 466 Dabei handelt es sich um rasche Veränderungen der Signalübertragung an den Nervenendköpfchen (Synapsen), im Wachstum von Synapsen und Nervenzellfortsätzen (Dendriten), eine verstärkte Bemarkung der Nervenzellfortsätze mit Beschleunigung der neuronalen Signalübertragung, die Vergrößerung der großen Faserverbindung zwischen den beiden Gehirnhälften, die Ausweitung sensomotorischer Regionen usw. Vgl. Eckart Altenmüller (2008) S. 46 145 sind in jedem Lebensalter möglich und begleiten kurz- und langfristige Lernvorgänge. Das Musizieren formt also das Gehirn, und das bei Musikern oft schon seit frühem Kindesalter. Diese plastischen Anpassungsprozesse im Zentralnervensystem betreffen aber nicht nur Spitzenmusiker. Auch nach kurzer Übezeit eines Anfängers lassen sich zusätzliche mentale Repräsentationen nachweisen. Altenmüller zeigt, dass auch die Wahrnehmung von Musik - das Hören – durch Anpassung und Übung veränderbar ist, - die Plastizität der Musikwahrnehmung sei schon nach wenigen Stunden nachweisbar. Der Hörvorgang ist in seiner Komplexität in Bezug auf neuronale Prozesse heute sehr genau beschreibbar467. Altenmüller betont, dass der Hörvorgang kein passives Empfangen von Sinneseindrücken ist, sondern dass die Hirnrinde und untergeordnete Zentren aktiv Einfluss auf eingehende Informationen nehmen. Das Gehirn erst ordnet die (chaotische) Fülle an akustischer Information, versucht Gestalten zu erkennen und Strukturen zu bilden (Top-down-Prozessing). Ungewohnte, neue Klänge, kann das Gehirn zunächst nicht einordnen, - es braucht Zeit, bis es genügend Anhaltspunkte für eine entsprechende Kategorisierung gesammelt hat. Jedes Hören ist also auch Gehörbildung468. Wohl in Zusammenhang mit den von Altenmüller beschriebenen komplizierten Analysevorgängen hat der Hörsinn im Vergleich zu allen anderen Sinnen die größte Plastizität. Ein weiterer Punkt, den Altenmüller erwähnt, weist auf Sonderstellung des Hörens in Bezug auf unsere aktive Wahrnehmung der Welt hin: Das Ohr ist das Sinnesorgan mit den wenigsten Sinneszellen. Den insgesamt etwa 7000 inneren Haarzellen stehen 100 Milliarden zentraler Neurone im zentralen Nervensystem zur Verfügung, das sind pro Sinneszelle etwa 14 Millionen Nervenzellen. Das menschliche Gehirn muss einen ungeheuren Aufwand treiben, um aus der extrem spärlichen Information, die vom Innenohr kommt, all die ungeheuren Details der auditorischen Wahrnehmung zu erzeugen, die etwa beim Sprachverstehen oder bei der Musikwahrnehmung vorliegen. Je ‚dürftiger’ aber ein von der Peripherie kommendes Signal ist, desto mehr Aufwand müssen die Gehirnzellen treiben, um diesen Signalen eine eindeutige Bedeutung zuzuweisen. Diese 467 Vgl. Eckart Altenmüller (2008) S. 47 (Altenmüller beschreibt hier sehr genau die Hörbahn durch die verschiedenen Umschaltstationen, - u. a. auch den Gating-Effekt bekannten Mechanismus, der die Auswahl bzw. Unterdrückung von Informationen ermöglicht, sowie auch von der so genannten hierarchischen Verarbeitungsweise, die Form der aufeinander aufbauenden zunehmend komplexeren Analyse akustischer Muster.) 468 Eckart Altenmüller (2008) S. 48 146 Bedeutungszuweisung ist dann hochgradig erfahrungsabhängig469. Das Hören ist also ein aktiver, strukturierender, Bedeutung erzeugender Prozess, an dem Ohr und Gehirn in Wechselwirkung die Hörempfindung hervorbringen. Unsere Hörwelt ist eine auf der Basis unserer Erfahrung konstruierte. In Bezug auf das Hören neuer, komplexer Musik zitiert Altenmüller einen Satz Brian Ferneyhoughs aus dessen Collected Writings: It is up to each listener to unravel the numerous „clues“ offered and, via a process of archaeological speculation to reconstruct the work in his or her image470. Es ist die quasi verschwenderische Fülle eines Angebotes and den Hörer, die diesen zu einer archäologischen Suchbewegung verführt und mit der aktiven Auseinandersetzung spekuliert. Das beobachtende Wahrnehmen wird im Gehirn der Zuhörer dieselben neuronalen Netzwerke anwerfen, die beim Interpreten in wilder Aktion sind. Durch diese Aktivierung des Spiegelneuron471-Netzwerks werden die Zuhörenden zu empathischen Mitschöpfern472. Spiegelneuronen sind an entscheidenden Aspekten der Intersubjektivität wie etwa am Verständnis der Basisintentionen eines Gegenübers beteiligt. Bei der Beobachtung von Verhaltensweisen anderer kann der intentionale Gehalt direkt verstanden werden. Diese Art innerlicher motorischer Simulation erlaubt es quasi, in die Welt des anderen vorzudringen, - ist eine direkte Verbindung zwischen Handelndem und Beobachter, Verstehen bedeutet Simulieren. Je empathischer wir sind, desto größer ist die unbewusste Resonanz unserer Muskeln mit denen einer Person, die mit ihrer eigenen Mimik eine gegebene Emotion ausdrückt (verkörperte Simulation). Die Emotion des anderen wird vom Beobachter erfahren und verstanden durch einen verkörperten Simulationsmechanismus, der im Beobachter einen viszero-motorischen und somato-muskulären Zustand erzeugt, 469 Gerhard Roth, Das Gehrin und seine Wirklichkeit. Frankfurt am Main 1995, S. 111 f, zitiert nach Eckart Altenmüller (2008) S. 48 470 Brian Ferneyhough, Collected Writings. Taylor and Francis 1997, zitiert nach Eckart Altenmüller (2008) S. 48. Auch die übrigen von Altenmüller in diesem Zusammenhang angeführten Zitate Brian Ferneyhoughs sind erwähnenswert: Performers are no longer expected to function solely as optimally efficient reproducers of imaged sounds; they were also themselves ‚resonators’ in and though which the initial impetus provides by the score is amplified and modulated in the most varied ways imaginable. (Collected Writings. Taylor and Francis 1997, S. 100) ...the layerwise accretional means of composition I employ allow for an „archaeological“ approach to listening, and encourage the speculative ear to create its own categories of perception. (Collected Writings. Taylor and Francis 1997, S. 133) 471 Spiegelneuronen sind Nervenzellen, die im Gehirn während der Betrachtung eines Vorgangs die gleichen Potenziale auslösen, wie sie entstünden, wenn dieser Vorgang nicht nur passiv betrachtet, sondern aktiv gestaltet würde. (Vgl. Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008, Saarbrücken 2008, S. 63 472 Eckart Altenmüller (2008) S. 48 147 den er mit dem Darsteller dieses Ausdrucks gemeinsam hat. Es ist eben diese Anteilnahme an derselben körperlichen Verfassung von Beobachter und Beobachtetem, der diese Form des Verständnisses gestattet, die wir als „Empathie“ definieren könnten. ... Unsere Fähigkeit, die handelnden Körper als „Selbst wie wir (Selbst)“ wahrzunehmen, hängt von der Bildung eines bedeutsamen und miteinander geteilten „wir“-bezogenen Raumes ab. ...ein spezifischer Mechanismus, mit dem unser Körper-Geist-System seine Interaktion mit der Welt modelliert473. 2.3.1.5 Chronomedizin Klaus-Felix Laczika bezieht sich auf den Satz von Novalis, nachdem jede Krankheit ein musikalisches Problem, jede Heilung ihre musikalische Auflösung sei474, wenn er von den chronobiologischen Rhythmen im menschlichen Körper schreibt: Gesundheit bedeutet ein harmonisches Verhältnis sämtlicher biologischer Rhythmen vom Millisekundenbereich der Hirnstromschwingungen über Herzfrequenz und Atmung bis zu reproduktiven Monatsrhythmen. Diese chronobiologischen Rhythmen schwingen im Idealfall in ganzzahligen Verhältnissen zueinander, vergleichbar dem musikalischen Obertonspektrum oder auch Planeten-Umlaufbahnen. Entlang dieser medizinischen Erkenntnisse stellt er fest, dass jedes Krankheitsbild mit einer Desynchronisation dieser Verhältnisse im Sinne einer Dissonanz der vegetativen Harmonien einhergeht475. 2007 wurde an der Universität Wien – basierend auf diesen Überlegungen – die Initiative Musikmedizin/Musiktherapie“ gegründet. Die in Zusammenarbeit mit den Wiener Philharmonikern und der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien eingerichtete interdisziplinäre Plattform bemüht sich unter anderem um Einsichten in die Wirkung von Musik mittels interdisziplinärer universitärer Grundlagenforschung. Im Rahmen dieser Forschung wurden auch Mitglieder der Wiener Philharmoniker während Konzerten vermessen. Diese Messungen ergaben eindeutige Effekte von Musik auf menschliche Befindlichkeit und Biorhythmen. Das Ziel ist, Musik als effektive Therapie in die Medizin 473 Vittoria Gallese, Mimesis und Neurowissenschaften: Der Körper des Theaters. In: Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008, Saarbrücken 2008, S. 51 ff 474 Novalis/Friedrich von Hardenberg, Fragmente I. 1957, S. 149. Vgl. auch die Auffassung Franz Anton Mesmers, dass jede Krankheit auf einer Störung im Fluss dieses Lebensfeuers durch den Organismus beruht, die durch Magnetisieren behoben werden kann. Vgl. Karl Baier (2009) S. 187 475 Klaus-Felix Laczika/Alfred Lohninger, Musikmedizinische Forschung an der Medizinischen Universität Wien. Aus: http://www.meduniwien.ac.at/innere-med-1/_images/philharmonikerprojekt.pdf (16. 03. 2009), Vortrag beim 2. Internationalen Kongress der interdisziplinären Musikforschung Mozart&Science. Wien, November 2008, S. 2 148 zu integrieren. Diese ersten Schritte wurden vom Chronomediziner Alfred Lohninger begleitet, der die ersten Ergebnisse im Rahmen des Festivals Wien Modern 2008476 präsentierte. Lohninger arbeitete mit der so genannten Herzratenvariabilität (HRV). Diese meint die fein abgestimmten Variationen der Herzschlagfolge, womit das gesunde Herz auf alle äußeren wie inneren Signale unmittelbar und ununterbrochen reagiert. Mit der HRV wird also die Fähigkeit des Herzens, den zeitlichen Abstand von einem Herzschlag zum nächsten stetig zu verändern, beschrieben und ist damit ein Maß für die allgemeine Anpassungsfähigkeit eines Organismus. Das Autonome Nervensystem steuert das Beschleunigen und Entschleunigen durch Aktivieren des Sympathikus und des Parasymphatikus. Während eines Konzerts wurde die Herzratenvariabilität der Musiker sowie einiger Zuhörer mittels eines mobilen EKG-Gerätes gemessen. Die Auswertung der Diagramme ergab eindeutige Synchronisationen, Ordnung und Kohärenz während des Konzerts. Die Faszination liegt in der Tatsache, dass Puls und Atem aller Beteiligten exakt demjenigen des musikalischen Energieablaufs unterliegen, welcher von Mozart in KV 449 im Jahre 1784 erschaffen wurde477. Das in den letzten Jahren steigende Angebot an alternativen Heilmethoden mit musikalischen Mitteln dürfte ein Ausdruck dieser genannten Auffassung und Entwicklung sein. 2.3.1.6 Musik-Kinesiologie und Klangtherapie Erwähnen will ich hier die so genannte Musik-Kinesiologie sowie die Klangtherapie oder Klangmassage. Die Musik-Kinesiologie wurde von Rosina Sonnenschmidt und Harald Knauss Anfang der 90er Jahre begründet. Ihr zugrunde liegt die Kinesiologie (Lehre von der Bewegung), eine inzwischen etablierte alternativmedizinische bioenergetische Diagnose- und Therapieform, die den Menschen als Einheit von Körper, Geist und Seele sieht. Sie nutzt die Kenntnisse der Gehirn- und Stressforschung sowie die der Traditionellen Chinesischen Medizin bezüglich der feinstofflichen Energiemeridiane mit dem Ziel, die mentale, emotionale und körperliche Ebene des Menschen in Balance zu bringen478. 476 Alfred Lohninger, Befindlichkeitsdiagnostik und Resonanzphänomene in der Interaktion zwischen Musikern und Publikum. Vortrag, gehalten am 04. 11. 2008 im Rahmen des Symposiums Neue Musik im Spannungsfeld von Introspektion, Meditation und Motorik (Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien in Zusammenarbeit mit Wien Modern). 477 Klaus-Felix Laczika/Alfred Lohninger (2008) S. 7 478 Vgl. http://www.musikkinesiologie-berlin.com/kinesiologie_1.html (28. 05. 2009) 149 Die Musik-Kinesiologie, deren Begründer übrigens beide auch Berufsmusiker sind, beschäftigt sich einerseits mit Problemen von Profimusikern bzw. Künstlern (wie etwa Stresssituatonen und Lampenfieber479) und versucht, das kreative Potential sowie Inspiration und Ausstrahlung zu stärken. Andererseits nützt sie die heilsame Wirkung von Musik (Klänge von Musikinstrumenten, Stimme usw.). Sie versteht sich als Mittlerin zwischen dem Musiker und seiner Spiritualität. Nach Meinung der Musik-Kinesiologen seien die professionellen Musiker heute so stark mit den technischen Aspekten der Musik, mit Karriere und Management beschäftigt, dass ihnen dieser spirituelle und heilende Aspekt ihres Berufes nicht bewusst wird. Dies gelte auch für Musikpädagogen, die mit einer Realität konfroniert sind, in der Musik zum Hochleistungssport und zur Massenware geworden sei. Hauptanliegen sei es also, die verlorene Verbindung zwischen Musik, Emotion und Individuum wieder herzustellen. Das Konzept der Musik-Kinesiologie beinhalte vor allem die Arbeit mit der energetischen Wirkung der Musik auf den Menschen in Hinblick auf persönliche Entwicklung und Heilung. In der traditionellen Ausbildung gehe es vor allem um Leistung, welche Druck – kinesiologisch ausgedrückt Blockaden erzeuge. Blockaden wiederum behindern den freien Fluss der Lebensenergie. Im Zusammenhang der ganzheitlichen Betrachtung des Menschen gehe es gleichermaßen darum, auch eine ganzheitliche Auffassung von der Musik zurückzugewinnen, wobei die Aktivierung der rechten Gehirnhälfte und die Auflösung von zentralen negativen Glaubenssätzen eine wichtige Rolle spielen. Seit dem Jahr 2000 gibt es eine Musik-Kinesiologie-Ausbildung in Österreich480. Die so genannte Klangtherapie arbeitet mit Klangschalen, deren Ursprung das HimalayaGebiet ist, wo sie seit mehr als 5000 Jahren kultischen Zwecken dienen. Nach der Vorstellung der Klangtherapie bewegen die Vibrationen dieser aus Metall hergestellten Schalen unterschiedlicher Größe und unterschiedlichen Klangvolumens das Wasser im Körper. Auf den Körper aufgesetzt und angeschlagen, bewirken die Klangschalen das Mitschwingen der Körperzellen, welche so den Fluss der Energie gewährleisten. Zudem rege der obertonreiche Klang den feinstofflichen Energiekörper, die Aura an, - schließlich zeitige er auch einen bewusstseinserweiternden Effekt. Das Wissen von der heilenden, energetisierenden Wirkung obertonreicher Klänge sei uralt. Die Klangtherapie beruft sich 479 In der Musik-Kinesiologie bedeutet Lampenfieber nichts anderes, als dass der Künstler auf der Bühne nicht 100% Energie zur Verfügung, hat für den künstlerischen Ausdruck. Er ist blockiert und braucht Energie, um sich energetisch im Gleichgewicht zu halten 480 http://www.musikkinesiologie.at/content/view/30/52/lang,de/ (28. 05. 2009), vgl. auch Rosina Sonnenschmidt/Harald Knauss, Musik-Kinesiologie – Kreativität ohne Stress im Musikerberuf. Kirchzarten 1994 150 u. a. auf die Forschungen des französischen Arztes Alfred Tomatis481 Tomatis arbeitete auf dem Gebiet der Audiologie, Phonologie und Psychologie. Sein 1957-1960 in Paris publizierter Tomatis-Effekt bezieht sich auf die kybernetischen Mechanismen zwischen Stimme und Ohr482. 2.3.2 Kommunikologie Kommunikologie nannte der Kommunikationswissenschaftler, Philosoph und Medientheoretiker Vilém Flusser483 seine im Zentrum seines Denkens stehende Theorie der menschlichen Kommunikation. Kommt man überein, die Musik als Teil der menschlichen Kommunikation, in jedem Fall aber der menschlichen Kultur zu sehen, sind die Thesen Vilém Flussers auch für den Bereich der Musik relevant. Es sind dies Modelle, die auch das heutige Kommunikations- bzw. Konsumverhalten im Bereich der Musik abbilden können. Sein Denkgebäude entwickelt er aus der Grundthese, dass die menschliche Kommunikation bzw. die menschliche Kultur ein Kunstgriff sei, dessen Absicht es ist, dem von Natur aus einsamen Menschen die brutale Sinnlosigkeit eines zum Tode verurteilten Lebens vergessen zu lassen. Diese webe einen Schleier der kodifizierten Welt, einen Schleier aus Kunst und Wissenschaft, Philosophie und Religion um uns und webt ihn immer dichter, damit wir unsere eigene Einsamkeit und unseren Tod, und auch den Tod derer, die wir lieben, vergessen484. An anderer Stelle spricht er von einer aus Codes gewobenen Hülle, mit der sich der Mensch umgibt. Diese seine Kultur sei dem Wesen nach dialektisch, weil sie zwischen Welt und Mensch vermittle und ihn gleichzeitig abschirme485. Ein wesentlicher Aspekt der Kommunikation sei nicht nur die absichtliche Herstellung von Codes, sondern auch die Übertragung von erworbener Information von 481 http://www.ein-klang-sein.at/le_klang.htm (28. 05. 2009) und http://www.klangschale.at/klangmassage.php (28. 05. 2009) 482 Vgl. http://www.tomatis-institut.at/app.html (29. 05. 2009) 483 Vilém Flusser, geboren 1920 in Prag, 1939 Emigration über London nach São Paulo, 1959 Dozent für Wissenschaftsphilosophie, 1963 Professor für Kommunikationsphilosophie an der Universität São Paulo, gestorben 1991. Aus: Vilém Flusser, Kommunikologie. Frankfurt am Main 1998, S. 2 484 Vilém Flusser (1996) S. 10. der Künstler Damien Hirst beschreibt diesen Umsand verblüffend ähnlich: Ich glaube, die zeitgenössische Kunst ist ein Mythos. Es ist wie in der Mode, es hat in der Kunst immer nur eine einzige Idee gegeben, und alle großen Künste nehmen sie sich vor, und man muss über die Mode hinausschauen, um das zu erkennen...- Die Frage nach der Existenz des Todes? – Ganz genau, Gauguins alte Frage. Aus: Damien Hirst in Conversation with Hilario Galguera, in: Damien Hirst/Hilario Galguera, Damien Hirst. The Death of God. Towards a better Understanding of Life Without God Aboard the Ship of Fools. Ausstellungskatalog, London 2006, S. 11 485 Vilém Flusser (1996) S. 74. Dieses Bild der Hülle lässt an die Porentheorie des Empedokles denken. Vgl Kapitel 4.1 151 Generation zu Generation sowie das Speichern dieser. Kommunikation scheint Flusser als der Versuch, die Natur – auch die des Menschen selbst - zu leugnen486. In de Folge unterscheidet Flusser zwischen dialogischer und diskursiver Kommunikationsstruktur. In Dialogen werden bestehende Informationen ausgetauscht, um aus diesem Austausch neue Information zu gewinnen. In Diskursen werden bestehende Informationen verteilt, um diese unverändert zu bewahren. Das Verhältnis zwischen Dialogen und Diskursen sollte, um das genannte Ziel der Kommunikation zu erreichen, ausgewogen sein. Sollte - wie es heute geschieht – der Diskurs vorherrschen, fühlen sich die Menschen trotz ständiger Verbindung zu den Informationsquellen einsam. Aus dieser Unterscheidung ergeben sich auch unterschiedliche Geschichtsperspektiven von dialogischen (revolutionären) und diskursiven (imperialistischen) Perioden. Innerhalb der genannten Kommunikationsformen unterscheidet Flusser Theaterdiskurse, Pyramidendiskurse, Baumdiskurse und Amphitheaterdiskurse, sowie Kreis- und Netzdialoge. Für unsere Zeit sind die Amphitheaterdiskurse symptomatisch, die die so genannten Massenmedien wie Presse, Fernsehen, Plakatwerbung usw. repräsentieren. Die Empfänger sind die strukturlosen Gedächtnisse einer Masse, die von den empfangenen Informationen programmiert werden. Die Sender sind Gebilde aus Menschen und kybernetischen Gedächtnissen wie Diskotheken, Videotheken, Bibliotheken und Rechnern, die die Empfänger in Informationskonserven verwandeln487. Dialoge hingegen betreffen das Problem des Neuen, des schöpferischen Aktes, auch der Synthese und Dialektik. Dialoge seien deswegen schwierige Kommunikationsformen, weil sie im Unterschied zu den Diskursen auf Konflikten beruhen, seien aber gerade aus diesem Grund wertvoll. Der so genannte Kreisdialog ist für Flusser überhaupt eine der höchsten Kommunikationsformen, zu denen der Mensch fähig ist. Die Situation am Ende des 20. Jahrhunderts beschreibt Flusser in Hinblick auf die genannten Strukturen die Krisenhaftigkeit der Theater- und Kreisdialoge, die – in den musikalischen Bereich übertragen – für Konzert und Ensemblespiel stehen können. Charakteristisch ist die Synchronisation von hoch entwickelten Amphitheaterdiskursen (Massenmedien) mit immer besser bearbeitbaren, jedoch archaisch gebliebenen Netzdialogen (die Basis aller Kommunikation in Form von Gerede, Plauderei usw.) – in diesem Sinn Entpolitisierung mit totalitärem Charakter. Die bürgerliche Familie (Theaterdiskurs), in der ein 486 487 Vilém Flusser (1996) S. 13 Vilém Flusser (1996) S. 28 152 verantwortliches Weitertragen von Werten noch garantiert war, habe den Einbruch der Massenmedien nicht überlebt488. Historisch betrachtet erkennt Flusser Parallelen zwischen der gegenwärtigen Situation und der Zeit der Erfindung des Buchdrucks, der die gesprochenen Sprachen durch die nun mögliche Verbreitung des alphabetischen Codes problematisch werden ließ. Die Folge war die Schaffung von leicht erlernbaren künstlichen Sprachen, die im Zuge der Verbreitung der gedruckten Texte zu gesprochenen Sprachen und sogar Umgangssprachen wurden. Das hatte zur Folge, dass seit der Erfindung des Buchdrucks und deutlicher seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht, die Menschen eine Schriftsprache erlernten, um sprechen zu können, dass sie eigentlich nicht mehr im ursprünglichen Sinn sprachen, sondern unsichtbare Texte vorlasen. Die Menschen wurden linear und alphabetisch programmiert und gewannen so erst ein historisches Bewusstsein, das bisher der alphabetisierten Elite vorbehalten war489 und das sie gegen das magische Bewusstsein eintauschten. Heute erleben, erkennen und werten wir die Welt hauptsächlich durch die Kategorien der alphabetischen Codes, welche samt den Werten der alphabetisch verschlüsselten Texte allmählich ihre Gültigkeit verlieren. Flusser datiert den Beginn dieser Entwicklung bereits mit der Mitte des 19. Jahrhunderts490. Seitdem werden die Erzählungen und Erklärungen, Auseinandersetzungen und Auseinanderfaltungen der die Menschen umgebende Texte für diese immer unvorstellbarer. Je komplexer diese Texte werden, umso weniger ist es möglich, daraus ein Bild der Welt zu generieren. Ursprünglich als ein Code entworfen, der Bilder erzählt und erklärt, ist das Alphabet in einem Stadium, in dem es diese Bilder verstellt und die Welt dadurch immer unvorstellbarer wird, je mehr sie erklärt wird. Parallel zu dieser Entwicklung wurden Bilder erfunden, welche es ermöglichen, Texte vorstellbar zu machen, - die so genannten Technobilder, die mit den voralphabetischen Bildern nichts gemeinsam haben. Während der Mensch mit diesen versuchte, sich ein Bild von der Welt zu machen, wird mit den Technobildern versucht, sich ein Bild von den Begriffen zu machen, - diese bedeuten also nicht mehr die Welt, sondern Texte. Für Flusser ist die Erfindung der Fotografie das umwälzende Ereignis dieser Epoche, die er mit der Erfindung des Buchdrucks vergleicht. Obwohl die Texte dichter als je zuvor sind, sind sie für die kodifizierte Welt nicht länger charakteristisch, - die Fotos, Fernsehschirme und 488 Vilém Flusser (1996) S. 41 Vilém Flusser (1996). S. 54 ff 490 Ganz im Sinne Flussers Theorie weist Helga de la Motte-Haber auf die Veränderung der inzwischen fließend gewordenen Begriffe Raum und Zeit schon seit der Erfindung der Eisenbahn. In: Helga de la MotteHaber, Konzeptionen von Klangkunst. Berlin 2002 489 153 Videoscreens sind die Anzeichen einer neuen Art, dem Leben Bedeutung zu geben. Da die Bewusstseinsebene, die diesen Codes entspricht, noch nicht erreicht ist bzw. wir noch nicht gelernt haben, diese Codes zu lesen, seien sie so außerordentlich gefährlich, weil sie uns programmieren und uns als undurchsichtige Wände bedrohen, anstatt uns als sichtbare Brücken mit der Wirklichkeit zu verbinden491. Dieser programmierten und standardisierten Welt sei nicht durch Maschinensturm beizukommen, sondern dadurch, die Handlungsgesetze über- oder unterzulaufen492. 2.3.3 Wirklichkeitsbegriffe: Quantenphysik und Buddhismus Geistige Strömungen haben sich in der Geschichte immer wieder gleichzeitig bzw. parallel in verschiedenen Bereichen abgebildet. Entwicklungen in Kunst, Wissenschaft, Religion und Gesellschaft laufen nicht selten synchron und weisen auf einen den einzelnen Sparten übergeordneten Zeitgeist hin, der sozusagen in der Luft liegt. Als ein Beispiel dafür kann die annähernde Gleichzeitigkeit der Entwicklungen in der Physik und den Entwicklungen in der Kunst um die Wende zum 20. Jahrhundert gesehen werden. Arnold Schönberg hatte mit seinem Zwölftonsystem und der damit verbundenen Abschaffung des Grundtones bzw. Erweiterung des Harmonieverständnisses ebenso die Grundlage für ein neues Denken geschaffen, wie Albert Einstein dies nur kurze Zeit davor mit der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie getan hat. Die Relativitätstheorie öffnete radikal neue Einsichten etwa in das Verhältnis von Raum und Zeit, dem sich auch Schönberg und andere Künstler dieser Zeit intensiv gewidmet haben. Dabei galten die genannten Bestrebungen letzten Endes der Formulierung eines der Zeit adäquaten Wirklichkeitsbegriffes. Eine ähnliche Verwandtschaft von Systemen, die die jeweils herrschenden Wirklichkeitsbegriffe infrage stellen, jedoch verblüffender Weise in großem zeitlichen Abstand voneinander formuliert wurden, konnte Christian Thomas Kohl für die Quantenphysik einerseits und die Philosophie Nagarjunas, einem bedeutenden buddhistischen Philosophen Indiens des 3. Jahrhunderts nach Christus andererseits nachweisen493. Interessant daran ist die Aktualität dieser beiden Wirklichkeitskonzeptionen für die dieser Arbeit zugrunde liegende Fragestellung. Die Ergebnisse der Quantenphysik 491 Vilém Flusser (1996) S. 105 Siegfried Zielinsky (2002) S. 299 493 Christian Thomas Kohl, Buddhismus und Quantenphysik. Aitrang 2005 492 154 sowie auch das wesentlich früher formulierte Denkmodell Nagarjunas bilden Konzeptionen ab, die auch die Kunst der letzten Jahre charakterisieren können. Die Aktualität der Quantenphysik lässt Parallelitäten anderer kultureller Entwicklungen plausibel erscheinen, - die Ähnlichkeit aktueller Konzepte mit altem Indischem Gedankengut lässt zumindest an die intensive Auseinandersetzung der künstlerischen Moderne mit Indischer Philosophie, Yoga und Buddhismus im Rahmen theosophischer Thematik denken, wie sie im Kapitel 2 dargestellt ist. Der quantenphysikalische Wirklichkeitsbegriff wird vor allem über die Begriffe Komplementarität, Wechselwirkungen und Verschränkungen definiert. Schon in den der Quantenphysik vorhergehenden Atommodellen wurden die alltäglichen Dinge als oberflächlich, wechselhaft, schwankend, vielfältig, vage, konfus, nicht dauerhaft, subjektiv und nicht wirklich beschrieben. Die dem zugrunde liegenden Atome seien unteilbar, eindeutig, stabil, objektiv und wirklich, - die Wechselhaftigkeit erkläre sich aus Trennung, Verbindung und Bewegung dieser. Den Begriff der Komplementarität führte Nils Bohr bereits 1927 ein, um damit auszudrücken, dass es in der Welt der Quanten nicht möglich sei, von selbständigen, unabhängigen und objektiven Quantenobjekten zu sprechen, weil diese untereinander sowie auch mit dem Messgerät in einer Wechselwirkung stehen würden, Wechselwirkungen aber seien untrennbare Bestandteile der Objekte selbst sowie ein Energieaustausch zwischen diesen. Die Grundelemente bestehen bei Bohr nicht mehr aus einzelnen, festen Bausteinen, sondern aus ganzen Systemen, die durch Wechselwirkungen sowohl ihrer Bestandteile als auch durch Wechselwirkungen mit der Umwelt ein übergeordnetes System bilden. Die Vorstellung von unveränderlichen Atomen musste damit aufgegeben werden. Von Verschränkung494, dem von Erwin Schrödinger eingeführten Begriff ist die Rede, wenn zwei Teilchen so stark miteinander verbunden sind, dass eine Messung an dem einen die Eigenschaften des anderen mitbestimmt. Dieses Phänomen, das von Einstein noch geisterhafteFernwirkung genannt wurde, wird heute als Nichtlokalität bezeichnet. Es tritt auch bei sehr großen Entfernungen zwischen den beiden Teilchen auf495. Roger Penrose bezeichnet diese nichtlokale Verschränkung als eine sonderbare Angelegenheit. Es handle sich um einen Mischzustand, der in der klassischen 494 495 Vgl. Anton Zeilinger, Einsteins Schleier. Die neue Welt der Quantenphysik. München 2005, S. 65 f Christian Thomas Kohl (2005) S. 147 ff 155 Physik keine Entsprechung habe, denn die Objekte seien weder richtig getrennt noch richtig miteinander verbunden496. Der neue physikalische Wirklichkeitsbegriff, der sich daraus ableiten lässt besage, dass Quantenobjekte nicht durch einen festen Kern, sondern durch Wechselwirkungen zwischen ihren Komponenten und mit dem Messgerät selbst definiert seien, - die Wirklichkeit bestünde also aus Systemen, deren Bestandteile weder identisch sind, noch auseinanderfallen. Die Komponenten existieren nicht unabhängig voneinander, ihnen kann kein eigener Zustand zugeschrieben werden497. Kohl stellt fest, dass das Phänomen der Wechselwirkungen nicht durch eine reduktionistische, subjektivistische, holistische und instrumentalistische Metaphysik, der Grundlage unseres traditionellen Wirklichkeitskonzeptes, erklärbar sei. Vielmehr liege der Welt, in der wir leben, eine Wirklichkeit zugrunde, die selbst wieder eine komplexe, abhängige und wechselwirkende Wirklichkeit, - eine so genannte Wolke – darstelle. Es sei unmöglich, aus diesem unbeständigen, wechselnden und komplexen Ereignisgeflecht Welt herauszukommen. Im Vergleich der Erkenntnisse der theoretischen Physik mit der Philosophie Nagarjunas geht es Kohl um die Analogie der metaphysischen Denkweisen, die beiden zugrunde liegen. In der buddhistischen Philosophie Nagarjunas gehe es um eine geistige Vorbereitung auf eine neue Art von Wahrnehmung des abhängigen Entstehens der Dinge. Dieser in diesem Kontext religiöse Aspekt setze dem intellektuellen Verstehen der Argumente Nagarjunas Grenzen. Er ist vor allem durch yogische Wahrnehmung und Erfahrung getragen, ohne die nicht alle Argumentationsebenen überprüft werden können. Nagarjunas Philosophie fungiert deshalb vielmehr als eine geistige Vorwegnahme yogischer Erfahrung. Der interkulturelle Ansatz Kohls besteht darin, die Philosophie Nagarjunas zu aktualisieren und mit grundlegenden Konzepten unserer Gegenwart in Beziehung zu setzen. Nagarjuna richtete sich mit seinem Gedankengebäude gegen die dogmatischen Auffassungen des Abhidharma, der frühen buddhistischen Philosophie, die in substantiellen Ansätzen sozusagen gefangen war. Das Zentrum seiner Philosophie ist die Auseinandersetzung mit den alltäglichen extremen Denkweisen, mit dem alltäglichen Erleben der Welt. Dieses unser Alltagserleben einer Welt, die – für uns - aus realen und unabhängigen Dingen besteht und die wir mit einem ebenso realen wie unabhängigen Selbst erleben, sei 496 Roger Penrose, Das Große, das Kleine und der menschliche Geist. Heidelberg/Berlin 2002, S. 89, zitiert nach Christian Thomas Kohl (2005) S. 159 497 Christian Thomas Kohl (2005) S. 161 f 156 verfestigt und verabsolutiert. Nagarjunas stellt seinen Wirklichkeitsbegriff über die systematische Auseinandersetzung mit extremen metaphsysischen Ansätzen, die eine Flucht vor der Wirklichkeit darstellen und die es nicht gestatten, die Wirklichkeit als solche wahrzunehmen, dar. DieZurückweisung dieser metaphysischen Ansätze lässt sich auf folgende Formel reduzieren: Es ist widerlegbar, dass ein dharma [Objekt] 1. existiert, oder 2. nicht existiert oder 3. sowohl existiert als auch nicht existiert, oder 4. weder existiert noch nicht existiert, was so viel heißt wie: Nirgendwo finden sich jemals unvergängliche Dinge, seien sie aus sich selbst oder aus anderem oder aus beidem oder ohne eine Ursache entstanden. Diese vier metaphysischen Ansätze bezieht Kohl auf die substantiellen, subjektivistischen, holistischen und instrumentalistischen Denkweisen unserer modernen Welt. Unabhängige Substanz und eigenes Sein sind nach dem Verständnis der europäischen Weltanschauung die Grundlagen der Welt. Subjektivistisches Denken meint die Hinwendung zum Subjekt, für das das Bewusstsein das primär gegebene ist. Der Holismus versucht die beiden Ansätze Substanz und Subjekt zu vereinen. Hier wird das Ganze zu einem selbständigen Gesamtobjekt verabsolutiert. Instrumentalismus schließlich meint die Zurückweisung von Subjekt und Objekt. Für ihn sind Theorien Instrumente zur systematischen Ordnung und Erklärung von Beobachtung und zur Prognose von Tatsachen. Für Nagarjuna besteht die Wirklichkeit nicht aus unabhängigen Dingen, sondern aus einem Zusammenwirken von Systemen, deren Teile weder identisch sind, noch auseinanderfallen. Die Dinge selbst sind substanz- oder kernlos in dem Sinn, als sie keine göttliche, ewige Subsatnz, kein eigenes Sein haben. Die Wirklichkeit wird nicht mehr als etwas Fixes, Statisches, sondern als komplexes Zusammenspiel von Dingen, die von anderen Dingen und von ihren eigenen Bestandteilen selbst abhängig sind. Das Ziel dieses Ansatzes ist ein konzeptfreies Erleben der Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit aber lasse sich nicht durch dualistisches Denken in den Griff bekommen. Nagarjuna macht das in einem Zwei-Komponenten-System deutlich, in dem er etwa Geher und begangene Strecke, Feuer und Brennstoff, Tat und Täter als von einender abhängige Komponenten darstellt, die nicht selbständig existieren. Kohl sieht auch in der traditionellen europäischen Metaphysik und der modernen mathematischen Physik substantielle, dualistische und reduktionistische Wirklichkeitsbegriffe als deren Grundlage. Substanz sei von Platon bis Kant als etwas Dauerhaftes und Unveränderliches definiert worden, das von nichts anderem abhängig und durch sich selbst existierend ist. Platons Höhlengleichnis stelle mit der Darstellung der Gegensätze Licht und Schatten exemplarisch die dualistische Denkfigur der 157 abendländischen Metaphysik dar. Mit Reduktionismus meint er die Annahme, man könne die Vielseitigkeit der unmittelbaren Realität erklären, indem man sie in ihre elementaren und unabhängigen Bestandteile zerlegt bzw. auf mathematische Gesetzmäßigkeiten reduziert. Die Quantenphysik des 20. und 21. Jahrhunderts bestätige diese Wirklichkeitsbegriffe aber nicht mehr. Auch das Modell der Quantenphysik lässt sich als ein Zwei-Komponenten-System darstellen, in dem für die einzelen Komponenten nicht die Möglichkeit bestehe, unabhängig zu existieren. Wie oben erwähnt, sind die Wechselwirkungen Bestandteile der Elementarteilchen selbst. Mit diesen Erkenntnissen hat die Quantenphysik die vier genannten metaphysischen Ansätze überwunden und einen neuen Wirklichkeitsbegriff begründet498. Anton Zeilinger sieht im irreduziblen, objektiven Zufall499, in der Komplementarität und der quantenphysikalischen Verschränkung die neuen Grundprinzipien unserer Welt. Die quantenphysikalischen Aussagen seien mit dem so genannten gesunden Menschenverstand nicht mehr zu vereinbaren. Sie stellen unsere Vorstelllung von Wirklichkeit in Frage, zu der wir gemäß den Erkenntnissen der Quantenphysik lediglich indirekten Zugang haben. Das, was als eigentlich Substantielles übrig bleibt, sind die Beobachtungsergebnisse, also Information. Information ist der Ausgangspunkt für das, was wir Wirklichkeit nennen, ist sozusagen der Urstoff des Universums, - die Welt ist der Repräsentant unserer Aussagen. Der radikale Vorschlag Zeilingers in diesem Kontext ist die Gleichsetzung von Wirklichkeit und Information bzw. die Aufhebung der Trennung zwischen diesen beiden Begriffen. Daraus folge, dass es unmöglich sei, auf den so genannten Kern der Dinge zu stoßen, vielmehr ergebe sich daraus der Zweifel, ob ein solcher Kern der Dinge unabhängig von Information tatsächlich existiere500. Der russische Philosoph Peter D. Ouspensky (1878 - 1947), der der Theosophie nahe stand, bezieht sich in seinem Buch Tertium Organum zunächst auf die Logik Aristoteles, die von dessen Schülern als Organon veröffentlicht wurde und besagt, dass A A sei, A nicht Nicht-A sei und alles entweder A oder Nicht-A sei. Francis Bacon hat entlang der Bedürfnisse einer experimentellen Wissenschaft ein Novum Organum formuliert, das Ouspensky auf folgende einfache Formel bringt: Das, was A war, wird A sein. Das, was 498 Christian Thomas Kohl (2005) S. 52 – 73, auch S. 121 f und 138 Zeilinger sieht den Zufall als Folge der Beschränktheit der Informationen, die ein Quantensystem tragen kann. Verborgene Variable könne es jedenfalls nicht geben. Vgl. Anton Zeilinger (2005) S. 224 500 Anton Zeilinger (2005) S. 213 ff 499 158 Nicht-A war, wird Nicht-A sein. Alles war und wird entweder A oder Nicht-A sein. Diese Axiome entsprechen denen der Mathematik von Identität und Differenz: Jede Größe ist sich selbst gleich. Der Teil ist weniger als das Ganze. Zwei Größen, von denen jede einer dritten gleich ist, sind untereinander gleich, usw. Sie entsprechen unserem Aufnahme- und Denkvermögen. Erst die andere Mathematik der unendlichen und veränderlichen Größen stelle die Welt dar, wie sie wirklich sei. Die Axiome dieser neuen Mathematik erscheinen uns als Absurditäten: Eine Größe kann mit sich selbst ungleich sein. Ein Teil kann dem Ganzen gleich sein, oder er kann größer als das Ganze sein. Eine von zwei gleichen Größen kann unendlich größer sein als eine andere. Alle UNTERSCHIEDLICHEN Größen sind untereinander gleich. Wie es in der Natur keine endlichen konstanten Größen geben könne, gebe es auch keine Begriffe. Beides seien bedingte Abstraktionen und sozusagen nur Querschnitte der Wirklichkeit. Unser Zeitsinn entspringe der Unvollkommenheit unseres Raumsinnes, unsere dreidimensionale Welt existiere in Wirklichkeit nicht. Alle Größen, die wir in ihr betrachten, wie auch unsere Gegenwart, hätten keine reale Existenz. Ein dementsprechenden Versuch, die Axiome einer höheren Logik in unserer Sprache auszudrücken, würde ebenfalls absurd erscheinen: A ist sowohl Nicht-A, oder: Jedwedes Ding ist sowohl A als auch Nicht-A, oder: Jedwedes Ding ist alles. Grundsätzlich seien diese Axiome in unserer Sprache aber nicht formulierbar. Das von Ouspenskys postulierte Tertium Organum meint eine höhere Logik bzw. die Logik eines höheren Bewusstseins. In diesem Bewusstsein sei die Zeit ein Merkmal eines höheren Raumes, der sich mit unserer Sprache bzw. der gebräuchlichen Logik nicht beschreiben oder ausdrücken lässt. Was man ausdrücken kann, kann nicht wahr sein. Er weist darauf hin, dass die Formeln für diese höhere Logik bereits in den alten HinduSchriften gegeben wurden501. Im Sinne dieser Logik bzw. der damit verbundenen Vorstellung einer höheren (vierten) Dimension spricht Ouspensky von Materie nicht mehr als Substanz, sondern als Existenzbedingung der dreidimensionalen Welt. Er weist drauf hin, dass das objektive Wissen nicht Tatsachen studiere, sondern nur die Wahrnehmung von Tatsachen. Erst die Veränderung dieser Bedingungen ermögliche die Überschreitung der Grenzen des dreidimensionalen Bereichs. In diesem Zusammenhang erwähnt Ouspensky den alexandrinischen Philosophen Plotin 501 Peter D. Ouspensky, Tertium Organum. Der dritte Kanon des Denkens. Ein Schlüssel zu den Rätseln der Welt. Bern, München 19883, S. 83, S. 104 f , S. 108, S. 220 ff und 231 f 159 (3. Jhdt. nach Christus), der der Meinung war, dass für vollkommenes Wissen Subjekt und Objekt vereint sein müssten und damit wie Nagarjuna die Auflösung des Hauptidols des westlichen Menschen, des Dualismus vertrat502. Die Wiedererlangung der verlorenen Weisheit der Alten Welt, um die es in Colin Wilsons Buch From Atlantis To the Sphinx geht, thematisiert Slavoj Žižek, indem er die von Wilson verglichenen zwei Arten von Wissen, das „vormoderne“ intuitive, umfassende Wissen, durch das wir den Rhythmus der Wirklichkeit unmittelbar erfahren (das Bewusstsein der rechten Gehirnhälfte), und das moderne Wissen, das mit dem Selbstbewusstsein und der rationalen Wirklichkeit einhergeht (das Bewusstsein der linken Gehirnhälfte), untersucht. Die Schlussfolgerung Wilsons ist, diese beiden Hälften wieder miteinander zu vereinen und die verlorene Welt zurückgewinnen, indem sie mit den Errungenschaften der Moderne verknüpft werden sollen. Dabei handle es sich um die bekannte These, die moderne Wissenschaft deute mit ihren radikalen Errungenschaften wie etwa der Quantenphysik auf die Selbstaufhebung des mechanistischen Weltbildes hin und damit auf ein ganzheitliches Universum. Die nächste Stufe der Überwindung der Begrenzung der westlichen rationalistischen/individualistischen Haltung müsse aber aus dem Inneren dieser westlichen Haltung erfolgen. Unsere Aufgabe bestehe nicht darin, zu einer früheren höheren Existenz zurückzukehren, sondern unser Leben in dieser Welt zu verändern503. Mit dem Wirklichkeitsbegriff, den Žižek an anderer Stelle formuliert, folgt er durchaus den erwähnten radikalen Errungenschaften: Und um es nochmals zu sagen: Die Wahrheit ist nicht der "reale" Zustand der Dinge, das heißt die "direkte" Sicht des Gegenstands ohne perspektivische Verzerrung, sondern genau das Reale des Antagonismus, der die perspektivische Verzerrung verursacht. Der Ort der Wahrheit ist nicht die Art und Weise, "wie die Dinge an sich sind", jenseits ihrer perspektivischen Verzerrung, sondern genau die Lücke, der Übergang, der die eine von der anderen Perspektive trennt, die Lücke (in diesem Fall: der gesellschaftliche Antagonismus), der die beiden Perspektiven radikal inkommensurabel macht. Das "Reale als Unmögliches" ist die Ursache der Unmöglichkeit, jemals zu einer "neutralen" nicht-perspektivischen Ansicht des Objekts zu gelangen. Es gibt eine Wahrheit der perspektivischen Verzerrung als solcher, nicht die Wahrheit, die durch die Teilansicht aus einer einseitigen Perspektive verzerrt wird504. 502 Peter D. Ouspensky (1988) S. 211 und S. 234 f Slavoj Žižek ( 2003) S. 84 ff 504 Slavoj Žižek ( 2003) S. 78 f 503 160 2.3.4 Zusammenfassung Die Tendenzen in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts stehen in Zusammenhang mit allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen sowie Entwicklungen in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und der Technik. Der Wertewandel in der Musik seit 1980 geht nicht nur mit den technischen Errungenschaften und Entwicklung der Medien einher, sondern steht gewissermaßen in Wechselwirkung mit aktuellen wissenschaftlichen Themen und Forschungsbereichen. Die aktuellen Ergebnisse der Kognitons- und Neurowissenschaften geben nicht nur neue Aufschlüsse etwa über Musikwahrnehmung und Musikrezeption, sondern bestätigen radikale Realitätsbegriffe, die die Kunst des 20. Jahrhunderts formuliert bzw. postuliert hat. Dem Klang bzw. dem Hören als Zugang zu spiritueller Erfahrung, wie schon in den Yoga-Upanisads (8. Jhdt.) beschrieben, wird heute etwa in der Gehirnforschung vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Aufmerksamkeit gilt auch den heilenden Aspekten von Musik. Vor allem ein Aspekt aber ist in Zusammenhang mit dem in dieser Arbeit ins Zentrum gestellte Begriff prehension wesentlich, der ebenfalls von der Gehirnforschung bestätigt wird: die Aktivität des Hörenden, der an der Entstehung dessen, was wir als Musik bezeichnen, wesentlichen schöpferischen Anteil hat. Aus den kommunikologischen Erkenntnissen Vilém Flussers lassen sich durchaus auch die Funktionen musikalischer Kommunikation ableiten. Flussers Analyse bezieht die Entwicklung der Medien mit ein, die uns bezüglich der Codierung und Weitergabe von Information vor neue Herausforderungen stellt. Sie zeigt, wie sich unsere Vorstellung von der Welt mit dem Wechsel der uns programmierenden Codes verändert. Die Quantenphysik beschreibt eine Welt, die sich einerseits unserer Logik und unserem Wirklichkeitsbegriff zu entziehen scheint, die aber andererseits eindeutig Parallelen zum Wirklichkeitsbegriff der buddhistischen Denktradition aufweist. Auch in der okkulten Literatur des 20. Jahrhunderts finden sich Ansätze, die durch die Ergebnisse der Quantenphysik Bestätigung finden. Beide, die buddhistische und die quantenphysikalische Lehre, stellen die Logik des westlichen Denkens und damit das mechanistische Weltbild in Frage. Die in diesem Kontext formulierten Wirklichkeitsbegriffe sind zu den in dieser Arbeit beschriebenen postmodernen Konzepten durchaus kongruent. 161 3 Fallbeispiele Eigeninitiativen 3.1 Historischer Hintergrund Künstlerinitiativen haben die Entwicklungen im Bereich der Neuen Musik von Anfang an abgebildet, wenn nicht sogar geprägt. Sie dokumentieren die Themen, Bedürfnisse, Gesinnungen und Entwicklungen, die auf Künstlerseite bzw. im kulturellen Leben wirksam waren. Als Beispiele für historische Initiativen zur Förderung der Neuen Musik möchte ich einige wesentliche repräsentative Beispiele bringen. In diesen Beispielen waren es immer die Künstler selbst, die initiativ wurden und versuchten, Strukturen zur Verbreitung und Vermittlung ihrer Arbeit zu schaffen. Die Grundlagen dafür wurden schon weit früher, in der Zeit, in der die Kunst aus der Einbindung in die höfische, kirchliche und ständische Strukturen herausgetreten ist - im späten 18. Jahrhundert - geschaffen. In einer Zeit, in der Kunst Teil der bürgerlichen Öffentlichkeit wurde, der Musikbetrieb mit öffentlichem Konzertwesen und Institutionen wie Musikvereine und Singakademien erst entstand und Musik Teil der allgemeinen Bildung geworden ist505. Noch weiter in die Vergangenheit zurückgehend, zeigen Beispiele, dass die Kunst immer wieder aus Bindungen und Funktionszusammenhängen ausgebrochen ist. Eines der berühmtesten diesbezüglichen Szenarien in der Musikgeschichte fand bereits im 14. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Ars nova statt, die in der Ars antiqua (13. Jhdt.) ihren Gegenpart hatte. Diese Übergangszeit zwischen Notre-Dame-Schule und Ars nova war durch die Entstehung der Motette und die damit in Zusammenhang stehende Entwicklung der Mensuraltheorie bzw. -notation gekennzeichnet. Der Beleg für die Konflikthaftigkeit dieses Paradigmenwechsels am Beginn des 14. Jahrhunderts ist die Bulle Docta sanctorum patrum des Papstes Johann XXII. in Avignon (1324 – 1325), in der dieser gegen die Musik der Ars nova Stellung bezog und unter Androhung von Kirchenstrafen die Rückkehr zur alten Kunst (Ars antiqua, Notre-Dame-Schule) forderte. Die bedeutendsten Neuerungen hatten künstlerische wie gesellschaftliche Aspekte: die neue Art der Mensuralnotation, das Übergewicht der weltlichen über die geistliche Musik, die fast ausschließliche Geltung der mehrstimmigen Musik, die Unabhängigkeit der Musik als autonomes, von den bisher bestimmenden außermusikalischen Kräften unabhängiges Kunstwerk, und die Autonomie des 505 Thomas Nipperdey, Wie das Bürgertum die Moderne fand. Stuttgart 1998, S. 10 ff 162 Komponisten506. Ulrich Dibelius nennt als Gründe für das Entstehen von Künstler getriebenen initiativen den gesellschaftlichen Trägheitswiderstand, der bremst und verhindert, aber auch abdrängt und Enklaven mit Ausnahmerecht schafft. Die der Neuen Musik verpflichteten Initiativen und Zentren standen zwischen Abschirmung und Kontakt, Separatrechten und Besonderheitswirkung507. 3.1.1 Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) An der Geschichte der IGNM, die auch heute noch existiert, ist deutlich abzulesen, welchen Konflikten und Veränderungen die internationale Neue Musik-Szene ausgesetzt war und ist. Allein die Uneinigkeit in der Namensgebung ist ein Dokument für die unterschiedlichen Auffassungen über die zu fördernde Musik im internationalen Kontext. Während die englisch- und französischsprachigen Mitglieder das neutralere Wort zeitgenössische Musik verwenden, ist im deutschsprachigen Raum der Begriff Neue Musik im Titel (International Society for Contemporary Music/Societé Internationale pour la Musique Contemporaine - Internatonale Gesellschaft für Neue Musik). Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik wurde am 11. August 1922 in Salzburg gegründet. Auslöser dafür waren das 1. Donaueschinger Kammermusikfest 1921 und die Internationalen Kammermusikaufführungen Salzburg, einem von Rudolf Réti, Egon Wellesz, Paul Stefan und einigen jungen Wiener Komponisten organisierten Festival für moderne Kammermusik im Rahmen der Salzburger Festspiele 1922. Über 20 Komponisten waren damals anwesend, darunter Webern, Hindemith, Bartók, Kodály, Honegger und Milhaud. Dieses erste internationale Musikfest nach dem ersten Weltkrieg war auch das erste einer regelmäßigen Reihe von IGNM-Musikfesten, die es den zeitgenössischen Komponisten ermöglichen sollte, die in Salzburg aufgenommenen Kontakte zu pflegen und alljährlich zusammenzukommen, um sich über die Essenz der musikalischen Produktion (Egon Wellesz) eines Jahres zu informieren. In ihrer Gründung betonte die IGNM die Absicht, die zeitgenössische Musik ohne Rücksicht auf ästhetische Tendenzen, Staatsangehörigkeit, Rasse, Religion oder politische Ansicht des Komponisten zu fördern und propagieren zu wollen. Die Aktivitäten der Gesellschaft wurden durch autonome nationale Sektionen unterstützt. 1923 waren es 14, heute sind es 49. Hauptsitz 506 507 Thomas Nipperdey (1998) S. 130 Ulrich Dibelius, Moderne Musik nach 1945. München 1998 (1966), S. 237 f 163 der Gesellschaft war London, wo die erste Verfassung 1923 abgefasst wurde. Präsident war damals Edward J. Dent. Von Beginn an gab es Diskussionen über die Ziele und Aktivitäten der Gesellschaft, - einen Grund legenden Konflikt aber zwischen den Ländern, die meinten, die IGNM sollte Avantgarde- Musik unterstützen (vor allem Deutschland vor 1933 und Österreich und die Tschechoslowakei vor 1938), und jenen, die jede zeitgenössische Musik als wert erachteten, von der IGNM wahr genommen zu werden (vor allem Frankreich, England und die USA). Dieser zeigt die Problematik internationaler einheitlicher Werte und die des Anspruchs des Begriffs Neue Musik im Kontext internationaler Haltungen. Wegen der internen Schwäche der Gesellschaft waren die Festivals vor dem 2. Weltkrieg eigentlich im Wesentlichen Foren für führende zeitgenössische Komponisten, die Möglichkeit für wichtige Uraufführungen boten (etwa Bergs Violinkonzert 1936 in Barcelona und Weberns Das Augenlicht op. 26. 1938 in London, sowie Aufführungen von Hindemith, Schönberg, Stravinsky und anderen. Das Nazi Deutschland hat die IGNM als kulturbolschewistisch und Teil einer antideutschen Verschwörung betrachtet und die deutsche Sektion, die Sektionen in den besetzten Ländern sowie die in Italien und Japan 1938 verboten. 1934 gründete das Nazi-Regime eine Gegenorganisation, deren Präsident Richard Strauss war. Nach dem 2. Weltkrieg wurde die IGNM wieder aktiv. Unter den wichtigsten Uraufführungen dieser Zeit waren Weberns 2 Kantate op. 31 (1950 in Brüssel) und Boulez’ Le marteau sans maître (1955 in BadenBaden). 1949 wurde ein Journal publiziert, das jedoch nur ein einziges Mal erschienen ist (Music Today). Die Arbeit der IGNM wurde durch die neuen Möglichkeiten der Produktion und Reproduktion von Musik erheblich eingeschränkt und weit gehend durch die Internationalen Sommerkurse in Darmstadt, durch Spezialensembles für Neue Musik und durch den Rundfunk ersetzt. So konnten sich neue Trends wie z. B. die Serialität in vielen Ländern außerhalb der und eigentlich in Opposition zur IGNM entwickeln508. 1971 wurden die Statuten der Gesellschaft überarbeitet, um ihr die Fortsetzung ihrer früheren Aufgaben zu ermöglichen und Nutzen aus ihrer Unabhängigkeit von wirtschaftlichen und politischen Faktoren und ihrer Internationalität zu ziehen, von der zum Beispiel die Entwicklung der Neuen Musik in Schweden, Niederlande, der Schweiz, Norwegen und Finnland profitierten. 1975 wurde das Festivalprogramm um populäre Genres erweitert. 1992 wurden die Statuten erneut geändert, um weiteren Ländern die Mitgliedschaft zu ermöglichen, 1997 wurden die Regeln so geändert, dass die Organisation 508 Ulrich Dibelius (1998) S. 256 164 von Festivals ohne internationale Jury möglich wurde.509 Heute ist Richard Tsang Präsident der IGNM, - die Gesellschaft hat weltweit 49 Mitgliedssektionen. Seit 1991 erscheint das World New Music Magazine, im Juli 2006 erschien das 16. Heft. Auf der Internetseite der ISCM wird in einem Text über die ISCM betont, dass am Beginn des 21. Jahrhunderts die Menge an Musik, zu der wir dank des enormen technischen Fortschritts im 20. Jahrhundert heute Zugang haben, größer ist als je zuvor. Die Definition zeitgenössischer Musik ist schwieriger, seit Komponisten von mehr Klängen – musikalischen und nichtmusikalischen – beeinflusst sind als je zuvor. Ausführende präsentieren zeitgenössische Kunst in vielen unterschiedlichen Umgebungen, um ihr Publikum zu erreichen. Eine kontinuierliche Neudefinition der Verhältnisse zwischen Komponisten, Ausführenden und dem Publikum ist im Gang. ... Heute, in Zeiten unglaublicher Vielfalt, die im musikalischen Ausdruck weltweit herrscht, wird das Ideal der Gesellschaft (Aufmerksamkeit gegenüber ästhetischer und stilistischer Vielfalt) von den Mitgliedern nach wie vor unterstützt510. Auf dieser Seite ist auch der Bericht Orlando Jacinto Garcias über die ISCM World New Music Days in Stuttgart 2006 nachzulesen. Er trägt den viel sagenden Titel Die ISCM starb vergangene Woche mit 90 (nun 95) – und dann begann sie sich langsam aus ihrer Asche zu erheben511, welchen der Autor auf die schwierigen vorangehenden Jahre und seine Hoffnung auf Neubeginn bezog. Die ISCM, die einmal erste Instanz für Neue Musik war, habe an Bedeutung verloren. Es scheint unmöglich gewesen zu sein, sich von der älteren europäischen Ästhetik zu trennen. Aufgrund dieses Prestigeverlustes versuchte das ausführende Komitee die Gesellschaft zu reformieren, um ein breiteres ästhetisches Spektrum, bessere Darstellung der Musik weltweit und wieder mehr Relevanz zu erreichen512. 3.1.2 Die Donaueschinger Musiktage für zeitgenössische Tonkunst Die Gründung der Donaueschinger Musiktage 1950 war eigentlich ein Wiederbeginn, - die Reaktivierung der Kammermusikfeste zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst, welche 1921 zum ersten Mal stattfanden. Die Geschichte der Donaueschinger Musiktage steht beispielhaft für das, was Thomas Nipperdey als die Verbürgerlichung der Künste 509 Stanley Sadie (Hsg.), The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd. 12. London 2001, S. 496 und Ulrich Dibelius, Moderne Musik nach 1945. München 1998 (1966), S. 255 ff 510 aus: http://www.iscm.org/about.php, 10. 8. 2008 511 The ISCM died last week at 90 (actually 95) - and then began to slowly rise from its ashes 512 Aus: http://www.iscm.org/WMD2006reportorlando.php 10. 8. 2008 165 bezeichnet513. Sie dokumentiert, wie die kulturellen Initiativen, die bis ins 19. Jahrhundert aristokratisches Privileg waren, nun vom Bürgertum ausgehen und stützt die Theorie, dass die Autonomie der Kunst und ihre Verbürgerlichung gleichzeitig geschehen514. Der frühere aristokratische Auftraggeber ist nunmehr bestenfalls Geldgeber. Mäzen dieser Veranstaltung, die als ältestes Festival für zeitgenössische Musik weltweit gilt515, war Fürst Max Egon II zu Fürstenberg, Veranstalterin die schon vor dem ersten Weltkrieg gegründete Gesellschaft der Musikfreunde, einer Vereinigung aller Musizierfreudigen516. Im Herbst 1950 begannen die Donaueschinger Musiktage im Sinne einer geistigen Wiederbelebung, veranstaltet von der Gesellschaft der Musikfreunde und dem Südwestfunk Baden-Baden517 - und erneut unter dem Protektorat des Fürstenhauses Fürstenberg. Die jeweils am dritten Oktoberwochenende stattfindenden Musiktage versammelten und versammeln noch heute die wesentlichen Vertreter der Neuen Musik aller Generationen. Eine der auch heute formulierten wesentlichen Aufgaben ist die Einbindung junger Komponisten und der öffentliche Diskurs. Die Donaueschinger Musiktage waren so an wichtigen Entscheidungen aktiv beteiligt518. Ein wesentliches Anliegen, das für das Ansehen, das Donaueschingen von Anfang an zuteil wurde, verantwortlich war, war die hohe Qualität der Aufführungen, das technische wie künstlerische Niveau der Interpretation519. 3.1.3 Die Internationalen Ferienkurse in Darmstadt Die Initiative zur Gründung der Darmstädter Ferienkurse kam vom Theater- und Musikkritiker Wolfgang Steinecke, der 1945 das Amt des Kulturreferenten und die Leitung 513 Thomas Nipperdey (1998) S. 10 ff Thomas Nipperdey (1998) S. 29 515 Stefan Fricke (Hsg.), World New Music Magazine Nr. 16, Juli 2006. Saarbrücken 2006, S. 1 516 Ulrich Dibelius (1998) S. 248 ff. Heinrich Burkard, Fürstlich Fürstenbergischer Musikdirektor in Donaueschingen, gründete die Gesellschaft der Musikfreunde 1913. Der Direktor der Mannheimer Musikhochschule äußerte 1920 die Idee eines Musikfestes, das der Aufführung von Werken noch unbekannter bzw. umstrittener Komponisten gewidmet sein sollte. Für die Umsetzung dieser Idee wurde Burkard bestellt. In dem von ihm berufenen Arbeitsausschuss wirkten Joseph Haas, Eduard Erdmann, ab 1924 Paul Hindemith und Burkard selbst. In: Josef Häusler, Spiegel der Neuen Musik: Donaueschingen. Chronik – Tendenzen – Werkbesprechungen. Kassel 1996, S. 11 517 Die künstlerische Leitung und Organisation lag seit 1950 in den Händen der Musikabteiling des Südwestfunks Baden-Baden. Der deutsche Musikwissenschaftler Heinrich Strobel, damaliger Leiter der Musikabteilung des Südwestfunk Baden-Baden, übernahm die Leitung. (aus: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), Personenteil 16. Stuttgart 2006, S.183 f und Häusler S. 133 f ) 518 Ulrich Dibelius (1998) S. 248 ff und Josef Häusler, Spiegel der Neuen Musik: Donaueschingen. Chronik – Tendenzen – Werkbesprechungen. Kassel 1996 519 Josef Häusler (1996) S. 23 514 166 des Kulturamtes der Stadt Darmstadt übernahm520. Seine Idee war ursprünglich eine spezialisierte pädagogische Zusatzleistung zur Ausbildung junger Musiker. Kurz nach dem 2. Weltkrieg, in einem völlig zerstörten Darmstadt, erkannte er den Mangel an Wissen über Neue Musik und die Tatsache, dass die Aufführung neuer Werke nur dann sinnvoll sein könne, wenn diese gut und kompetent gespielt werden würden. Ihm schwebte eine Akademie vor, die sich einerseits aus einem Konzert- und andererseits aus einem pädagogischen Programm zusammensetzen sollte521. Ein weiteres Ziel aber war, nach der kulturell stagnierenden Zeit die reaktionären Strukturen abzuschütteln und die verpassten internationalen Entwicklungen aufzuholen522. Im Spätsommer 1946 (25. August – 20. September) fanden die ersten Internationalen Ferienkurse für Neue Musik im Jagdschloss Kranichstein statt. Als deutsche Initiative begonnen, entwickelten sich aber bald internationale Perspektiven, - namhafte Lehrer wie Messiaen, Varèse oder Krenek zogen immer mehr auch Komponisten an, sodass sich der Schwerpunkt von der Interpretation zur Komposition verlagerte. Einmalig war die Gelegenheit, Lehre, Diskussion und Konzert zusammenzuführen und –zu denken, - die Interessen der Komponisten, Interpreten und Hörer gleichermaßen zu befriedigen und in einen größeren Kontext zu stellen. Die Impulse, die seit Beginn von Darmstadt ausgegangen sind, waren entscheidend und Richtung gebend für die Entwicklung der Neuen Musik in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. 1949 wurden die Ferienkurse mit den Tagen für Neue Musik des Hessischen Rundfunks in Frankfurt gekoppelt, was sich vor allem bezüglich einer europäischen Dimension durchaus befruchtend ausgewirkt hat. Aber auch damals schon führte die von Kritikern festgestellte sterile Einheitsklanglichkeit in eine Krise, die den Ferienkursen später immer wieder attestiert wurde. Die Auseinandersetzung mit Anton Webern (1953) und die Teilnahme John Cages (1958) markierten Wendepunkte in der Geschichte der Ferienkurse. Ab 1958 erschien die Schriftenreihe Darmstädter Beiträge zur neuen Musik, - 1961 wurde das Internationale Kammerensemble Darmstadt gegründet. Nicht nur die Beachtung junger und geographisch 520 http://www.uni-marburg.de/musik-in-hessen/themen/darmstadt/steinecke, 11. 08. 2008 Zusammen mit namhaften Lehrkräften aus allen Bereichen (Komponisten, Theaterfachleute, Musikkritiker, Musikwissenschaftler) und der Unterstützung von Musikverlagen und Rundfunkanstalten entwickelten die „Darmstädter Ferienkurse“ ein Profil, das in dieser Form einmalig war und wie ein Exot aus der konventionellen musikkulturellen Landschaft hervorstach. Dass Steinecke mit diesem Konzept nicht auf taube Ohren stieß, veranschaulichen die Teilnehmerzahlen. Bereits im ersten Jahr bewarben sich mehr Interessenten als aufgenommen werden konnten. Außerdem nahm die Internationalität der Ferienkurse um ein Vielfaches zu, so dass in den 60er Jahren der Anteil ausländischer Teilnehmer sogar überwog. Aus: http://www.uni-marburg.de/musik-inhessen/themen/darmstadt/ferienkursevergangenheitgegenwart (11. 08. 2008) 522 ebda 521 167 entlegener weltweiter Strömungen Neuer Musik wurde nachgespürt, sondern auch den wissenschaftlichen Grundlagen. Bereits 1948 wurde das Internationale Musikinstitut Darmstadt als Forschungseinrichtung und Trägerorganisation der Ferienkurse gegründet. Niemand geringerer als Theodor W. Adorno hat seit den ersten Jahren als Referent den Denkstil der Ferienkurse mitbestimmt. 1961 etwa formulierte er diesen so: Das Unbehagen der emanzipierten Musik daran, dass man alles dürfen darf, erbt sich fort wie die gewalttätige Ordnung der Welt; alle musikalische Konstruktion. alles strukturelle Komponieren bis heute verharrte unter seinem Schatten. Vom kompositorischen Subjekt her wäre informelle Musik eine, welche die Angst los wird, indem sie sie reflektiert und ausstrahlt. Sie wüsste zu unterscheiden zwischen dem Chaotischen. mit dem es nie so weit her war, und dem schlechten Gewissen der Freiheit, in dem Unfreiheit am Leben sich erhält523. In einem Brief an seinen Lehrer, den Komponisten Karl Schiske, berichtet der damals 31 jährige Wiener Pianist und Komponist Otto M. Zykan 1966 aus Darmstadt und beschreibt damit eine für Darmstadt symptomatische Situation, in der sich die Dynamik, aber auch die Problematik des Darmstädter Denkstils spiegelt: ...Die aufgeführten Werke repräsentierten mehr denn je den Abfall in die totale Epigonie. Aperiodische Periodizität, tonale Atonalität, Farbeffekte, die die Struktur ersetzen sollen. Jeder betreibt ein Spiel außerhalb irgendwelcher Grenzen. Das hier sooft proklamierte Motto: Freiheit determiniert sich am Widerstand, den man ihr entgegensetzt, wird mit Füßen getreten. Aber, und das erscheint mir neu, alle sind angefressen davon. Das Resultat: weit eifrigere Diskussionen als sonst (man hat so reichlich Gelegenheit, seinen Standpunkt zu überprüfen – und wundert sich über die Verwundbarkeit) und Kagel bietet tollen Zündstoff. Ligeti wird von einer immer größeren Anzahl von Teilnehmern durchschaut und entlarvt. Mit einem Wort, es ist was los, und ich bin einmal mehr froh, dass ich mich aufgerafft habe, wieder herauszukommen...524. Ein weiteres Stimmungsbild gibt schließlich Franz Willnauer in seinem Artikel über die 17. Darmstädter Ferienkurse über die Funktion der damals (1962) heutigen Musik: ... Denn es ist kein Zweifel – und die Darmstädter Konzerte von 1961, aber auch die ersten diesjährigen beweisen es -, dass die Entwicklung dieser „Darmstädter Schule“ nun auf einem Punkt der Stagnation angelangt ist. Die Kompositionen haben sich stilistisch konsolidiert, die Komponisten selbst sind 523 Ulrich Dibelius (1998). S. 238 ff Markus Grassl/Reinhard Kapp (Hsg.), Darmstadt-Gespräche. Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Wien. Wien, Köln, Weimar 1996, S. 206 524 168 arriviert, der Impuls des Suchens und Neuformens ist abgestumpft und hat dem Willen zu bloßer Verfeinerung und Artistik Platz gemacht. (...) Die Zeichen der „absoluten Musik“ sind, nach dem Willen ihrer Avantgarde, vorüber. Die Musik im siebenten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts soll im Zeichen des „Austausches der Disziplinen“ stehen, sie soll in den Dienst anderer künstlerischer Medien und Ziele treten...525 3.1.4 Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen Der Verein für musikalische Privataufführungen wurde kurz nach Ende des 1. Weltkrieges am 23. November 1918 von Arnold Schönberg mit dem Ziel gegründet, Künstlern und Kunstinteressierten eine wirklich genaue Kenntnis moderner Musik zu verschaffen526. Für Schönberg und seinen Kreis war das Kriegsende der Auslöser für die Wiederaufnahme ihrer Aktivitäten. Wien, zwar schon lange Weltzentrum der Musik, war fortschrittlichen Ideen nur wenig aufgeschlossen. Schönbergs Verein proklamierte die systematische Pflege zeitgenössischer Musik, im Besonderen der seit Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen Werke527. Das als problematisch eingeschätzte Verhältnis des Publikums zur modernen Musik sollte mit dieser Initiative geklärt und verbessert werden. Im Prospekt des Vereins wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es kein Verein für Komponisten sei, sondern einer für das Publikum. Die Förderung von Werken und Autoren sei lediglich Nebenresultat. Die Grundsätze des Vereins waren an dieser Grundhaltung orientiert: Bei der Auswahl der Werke sollte keine Stilart bevorzugt werden, die gesamte moderne Musik mit entweder Namen oder Physiognomie und Charakter528 sollte gespielt werden können. Auch Orchesterwerke sollten vorgestellt werden können, diese allerdings nur in Arrangements für Klavier. Die Einstudierung sollte mit einer im damaligen Konzertleben unüblichen Sorgfalt und Gründlichkeit geschehen, um die größtmögliche Deutlichkeit zu erzielen und die Intentionen des Komponisten zu erfüllen. 525 Markus Grassl/Reinhard Kapp (Hsg.) (1996) S. 236 Rosmary Hilmar, Alban Berg, Leben und Wirken bis zu seinen ersten Erfolgen als Komponist. Wien 1978, S. 184 (aus dem Prospekt des Vereins, verfasst von Alban Berg 1919) 527 Hans und Rosaleen Moldenhauer, Anton Webern. Chronik seines Lebens und Werkes. Zürich 1980, S. 204 f 528 Rosmary Hilmar (1978) 526 169 Die Aufführungen sollten an den wöchentlich stattfindenden Vereinsabenden (jeden Freitag Abend im Kleinen Konzerthaus Saal529) erfolgen. Die Werke sollten öfters (2 – 4 Mal) in verschiedenen Konzerten wiederholt werden, um das Verständnis zu erleichtern, was durch einführende Besprechungen fallweise außerhalb der Konzertabende verstärkt werden sollte. Die Aufführungen sollten unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, die Mitglieder nicht zur Beurteilung angeregt werden, sondern diese sollten vielmehr das Gebotene zur Kenntnis nehmen. Besprechungen und Werbung sollten unzulässig sein, ebenso Beifall, Missfallens- und Dankesbezeugungen. Unter den Ausführenden, die sich dem Verein aus Interesse an der Sache zur Verfügung stellen, sollte jedes Virtuosentum, dem das auszuführende Werk nicht Selbstzweck ist, ausgeschaltet werden. Das Programm der jeweiligen Konzerte sollte vorher nicht bekannt gegeben werden. Dieses Programm wurde erfolgreich umgesetzt, - innerhalb der ersten 6 Monate wurden 45 Werke in 26 Konzerten, davon viele zum ersten Mal, aufgeführt530. Von 1918 bis 1922 wurden allein in Wien 118 Konzerte veranstaltet, in Prag weitere 24, zur Gründung des Prager Vereins kam es 1922. Der Erfolg beim Publikum dürfte groß gewesen sein, - Anton Webern schrieb im Juni 1919 an Alban Berg: Die Abende hatten einen steigenden Erfolg. der letzte war überbesucht. Viele mussten fortgehen. Es war kein Platz mehr im Saal. Vollständig ausverkauft...531 529 heute Schubertsaal. Die ersten Veranstaltungen des Vereins fanden im Festsaal des Kaufmännischen Vereins statt, der große Zuspruch ermöglichte es aber bald, in die kleinen Säle des Musikvereins und des Konzerthauses umzuziehen. Aus: Hans und Rosaleen Moldenhauer, Anton Webern. Chronik seines Lebens und Werkes. Zürich 1980, S. 205 und Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hsg.) (1984) S. 101 530 Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hsg.), Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen. In: Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hsg.), Musik-Konzepte, Heft 36, München 1984, S. 4 ff 531 Hans und Rosaleen Moldenhauer (1980). S. 208, bei dem Saal handelte es sich um den Schubertsaal im Wiener Konzerthaus 170 Abb. 4: Plakat mit Ankündigung der 4 Propaganda-Abende des Vereins für musikalische Privataufführungen 1919532 532 Aus: Hans und Rosaleen Moldenhauer (1980) S. 207 171 3.1.5 Das Ensemble die reihe Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen hatte zwar das Ziel, Künstlern und Kunstinteressierten moderne Musik näherzubringen, doch war die Motivation zur Formulierung dieses Ziels doch auch Eigeninteresse Schönbergs und seines Kreises. Schönberg gab damals der schlechten Qualität der Aufführungen neuerer Musik die Schuld am Unverständnis, das diese Aufführungen hervorgerufen hatten. Die Gründung des Vereins war also auch eine Art Selbsthilfe. Trotz des enormen Aufwands, des positiven Echos und der Fülle an Konzerten hat sich die Situation in Wien seit 1920 nicht wesentlich geändert. In Wien bewegte sich das das kulturelle Leben nach Ende des 2. Weltkrieges aufgrund des Strebens nach Stabilisierung und der Politik des kalten Krieges um 1950 auf einen Konservativismus zu, der besonders in der Kunst spürbar war. Wie auch in anderen vom Krieg betroffenen und internationalen Entwicklungen abgeschnittenen Ländern herrschte im Wiener Musikleben der Neoklassizismus vor, neben dem die Wiener Schule um Arnold Schönberg und die Aktivitäten der IGNM relativ unbeachtet blieben. Unzufriedenheit herrschte besonders bei jenen Komponisten, die – vermittelt durch den rührigen Kompositionslehrer an der Wiener Musikakademie Karl Schiske – 1956 zum ersten Mal bei den Darmstädter Ferienkursen die internationale junge Avantgarde kennen lernen konnten. Das war der Grund für weitere Selbsthilfe, zu der die beiden Wiener Komponisten Friedrich Cerha (*1926) und Kurt Schwertsik (*1935) griffen. Auf der Rückreise von den Darmstädter Ferienkursen 1958 beschlossen sie die Gründung eines Ensembles533, das – ähnlich wie Boulez’ Domaine musicale in Paris – im konservativen Wien zu einer Plattform zur Präsentation und Diskussion von Neuem sein sollte534. Sie zielten damit erneut vor allem auf die Qualität der Interpretation und die Vorstellung der Bahn brechenden Werke der Moderne sowie der für das gegenwärtige musikalische Denken charakteristischen Werke der jungen Generation. Im März 1959535 begannen sie mit öffentlichen Konzerten und konnten damit eine Entwicklung in Gang setzen, die in anderen Ländern bereits längst eingesetzt hatte. Unterstützt von der Jeunesse Musicale und der Wiener Konzerthausgesellschaft wurden in breit gestreuten Programmen die Ausgangspositionen der Neuen Musik abgesteckt und bezüglich der jeweiligen Gegenwart vieles der Diskussion würdige vorgestellt. Friedrich Cerha hat neben der organisatorischen 533 das Ensemble die reihe, der Titel wurde von György Ligeti erfunden. Vgl. Gertraud Cerha (1999) Gertraud Cerha, Vierzig Jahre „die reihe“, Wien 1999 535 22. März 1959 im Schubertsaal des Wiener Konzerthauses (ebda) 534 172 Arbeit auch als Dirigent des Ensembles gewirkt536. Die Aufführung von John Cage’s Klavierkonzert am 19. November 1959 entfesselte den wildesten Konzertskandal der Nachkriegszeit537, der zu einer abermaligen Schärfung der Absichten des Ensembles führte, die charakteristischen Erscheinungsformen der Neuen Musik noch nachdrücklicher ins Bewusstsein des Publikums zu bringen. Im Rahmen des Weltmusikfestes der IGNM 1961 in Wien hatte die reihe den ersten großen Erfolg, der ihr viele Einladungen ins Ausland brachte538.539 Die Aufbruchstimmung zur Zeit der Gründung der reihe zeitigte auch in anderen Bereichen der Kunst Künstlerinitiativen zur Selbsthilfe. Der Bildhauer Karl Prantl organisierte in St. Margarethen im Burgenland ein Bildhauersymposium, in Graz wurde das Forum Stadtpark gegründet, das die Grundlage für die Grazer Autorenversammlung und den Steirischen Herbst war540. 3.1.6 Domain musical und IRCAM Die Funktion Pierre Boulez’ als musikalischer Direktor der Compagnie Madeleine Renaud – Jean-Louis Barrault war die Grundlage für die am 13. Jänner 1954 von Boulez programmierte und von den beiden Schauspielern unterstützte Konzertreihe Domaine musical in Paris. Sie war eine Herausforderung für das konservativen Paris, die Boulez in dreifacher Hinsicht provozierte: in der Programmierung von Werken vergangener Epochen, auf deren Aktualität er hinweisen wollte (etwa von Bach, Dufay, Monteverdi und Gesualdo), in der Berücksichtigung von Werken aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die für die weitere Entwicklung der Musik bedeutend oder überhaupt noch unentdeckt waren (etwa von Debussy, Ravel, Stravinsky, Bartók und der Wiener Schule), und schließlich die Präsentation der Werke der jungen Generation bzw. des zeitgemäßen musikalischen Denkens (z. B. von Nono und Stockhausen). So groß die Orientierungslosigkeit war, der Boulez mit seinen Programmen begegnete, so groß waren doch auch die ersten Erfolge, die die Konzertreihe und das mit ihr verbundene Anliegen bald zu einem festen Begriff machten. Die Fünf Orchesterstücke op. 10 von Anton Webern etwa, in der ersten Saison aufgeführt, wurden wegen des großen Beifalls sogar wiederholt. 536 Ulrich Dibelius (1998) S. 266 f Gertraud Cerha (1999) 538 Gertraud Cerha (1999) 539 Martin Sierek, Die Geschichte des Ensembles „die reihe“, Wien 1995 540 Gertraud Cerha (1999) 537 173 Boulez war aber nicht nur mit einem Publikum konfrontiert, das wenig Erfahrung mit der neueren Musik hatte, sondern auch mit dem Problem, dass das auch für die Musikerinnen und Musiker galt. Wie Schönberg oder auch in einer Parallele zu Schwertsik und Cerha erkannte er, dass die gelungene Vermittlung von Musik von der Qualität der Interpretation abhängt. Das veranlasste ihn zur Gründung eines Ensembles, das diesen Anforderungen gewachsen war541. In dem Sinn, in dem die Möglichkeiten der Elektronik und des Computers seit den fünfziger Jahren den Zugriff auf Mikrobereiche und Strukturen des Einzeltons ermöglichte und der Idee des Seriellen weitere Dimensionen erschlossen hat, war die Initiative der Gründung des IRCAM 1977 durch Pierre Boulez eine, die mehr im Zeichen der Kunst und seines persönlichen Schaffens als im Zeichen der Vermittlung, wie das bei der Domaine musicale der Fall war, stand. Boulez drückte seine Vision so aus: Die beiden Klangwelten in multidimensionalen Konstruktionen [mit] einander zu konfrontieren, ein Vorhaben, das uns ohne Zweifel faszinieren und zu höchster Anstrengung anspornen könnte542. Diese Vorstellung einer Verbindung von analog instrumentalen und synthetisch elektronischen Klängen mündete in der Gründung des Institut de Recherche et de Coordination Acoustique/Musique (IRCAM) in Paris. In fünf Abteilungen wurde und wird noch heute die Erforschung und Erprobung neuer Klangmöglichkeiten in den Bereich Computer und Elektroakustik, Instrumente und Stimme, interdisziplinäre Koordination und Pädagogik realisiert543. 3.1.7 Das Festival Wien Modern Das Festival Wien Modern wurde 1988 vom damaligen Generalmusikdirektor der Stadt Wien, dem Dirigenten Claudio Abado, gegründet. Als Veranstalterin dieses größten und wichtigsten Festivals für Musik der Gegenwart in Österreich trat und tritt noch heute die Stadt Wien auf. Anfangs von Claudio Abado und dem Dramaturgen Lothar Knessl künstlerisch betreut, übernahm im Laufe der 90er-Jahre das Wiener Konzerthaus die Programmierung. Im Jahr 2000 wurden Berno Odo Polzer und Thomas Schäfer als eigene Dramaturgen verpflichtet. Seit 2006 ist Berno Odo Polzer künstlerischer Leiter von Wien Modern. Gab es in den ersten Jahren von Wien Modern den Aspekt des Nachholens von 541 Ulrich Dibelius (1998) S. 262 ff Ulrich Dibelius (1998) S. 582 543 Ulrich Dibelius (1998) S. 582 542 174 Versäumten, so sieht der heutige künstlerische Leiter keine pädagogische Intention in der Programmierung des Festivals544. 1984 wurde Claudio Abado zum Musikdirektor der Wiener Staatsoper nominiert. Die Bedeutung der 2. Wiener Schule bedenkend, versuchte er bald darauf, Veranstalter in Wien (allen voran Wiener Konzerthaus und Wiener Musikverein) zur Aufführung Neuer Musik zu motivieren und die Stadt Wien von der Idee eines Festivals für Musik des 20. Jahrhunderts zu überzeugen. Das „modern“ im Titel stand zumindest damals nicht nur für das Aktuelle, sondern auch für das Innovative im historischen Zusammenhang. Claudio Abado sah Wien damals als bedeutende Kulturmetropole, doch was die moderne Musik betraf, war Wien trotz der hier stattgefunden habenden Revolutionen bezüglich der neuen Musik relativ unbedeutend. Das erste Festival 1988 war ein großer Erfolg, weitere Erfolge folgten. Es galt zunächst, einen Nachholbedarf in Wien zu befriedigen, denn die wichtigen, großen Werke der Neuen Musik waren den meisten unbekannt. Ein weiteres Festivalkonzept war das Zusammenwirken mehrerer Veranstalter verschiedener Kunstsparten sowie Komponisten einzuladen545. Im 20. Jahr des Bestehens sieht der derzeitige künstlerische Leiter von Wien Modern den Auftrag des Festivals in der Programmierung eigenständiger, reflektierter, radikaler musikalischer Positionen, die in ihrer Gesamtheit ein vielfältiges Bild abgeben, was Musik heute ist oder sein kann. Wien Modern ist ein international ausgerichtetes Festival, das gleichzeitig eine wichtige Präsentationsplattform der Österreichischen Musikszene darstellt. Daneben sei es auch wichtig, Werke der Vergangenheit zu berücksichtigen. Schließlich ist das Agieren jenseits der Trennung der Kunstsparten wichtig, - das Überwinden musikästhetischer Barrieren, hinter denen sich oft soziale oder politische Ursachen verbergen. Wien Modern veranstaltet inzwischen an 20 verschiedenen Orten, was deren Bedeutung als Symbolträger sozialer Zugehörigkeit Rechnung tragen soll. Es sei wichtig, über diese Segmentierung hinauszugehen546. 544 Carsten Fastner, Das Projekt Avantgarde ist Geschichte. In: Falter 42a/08, Beilage Wien Modern zum Falter 42/08. Wien 2008, S. 20 f 545 „...immer weiter, und offen...“ - Claudio Abado im Gespräch mit Lothar Knessl. In: Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008. Saarbrücken 2008, S. 7 ff 546 Carsten Fastner (2008) S. 21 175 3.1.8 Zusammenfassung Die hier angeführten historischen Beispiele für Initiativen im 20. Jahrhundert, die sich um die Etablierung und Verbreitung des Neuen in der Musik Verdienste erworben haben, gelten heute als Pionierleistungen, ohne die die Kategorie der Neuen Musik nicht diesen Stellenwert hätte, den sie heute noch hat. Zum Teil noch heute existent und aktiv, sind sie Dokument dafür, dass die Durchsetzung des Neuen das spezielle Engagement Einzelner, in der Mehrzahl der Fälle einzelner Künstler erfordert, die – zum Teil trotz breiten Widerspruchs - ihre Bedürfnisse und Visionen artikulieren. Die an anderer Stelle erwähnten revolutionären bzw. reformatorischen Strategien der Moderne stehen und fallen mit der Aktivität oft nur Einzelner oder kleiner Gruppen. Vor allem die beiden Weltkriege im vorigen Jahrhundert erzeugten ein kulturelles Vakuum, in dem der Fluss der Geschichte und kulturellen Entwicklung unterbrochen schienen. Schon an diesen historischen Fällen lässt sich ein roter Faden des Kunstwollens und Kunstschaffens im 20. Jahrhundert ablesen. Viele dieser Initiativen waren Verbreitungs- und Vermittlungskonzepte, die vor allem dem Publikum die Möglichkeit geben wollten, an der neuen Kunst aktiv teilzuhaben. Aber auch pluralistische und interkulturelle Konzepte fanden Verwirklichung und wirkten gegen gesellschaftliche Trägheit und Konservatismus. In ihnen wurde der jeweilige Zeitgeist sichtbar, der die Entwicklung der Kunstmusik nachhaltig geprägt hat. Donaueschingen und Darmstadt stehen auch heute noch für eine radikal orientierte ästhetische Linie. Das Festival Wien modern, das 2008 zum 20. Mal stattgefunden hat, bemüht sich, den elitären Status der Neuen Musik und damit ästhetische Barrieren zu überwinden, hinter denen oft soziale und politische Ursachen stehen. 3.2. Fallbeispiele, Positionen, Eigeninitiativen Mit den in diesem Kapitel behandelten Fallbeispielen will ich die Annahme eines Paradigmenwechsel in der Musik nach 1980 nicht nur illustrieren, sondern ihn anhand dieser real existierenden Initiativen darstellen und diskutieren. Wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt wurde, haben von Künstlern initiierte Projekte schon am Beginn (z. B. Schönbergs Verein für Privataufführungen) und in der Mitte des vorigen Jahrhunderts (z. B. das Ensemble die reihe) auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert und das kulturelle Leben mit ihren Initiativen nachhaltig mitbestimmt, wenn nicht geprägt. Ich habe versucht, Projekte aus verschiedenen Teilen Europas aufzuzeigen, die die 176 verschiedenen Aspekte der von mir wahrgenommenen Neuorientierung abbilden. Die Auswahl erfolgte nach den Kriterien Motivation und Intention, Entwicklung und Realisierung, sowie Rezeption und Nachhaltigkeit: 1. Das Projekt/die Initiative sollte künstlerisch (und nicht etwa wirtschaftlich) getrieben sein und auf neue, aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen reagieren bzw. innovative Strategien entwickeln. 2. Die Initiativen sollten die Ideen über mehrere Jahre hinweg realisiert haben und so auch allgemein gesellschaftliche wie kulturelle Entwicklungen abbilden bzw. beeinflusst haben können. 3. Rezeption und Akzeptanz spiegeln Bedürfnisse wider, die besonders im Falle positiven Echos in den gezeigten Beispielen abgebildet sind. Auch die Nachhaltigkeit ist ein Beweis bestehender Bedürfnisse nach z. B. neuen Strukturen, Strategien usw., sei es auf Seiten der Produzierenden, Reproduzierenden oder Konsumierenden. Dabei geht es um die Frage, welche (neuen) Bedürfnisse abgebildet werden, welcher aktuelle Zustand verbessert werden soll bzw. welches aktuelle Thema aufgegriffen wird. Die hier dargestellten Beispiele sind: 3.2.1 der Komponist Peter Ablinger (Österreich/Deutschland) 3.2.2 das KomponistInnenforum Mittersill/Wolfgang Seierl (Österreich) 3.2.3 das Projekt No Music Day/Bill Drummond (Großbritannien) 3.2.4 die Chameleon Group of Composers/Ludger Hofmann-Engl (Großbritannien) 3.2.5 das Festival Sajeta/Miha Kozorog (Slowenien) 3.2.6 das International Multimedial Art Festival (IMAF)/Nenad Bogdanovic (Serbien) 3.2.7 die Initiative Fair Music/Peter Rantaša (Österreich) Die spezielle Fragestellung in Bezug auf die untersuchten Initiativen und deren Initiatoren bzw. Kontaktpersonen beinhaltet folgende Punkte547: 547 dabei war der Fragen- bzw. Themenkatalog auf folgende Schwerpunkte ausgerichtet bzw. war im Allgemeinen so formuliert und wurde im Speziellen sinnvoll an jeweiligen Gegebenheiten angepasst: - Steht das Projekt/die Initiative/die Arbeit mit dem Paradigmenwechsel Digitalisierung in Zusammenhang? Wenn ja, in welcher Art und Weise? - Spielen im Projekt/in der Initiative/in der Arbeit spirituelle Aspekte eine Rolle oder sogar eine wesentliche Rolle? Wenn ja, in welcher Art und Weise? - Welche Position haben die Personen, die durch das Projekt/die Initiative/die Arbeit erreicht werden sollen, das Publikum, die Hörenden? Sind sie aktiv oder passiv eingebunden? - Liegt der Schwerpunkt des Projekts/der Initiative/der Arbeit auf dem/den Autor/en, auf der Vermittlung oder auf dem Publikum? 177 a) die Digitalisierung der Musik b) die spirituellen Aspekte der Musik c) die Position des Publikums d) die Bedeutung von Werk, Prozess und Situation e) das Verhältnis von Produktion, Vermittlung und Publikum f) die Relevanz/Aktualität des Begriffs bzw. Paradigmas Neue Musik g) die Arbeitsbedingungen, soziale und wirtschaftliche Aspekte 3.2.1 Peter Ablinger Die erste künstlerische Position, die ich beleuchten will, ist die einer Komponistenpersönlichkeit, deren Schaffen im Kontext der zeitgenössischen Musik gleichsam Positionierung und Initiative ist. Werk und Haltung des Komponisten Peter Ablinger lassen sich als im Zeichen des Wertewandels, den ich in dieser Arbeit zu skizzieren versuche, stehend verstehen. Sein Werk thematisiert in erster Linie das Hören selbst und in diesem Zusammenhang die durch Tradition aufgezwungenen kulturellen Spielregeln und Hörgewohnheiten548. Peter Ablinger wurde 1959 in Schwanenstadt/Österreich geboren. Er studierte 1974-76 zunächst Graphik in Linz, bevor er 1977 seine erste musikalische Ausbildung (er spielte seit seinem 6. Lebensjahr Klavier) in Jazzklavier an der Musikhochschule in Graz begann. 1979 setzte er diese im Fach Komposition privat bei Gösta Neuwirth und an der Wiener Musikhochschule bei Roman Haubenstock-Ramati fort. Seit 1982 lebt Peter Ablinger in Berlin549. Dort gründete Peter Ablinger 1988 das Ensemble Zwischentöne, 1990 war er Mitbegründer der Klangwerkstatt Berlin, die er bis 1992 auch leitete. In den folgenden Jahren leitete bzw. organisierte er zwei weitere Festivals – 1996 Zeit Geben und 1997 Insel Musik Berlin - Ist das Projekt/die Initiative/die Arbeit Werk orientiert, Prozess orientiert oder Situation orientiert? - Haben Begriffe wie Neue Musik, Zeitgenössische Musik, Experimentelle Musik, Avantgarde für das Projekt/die Initiative/die Arbeit Relevanz? Wenn ja, welche? - Ist das Projekt/die Initiative/die Arbeit gesellschaftlich etabliert oder nicht, wirtschaftlich orientiert oder nicht? Wie sind die Arbeitsbedingungen? Wie ist die Raumsituation? In welchem sozialen Feld ist dieses Projekt/diese Initiative/diese Arbeit angesiedelt? - Wer sind die Organisatoren, Projektleiter, Initiatoren? Welche ist die Zielgruppe? Wer wird aus welchen Motiven eingeladen? 548 Katja Blomberg, Vorwort. In: Katja Blomberg (Hsg.), Peter Ablinger/Hören hören/hearing listening. Berlin 2008, S. 16 549 Blomberg S. 113 und Bernhard Günther (Hsg.), Lexikon zeitgenössischer Musik aus Österreich. Komponisten und Komponistinnen des 20. Jahrhunderts. Wien 1997, S. 227 ff 178 – und 2001 die Konzertreihe des Ensembles Zwischentöne „Musik für Orte“ in Berlin. 2001 gründete er gemeinsam mit den Komponisten Klaus Lang, Bernhard Lang und Nader Mashayekhi und dem Historiker Siegwald Ganglmair den Verlag Zeitvertrieb Wien Berlin. Die kompositorischen Schwerpunkte bilden bis 1994 Werke für Soloinstrumente und Werke der Kammermusik für bis zu 25 Instrumente. Die Komposition Der Regen, das Glas, das Lachen aus dem Jahr 1994 für Orchester ist eine Art Summe der bis zu diesem Zeitpunkt entstandenen Arbeit. In den darauf folgenden Jahren entstehen parallel mehrere Werkzyklen, in denen sich Ablinger u. a. mit der Verbindung von Instrumenten und Elektroakustik oder wie beispielsweise im Werk-Komplex Weiss/Weisslich, welcher Instrumentalstücke, Installationen, Objekte, Aufnahmen, Hinweise und Prosa umfasst, mit dem Rauschen beschäftigt. Seit 2001 entstehen vielteilige Serien-Kompositionen550 oder mehrgliedrige Netzwerke, in denen unterschiedliche musikalische Gattungen, Topoi und Besetzungen kombiniert sind551. Die Aspekte in Peter Ablingers Biografie und Werk, die für meine Darstellung von besonderer Bedeutung sind, sind folgende: 1 Radikalität, Unangepasstheit, Kompromisslosigkeit 2 Vollzug, Nachvollzug, Vermittlung 3 Engagement in der Schaffung neuer Strukturen 4 Spiritualität 3.2.1.1 Radikalität, Unangepasstheit, Kompromisslosigkeit In einem E-Mail Interview mit dem Komponisten Trond Olav Reinholdtsen antwortet Peter Ablinger auf die Frage nach seiner Beziehung zur klassischen Tradition: Ich wollte nie, dass meine Musik klingt wie klassische Musik, auch nicht wie neue klassische Musik oder klassische Avantgarde. Zuerst wollte ich Maler werden, dann Jazzmusiker, und über die bildende Kunst und den Jazz habe ich erfahren, dass es überhaupt so etwas gibt wie eine neue Kunst oder Musik....Ehrlich gesagt, ich denke nicht viel nach über das Verhältnis meiner Arbeit zur Tradition. Meine Inspirationsquellen 550 z. B. Voices and Piano (1998 – 2007) für Soloinstrument(e) und Zuspielung z. B. das dreiteilige Stück Altar (2002/03), dessen ersten Teil die Drei Hörsäulen im Stadtbereich bilden. Teil 2 ist die Komplementäre Studie für Cello und Elektronik und Teil 3 die Drei Minuten für Orchester (vgl. Volker Straebel, Programmhefttext Donaueschinger Musiktage 2003) 551 179 liegen woanders, sie entspringen vielmehr unserem jetzigen Leben, der Umwelt, dem Tagtäglichen, oder, wenn es denn unbedingt Kunst sein soll, dann eher der bildenden Kunst 552. In diesem Sinne zelebriert Ablinger nicht die Desintegration, wie Max Paddison das etwa bei Jean- François Lyotard feststellt553. In dessen Schriften konstatiert Paddison einen Relativismus, in dem Werturteile nicht validiert, sondern nur innerhalb einer spezifischen dominanten Erzählung legitimiert werden können, der sie sich darum anpassen müssen554. In diesem Sinn sei der aus der Romantik stammende und in die frühe Moderne hinübergerettete Begriff des subjektiven Ausdrucks zu sehen, dessen Legitimation durch den Kapitalismus entzogen wurde und dessen Desintergation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Folge hatte, - die heroische Erzählung des Avantgarde-Subjekts vermochte nicht mehr länger zu überzeugen. Die Zelebrierung der Desintegration meint das in Lyotards Schriften paradoxerweise nahe gelegte Überleben der großen Erzählungen heroischer Subjektivität, deren Untergang Lyotard ja eigentlich prognostiziert. Dem Verlangen nach Realität, das heißt nach Einheit, nach Einfachem, nach Mitteilbarkeit usw.555, steht zwar der Krieg dem Ganzen556 gegenüber, doch die von Lyotard formulierte Aufgabe der Postmoderne, Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann557, die Vermeidung von Konsistenz und Form zugunsten permanenter Instabilität, scheint für Paddison ein Mechanismus des Überlebens zu sein558. Peter Ablingers Schaffen lässt sich deshalb nicht in diesem engeren Sinn als postmodern begreifen. Was die in Kapitel 2.1 beschriebene postmoderne Haltung in einem weiter gefassten Sinn betrifft, gibt es in Ablingers Persönlichkeit, Biografie und Schaffen aber durchaus Hinweise auf eine entsprechende Grundhaltung. Die Grundfrage, die Ablinger in und mit seinem Schaffen stellt, ist die nach unseren Erkenntnismöglichkeiten: Was können wir überhaupt erkennen, wie sind wir positioniert? 552 Katja Blomberg (2008) S. 89, zuerst erschienen in: Musiktexte, Nr. 111. Köln 2006, auf Norwegisch bereits in: Parergon, Oslo 2005 553 Max Paddison, Die vermittelte Unmittelbarkeit der Musik: Zum Vernittlungsbegriff in der Adornoschen Musikästhetik. In: Alexander Becker/Matthias Vogel (Hsg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Frankfurt am Main 2007, S. 181 554 Max Paddison (2007) S. 181 555 Jean-François Lyotard, Postmoderne für Kinder. Wien 1987, S. 19 556 Jean-François Lyotard (1987) S. 31 557 Jean-François Lyotard (1987) S. 30 558 Max Paddison (2007) S. 182. Frederic Jameson über Lyotard in bezug auf Deleuze und Guattari: Die Schizophrene Ethik, die sie vorschlugen, war keineswegs revolutionär, sondern ein Weg des Überlebens im Kapitalismus. In: Frederic Jameson, Foreword. In: J.-F. Lyotard, The Postmodern Condition. A Report on Knowledge. Manchester 1984, S. vii - xxi 180 Was ist die Welt, wie viel Welt ist überhaupt da? Erzeugen wir das alles möglicherweise selbst? Gibt es überhaupt ein Außen?559 Hier geht es nicht um den Krieg dem Ganzen, sondern um die sehr persönliche Suche nach einem Zugang zur Welt und damit zu uns selbst. Ablinger setzt Misstrauen einer Epoche gegen die vorhergehende, die überwunden werden muss, nicht fort, sondern bezieht eine Position, die einem zyklischen, nicht kriegerischen Denken entspringt. Er glaubt nicht an das Neue, höchstens an Erneuerung im Sinn eines immer währenden Prozesses und Gleichgewichts. Wir brauchen Erneuerung, damit es bleibt wie es ist. Damit es weitergeht. Das ist wie Kinderkriegen: Ein neues Kind ist neu, weil es noch nie vorher da war. Aber der ganze Vorgang ist so alt wie die Menschheit und hat nur den einen Zweck, sie zu erhalten560. So steht er auch in seinem musikalischen Wollen eher im Gegensatz zur Ästhetik der so genannten Neuen Musik, die sich unter anderem durch die Emanzipation des Geräusches auszeichnet. Peter Ablinger interessieren Geräusche als Erweiterung des musikalischen Materials überhaupt nicht. Das Rauschen, das in vielen seiner Arbeiten einbezogen bzw. thematisiert ist, ist für ihn etwas ganz anderes. Rauschen ist einer der ältesten Klänge derer sich Menschen bewusst wurden. Es wirkt wie ein Spiegel, der das, was wir in ihn hineinlegen, zurückwirft. Im Erfahren von Rauschen erfahren wir uns also selbst. Was musikalische Form und Konsistenz betrifft, versucht Ablinger nicht, diese wie in postmodernen Konzepten vorgesehen, zu vermeiden, sondern entwickelt Denk- und Arbeitsprinzipien, die unabhängig vom traditionellen Formverständnis sind: Es gibt also Stücke, in denen der „zeitlose“ Aspekt im Vordergrund steht und der Zuhörer dabei auf sich selbst gestellt ist, sich einen Hörpfad durch das Stück zu bahnen, aber es gibt auch solche Stücke, in denen der zeitliche Aspekt definierter ist und das Hören mehr gelenkt wird. Und viele Stücke versuchen, genau die Balance dazwischen zu halten561. Sein Interesse gilt der Durchdringung von zwei grundsätzlichen Hörweisen, die für ihn letztlich Daseinsweisen sind, - zwei unterschiedliche Modi des Sich-in-der-Welt-Findens, für die er auch die Begriffe Denken und Hören verwendet. Für dieses dynamische Formverständnis gibt es für Ablinger einen starken Bezug zur Tradition, zwar nicht in der Musik, aber in der Architektur562. 559 Aus einem persönlichen Gespräch des Verfassers mit Peter Ablinger am 31. Oktober 2008 in Wien Katja Blomberg (2008) S. 89 561 Katja Blomberg (2008) S. 90 562 Katja Blomberg (2008) S. 90: Der Bezug zur Architektur ist etwa die spätbarocke Architektur in Süddeutschland, in der versucht wurde, den uralten Konflikt zwischen Basilika und Zentralbau, zwischen 560 181 Der Vorgang des Hörens oder - weiter gefasst - die Funktion unserer Sinne, hat in Peter Ablingers Werk zentrale Bedeutung. Das Hören steht für ihn für jede Art von Wahrnehmung, für die Art und Weise, wie wir die Welt erkennen und auf sie reagieren. Diese Welt aber müssen wir jeweils erst erzeugen. 1984 erschien die bereits an anderer Stelle erwähnte Untersuchung Der Baum der Erkenntnis der beiden Biologen und Erkenntnistheorethiker Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela563. Die Kernaussage des damals Bahn brechenden Werkes ist, dass die Welt, in der wir leben, eine Welt ist, die wir im Prozess des Erkennens gemeinsam erschaffen. Unsere Erfahrung ist mit der uns umgebenden Welt gekoppelt, deren Regelmäßigkeiten das Ergebnis unserer biologischen und sozialen Geschichte sind. Hatte die Neue Musik des frühen 20. Jahrhunderts noch auf weltweite Geltung im Sinne eines Machtanspruchs gezielt, ist dieser Anspruch in der heutigen pluralistischen und globalisierten Welt nicht mehr zu halten bzw. relativiert. Unsere jeweilige subjektive Wahrnehmung bzw. Erkenntnis der Welt entscheidet über künftige Konzepte und Strukturen mit. Mit seinem Fokus auf Wahrnehmung und Erkenntnis begibt Ablinger sich auf den Konzentrations- bzw. Schnittpunkt von Musik und Welt: Das Hören ist also das Mittel zur Wahrnehmung von Wahrnehmung564. Maturana/Varela beschreiben diesen Vorgang, der sich auch als Modell des Umganges mit Kunst lesen lässt, so: Wenn irgendeine Interaktion uns aus dem Lot bringt – wenn wir zum Beispiel plötzlich in eine andere kulturelle Umgebung versetzt werden – und wir darüber reflektieren, dann bringen wir neue Konstellationen von Relationen hervor und erklären damit, dass wir „ihrer vorher nicht bewusst gewesen“ seien oder sie für „selbstverständlich“ gehalten hätten. ... Tradition ist nicht nur eine Weise zu sehen und zu handeln, sondern auch eine Weise zu verbergen565. Auch das Verbergen bezieht Ablinger aktiv in seine Arbeit mit ein. Das Rauschen hat für ihn – besonders in Kombination mit Instrumenten – verhüllende, verbergende Funktion. Schon an einer Sprechstimme vor dem Hintergrund eines Rauschens bemerken wir, dass die Konsonanten vom Rauschen verhüllt werden. Aus den noch wahrnehmbaren Vokalen können wir das Gesprochene wieder rekonstruieren. Für Ablinger wird dabei sichtbar, wie Scholastik und Mystik zu lösen. Peter Ablinger verallgemeinert ihn zu einem zwischen Weg und Ort, zwischen Konzert und Installation, zwischen Teleologie und Anwesenheit, zwischen Denken und Hören. 563 Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Bern, München 1987 564 Katja Blomberg (2008) S. 93 565 Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela S. 260 ff 182 Wahrnehmung funktioniert, dass sie ständig (re)konstruiert und nicht einfach nur aufzeichnet, was draußen in der Welt passiert. Das Wahrnehmen ist für ihn ein ständiges Konstruieren der eigenen Welt. Mit dem Hilfsmittel des Verhüllens eines Klanges (etwa durch Rauschen) zielt er auf erhöhte Konzentration beim Zuhörer, der so versucht, das vom Rauschen Verborgene zu entdecken, freizulegen. Die Simulation von dem (was immer das auch sei mag) uns von der Wahrnehmung gewisser Dinge fern Haltende, erzeugt Aufmerksamkeit und Sensibilität für das, was sonst allzu leicht übersehen bzw. überhört wird. In ihrer Zusammenfassung betonen die Autoren von Der Baum der Erkenntnis, dass die Erkenntnis zur Erkenntnis verpflichte. Sie verpflichte uns zu einer Haltung ständiger Wachsamkeit gegenüber der Versuchung der Gewissheit. Sie verpflichte uns, einzusehen, dass unsere Gewissheiten keine Beweise der Wahrheit seien, dass die Welt, die jeder sieht, nicht die Welt sei, sondern eine Welt, die wir mit anderen hervorbringen. 3.2.1.2 Vollzug, Nachvollzug, Vermittlung Die Aktivität des Hörenden, der im beschriebenen Fall das Wesentliche nur bei erhöhter Aufmerksamkeit hören können wird, ist eine Grundbedingung für Musik bzw. Kunstrezeption schlechthin. Peter Ablinger arbeitet bewusst mit Elementen, die die Hörenden zu aktivem, kreativem Hören und Mitgestalten animieren. So hat für ihn das Rauschen die Tendenz, akustische Illusionen, - individuell erzeugte Projektionen auszulösen. Seine Klänge gestaltet er so, dass solche Illusionen begünstigt werden und es mitunter nicht klar ist, ob die Klänge real im Raum sind, oder nur in den Köpfen der Zuhörenden566. Ein anderes Beispiel sind die Hörtexte, in denen Ablinger aufschreibt, was er gerade hört, eine Art Notizbuch über Klänge, meist Umweltklänge und Reflexionen darauf. Ursprünglich für privates Lesen gedacht, kam es doch zu einer öffentlichen Lesung dieser Texte. Das Vorlesen dieser Geräuschprotokolle wurde dann selbst wieder zur Musik, - der Zuhörer, der dem Text folgt, wird nämlich kaum umhin können, dass er sich die Klänge, die da aufgezählt werden, teilweise vorstellt: ... Und wieder einmal entdecken wir uns 566 Katja Blomberg (2008) S. 90 183 selbst beim Erzeugen von etwas: Wirklichkeit? Musik? Ja, und wenn er nur der Stimme zuhört, ist es ohnehin – von vornherein: Musik567. Die Aktivität der Zuhörenden scheint auch Garant für Unmittelbarkeit zu sein. Kunst funktioniert für Peter Ablinger wie eine Membran zwischen verschiedenen Zuständen des Wahrnehmens568. Der Prozess der Vermittlung wird auf diese Art und Weise Teil des Kunstwerkes. Paddison erkennt in der Vermitteltheit des Kunstwerks, die im Prozess der Vermittlung scheinbar ausradiert wird, um den Schein der Unmittelbarkeit zu erwecken, das zentrale Problem in der Ästhetik Theodor Adornos, dessen Begriff der Vermittlung philosophisch aufgefasst und vom Begriff der Kommunikation abgegrenzt werden muss569. Der im heutigen Kulturbetrieb verwendete Begriff der Kunstvermittlung ist somit dem der Kommunikation zuzuordnen. Vermittlung als Strategie, um höhere Besucherzahlen in Konzerten mit zeitgenössischer Musik zu erreichen, ist für Peter Ablinger eher kontraproduktiv. Die Forderung nach mehr Publikum muss nicht im Vordergrund stehen, bestimmte Dinge sollten vielmehr nur in kleinen Kreisen passieren. Nicht jede Musik muss für jeden zugänglich sein. Auch in diesem Zusammenhang wäre die Überwindung einer Schwelle, das Auf-sich-nehmen einer besonderen Anstrengung ein Gewinn für Diejenigen, die sich darauf einlassen. Andererseits wäre diese Schwelle eine Art Filter, die Unbefugten den Zugang erschweren würde570. So elitär diese Haltung scheinen mag, so sehr wehrt sie sich gegen jeglichen Machtanspruch bzw. jegliche Quote. 3.2.1.3 Engagement in der Schaffung neuer Strukturen Aus den oben genannten Initiativen Peter Ablingers möchte ich den Musikverlag Zeitvertrieb Wien Berlin herausgreifen. 2001 von den Komponisten Peter Ablinger, Bernhard Lang (Jg. 1957), Klaus Lang (Jg. 1971) und Nader Mashayekhi (Jg. 1958) sowie dem Historiker und Musikliebhaber Siegwald Ganglmair gegründet, steht dieser Verlag für die Abweichung von etablierten Normen des Ästhetischen, des Werkbegriffs, der 567 Katja Blomberg (2008) S. 93. Vgl. dazu auch die in Kapitel 1.3.2 erwähnten Texte Dantes, die reich an Beschreibungen von Klängen sind. 568 Chico Mello, Zwischen Abbild und Selbstreferentialität: Mimesis und Rauschen bei Peter Ablinger. In: Katja Blomberg (2008). S. 99 569 Max Paddison (2007) S. 189 570 Aus einem persönlichen Gespräch des Verfassers mit Peter Ablinger am 31. Oktober 2008 in Wien 184 Aufführungssituation, der Konzertkonventionen, der Notation, der Instrumentenbehandlung, des Instrumentenbaus und der Wahrnehmung selbst571. Die Motivation der vier annähernd einer Generation angehörenden und international erfolgreichen Komponisten zur Verlagsgründung war zunächst der Ausstieg aus im konventionellen Verlagswesen üblichen Abhängigkeiten, welche vor allem das Verhältnis zwischen Komponist und Verlag als auch die ästhetische Entfaltung trüben. Die notwendige Thematisierung der aktuellen Aufführungsbedingungen müsste auch zu einem Umbau der veralteten Verlags- und Vertriebsstrukturen führen. Neben der Herstellung bzw. Bereitstellung von Notenmaterial und Tonträgern sieht der Verlag deshalb seine Aufgaben auch in der technischen wie organisatorischen Vermittlung und Abwicklung von Klanginstallationen und Klangobjekten. An dieser Initiative lässt sich vor allem Kritik an herkömmlichen, veralteten Strukturen erkennen. Während die künstlerische Ausrichtung sehr offen ist, wird mit einer neuen Verlagsstruktur vor allem auf die Bedürfnisse der Musikschaffenden, aber auch auf die von innovativen Musikveranstaltern eingegangen. 3.2.1.4 Spiritualität Als weiteres Beispiel für Ablingers kompromisslose Haltung aber auch für den spirituellen Aspekt in seinem Werk sei die Arbeit Exercitium 1 – 6 für Gitarre (1997) erwähnt, die in einem für den Instrumentalunterricht konzipierten Sammelband zeitgenössischer Musik für Gitarre572 erschienen ist. Das Stück geht auf die Performance Ins Nasse 2 (1989) zurück, in der ebenfalls bzw. noch andere irreversible Vorgänge eine Rolle spielen. „Exercitium“ heißt es, weil es einem, in seinem insistierenden Verweis auf die Unvorhersehbarkeit und auf das jederzeit mögliche Ende, recht jesuitisch vorkommen kann573. Die Partitur schreibt die Skordatur aller Saiten auf den Ton cis vor. Beginnend mit der 6. Saite, werden alle Saiten der Reihe nach ständig und unabhängig vom Rhythmus der Rechten Hand (der übrigens genau notiert ist) mit der linken Hand am Wirbel höher gestimmt, bis jeweils die Saite reißt. Nicht nur der im Einführungstext gegebene Hinweis auf die Bedeutung des Titels legt einen spirituellen Bezug nahe. Auch die Skordatur des Instrumentes auf den Ton cis ist ein 571 Aus: http://zeitvertrieb.mur.at (02. 01. 2009) Christian Horvath/Gunther Schneider (Hsg.), Verwegene Wege. Neue Musik für Gitarre aus Österreich. Wien 1999, S. 2 - 3 573 aus der Partitur, wo auch folgender Hinweis steht: Wer das Stück ablehnt, ist allein dadurch gerechtfertigt – ganz im Gegensatz zu dem, der es gemacht hat. Das Einzige, was das Stück – und auch das nur teilweise – entschuldigen könnte, wäre ein Gitarrenschüler, dem es Spaß machte, es zu spielen. 572 185 Hinweis darauf. Das cis ist der Ton des Indischen Mantras OM und wird dem Herzchakra zugeordnet. Weitere geistige Bezüge im Werk Peter Ablingers sind vordergründig ebenfalls schon an den Werktiteln abzulesen: Verkündigung, Weiße Litanei, Gegrüßet seist Du Maria, Altar. Peter Ablinger, der sich gerne in Klöster zurückzieht, sieht aber die spirituellen Aspekte in seiner Arbeit eher auf einer anderen Ebene angesiedelt. Äußerer Katholizismus spielt für ihn persönlich keine Rolle, - religiöse Fragestellungen aber sind für ihn dieselben wie die künstlerischen bzw. werden von der Kunst übernommenen574. So etwa basiert das Klangmaterial des Portraits meiner Eltern - Endlos Schleife für 2 Selbstspielklaviere aus dem Installationszyklus Quadraturen III (eine Klanginstallation und monumentale Skulptur zugleich) auf einer Tonaufnahme seiner Eltern beim täglichen, privaten Rosenkranz Gebet. Dieses ist für ihn zunächst – unabhängig vom Gehalt des Textes – aber nur Hilfsmittel, um in das Stück einzusteigen. Erst in der Übertragung des Klangmaterials auf zwei Computer gesteuerte Flügel ergibt sich der tiefere geistige Bezug dieser Komposition. In der Forderung an den Zuhörer, die Sprache aus den Klängen bzw. Klavierkaskaden wieder herauszufiltern, und in der quasi maschinellen Endlos-Schleife, die die Idee des Gebetes vollendet oder aber persifliert. Ist schon das Grundthema Hören eine spirituelle Metapher, so ist das Rauschen, das ihn auch schon jahrelang beschäftigt, eine Metapher für Alles, in einer anderen Terminologie für Gott, verbunden mit der Frage, wie er sich diesem Alles nähern, es erfahren kann. Ebenso verhält es sich mit dem Weiß575. Weisslich ist gewissermaßen auch die Antwort darauf, wie das Alles, das Weiss zu erfahren ist: weisslich eben576. Zum Werk Tuba und Rauschen (1999-2001) gibt es einen Notizbucheintrag von Peter Ablinger: Um an dem Stück zu arbeiten fuhr ich von Berlin nach Graz. Wie üblich machte ich Station bei meinen Eltern in Oberösterreich. Wie üblich unternahm mein sehr katholischer Vater kleine Bekehrungsversuche indem er mir diesmal ein Erbauungsheftchen auf den Tisch legte. Ich hab nicht einmal hineingesehen, und fuhr am nächsten Tag nach Graz um im elektronischen Studio zu arbeiten. Der Komponist Klaus Lang hat mir den Schlüssel zu seiner Wohnung überlassen. Aber was lag auf dem Tisch: 574 Aus einem persönlichen Gespräch des Verfassers mit Peter Ablinger am 31. Oktober 2008 in Wien z. B. weißes Rauschen, weißes Licht, vgl. Zyklus Weiss/Weisslich (1980-1999) 576 Aus einer E-Mail von Peter Ablinger an mich vom 23. November 2008. Die Schreibweise von weiss/weisslich entspricht der von Peter Ablinger verwendeten. 575 186 eben jenes gleiche Erbauungsbüchlein. Ein paar Tage lang versuchte ich, es zu ignorieren. Bis ich mit dem Stück nicht mehr recht vorankam. Eigentlich hatte es eine klare Struktur, aber ich zog sie ständig in Zweifel. Ich schlug das Erbauungsheftchen auf und las folgenden Satz: "Bedenken Sie, daß Sie nach Hause kommen". Ich war augenblicklich erlöst, und hatte nicht mehr das Gefühl irgendetwas an dem Stück ändern zu müssen. Frohgemut führte ich es aus, so wie ich es geplant hatte. Tatsächlich beginnt das Stück wie eine „suprematistische Geschichte“, aber dann kippt etwas und es ist zu einer Formulierung über Figur und Hintergrund geworden. Am Anfang ist die Tuba Begleitung für die „Rauschquadrate“, aber am Schluss, wenn der einzelne Tuba-Ton in der großen Rauschfläche steht, das ist wie „Bedenken Sie, dass Sie nach Hause kommen“. Oder?577. Das musikalisch-künstlerische Denken Peter Ablingers ist subtil prozesshaft. Es hinterfragt die überkommenen wie noch bestehenden Strukturen des Musiklebens bzw. Musikmarktes und definiert hinsichtlich dieser eine absolut Zukunft weisende, aber niemals verstiegene Strategie, den Hörer zu erreichen, und zwar ohne jede dazwischen geschaltete Instanz. Dieser angestrebten Unmittelbarkeit würde sogar schon die Kategorie Komponist entgegenwirken. Damit einher geht der Wunsch, etwas zu machen, was nicht sofort Kunst ist, nicht sofort in eine der bereitstehenden Schubladen abgelegt werden kann578. Daraus spricht die Vorsicht vor Automatismus und Routine, von denen der herrschende Musikbetrieb nach wie vor geprägt ist. Seine Überzeugung, dass Kunst nicht etwas repräsentiert, etwas stellvertretend darstellt oder hinstellen muss, sondern dass sie sich als ein schlicht Seiendes zeigen kann, als etwas, das Raum schafft, wie ein architektonischer Eingriff, - diese Überzeugung spiegelt sich u. a. in den Installationen wieder, - etwa in der Nummer 22 aus der Serie Weiss/Weisslich579, die Christian Scheib im Ausstellungskatalog als Aussage zum Verhältnis eines darzustellenden „Alles“ zu einem dargestellten Kondensat, - letztlich von Repräsentanz zu Präsenz bezeichnet580. In der Installation Das Buch der Gesänge, in der auf sechs Tischen CD-Spieler mit Kopfhörern installiert sind, mit Hilfe derer akustische Fragmente aus Alltagssituationen zu hören sind. Diese Fragmente haben nichts Eindeutiges, nichts Abbildendes, - sobald die Klänge etwas abbilden und die 577 Peter Ablinger, März 2001, aus: http://ablinger.mur.at/i+r8_tb+r.html (19. 06.2009) Katja Blomberg (2008) S. 92 579 In Weiss/Weisslich 22 werden Symphonien von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Bruckner und Mahler mit einem eigens dafür entwickelten Computerprogramm auf jeweils 40 Sekunden kondensiert, das Ergebnis ist jeweils Rauschen, das in sich strukturiert, quasi gefärbt ist. 580 Christian Scheib, Ohne Titel. In: Blomberg S. 107 578 187 Uneindeutigkeit aufgeben würden, träte das Hören in den Hintergrund und das Kategorisieren in den Vordergrund, wäre das Paradies zugunsten zugunsten der Erkenntnis verlassen. Eindeutig assoziierbare, weil repräsentierende Information erweist sich als Gegenpol zum Hören, zur Präsenz des Wahrnehmens581. 1994 schreibt Peter Ablinger Folgendes und positioniert seine Musik in ganz besonderer Weise einerseits abseits der so genannten Neuen Musik, andererseits könnte diese Position ebenso als ein ideales Grundprinzip dieser verstanden werden: Ich möchte dahin kommen, nurmehr ein einziges Stück schreiben zu müssen, wie oft auch immer – ein einziges. Früher habe ich mit dem Anspruch gearbeitet, mich so wenig wie möglich zu wiederholen, und ich bin oft tief erschrocken, wenn ich feststellte, dass hinter allen vordergründigen Neuerungen und Varianten ein Altes, immer Gleiches, von Anfang an Vorhandenes hindurchscheint – und zwar gerade in Momenten, in denen ich mir sicher war, das Vergangene überwunden zu haben -, dass ich, je mehr ich und je konsequenter ich das Verschiedene suchte, nur das Gleiche fand. In letzter Zeit bin ich gegenüber diesem Gleichen aufmerksam geworden, habe mich mit der Wiederholung, der Serie beschäftigt, musste aber auch weiterhin bei jedem neuen Ansatz neue Lösungen suchen, nur um das Gleiche wiederzufinden. Bei Meister Eckehart gibt es das Motto: Es muss Neues sein, dass Altes wird. Das half mir. Aber mein Hintergedanke, meine Abänderung des Mottos hieß eher: Es muss Neues sein, damit alles gleich bleibt. Ich weiß nicht, ob es möglich ist, dieses Neue wegzulassen – es wäre sehr uneuropäisch -, aber mein Ziel ist in dieser Hinsicht eher die Ikone. Das Gleiche machen können, ohne Umwege über das Neue, aber auch ohne Erstarrung. Es in Gang halten (...TENET OPERA ROTAS582),- ohne Ablenkung583. Hier verlässt Peter Ablinger bewusst das europäische bzw. das diskursive Denken unserer Zeit und bietet damit Einblick in seine spirituelle Erfahrung und Haltung. 581 Christian Scheib (2008) S. 108. Vgl. dazu auch die Unterscheidung Sinnkultur – Präsenzkultur in: Hans Ulrich Gumbrecht, Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. Über Musik, Libretto und Inszenierung. In: Josef Früchl, Jörg Zimmermann (Hsg.), Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt am Main 2001, S. 66 f. Repräsentanz entspräche der Sinnkultur, Präsenz der Präsenzkultur im Sinne Gumbrechts. 582 aus dem lateinischen Palindrom SATOR AREPO TENET OPERA ROTAS (Der Sämann Arepo hält durch seine Mühe die Räder), das schon Anton Webern inspiriert hat. 583 Bernhard Günther (1997) S. 227 f 188 3.2.2 Das KomponistInnenforum Mittersill Das KomponistInnenforum Mittersill wurde von dem Wiener Musikwissenschafter Christian Heindl und dem Verfasser - einerseits als lebendiges Denkmal für den in Mittersill zu Tode gekommenen Komponisten Anton Webern, andererseits als Kommunikationsplattform für Musikschaffende - 1996 gegründet. Die beiden Gründungsmotive spannen einen Bogen von der zweiten Wiener Schule bis zur Gegenwart, von geschichtlichem bis zu aktuellem Diskurs. Bildet der Bezug zu Anton Webern auch die Nähe zu den Intentionen der Erneuerung, die die Musik von und um Anton Webern geprägt hat, ab, so ist der Bezug auf die gegenwärtige Situation des Musikschaffens vor allem durch das Interesse geprägt, Vielfalt und Innovation in Bereichen bzw. Nischen zu berücksichtigen, die auf einem auf Mainstreams und Hörerquoten ausgerichteten Markt unberücksichtigt bleiben. 3.2.2.1 Kommunikation Wie auch Peter Ablinger wollte ich ursprünglich Maler werden und machte die Erfahrung, dass Kommunikation und Austausch im Bereich bildender Künstler nicht nur aktiver betrieben, sondern auch mehr unterstützt wurde als in dem der Musikschaffenden. Die Teilnahme an mehreren Künstlersymposien als bildender Künstler584 erzeugte den Wunsch, auch im Bereich der Musik mehr Austausch pflegen bzw. zu diesem anregen zu können. Austausch in einem quasi geschützten Bereich, einer Ausnahmesituation, wie ich sie als bildender Künstler bereits kennen gelernt hatte. In meinem damaligen Konzept thematisierte ich aber nicht nur den Kontakt unter Kolleginnen und Kollegen, sondern aller am Musikgeschehen Beteiligten. Mir war es wichtig, die wesentlichen Glieder der Wertschöpfungskette Musik bzw. Kunst in einem quasi Experimentiermodus zusammenzubringen und damit auch die Komplexität desselben zu thematisieren. Neben den Komponisten, denen zumindest dem Titel des Forums nach die Hauptaufmerksamkeit gilt, gehören dazu auch die MusikerInnen und InterpretInnen als Vermittelnde und nicht zuletzt das Publikum. Diese drei Positionen verstand ich als Einheit, welchem Kommunikationsmodell sie in ihrer funktionalen Beziehung zueinander auch immer zuzuordnen waren. Im traditionellen Konzertleben entspricht diese Konstellation dem Modell des Diskurses, in dem die Botschaft von einem Sender über ein Medium einem 584 u. A. Teilnahme am Malersymposium Werfen 1991, Teilnahme an der Künstlerbegegnung St. Lambrecht 1995, Teilnahme am Symposium Karlstein 2001 189 Empfänger übermittelt wird585. Viele experimentelle Ansätze in der neueren Neuen Musik jedoch zielten meiner Meinung nach gerade darauf, den dialogischen Charakter der Musik wieder in den Vordergrund zu stellen bzw. die traditionellen Konzert- bzw. Kommunikationsstrukturen zu hinterfragen. 3.2.2.2 Publikum Diese Überlegungen bestimmten die Grundstruktur von Anfang an: Komponisten, Interpreten und Publikum sollten in engem Kontakt untereinander das Konzipieren, Realisieren und Rezipieren von Musik in dialogischem Sinn erfahren bzw. erfahrbar machen. In den ersten Jahren, waren es Musikeren aus der Region, mit denen die als Gäste geladenen KomponistInnen eine Woche lang zusammenarbeiteten. Das regionale Publikum bzw. die Öffentlichkeit war aufgefordert, diese Prozesse beobachtend und fragend zu begleiten, sodass die Präsentation der in Mittersill entstandenen und mit den Musikern erarbeiteten Kompositionen am Schluss – zwar in traditioneller Konzertform – schließlich doch auch dialogische Qualität besaß. Das KomponistInnenforum Mittersill hat sich seitdem als alljährlich im September um den Todestag Anton Weberrns stattfindendes Künstlertreffen mit Festivalcharakter und Plattform für innovative zeitgenössische Musik etabliert. Das Ziel des Vereins ARGE Komponistenforum Mittersill (heute von mir und dem Komponisten Hannes Raffaseder586 geleitet) ist, ausgehend von der Konzeption und Organisation des Forums, der Aufbau eines dynamischen Netzwerkes für Austausch, Information und Kommunikation rund um das aktuelle Musikgeschehen. Dazu gehören Veranstaltungen u. a. in Salzburg (Gesprächsreihe „Wohin?“ in der Galerie 5020) und Wien (ein klang_reviews), das Label ein_klang records, Newsletter, zwei Homepages (http://www.kofomi.com /http://www.einklangrecords.com), eine monatliche Sendung in der Radiofabrik Salzburg auf 107,5 MHz und ein Webportal (http://medienarchiv.fhstpoelten.ac.at). 3.2.2.3 Vermittlung und Öffentlichkeit Die Ergebnisse eines inzwischen 10-tägigen Zusammenseins und –arbeitens inmitten der Mittersiller Bergwelt werden nach wie vor in engem Kontakt zur Bevölkerung 585 Vgl. Vilém Flusser (2000) S. 17 Hannes Raffaseder, 1970 in Freistadt geboren, ist Musiker und Komponist, unterrichtet akustische Gestaltung an der Fachhochschule St. Pölten, lebt in Wien 586 190 kommuniziert sowie in Konzerten, Publikationen, Radiosendungen und einer CDProduktion dokumentiert. Fünf bis sechs Komponisten „in Residence“, eine in einem anderen Kunstbereich wirkende Persönlichkeit und ein nun auch von auswärts kommendes Ensemble „in Residence“ bilden die heute aktuelle Teilnehmerstruktur. Zudem finden im Rahmen des Komponistenforums Mittersill internationale Symposien statt, in denen der Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst sowie das jeweilige Hintergrundthema im Mittelpunkt stehen. Das erste dieser Symposien (Webern 21) war Anton Webern gewidmet und fand 2002 in Mittersill statt. Namhafte WebernForscherInnen587 und Künstler referierten und diskutierten die Aktualität bzw. Bedeutung Anton Weberns für das 21. Jahrhundert. In meinem Begrüßungsreferat588 thematisierte ich den Vermittlungsgedanken, der auch der Forumsidee zugrunde liegt. Meine Überzeugung war und ist, dass Kunstschaffen, das Neuland betritt und somit neues Vokabular generiert, nur dann eine Chance hat, wahr und ernst genommen zu werden, wenn die entsprechenden Strukturen geschaffen würden, die dem Publikum die Aneignung dieses neuen Vokabulars ermöglicht. Im Extremfall könnte es sogar zur Aufgabe der Künstler gehören, an der Schaffung dieser Strukturen mitzuarbeiten, - auch die Einübung in das Verstehen einer neuen Sprache zusätzlich zur schöpferischen Arbeit als Teil des Werkes zu begreifen. In diesem Sinn ist die Vermittlungsidee des KomponistInnenforum Mittersill eine zunächst künstlerische und weniger bis gar nicht pädagogische. Das Label ein klang_records wurde 1998 zum Zweck der Dokumentation und Verbreitung der Ergebnisse des KomponistInnenforums Mittersill gegründet. Auf zwei weiteren Programmschienen wird heute experimentelle, vorwiegend zeitgenössische Musik veröffentlicht, die auf dem Österreichischen Markt unterrepräsentiert ist. Die Struktur, die gerade in diesem Nischenbereich fehlt, ist aber nicht die, die das Defizit bezüglich der Rezeptionsmöglichkeiten eines neuen Vokabulars, um diesen Ausdruck nochmals zu verwenden, auszugleichen, sondern schlichtweg die der Sichtbarkeit. Die oben erwähnte Gesprächsreihe „Wohin?“, im deren Rahmen zweimal im Jahr aktuelle Themen des Musiklebens diskutiert werden, zielt ebenso wie ein Teilaspekt der 587 u. a. Dominik Schweiger, Christian Ofenbauer, Allen Forte, Judith Fiehler, Nikolaus Urbanek, Catherine Nolan, Julian Johnson, Eva Maria Hois, Neil Boynton, Manuel Sosa Federico Celestini, Monika Hennemann, Jerry Cain, Gert Jonke, Manfred Angerer, Peter Hiekel, Reinhard Kapp 588 Wolfgang Seierl, Verstehen und verstanden werden - Musikvermittlung bei Webern und durch das Komponistenforum Mittersill. In: Dominik Schweiger/Nikolaus Urbanek (Hsg.), Webern 21. Wien 2009, S. 13 - 18 191 Forumsidee auf den Diskurs unter Künstlern sowie dieser im gesellschaftlichen Kontext. Diese Aktivitäten sind nicht nur als Serviceleistung für Musikschaffende zu verstehen, wie auch die Forumsidee grundsätzlich nicht als solche zu bewerten bzw. darauf zu beschränken ist, sondern stellen den Versuch dar, das Musikleben zu dynamisieren, Öffentlichkeit herzustellen, Dialoge und Diskurse zu provozieren bzw. zu ermöglichen und somit schließlich politisches Bewusstsein unter Künstlern wie im Publikum. Der Musikwissenschafter Heinz Rögl gibt seine Eindrücke, die die Dynamik des KomponistInnenforum Mittersill beschreiben, so wieder: In erstaunlich kurzer Zeitspanne entstehen dort nicht nur neue Kompositionen von den zehn Tage in einem Bauernhof mit Pension hoch über Mittersill wohnenden Residenzkünstlern, die beim Schlusskonzert am letzten Tag aufgeführt werden, sondern auch Partnerschaften, Netzwerke und neue Freundschaften. Die Ernsthaftigkeit der Diskussionen, aber auch Spaß und Freude wie auch das Miteinander in Kooperationen und Gemeinschaftsarbeiten der Künstler sind außergewöhnlich589. Die Nutzung des Salzburger freien Radios Radiofabrik für eine monatliche Sendung über die Belange des KomponistInnenforum Mittersill bzw. des Labels ein klang_records steht ebenfalls im Zeichen des Herstellens von Öffentlichkeit und damit von Sichtbarkeit für künstlerisches Schaffen wie künstlerische Standpunkte, die im Alltag einer von den Massenmedien kontrollierten Gesellschaft590 unterzugehen drohen. Die Konzeption dieser beschriebenen Strukturen ist insofern ergebnisoffen, als auf sich im Forum zeigende Tendenzen reagiert werden kann. So haben sich in den 13 Jahren des Bestehens einige Themen als Kernpunkte unserer Aufmerksamkeit und Strategie herauskristallisiert: - Die traditionelle Unterscheidung zwischen Komponist und Musiker hat sich als obsolet erwiesen. Die Abgrenzung, wo sie noch möglich scheint, ist unscharf und erweist sich als kontraproduktiv in vieler Hinsicht. - Die traditionelle Unterscheidung in Genres erweist sich ebenfalls als nicht mehr haltbar. Vor allem die Abgrenzung der so genannten ernsten gegenüber einer so genannten 589 Heinz Rögl, Komponistenforum Mittersill. In: Gisela Nauck (Hsg.), Positionen. Texte zur aktuellen Musik. Nr. 77/November 2008. Mühlenbeck/Berlin 2008, S. 62 f 590 bereits 1970 schrieb Jim Morrison in seinem Text An American Prayer: Do you know we are ruled by T. V.?/weißt du, dass wir vom fernsehen beherrscht werden? In: Reinhard Fischer/Werner Reimann (Hsg.), jim morrison, ein amerikanisches gebet. Berlin 1978, S. 14 192 unterhaltenden Musik ist im lebendigen Umgang mit Musik heute nicht mehr vorstellbar bzw. gültig. Dieser Punkt betrifft auch die verschiedenen anderen ästhetischen oder politischen Lager, die untereinander Grabenkämpfe austragen. Ein dem KomponistInnenforum Mittersill von Künstlerseite immer wieder attestiertes Prädikat ist das, Künstler zusammenzubringen, die im normalen künstlerischen Alltag aus oben genannten Gründen einander ablehnend gegenüberstehen. - Die Herstellung von Sichtbarkeit für Minderheiten bzw. unterbelichtetes Musikschaffen gilt aufgrund der nach wie vor unveränderten Stellung der Frau in unserer Gesellschaft schwerpunktmäßig weiblichen Musikschaffenden. Aus diesem Grund haben wir die Schreibweise in eine gendergerechte Form gebracht591. - Nicht nur dem Lustprinzip, sondern auch den Menschenrechten folgend, ist stilistische wie ethnische Vielfalt in unseren Programmen ein wesentlicher Grundsatz geworden. Vielfalt in diesem Sinn erweist sich nicht nur als Notwendigkeit im Kontext politischer Korrektheit, sondern auch als Chance für künstlerische Neuorientierung und das Aufbrechen festgefahrener und überkommener Strukturen. - Das Einbeziehen von Kindern und Jugendlichen als einer Vermittlungs- bzw. Bildungsaufgabe war von Anfang an ein Anliegen. Besonders deren kreative Aktivitäten, auch bezüglich ihrer Rolle als potenzielles zukünftiges Publikum, sind für uns ein wesentlicher Aspekt der Erprobung neuer Modelle gelingenden Vollzugs von Musik. - Das den Intentionen des Forums zugrunde liegende Paradigma ist, das Eigeninteresse hinter das allgemeine Interesse zu stellen. Dieser im Grunde soziale Aspekt ist einer, der Strukturen schaffen will, die Verbesserungen für alle zeitigen und repräsentiert eine Haltung, die dieses für andere oder auch für uns alle zum Ausdruck bringt. 3.2.2.4 Regionalität Ein weiteres Ergebnis jahrelangen Agierens beschreibt Carsten Fastner im Wiener Falter und nimmt damit Bezug auf die Tatsache, dass der Name Mittersill durch den tragischen Tod Anton Weberns in die Musikgeschichte eingeschrieben ist: Bis vor zwölf Jahren hatte Mittersill im Oberpinzgau keinen guten Namen in der Musikwelt - 1945 wurde dort Anton Webern von einem US-Besatzungssoldaten versehentlich erschossen -, doch mittlerweile ist das Bergdorf musikalisch rehabilitiert: als Heimstatt des von Wolfgang Seierl und Hannes 591 Vgl. Annegret Huber, Visionen – Symmetrien. Schlüsselstrategien zu paritätisch verteilten Kulturräumen. In: Marion Diederichs-Lafite (Hsg.), Österreichische Musikzeitschrift Heft 11-12/2008, S. 17 193 Raffaseder veranstalteten Komponistenforum Mittersill. Jeden September treffen sich junge Komponisten und Interpreten, um in öffentlicher Werkstattatmosphäre neue Stücke zu erarbeiten und sich mit den Klassikern der Avantgarde auseinanderzusetzen - allen voran mit Anton Webern. Die Doppel-CD ,,KoFoMi#12: Pole" (Einklang Records) dokumentiert das letztjährige Abschlusskonzert mit dem formidablen Österreichischen Ensemble für Neue Musik und dem vielseitigen Janus Ensemble, mit neuen Stücken und improvisierten Paraphrasen u. a. von Eva Reiter, Hubert Ho, Judith Unterpertinger, Burkhard Friedrich, Irena Popovic und Boris Hauf: ein ausgezeichneter Einblick in die beeindrucken professionelle und vielfältige junge Komponistenszene, in der eigene CDProduktionen noch rar sind. Auf sehr spezielle Weise bestätigt diesen guten Eindruck auch das Album Passagen (Einklang Records) von Robert Buschek592. Carsten Fastner spricht hier etwas an, das sowohl das Komponistenforum Mittersill als auch das Label ein klang_records betrifft: so punktuell eine Initiative wie diese auch nur ansetzen kann, so generell ist die über die kontinuierliche Arbeit vermittelte Botschaft. Einerseits die quasi Korrektur des ursprünglich unrühmlichen Grundes des Aufscheinens Mittersills in der Musikgeschichte als Beispiel aktiven Reagierens auf und Umgehens mit Geschichte, - andererseits die Korrektur einer ebenfalls im Grunde unrühmlichen Tatsache, dass nämlich junge Musikschaffende wenig Chancen auf CD-Produktionen und damit Zugang zu einer breiteren Öffentlichkeit haben. 3.2.3 Das Projekt No Music Day Der schottische Autor, Musiker, Produzent, Kunstvermittler, Querulant und Saboteur593 oder auch Prankster594 Bill Drummond, wie ihn die englische Presse nennt, hat 2005 den No Music Day erfunden. Es ist eines von zahlreichen Projekten des Künstlers, in denen er den heutigen Umgang mit Musik sowie Musikbusiness und Musikindustrie kritisch hinterfragt. 592 Falter Nr.21/2008 S. 67, auch http://www.falter.at/web/shop/detail.php?id=26650&SESSID=366d70837879d761aebf640c0868fdc1 (28. 05. 2009) 593 Heinrich Deisl, Bill Drummond, der Pate für die wildesten Träume. In: Skug Journal für Musik. Wien, August 2004, aus: http://www.skug.at/artikel.php?Art_ID=2750 (18. 01. 2009) 594 http://www.guardian.co.uk/music/2006/oct/15/9 (28. 05. 2009) 194 3.2.3.1 Bill Drummond Bill Drummond wurde 1953 als Sohn Schottischer Eltern in Südafrika geboren, verbrachte aber schon Kindheit und Jugend in Schottland und später in England. Nach einem Kunststudium in Liverpool wandte er sich der Musik zu und begann 1977 seine Karriere als Musiker mit der Liverpooler Gruppe Big in Japan. Er arbeitete auch als Produzent und Manager, bevor er 1987 gemeinsam mit Jimmy Cauty die Gruppe The KLF (Kopyrite Liberation Front) gründete. Die beiden Musiker traten auch als The Timelords, K Foundation und The Justified Ancients of Mu Mu (The JAMMS) auf. 1987 handelten sie sich eine Klage der schwedischen Gruppe ABBA ein, weil sie große Teile des ABBA-Hits Dancing Queen gesamplet hatten595. 1993 gründeten Bill Drummond und Jimmy Cauty die K-Foundation, um am 23. August 1994 das Stiftungskapital von einer Million britischer Pfund auf der schottischen Insel Jura im Kamin eines Bootshauses zu verbrennen596. Zuvor hatten sie das Geld in Form eines Kunstobjektes der Londoner Tate Galerie zu einem Kaufpreis von 750 000 Pfund angeboten, doch das Museum lehnte ab. Die Summe des dann verbrannten Geldes stand symbolisch für die Einnahmen von The KLF. Auch mit der Veröffentlichung seines Buches „The Manual“erregten Drummond und Cauty kurz darauf Aufsehen. „The Manual“ war die Anleitung, einen Nummer-Eins-Hit herzustellen597. 1988 hatten sich Drummond und Cauty in den Kopf gesetzt, einen #1-Hit zu landen. Als The Timelords wurde »Doctorin’ The House« von S-Express gecovert und mit der »AmbientHouse«-Nummer »Doctorin’ The Tardis« hatten sie in den UK-National Charts die PolePosition. Das Buch »The Manual« ist eine Art Erlebnisbericht von diesem Track. Das österreichische Projekt Edelweiss/ Bingo Boys arbeitete getreu dem »Manual« und hatte ironischerweise ausgerechnet mit der Vermansche von ABBAs »S.O.S.« als »Bring Me Edelweiss« beachtliche Hiterfolge. Das plunderphonische »What Time Is Love« wurde als »pure Trance« einer der Blaupausen des ravenden »Summer of Love« 1988598. Heinrich Deisl sieht in all diesen Aktivitäten Bill Drummonds dessen Interesse für Strategien entlang dem Grat zwischen Information und Desinformation sowie den Versuch, diese Verfahren wieder ihrer eigenen Absurdität zuzuführen. Jimmy Cauty und 595 http://o94.at/file-storage/view/radiomacherinnen/radio-territories%5C/drummond.pdf (28. 05. 2009) 30.01.2009 596 Martin Hossbach, Ich höre Stimmen in meinem Kopf. Aus: http://www.spex.de/512/artikel.html (01. 02. 2008) 597 Dirk Vongehlen, Wer ist eigentlich Bill Drummond. Aus: http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/3657470 (18.02.2007) 598 Heinrich Deisl, Bill Drummond, der Pate für die wildesten Träume. Wien 2004. Aus: http://www.skug.at/index.php?Art_ID=2750 (28. 05. 2009) 195 Bill Drummond sympathisierten nicht mit einem durch Drogen beeinflussten höheren Bewusstsein, sondern nutzten nur die Strukturen derartig ausgerichteter Systeme. Ihre Verwirrungstaktiken wie etwa ihre metatextuelle Transformation von ABBA’s Dancing Queen hatte zwar, wie schon erwähnt, negative Folgen, doch wurde damit auch ein neues diskursives Verfahren entwickelt, das nicht Raubbau an fremdem Material zugunsten des eigenen Vorteils betreiben wollte, sondern auf die Destabilisierung und Hinterfragung von bestehenden Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen zielte599. Der Kultur- und Musiktheoretiker Andrew Goodwin beschrieb 1988 in seinem Text Sample and Hold das Sampling als ein ästhetisches Programm, bei dem das Zusammenstellen von Ausschnitten aus schon bestehenden Schallplatten den wesentlichen Teil der Bedeutungsstruktur eines so genannten Metatexts ausmache. Drummond und Cauty nahmen vorweg, was im Techno - unter anderen ästhetischen und politischen Vorzeichen freilich - zum Standard werden sollte. Multiple Projekte, Schizo-Taktiken ... und Sabotierung des Künstlersubjekts als „genialer Schaffender“600. The KLF, The Timelords, The JAMM, The 2K waren insgesamt Projekte, die mithilfe der neuen Sampling-Technologie die etablierte Popmusik angriffen. Mit diesen Aktionen, Pamphleten und Konzerten besetzten bzw. eroberten sie vielmehr aber auch ein neues Referenzfeld, nämlich das des interdisziplinären Raumes zwischen Dancefloor und Galerie601. Jeremy J. Beadle beschreibt 1993 in seinem Buch Will Pop Eat Itself? das, wogegen die Gruppe The KLF arbeitete, als das handwerklich gut gemachte Lied (the wellcrafted song)602. 3.2.3.2 No Music Day In diesem Zusammenhang scheint das Projekt No Music Day ein stilles, weniger radikales zu sein, obwohl es ebenso Unverständnis, Kritik hervorgerufen hat und als Provokation aufgefasst wurde. No Music Day ist ein Projekt, das Bill Drummond zunächst auf einen Zeitraum von fünf Jahren603 (2005 bis 2009) beschränkt hat. Die Idee entspringt zunächst seiner ganz persönlichen Lebenssituation, die er so beschreibt: Auf der Suche nach etwas Neuem in der Musik war er in den großen Plattengeschäften mit tausenden CDs, die jede 599 Heinrich Deisl (2004) Heinrich Deisl (2004) 601 Heinrich Deisl (2004) 602 Heinrich Deisl (2004) 603 In einem Interview vergleicht er dies ironisch mit der stalinistischen Idee des Fünf Jahres Planes, aus: How No Music Day struck a chord, in: http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/scotland/7104144.stm (28. 05. 2009) 600 196 Form von Musik, die je existiert hat, repräsentieren mussten, konfrontiert. Das Neue, Noch- Nie-Gehörte und Aufregende fand er weder hier noch im World Wide Web. Nicht dass ihm die neuen Künstler zu schlecht gewesen wären, er schrieb es eher seinen Ohren zu, er war auf der Suche nach einem Neubeginn seines Musikhörens. Obwohl er aufgehört hatte, aktiv Musik zu machen, hatte er nie aufgehört, über Musik nachzudenken und erfand verschiedene Strategien, um sich emotional wieder mit Musik zu verbinden. 2002 etwa beschloss er, nur Alben von Künstlern zu hören, die vorher noch nie veröffentlicht hatten, und 2003 wollte er nur Alben mit Bands, Solisten oder Komponisten hören, deren Namen mit B beginnen. Das Gefühl, dass etwas Wesentliches fehlte, blieb. Er versuchte es sogar mit einer Woche ohne Musikhören, aber keine bleibende Veränderung zeigte sich. Schon 2004 begann er zu vermuten, dass sein Problem nicht sosehr mit der Musik selbst zu tun hatte, sondern mit der Art und Weise, in der Musik verfügbar ist. Tatsache ist, dass heute Musik überall ist, wir sie bei Amazon kaufen oder aus dem Internet herunterladen können, wann immer wir wollen. Und wenn wir sie haben, können wir sie hören, wann und wo wir immer auch wollen, ein Nonstop-Soundtrack für unser Leben. Ob es sich dabei um traditionelle Musik aus Bali, Bachs Kantaten oder um R&B handelt, ist nebensächlich. Der Unterschied zu den Walkmans der letzten zwanzig Jahre scheint gering, doch damals war es befreiend, heute ist es einengend (constricting). Für die LiveMusik, die heute verfügbar ist, gilt im Prinzip das Selbe. Die Erfahrung ist sehr eindimensional: You buy a ticket, you go to a place, you watch it performed on a stage; you clap, or even scream, you enjoy yourself, you get your money’s worth, you go home. But you weren’t part of the music; you were just consuming it in bite size chunks as defined by those who have decreed how these things should be done. Musik sollte auch jenseits der konsumierbaren Formate (wie Musikaufnahme und Konzertbühne) existieren können. Drummond entschied, dass er einen Tag brauchte, an dem er nichts tat außer darüber nachzudenken, was er von der Musik wollte, und Ideen zu entwickeln, wie das zu erreichen wäre. Diesen Tag würde er No Music Day nennen, und er sollte am Tag vor dem der heiligen Cäcilia, also am 21. November sein604. Womit er sich in den vergangenen Jahren so intensiv beschäftigt hatte, sollte nun als nach außen gerichtete Einladung für alle, die mitmachen wollen, fungieren. Die Hauptmedien für diese Einladung sind Plakate und die Internetseite www.nomusicday.com. Das wie eine Partitur einer musikalischen 604 Ein quasi Fasttag vor dem Festtag, wie es im christlichen Kontext der Freitag vor dem Sonntag ist, - der spirituelle Aspekt ist hier nahe liegend. Vgl. Bill Drummond, 17. London 2008, S. 241 f 197 Komposition gedachte und so angelegte Plakat enthält Anweisungen, wie sie schon die musikalische Avantgarde (im Speziellen die Fluxus Bewegung) verwendet hat. Der Titel der Komposition ist Entscheide (Decide): On No Music Day: No hymns will be sung. No records will be played. iPods will be left at home. Rock bands will not rock. Conductors will not take the podium. Decks will not spin. The needle will not drop. The piano lid will not be lifted. Films will have no soundtrack. Jingles will not jangle. Milkmen will not whistle. Choirboys will shut their mouths. Recording studios will not roll. Mc’s will not pass the mic. Brass band practice will be postponed. The strings will not serenade. Plectrums will not pluck. Record shops will be closed all day. And you will not take part in any sort of music whatsoever. Then you will decide what you want from music. To be performed on No Music Day; 21st of November, every year. Visit nomusicday.com and register the fact that you will be performing this score. 3.2.3.3 Öffentlichkeit Bill Drummond erwartete keine große Resonanz. Für ihn war es genug, dass die Komposition notiert und veröffentlicht war, und dass Menschen aufgefordert waren, darauf 198 zu reagieren. Die Internetseite ist in erster Linie ein Ort, wo diese Menschen sich eintragen können und dokumentieren, wie und warum sie der Idee folgen. Zur selben Zeit war Drummond eingeladen, an einer Plakat-Ausstellung in Liverpool teilzunehmen. Der Künstler Alan Dunn war der Kurator. Jedem der teilnehmenden Künstler stand zwei Wochen lang eine Plakatwand als Leinwand zur Verfügung. Drummons Plakatwand zeigte nur das Wort NOTICE in schwarzen, großen und dicken Lettern. Darunter kleiner, aber noch immer schwarz und fett NOTICE, NO MUSIC DAY 21 NOVEMBER, und in noch kleinerer Schrift PB BILLBOARD ONE - 2005 und NOMUSICDAY.COM. So persönlich der Zugang zu dieser Fragestellung auch ist, zielt Bill Drummond mit der beschriebenen Art und Weise der Veröffentlichung darauf, dass auch andere davon Gebrauch machen und darüber reflektieren, wo sie im Leben stehen und welches Verhältnis sie zur Musik haben, wohin immer das auch führen könnte605. Das steigende Interesse der Medien und der Öffentlichkeit lässt Bill Drummond daran zweifeln, dass es bei den projektierten fünf No Music Days bleiben wird. War 2006 die Beteiligung des kleinen lokalen Londoner Radiosenders Resonance FM an der Aktion schon ein großer Erfolg606, so wurde dieser durch die Beteiligung von BBC Schottland mit vielen Millionen Hörern bereits ein Jahr darauf in den Schatten gestellt607. BBC sendete nicht nur diesen Tag lang keinen Takt Musik (auch keine Jingles etc.), sondern schloss auch sein Musikportal im Web (BBC Scotland music). Für den verantwortlichen Produzenten bei BBC Scotland, David McGuinness, ist die Beteiligung am No Music Day ein ernsthaftes Statement: „Wir wollen, dass den Menschen klar wird, wie allgegenwärtig die Musik geworden ist, wie sie in ihr Leben eingreift in einer Art und Weise, derer sie sich nicht bewusst sind. Wir wollen sie auffordern, innezuhalten und darüber nachzudenken, was das bedeutet und zu schauen, wie sie über ihre Auswahlmöglichkeit besser informiert werden könnten. Das sind wichtige Dinge.“608 605 Aus bzw. nach einem Text (Welcome to No Music Day), den Bill Drummond dem Verfasser in einer EMail am 18. 11. 2008 persönlich übermittelt hat. Vgl. auch Bill Drummond, 17. London 2008, S. 240 ff 606 wie ein Schneeballeffekt wirkte dieser musikfreie Sendetag, der Diskussionen über die Rolle der Musik in unserer sich verändernden Gesellschaft brachte. Hunderte Anfragen für Interviews von Radiostationen aus aller Welt waren die Folge. Aus: How No Music Day struck a chord. In: http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/scotland/7104144.stm (28. 05. 2009) 607 ebda 608 Michael White, Who’ll Stop the Ring Tones? Aus: http://www.nytimes.com/2007/11/18/arts/18whit.html?ex=1353128400&en=6a993bf5bd605935&ei=5124& partner=digg&exprod=digg (18.11.2007) Übersetzung des Zitats durch den Verfasser 199 Das zunehmende Interesse hat Drummond zu weiteren Ideen und Strategien bei der Abhaltung des No Music Day angeregt. So ist nach einem Schwerpunkt 2008 in Brasilien das Epizentrum der Aktivitäten 2009 in der Europäischen Kulturhauptstadt Linz. Ein noch nicht verwirklichtes Ziel ist es, die Schließung der Musikdownloadplattform iTunes am No Music Day zu erreichen. Abb. 5: Bill Drummond, Plakat zum No Music Day609 3.2.3.4 Linz 09 und Pipedown Die oben erwähnte Kooperation mit der Kulturhauptstadt Linz ist übrigens auch auf Künstlerinitiative zurückzuführen: Der Oberösterreichische Komponist und Journalist Peter Androsch ist Leiter des Musikprogramms von Linz 2009. Das von ihm kuratierte 609 Aus: http://www.nomusicday.com/2005/index.php (17. 06. 2009) 200 Projekt „Hörstadt“ verfolgt das Ziel einer bewussten und menschenwürdigen Gestaltung des akustischen Raums, also unserer hörbaren Lebensumgebung. Aus tiefer Überzeugung, dass wir Menschen über das Gehör im Innersten berührt und beeinflusst werden, versuchen wir, zu einem Mehr an akustischem Bewusstsein in den verschiedenen Lebensbereichen beizutragen610. „Hörstadt“, eine weit über das Jahr 2009 gedachte Initiative, besteht aus drei Teilen: Beschallungsfrei – die Kampagne gegen Zwangsbeschallung versucht Betriebe und Organisationen dazu zu motivieren, ihre öffentlich zugänglichen Räume nicht mit Hintergrundmusik zu beschallen. Die Rote Karte gegen Zwangsbeschallung kann den Geschäftsführungen von Betrieben gezeigt werden, in denen man sich durch Hintergrundmusik gestört fühlt, - und schließlich wurde das ehemalige Centralkino in Linz in den so genannten Ruhepol Centralkino verwandelt, um der Forderung nach mehr öffentlichen Ruhebereichen mit gutem Beispiel voranzugehen. Zusätzlich wurde am 22. Jänner 2009 in der ersten Gemeinderatssitzung des Linzer Stadtparlaments die ebenfalls von „Hörstadt“ initiierte Linzer Charta, mit der Linz als erste Stadt weltweit Leitlinien für akustisches Handeln zur Grundlage der Stadtgestaltung macht, einstimmig beschlossen611. Neben dem No Music Day ist auch der Internationale Tag gegen Lärm (International Noise Awareness Day) am 24. April in das Programm mit einbezogen. Am No Music Day 2009 verzichtet ein Netzwerk an Musikern, Medien und Kulturhäusern in Linz auf jegliche Musik612. Wolfgang Welsch plädierte übrigens bereits 1991 für die Reduktion der öffentlichen Lautmenge und Zonen der Stille613. In seinem Artikel in der New York Times über den No Music Day erwähnt Michael White 610 Aus einem Werbe-Brief von Peter Androsch im Dezember 2008 bzw. dem Folder Hörstadt Linz/Linz 2009 Kulturhauptstadt Europas 611 Aus einem Rundschreiben von Peter Androsch im März 2009. In diesem Brief wird weiters erwähnt, dass die belgische Stadt Lüttich als erste Stadt einen Beitritt zur Linzer Charta erwägt. Von einer weiteren – aus künstlerischer Sicht meiner Meinung nach problematisch zu beurteilenden Aktivität wird ebenfalls berichtet: Am 20. Februar 2009 – 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Futuristischen Manifests von Filippo Tommaso Marinetti - wurde dem Futurismus als Lärmanbeter, Kriegsverherrlicher und geistigem Wegbereiter des Faschismus mit dem Akustischen Manifest geantwortet. Eine Replik wurde im französischen Le Figaro platziert, wo Marinetti am 20. 2. 1909 das Futuristische Manifest publizierte. Helmuth Plessner etwa urteilte ähnlich über die Akzeptanz von Klang und Krach (R. Murray Schafer, Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens. Frankfurt am Main1988) der musikalischen Avantgarde. Die musikalische Moderne schrecke vor dem ästhetischen Selbstmord nicht zurück. Helmuth Plessner, Anthropologie der Sinne. In: Ders., Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main 1980, Bd. 3, S. 344, zitiert nach Wolfgang Welsch (1996) S. 255. Dort diskutiert Welsch diese Tendenzen in der Musik der Avantgarde als verzweifelte Versuche, uns mit einer akustisch unerträglichen Welt noch einmal zu versöhnen, sie uns erträglicher und umgekehrt uns in ihr lebensfähiger zu machen... (S. 255 f) 612 Aus dem Folder Hörstadt Linz/Linz 2009 Kulturhauptstadt Europas 613 Aus einem Vortrag am 29. November 1991 in München, Der Klang der Dinge: Akustik – eine Aufgabe des Design. In: Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart 1996, S. 257 ff 201 auch Pipedown International, eine Bewegung, die seit mehr als 16 Jahren in England und seit kurzer Zeit auch in den USA gegen piped music614, also gegen Lautsprechermusik, Musik aus der Konserve, Hintergrundmusik und Muzak615. agiert. Gründer und Sekretär dieser Bewegung ist Nigel Rodgers, prominente Unterstützer sind unter anderen der Pianist Alfred Brendel, Komponist Peter Maxwell Davies, Dirigent Simon Rattle und der britische Cellist Julian Lloyd Webber, der die Schädlichkeit von Hintergrundmusik mit der des Zigarettenrauchs vergleicht616. Pipedown International wurde 1994 gegründet. Nigel Rodgers fand heraus, dass die meisten Menschen in seiner Umgebung es ablehnten, Musik, zu hören, die sie nicht selbst auswählen konnten – sei es Mozart oder Madonna, also unabhängig von Genres. Das durch Musikberieselung beeinflussbare Kaufverhalten und der damit in Zusammenhang stehend kommerzielle Erfolg ist nach Nigel Rodgers nur ein Mythos. Pipedown-Mitglieder sind ähnlich wie die Linzer während des Kulturhauptstadtjahres mit Karten ausgestattet, mithilfe derer sie den Besitzern von Lokalen Unmut über Hintergrundmusik bzw. Freude über deren Abwesenheit signalisieren können617. Organisationen, die ähnliche Ziele verfolgen, gibt es inzwischen in Deutschland (Lautsprecher aus! e. v.), Holland (Stichtingbam), Kanada (Quiet) und den USA (Noise Off)618. Ein weiterer Aspekt, der im Projekt No Music Day thematisiert ist, ist die technische Reproduzierbarkeit von Musik. Diese ist möglicherweise eine der grundsätzlichen Fragen der Musikproduktion und -rezeption überhaupt, auf die ich später noch einmal eingehen werde. Wesentliche Ansätze dazu finden sich aber in einem weiteren Projekt und Buch von Bill Drummond, das meiner Meinung nach wie eine erste Antwort auf die mit dem No 614 etwa: Musik aus der Leitung, also Lautsprechermusik (muzac, acoustic wallpaper, elevator music or canned music, piped music is made possible by systems which allow a constant supply throughout building or other public place. (aus: www.pipedown.info 08.02.2009) 615 Muzak ist ein Kunstwort, zusammengesetzt aus Kodak und Music und der Inbegriff für Fahrstuhlmusik und akustische Umweltverschmutzung, vgl. http://www.musikmagieundmedizin.com/standard_seiten/muzak.html (28. 05. 2009) 616 Pipedown bezieht sich auf eine Umfrage aus dem Jahr 1998, nach der 34% der Bevölkerung Hintergrundmusik ablehnen, 30% Hintergrundmusik mögen und der Rest dazu keine Meinung hat. (In: ZoneMagazine, Sommer 2006/ aus: http://www.pipedown.info/uploaded/dir/1.pdf, 10. 02. 2009) 617 http://www.nytimes.com/2007/11/18/arts/18whit.html?_r=2&pagewanted=1&ref=arts und http://www.pipedown.info/uploaded/dir/1.pdf (10. 02. 2009) Das Problem, das hier thematisiert wird, ist, dass die Menschen immer mehr von Musik umgeben sind, die sie nicht selbst ausgewählt haben. Ebenfalls in diesem Artikel wird das Ergebnis einer diesbezüglichen Umfrage veröffentlicht: Nachdem der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim dieses Thema in einem seiner Vorträge aufgegriffen hatte, gab es eine BBC-Umfrage bezüglich der Haltung des Publikums. Die Zuhörer wurden gebeten, Buch über jede Art von Musik (auch Vogelstimmen und Telefonklingeltöne) zu führen, die sie während eines Tages hörten, gewollt oder ungewollt. Das Ergebnis waren durchschnittlich 2 Stunden 46 Minuten gewählte Musik und 1 Stunde 16 Minuten nicht gewählte. Die Meinungen zu der nicht gewählten Musik waren 38 Prozent negativ, 28 Prozent positiv und 34 Prozent neutral. 618 vgl. www.pipedown.de (10. 02. 2009) 202 Music Day aufgeworfene Frage darstellt619. 3.2.3.5 The 17 Aufgrund der von ihm selbst beschriebenen Erfahrungen620 entwickelte Drummond eine Theorie, der zufolge nach der Entwicklung der Tonaufnahmetechnologie im 20. Jahrhundert alle Musikformen von den Möglichkeiten, die dieses Technologie bot, verführt wurden. Kompromisse und subtile Veränderungen in unserem Verhältnis zur Musik mussten in Kauf genommen werden621, um den Bedürfnissen der neuen Technik gerecht werden zu können. Für uns Zuhörer war das zunächst fast nicht bemerkbar. Was wir zu haben glaubten, war nun die Möglichkeit, Musik aus der ganzen Welt und sogar Musik aus der Zeit vor unserer Geburt zu hören. Während die Jahrzehnte vergingen, bemerkten wir nicht, dass sich all diese aufgenommene Musik in ein übergeordnetes Genre verwandelte, in das von aufgenommener Musik (recorded music). Am Beginn des 21. Jahrhunderts vollzog sich eine weitere Veränderung unseres Verhältnisses zur aufgenommenen Musik: mit dem iPod622 können wir diese aufgenommene Musik nun überall, zu jeder Zeit und während fast jeder Tätigkeit hören. Im Akzeptieren dieser subtilen Veränderung haben wir den größten Teil der Musik aus dem Kontext von Zeit, Raum und Gelegenheit herausgetrennt, aus allem also, das der Musik Bedeutung verleiht, wir haben sie sozusagen kastriert623. Auch die in Konzerten live gespielte Musik sieht Drummond im Schatten der 619 Karlheinz Stockhausen hat sich übrigens bereits Jahre zuvor darüber Gedanken gemacht: Die Musik ist für die meisten Menschen nur Hintergrunduntermalung und Entertainment. Sie kommen nicht einmal auf den Gedanken, dass Musik auch eine geistige Nahrung sein könnte, weil sie so viele andere Probleme haben. (Aus einem Gespräch David Pauls mit Karlheinz Stockhausen. In: Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008. Saarbrücken 2008, S. 70) 620 siehe oben (S.198) 621 Vgl. die von Vilém Flusser erwähnten bei der Verwendung des Alphabets in Kauf genommenen Verluste. Vilém Flusser (2000) S. 85 622 der iPod ist ein Abspielgerät für das digitale Komprimierungsformat mp3, das 1997 entwickelt wurde. mp3-Player wurden inzwischen millionenfach verkauft und gehören heute - fast wie die Kleidung selbst – sozusagen zur Grundausstattung 623 Nach Drummond ist die Bedeutung eines Kunstwerks – sei es Musik, bildende Kunst oder Literatur - in Bezug auf die Situation, in der und von wem es gehört, gesehen oder gelesen wird, veränderlich. Außerhalb dieser abhängigen Bedeutung hat Kunst keine Funktion. Kunst behält eine gewisse Bedeutung als historisches Artefakt oder Teil eines Kanons. Für Drummond war es, als ob die Bedeutung der Musik, war sie einmal aufgenommen, sich verflüchtigte. Auch der neueste Track klang altmodisch, wie aus dem Museum. Aus: Time Out London, Bill Drummond on his new book ‚17’, in: http://www.timeout.com/london/music/features/5318/Bill_Drummond_on_his_new_book-17-.html (28. 05. 2009) 203 aufgenommenen Musik stehend, nämlich als Werbung für diese624. Sich einer alten Idee erinnernd, startete er ein Chorprojekt, das er The 17 nannte und in dem er mit den von ihm infrage gestellten Verhältnisse im Bereich musikalischen Erlebens experimentierte: die Ergebnisse dieser musikalischen Arbeit mit bzw. in Chören sollten niemals aufgenommen werden, - und um die 17 zu hören, musste man selbst Teil der 17 sein. Ob Sänger oder nicht, niemand sollte ausgeschlossen sein. Die Partituren, von ihm selbst oder anderen geschrieben, waren verbale Anweisungen zur Ausführung, aber auch zu Zeit, Ort und Gelegenheit. 2006 begann er mit der Realisierung im Rahmen von Musik- und Peformance Art-Festivals in Europa. Jedes Mal wurden also nur an 17 Personen Karten ausgegeben, mit denen dann jeweils eine Partitur realisiert wurde. Wichtig war, dass The 17 jenseits der Musikindustrie stattfand und weder der Jugend-, noch der Pop- und Hochkultur vorbehalten war. 2007 erschien Drummonds Buch 17 im Verlag Beautiful Books und Drummonds eigenem Verlag Penkiln Burn625. Mittlerweile hat er die Idee der 17 zu groß angelegten Stadtperformances erweitert, etwa in Form von 100 Gruppen zu je 17, in der jede einzelne dieser Gruppen eine spezielle Berufs- oder soziale Schicht (Taxifahrer, Verkäufer usw.) repräsentiert. Eine Serie von 10 Performances in London 2007 trägt den Titel ‘The Meaning of Music’626, mit dem Drummond wohl auch seine über No Music Day und The 17 neu gewonnene Haltung zum Ausdruck bringt. 3.2.4 Chameleon Group of Composers Der in London lebende und wirkende Komponist Ludger Hofmann-Engl ist Initiator und Gründungsmitglied der Chameleon Group of Composers, einer Vereinigung von im Londoner Stadtteil Croydon lebenden Komponisten. 624 Ähnliche Argumente gegen die Musikaufnahme wurden von Benjamin Britten 1964 anlässlich der Preisverleihung des Aspen Award. Einen Teil seiner Dankesrede widmete er der jederzeitigen Verfügbarkeit technisch reproduzierter Musik und nannte in diesem Zusammenhang den Lautsprecher “the principal enemy of music.” In: White, Michael, Who’ll Stop the Ring Tones? Aus: http://www.nytimes.com/2007/11/18/arts/18whit.html?ex=1353128400&en=6a993bf5bd605935&ei=5124& partner=digg&exprod=digg (18.11.2007) 625 Bill Drummond, 17. London 2008, vgl. auch Abb. 7, S. 268 626 Each performance is with 17 workers at a particular music-world establishment. They will be as follows: 1 A major entertainment retail store. 2 An independent record shop. 3 A national radio station. 4 A worldrenowned amplification manufacturer. 5 A leading classical music ensemble. 6 A successful record company. 7 A stadium band and crew. 8 An international music publisher. 9 A highly regarded music college. 10 A global entertainment corporation. Aus: Time Out London, Bill Drummond on his new book ‚17’, in: http://www.timeout.com/london/music/features/5318/Bill_Drummond_on_his_new_book-17-.html (28. 05. 2009) 204 3.2.4.1 Ludger Hofmann-Engl Ludger Hofmann-Engl wurde 1964 in Bamberg/Deutschland geboren. Er studierte am Konservatorium in Nürnberg Komposition, am Institut für Sakralmusik in Erlangen Klavier, später an der Technischen Universität Berlin Musikwissenschaft, Philosophie und theoretische Physik und erwarb 2003 das Doktorat in Psychologie an der Keele University. Hofmann-Engl lebt seit 1992 in London, wo er als Pianist, Komponist, Wissenschaftler und Sozialarbeiter wirkt. Sowohl in seiner musikalischen als auch in seiner wissenschaftlichen Arbeit ist er in internationale Netzwerke eingebunden. 2000 bis 2005 war er der Vorsitzende der als Verein organisierten Chameleon Group of Composers. Hauptinteresse dieser Selbsthilfegruppe von in Croydon (South London) lebenden Komponisten war und ist es, die traditionellen Strukturen des Musikgeschäftes Musikverlage und Musikindustrie - zu umgehen bzw. zu unterlaufen, um unabhängig arbeiten und agieren bzw. neue Strukturen aufbauen zu können. So organisierte die Gruppe zahlreiche Festivals und Konzerte mit zeitgenössischer Musik mit mehr als 30 Uraufführungen. Das Wort Chameleon als Name der Gruppe wurde gewählt, um der Vielfalt der Kompositionsstile unter den Mitgliedern Ausdruck zu verleihen, die trotz dieser Unterschiedlichkeit das gemeinsame Ziel künstlerisch wertvoller Arbeit verfolgten. Sosehr jeder Komponist seinen Stil seiner persönlichen Erfahrung angepasst haben mag, wie auch das Chamäleon sich einer vorgegebenen Situation anpasst, sosehr bleibt die Grundhaltung eine, wie auch das Chamäleon unabhängig von seiner Farbe immer sich selbst bleibt. Seit 1999 betreibt Ludger Hofmann-Engl die Internetseite (www.chameleongroup.org.uk), die zunächst als Information über die Aktivitäten der Chameleon Group angelegt war, sich später aber zu einer Online-Plattform für Musik, Musiktheorie und Musikpsychologie entwickelt hat. Der Kern der Gruppe besteht neben Ludger Hofmann-Engl aus dem Co-Gründer und Henri Pousseur-Schüler Peter Anthony Monk und den Komponisten Giles Easterbrook, Steven Erselius und Christopher Wood. In der aktiven Zeit der Gruppe zwischen dem Gründungsjahr 1995 und 2000 gab es neben lokaler journalistischer Aufmerksamkeit immerhin 30 Uraufführungen sowie Kooperationen mit gleich gesinnten Gruppierungen in den USA. Ab 1997 stieg das Interesse der Mitglieder an Projekten mit pädagogischem Hintergrund. Das sollte sich kurze Zeit später auch als Trend der britischen Kulturpolitik herausstellen, 205 die auch heute noch künstlerisch pädagogischen Projekten im Kontext von Schul- oder Bildungsprogrammen höhere Finanzierungschancen einräumt627. 3.2.4.2 Soziales Engagement und Vermittlung Die Motivation für dieses pädagogisch-soziale Engagement war das Interesse, die offensichtliche Kluft zwischen anspruchsvoller bzw. Neuer Musik und dem Publikum zu überwinden. Die Idee dazu war die Arbeit nicht nur mit Kindern und Jugendlichen, sondern mit ganzen Familien628. Ziel des Mussorgsky Family Project war, diese Kluft zwischen klassischer Musik und der breiten Bevölkerung überbrücken zu helfen, für die – zumindest für einen Großteil von ihr – der Zugang zu klassischer Musik nicht gegeben ist. Diese Situation wurde unter anderem aufgrund der Tatsache als prekär eingestuft, dass immer mehr Sendekanäle für klassische Musik gezwungen waren, zu schließen, - man sprach vom Tod der klassischen Musik, obwohl Institutionen wie das Royal Philharmonic Orchestra, die Royal Opera und das Royal College of Music pädagogische Vermittlungsprogramme eingerichtet hatten. Die Versuche, das Schulsystem durch Einführung der Methoden von Carl Orff und Zoltán Kodály zu reformieren, scheiterten ebenfalls. Mit dem als Pilotprojekt gedachten Mussorgsky Family Project versuchte die Chameleon Group, neue Wege zu beschreiten. Während eines Zeitraums von sechs Monaten nahmen sieben Familien mit jeweils Kindern unter fünf Jahren an diesem Projekt teil, in welchem zur Produktion musikalischer Collagen und zu Partialimprovisationen auf Tasteninstrumenten, Glockenspielen und Perkussionsinstrumenten angeregt wurde. Allen diesen musikalischen Aktivitäten wurde Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung zugrunde gelegt, ergänzt durch ein Trommelworkshop, eine öffentliche Aufführung und den Besuch eines Konzerts in London. Die Evaluation zeigte, dass auf der Basis des Familienlernens [family-learning] verblüffende Ergebnisse erzielt werden können und dass sogar sehr kleine Kinder fähig sind, sich am gemeinschaftlichen Musizieren zu beteiligen. Das Konzept dieses Projekts bezieht sich auf Studien, die die Effektivität des Familienlernens belegen, sowie jene von Maslow (1937) und Meineke (1997), die ebenfalls den Aspekt des Lernens im Kontext der Familie betreffen. Maslow kam zum Schluss, dass Menschen grundsätzlich Bekanntes bevorzugen würden, - Meineke zeigte, dass unbekannte Dinge besser angenommen werden 627 Das Britische Bildungsministerium nennt sich dementsprechend Department for Children, Schools and Families. 628 aus einem persönlichen Telefongespräch mit Ludger Hofmann-Engl am 18. 01. 2009 206 können, wenn sie in Bekanntes eingebettet sind. Deshalb startete das Mussorgsky Family Project mit Aktivitäten, die den Familien bereits vertraut waren. Hofmann-Engl, der bereits mit Partialimprovisation experimentiert hatte, berücksichtigte diese Improvisationsform, die quasi Bekanntes mit noch Unbekanntem verband, in seinem Projekt. Partialimprovisation wurde u. a. von Alfred Schnittke (Serenade 1968) entwickelt und meint die Improvisation im Kontext mit fixiertem musikalischem Material. Die Croydon Family Groups, mit denen dieses Projekt realisiert wurde, bestanden aus sieben Gruppen, die allen Familien mit Kindern unter fünf Jahren offen standen und jeweils zweistündige Sitzungen absolvierten. Insgesamt nahmen 46 Familien daran teil629. 3.2.4.3 Menschenrecht und Künstlerbild Die Haltung Ludger Hofmann-Engls als Künstler und Vertreter der Chameleon Group ist durchaus von seiner Wahlheimat Großbritannien geprägt. Geht es ihm darum, das Individuum und das Individuelle zu schützen und für die Rechte des Menschen auf ein erfülltes Leben einzutreten, so ist er sich dessen bewusst, dass die Menschenrechte von Britischen Rechtsgelehrten eingeführt wurden, um den Missbrauch von Autorität zu verhindern. Auch seine und der Gruppe Grund legend Lebens bejahende Haltung sieht er als eine vorwiegend in englischsprachigen Ländern angesiedelte Tugend. Sein Künstlerbild entspricht nicht mehr dem traditionellen romantischen, das sich außerhalb der Gesellschaft sieht und das Hofmann-Engl als ein narzisstisches bezeichnet, für das Neid und Konkurrenzdenken typische Symptome sind. Vielmehr hat er eine starke soziale Komponente entwickelt, die für ihn zu einer Grundlage seiner künstlerischen Positionierung geworden ist. Soziales Engagement, das Unterstützen anderer und auch die Fähigkeit, die Unterstützung durch andere annehmen zu können, ist das dynamische Konzept, das den Aktivitäten der Chameleon Group im Allgemeinen zugrunde liegt und in den Aktivitäten in den Croydon Family Groups630 im Speziellen zum Ausdruck kommt. 629 Ludger Hofmann-Engl, Mussorgsky family project. London 2009. Aus einer E-Mail von Ludger Hofmann-Engl am 22. 05. 2009 an den Verfasser. Es handelt sich um das Konzept für einen Vortrag, den Ludger Hofmann-Engl am 24. Juli in Bologna im Rahmen der Konfernez MERYC (European Network of Music Educators and Researchers of Young Children) 2009. halten wird. 630 Einer der zentralen Grundsätze der Early Years Foundation Stage, einer 2005 gegründeten Plattform, die sich der Entwicklung und Bildung von Kindern zwischen null und fünf Jahren widmet (http://www.standards.dfes.gov.uk/eyfs/site/profile/index.htm, 16. 03. 2009), ist die Idee, dass Eltern die ersten und besten Erzieher der Kinder sind, dass das, was Kinder zuhause lernen, von bleibendem Nutzen ist. In diesem Sinn hat die britische Regierung etwa im Jahr 2007 entsprechende Familienprogramme mit 30 Millionen Pfund unterstützt. (In: Annie Simpson, Why Family Learning? In: Under Five. Magazine of the Pre-school Learning Alliance. November/December 2008) Die Konzepte der Croydon Family Groups 207 Das Hauptanliegen ist Kommunikation, von der niemand ausgeschlossen werden soll. Hat er als Komponist ein Oeuvre von etwa 60 Kompositionen vorzuweisen, so misst er diesen abgeschlossenen Werken heute keine Bedeutung mehr bei. Für ihn sind Prozesse und Entwicklungen wichtiger als Endprodukte. Unabhängig von der Programmatik Neuer Musik versucht er, mit seinen Projekten Grenzen zu durchbrechen und Risikobereitschaft zu zeigen. So schreibt etwa Christopher Wood im Mai 2002 über ihn: Ludger HofmannEngl hat mit der Gründung der Chameleon Group wahrscheinlich mehr für die lokalen Komponisten getan, als je einer zuvor631. Heute hat die Chameleon Group of Composers nur zwei aktive Mitglieder, - Ludger Hofmann-Engl und Peter Anthony Monk. Die auf der Webseite veröffentlichten Artikel bilden die humanistische Gesinnung der Gruppe ab. Zwei dieser Publikationen seien hier exemplarisch erwähnt: The Role of the Composer in a Contemporary Society (2006)632 und The Tristan Chord in Context (2008)633. 3.2.4.4 Die Rolle des Komponisten In seinem 2006 in Argentinien gehaltenen Vortrag634 widmet sich Hofmann-Engl der Rolle des Komponisten in unserer Gesellschaft und zeichnet damit nochmals ein Bild vom Bedeutungswandel in dieser musikalischen Kategorie anhand der Darstellung einiger markanter Wendepunkte in der Geschichte der Musik. Als einen wesentlichen und radikalen Einschnitt sieht er die Einführung des fünflinigen Notensystems durch Guido von Arezzo bzw. der Mensuralnotation im 13. Jahrhundert (ars nova), die den Komponisten erstmals das Schreiben polyphoner Musik ermöglichten und zur Säkularisierung der Musik im Sinne eines persönlichen Ausdrucks beigetragen haben. Auch Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks, Leonardo da Vincis Anatomie sowie Johannes Keplers Harmonia Mundi unterstützten diese Entwicklung. Ein weiterer Einschnitt war für Hofmann-Engl die erste Aufführung eines Werkes eines verstorbenen Komponisten knapp 100 Jahre nach dessen Tod. Gemeint ist die Aufführung des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach durch Felix Mendelssohn-Bartholdy im basieren u. a. auf der Überlegung, dass klassische Musik, die noch immer für einen Großteil der Bevölkerung unzugänglich ist, diese Musik über die Arbeit mit Kindern unter Miteinbeziehung der Eltern nachhaltiger vermittelt werden könne. (persönliche Auskunft von Ludger Hofmann-Engl am 18. 01. 2009) 631 Christopher Wood, music matters. In: week ending, 03. 05. 2002 632 http://www.chameleongroup.org.uk/research/composer.pdf (17. 05. 2009) 633 http://www.chameleongroup.org.uk/research/The_Tristan_Chord_in_Context.pdf (17. 05. 2009) 634 Ludger Hofmann-Engl, The Role of the Composer in a Contemporary Society. Vortrag in Rosario/Argentinien am23. 10. 2006, Salon de Actos de la Escuela de Musica de la UNR. London 2006 208 Jahr 1829. Diese Aufführung markiere den Beginn des Historismus in der Musik, der schwer wiegende Konsequenzen für die klassische Musik des 20. Jahrhundert bringen sollte: Die Zahl der Aufführungen historischer Musik übersteigt heute die Zahl der Aufführungen zeitgenössischer Musik enorm. Aber Hofmann-Engl fragt mehr noch nach den Gründen, die Mendelssohn-Bartholdy bewegt haben könnten, die Musik Bachs wieder zu beleben. Er sucht die Antwort in der Zeitkonzeption der westlichen Religionen, die die Gegenwart mit der Vergangenheit und sogar mit dem Ursprung der Welt verknüpfen, - im Gesetz der Kausalität. Mit der Geburt des Historismus wurde die Musik zu einem Phänomen des Kultes. Auch hinter den großen sozio-ökonomischen und technischen Veränderungen im 20. Jahrhundert, nämlich der Entwicklung der Ton- und Aufnahmetechnik, der globalen Kommerzialisierung und der Entwicklung der Popularmusik, sieht er mit der Religion vergleichbare Kult-Phänomene. Auch heute ist für Hofmann-Engl die Rolle des Komponisten eine seit der Renaissance ausgeübte politische, in der dieser für Freiheit und Unabhängigkeit eintritt. Dabei betont er die Intersubjektivität jeglichen kompositorischen Ausdrucks und erkennt schließlich in der Ähnlichkeit eines der wichtigsten Konzepte unserer Zeit635. 3.2.4.5 Copyright Im Aufsatz Tristan Chord in Context untersucht Ludger Hofman-Engl die Entwicklungsgeschichte des berühmten Tristan-Akkordes aus Richard Wagners Oper Tristan und Isolde. Obwohl die Ähnlichkeit des Tristan-Akkords mit Franz Liszts Ich möchte hingehen in der Literatur berücksichtigt wurde, ist die Tatsache, dass der Tristan-Akkord und sein Umfeld mit Fréderic Chopins op.68.4 identisch ist, offensichtlich nicht bemerkt worden. Es gelingt ihm, zu belegen, dass Wagner diesen Akkord offensichtlich von dessen Zeitgenossen Fréderic Chopin kopiert hat und eröffnet damit auch eine Diskussion über die Verletzung des Copyrights636. So beleuchtet dieser Aufsatz einen Fall, der zwar mehr als 150 Jahre 635 Ludger Hofmann-Engl, The Role of the Composer in a Contemporary Society. Vortrag in Rosario/Argentinien am23. 10. 2006, Salon de Actos de la Escuela de Musica de la UNR. London 2006 636 1) which composer (a or b) composed music m first, 2) if a composed m first, did b have access to it or vice versa, 3) is it believable that a would copy b or vice versa and 4) are the two variants of m similar enough to each other to claim a copy right infringement. Aus einer E-Mail von Ludger Hofmann-Engl vom 16. 05. 2009 an den Verfasser 209 zurückliegt, mit dem er jedoch das Thema historischer Wahrheit, wie relativ diese auch immer sein mag, berührt und in Relation zum herrschenden Rechtsverständnis bringt. 3.2.5 Das Festival Sajeta Miha Kozorog ist seit 2002 Hauptverantwortlicher für das Festival Sajeta in der kleinen slowenischen Stadt Tolmin am Zusammenfluss der Flüsse Soča und Tolmink. Der Ethnologe Kozorog beschreibt seine und die Motivation seiner Freunde, unter denen einige Musiker sind und die das Festival gegründet haben, so: There's too much shit around, so we try to do something more advanced in this "glittering grey" times637. Und zwar in jeder Hinsicht, - in politischer, kultureller und sozialer, - aber auch vor allem die Jugend betreffend. Das Festival hat dementsprechend auch die Intention, politische Stellung zu beziehen. Besonders Musiker wie Damir Avdic und einige Slowenische Künstler treten gerade wegen ihres sozialen Engagements bzw. der diesbezüglichen Botschaft, die sie mit ihrer Kunst vermitteln, im Festival auf. Das Wort shit bezieht er auf Tradition und Konservativismus. Als Ethnologe sieht er den heutigen Gebrauch von Traditionen im nationalistischen Kontext, der überall wahrzunehmen sei. Konformismus und Konsumgesellschaft sind ebenfalls Themen, die allgegenwärtig sind. Ein anderes Wort dieses spontanen Statements Kozorogs leuchtet in Bezug auf das Thema dieser Arbeit hier auf: „glittering grey“ (schillernd/grau) ist in gewisser Weise ein Widerspruch. Er bekommt Bedeutung, wenn wir ihn mit einem Text Vilém Flussers abgleichen: Flusser vergleicht die heutige Lage mit der vor dem Zweiten Weltkrieg und stellt deren relative Farblosigkeit fest: Architektur und Maschinerie, Bücher und Werkzeuge, Kleider und Lebensmittel, all dies ist vergleichsweise grau gewesen. ... Unsere Umgebung ist von Farben erfüllt, welche Tag und Nacht, in der Öffentlichkeit und im Privaten, kreischend und flüsternd, unsere Aufmerksamkeit erheischen. Flusser meint, dass diese Farbexplosion etwas bedeutet, dass man uns mit Farben programmiere. In der Vorkriegszeit waren Linien vorherrschend, Buchstaben und Zahlen. Die gegenwärtige Farbenexplosion, die übrigens in den sozialistischen Ländern nicht stattgefunden hat, deute auf ein Ansteigen der Wichtigkeit zweidimensionaler Codes638. Heute haben die Farben der Werbeindustrie auch die Länder Südeuropas erreicht. Somit liest sich glittering grey 637 638 Aus einer persönlichen E-Mail an mich vom 12. 07. 2008 Vilém Flusser, Medienkultur. Frankfurt am Main 1997, S. 7 f 210 als ein Prädikat für beides, das Leben im Sozialismus und das in einem liberalisierten Europa. Aus heutiger Sicht sieht Kozorog die Gründung von Sajeta als etwas, das aus einer Situation heraus entstanden ist und seither gelebt wird, weil es eine gute Idee gewesen zu sein scheint und weil es Verbindungen und Beziehungen zu vielen Menschen schafft. Und es schafft auch lokale Identität, - das Festival stellt einen Ort, von dem man im weltweiten Kontext sonst nie etwas hören würde, in den Mittelpunkt, - Miha Kozorog schrieb seine Dissertation zu diesem Thema. 3.2.5.1 Digitalisierung Sajeta ist kein Festival speziell für digitale Musik und Kultur, weil auch andere künstlerische Annäherungen präsentiert werden. Kozorog glaubt, dass die Digitalisierung wichtig für den Beginn des Festivals war. Denn die wichtigen Behelfe für die Festivalorganisation sind die Kommunikations- und Informationstechnologien, welche es leichter machen, neue oder aktuelle Musik etwa im Internet zu finden oder Kontakte zu jedem Musiker auf der Welt direkt über E-Mail herzustellen. Mit der neuen Technologie hatte man Zugang zu wesentlich mehr neuer Musik, was sich auf die Programmierung ausgewirkt hat. Zudem war es möglich, jeden Künstler direkt zu kontaktieren. Und weil es auf dem Gebiet der Elektronischen Musik viele neue Entwicklungen gab, wurde elektronische bzw. digitale Musik ebenfalls im Rahmen des Festivals präsentiert. Der andere Grund, z. B. Laptop Artists einzuladen, war aber auch das begrenzte Budget, heute sei es viel billiger, einen digitalen Künstler im Festival zu präsentieren als zum Beispiel ein analoges Jazz Trio. 3.2.5.2 Spirituelle Aspekte Spirituelle Aspekte haben wesentlichen Anteil an der Konzeption dieses Festivals . Von Sajeta wird gesagt, dass es ein lokales mystisches und mythisches Ereignis ist, aber auf der anderen Seite ist dieses Bild nicht streng traditionell zu verstehen, - dieses Prädikat bekam Sajeta vielmehr von Seite der lokalen Jugend (die Stadt Tolmin hat etwa 3500 Einwohner) verliehen. Sajeta ist eine Art mythische - keine sehr ernste, eine eher lustige, manchmal auch gefährliche - Figur. Der Name Sajeta hat in Bezug auf das Festival zwei Lesarten. Einerseits bedeutet es die emotionale Identifikation der Organisatoren mit der Region (Sajeta ist eine Gestalt aus der lokalen Geschichte), - andererseits ist es eine Art von 211 Totem, hilfreich für die Produktion von Geschichten, für die Kombination von Natur mit digitaler bzw. zeitgenössischer Kunst und nicht zuletzt für Marketingideen. Aber es gibt noch einen weiteren spirituellen Aspekt. Weil das Festival an den Ufern bzw. am Zusammenfluss von zwei Flüssen statt findet, erwarten sich viele Besucher und Teilnehmer eine tiefe spirituelle Erfahrung im Sinne von New Age. Einige dieser sind aber enttäuscht oder sogar verärgert, weil sie keine Geräuschmusik oder Ähnliches, was im Programm immer wieder vorkommt, erwartet haben. Kozorog und sein Team glauben, dass diese Musik Sajetanische Schwingungen hat, schon wegen der Flüsse in der Umgebung. Es gibt also viele Widersprüche und Missverständnisse, die eine Art Markenzeichen für dieses Festival geworden sind und manchmal auch Spaß und kulturelle Schocks auslösen können. Die Tatsache, dass der Veranstaltungsort in der Nähe zweier Flüsse ist, hat sicher auch Einfluss auf die Erscheinungsform und die Wirkung der Veranstaltungen. Auch einige Musiker scheinen hier in einer ganz speziellen Weise zu arbeiten und auf den Ort zu reagieren, sicher aufgrund der speziellen Atmosphäre des Veranstaltungsortes Sotočje, was soviel wie Zusammenfluss heißt. Auch im Organisationsteam sind es spirituelle Motive, die die Kontinuität des Festivals sichern, aber in erster Linie sind das künstlerische Belange und die Leidenschaft, etwas gemeinsam in einer kleinen Gruppe von Freunden zu tun. Der Name Sajeta mag auch als Hinweis auf diese Grundeinstellung gelten: Das Wort ist vom Italienischen Saeta (Donnerschlag) abgeleitet und hat hier die Funktion einer Metapher für Außergewöhnliches. In der Vorstellung der Veranstalter verwandelt sich Sajeta zu einem mythischen Wesen mit hoher Energie639. 3.2.5.3 Publikum Mit diesem Festival wollten wir das Niveau und Konzept Slowenischer Musikfestivals verbessern und frischen Wind in unsere eigene Region des Soča Tales. Wir wollten zeigen, dass die Dinge an der Peripherie anders waren als in den Zentren (Ljubljana), und wir versuchten, kreative Leute zusammenzubringen, ohne Rücksicht auf ihren Hintergrund, ihre Herkunft. Diese Ziele versuchte man zu erreichen, indem man Schwerpunkt und Aufmerksamkeit auf die Konsumenten - also das Publikum - und die Produzenten des Festivals, die Künstler 639 aus einer E-Mail von Miha Kozorog an den Verfasser am 11. 04. 2009 212 gleichmäßig verteilte. Die Teilnehmer sind sehr gut und in einer sehr aktiven Form integriert, - nicht nur weil sie Teil von verschiedenen Workshops sein können, sondern etwa weil eine Woche Campingplatz angeboten wird, - in einer Woche ist genug Zeit für die Leute, um miteinander zu kommunizieren und einander kennenzulernen. So kommt es vor, dass nach wenigen Tagen einige im technischen Bereich mithelfen, andere sich anderswo hilfsbereit zeigen. Interventionen von Teilnehmenden sind den Veranstaltern immer willkommen. Die Teilnehmer sehen, dass sie nicht nur in der passiven Rolle der Konsumenten sind, sondern dass sie aktiv mithelfen können und in einer sehr aktiven Weise ein Teil des Festivals werden können. 3.2.5.4 Schwerpunkte In den letzten Jahren lag der Schwerpunkt des Programms auf neuen, frischen Produktionen mit Musikern bzw. Komponisten. Die Aufmerksamkeit der Organisatoren galt besonders den Eigenproduktionen, sodass neue Arbeiten während bzw. für das Festival entstehen konnten. Der Ausgangspunkt dafür waren Workshops, die dazu gedacht waren, die künstlerische Produktion zu fördern. Als das - nach einigen Jahren – nicht genügend Erfolg hatte, lud man Gastkünstler ein, die untereinander zusammenarbeiten und neue Festival-Projekte kreieren sollten. Vor allem galt das Interesse, die lokalen Künstler mit international anerkannten Künstlern zusammenzubringen. Daraus resultierten interessante Begegnungen, von denen einige bis heute aktiv sind, etwa Embryo und Salamandra Salamandra, Zlatko Kaucic und Alexander Balanescu, The Tolmin Rebelion (Tolminski punt) und Peter Brötzmann, Francesco Cusa und many Slovenian artists. Aber das Festival hat noch mehr Facetten, so z. B. das Anliegen, mit Musikszenen aus ExYugoslawien zusammenzuarbeiten. So kam es schon zu zahlreichen Begegnungen zwischen der lokalen Szene und anderen Szenen in jenem Gebiet. Die Initiatoren des Festivals wollen die Kommunikation mit dem Teil der Welt, mit dem sie früher noch verbunden waren, wieder aktivieren bzw. nicht beenden. 3.2.5.5 Resultat, Prozess oder Situation Den Veranstaltern geht es vor allem um das Kreieren von Situationen und Kontinuität. Sie sehen sich am meisten bestätigt, wenn Projekte, die im Festival ihren Ausgangspunkt 213 hatten, erfolgreich fortgesetzt wurden. Es bedeutet für sie, dass die Schwingungen, die Vibes des Festivals die richtigen sind. In diesem Sinn werden die Künstler das Festival im Gedächtnis behalten und wiederkommen wollen. Neben diesem situativ-atmosphärischen Fokus sind die künstlerischen Ergebnisse ebenso wichtig. Es gibt inzwischen viele TonDokumente von musikalischen Begegnungen, die Sajeta initiiert hat, die aber noch nicht veröffentlicht sind. 3.2.5.6 Begriffe Bezüglich der heute gängigen Begrifflichkeit im Bereich der zeitgenössischen Musik sind die Veranstalter mehr und mehr skeptisch, obwohl sie die Begriffe noch verwenden bzw. verwendet haben. Miha Kozorog sagt, dass sie leer geworden sind. Man finde sie in so vielen unterschiedlichen Zusammenhängen, weit entfernt von der wahren Avantgarde. Und schließlich haben diese Begriffe heute einen stark bürgerlichen Klang, während Sajeta in der Jugendkultur wurzelt, in einer lokalen Jugendszene. Gerade heute betont Sajeta die Komponente Jugendkultur mehr und mehr, vielleicht als Reaktion auf Musikkritiker, die das Festival belächelten, als es die gängigen Etiketten verwendete. Sajeta ist heute eine gute Marke, die mehr und mehr für sich selbst spricht. Viele Menschen in Slowenien und der weiteren Umgebung wissen, dass sie in Tolmin etwas erwartet, das sich von dem unterscheidet, was sie anderswo hören können, und dass es wertvoll ist, das zu erleben. 3.2.5.7 Ökonomischer und sozialer Hintergrund Sajeta ist nicht wirtschaftlich orientiert, doch braucht jedes Festival genügend Einnahmen, um überleben zu können. Das Problem unseres Festivals ist, dass es als Gemeinschaftsprojekt begann, - eine Gruppe von Freunden gründete es aus Enthusiasmus, aus „Gefühl“. Als dann später im Festival große Namen auftauchten und uns als Veranstalter die Bürokratie vor immer neue Aufgaben stellte, wurde es klar, dass das Projekt ohne genügend Budget nicht überleben könnte. Es ist zu viel Verantwortung für die Organisatoren, ohne die übliche Bezahlung zu arbeiten. In den letzten beiden Jahren bekam das Festival ein wenig finanzielle Unterstützung vom Staat und von der Stadt, aber beide zusammen repräsentieren etwa nur ein Drittel des Gesamtbudgets, wenn man wirklich sorgsam mit der Budgetentwicklung verfährt. Ich glaube, dass das Festival keine Zukunft hat, wenn wir keine finanziellen Lösungen finden oder institutionelle Unterstützung bekommen. Zurzeit ist das Festival ein 214 Projekt des Jugendverbandes von Tolmin (ZDMD), welche einen Jugendklub in Tolmin betreibt (Multimedia Centre Mink) und eine gewisse Ausrüstung an Computern, PA und Videogeräten besitzt), aber diese Institution hat keinen einzigen Angestellten. Auf der Stadtverwaltung liegt eine große Verantwortung, diese Situation zu verbessern und die Institutionalisierung von ZTMD und dem Multimedia Centre Mink voranzutreiben, aber noch scheint es keinen politischen Willen dafür zu geben. Obwohl Tolmin eine wichtige Festival-Stadt in Slowenien geworden ist (vor allem wegen dem Metal Camp, das in Tolmin stattfindet), wird die örtliche kulturelle Infrastruktur unterschätzt bzw. als selbstverständlich angesehen. Was den sozialen Hintergrund betrifft, ist Sajeta ein sehr Orts bezogenes Projekt, sehr in einer lokalen Szene verwurzelt. Kozorog glaubt, dass das Festival nur wegen der starken lokalen Identität der Veranstalter möglich ist. Weil die Arbeitsbedingungen schwieriger und schwieriger werden und man am Ende kein Plus erwirtschaften könne, gebe es mehr und mehr Überlegungen, das Festival zu beenden. Es ist nur eines, das das Festival wieder und wieder geschehen lässt, eine Art rituelle Wiederholung unter einer Gruppe von Freunden, Musik- und Kunstliebhabern. 3.2.5.8 Organisaton, Konzept Der formale Veranstalter ist der Jugendverband von Tolmin (ZTMD), eine lokale Jugendorganisation. Die operative Arbeit aber wird von ungefähr fünf Personen aus Tolmin geleistet, welche glauben, dass das Festival eine gute Sache ist und deshalb ihre Energie investieren. Dann gibt es weitere Leute von außerhalb Tolmins (Ljubljana usw.), die dem Festival zu helfen versuchen, indem sie ihre Vorlieben wie Fotografieren, Soundmixing, DJ-ing, Dokumentation, Mithelfen in der Programmierung des Festivals usw. einbringen. Es gibt zwar keinen wirklichen Leiter oder Direktor, aber Miha Kozorog ist für das endgültige Programm verantwortlich, - schließlich gibt es noch den Präsidenten des ZTMD, Janez Leban, der rechtlich für alles die Verantwortung trägt und sich um alles Bürokratische kümmert. Das Festival wurde inzwischen zu einem gesellschaftlichen Treffpunkt von Freunden aus Tolmin, aber auch aus anderen Gegenden, nicht nur aus Slovenien, sondern auch Serbien, Kroatien, Italien und Österreich. Dieses Gemeinschaftsgefühl mag für Außenseiter Geschlossenheit signalisieren, was die Verantwortlichen ein wenig stört, doch ist es 215 andererseits genau dieses Gemeinschaftsgefühl, das das Festival am Leben erhält und sie motiviert, weiterzumachen. 3.2.5.9 Was ist das Neue Die Herausforderung wie auch das persönliche Ziel für den Anthropologen Kozorog war, das alte anthropologische Paradigma zu überwinden, Menschen zu erforschen, aber eher, um sich in ein Gemeinschaftsexperiment einzulassen. Er begann 2002, sich um dieses Projekt zu kümmern, - vorher beobachtete er es nur von außen. Was neu ist? Im Konzept des Festivals ist, glaube ich, im Verhältnis zu historischen oder zeitgenössischen Festivals, nichts neu. Es habe immer schon Festivals gegeben, die unterschiedliche Stile, Genres und Kunst kombiniert haben, es habe immer auch schon Festival-Eigenproduktionen gegeben, und auch Festivals spontaner Gemeinschaft mit starkem lokalen Bezug. Aber trotzdem gebe es nicht viele Festivals wie Sajeta640. 3.2.6 International Multimedial Art Festival (IMAF) Das International Multimedial Art Festival widmet sich vor allem der Performance-Kunst, einer Kunstform, die sich in ersten Ansätzen etwa seit 1920 im Dadaismus zeigt641. Performance als Performing Art entsteht in den 1970er Jahren im Kontext der sich zur Spätmoderne wandelnden Gesellschaft, wobei der Zusammenhang mit der Postmoderne evident zu sein scheint, aber auch eine Verbindung zum Feminismus dieser Zeit besteht. Die Performance-Kunst entspringt vor allem den Umbrüchen in der darstellenden und bildenden Kunst, - in der bildenden Kunst durch die Einführung des Parameters Zeit, d. h. von Dauer und Momenthaftigkeit, Simultaneität und Unwiederholbarkeit, sowie körperlicher Präsenz. In der Radikalität der Wahl der Gestaltungsmittel drückt sich die Kritik am traditionellen Werkbegriff sowie an der Trennung von Werk und Entstehungsprozess aus. Der Prozess der Bildwerdung wird zum theatralischen Akt, die Ateliersituation weicht einer Szene mit Publikum642. Auch aus der Sicht der szenischen Kunst entwickeln sich neue Ausdrucksmittel, - die Darbietung wird zum Akt und zum Prozess. Hier kommt zur neuen Auffassung von Zeit auch eine neue Konzeption des 640 aus einem per E-Mail geführten Interview mit Miha Kozorog, Antworten in persönlichen E-Mails an den Verfasser am 18. 01. 2009 und 10. 04. 2009 641 Gabriele Klein/Wolfgang Sting, Performance als soziale und ästhetische Praxis. In: Gabriele Klein/Wolfgang Sting (Hsg.), Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst. Bielefeld 2005, S. 11 642 Gabriele Klein/Wolfgang Sting (2005) S. 11 ff 216 Raumes. Die Performance-Kunst verlässt das klassische Theater und sucht den öffentlichen Raum. Theater in diesem neuen Sinn wäre nicht mehr der Ort bürgerlicher Repräsentation, sondern Ereignis, unmittelbare Erfahrung des Realen und Inszenierung von Authentizität, - Flüchtigkeit, Gegenwärtigkeit und Vergänglichkeit wären nunmehr dessen Kennzeichen. Performance ist eine sich zwischen Theater und Tanz, Musik, Film und bildender Kunst konstituierende ästhetische Praxis, - eine extrem wandelbare innovative Kunstform643. Diese ästhetische Praxis wird im sozialen und als sozialer Prozess definiert, indem sie auf Texte und Rollenbilder verzichtet. Hier handelt es sich um ein serious game, das sich ereignet, Gegenwart herstellt, und nicht nur so tut als ob. Es ist auf Körper und Bewegung, auf Selbst-Erleben und Mitbeteiligung der Zuschauer ausgerichtet. Im Unterschied zur Aufführungspraxis der medialen Öffentlichkeit, des Performativen in allen gesellschaftlichen Bereichen (Eventkultur), stellen künstlerische Performances die Ökonomisierung und Veralltäglichung des Theatralen in Frage. Hier liege die politische Chance der Performance-Kunst. Die Werte der globalisierten Welt wie Beweglichkeit, Flüchtigkeit, Ortlosigkeit, Flexibilität und das permanente Neuerfinden des Selbst sind im Grunde identisch mit den Leitbildern der Akteure. Stillstand, Langsamkeit oder Inszenierung der Abwesenheit können Strategien sein, um sich von der Gesellschaft des Spektakels abzusetzen bzw. dieses zu verweigern644. Auch Musik hat grundsätzlich performativen Charakter, und für die musikalische Darbietung gilt heute, was für das Theater gesagt wurde. Auch im Bereich der Musik ist eine Bewegung aus den Konzertsälen zu beobachten645. Ist das traditionelle Konzert646 eine starre Inszenierung tradierter Texte und Rollenbilder, zielen musikalische Performances in speziell ausgewählten öffentlichen Räumen ebenfalls auf Authentizität und Gegenwärtigkeit. Die Multimedialität, auf die der Festivalname verweist, ist nicht nur ein weiteres Merkmal der Performance-Kunst, sondern ein Trend im allgemeinen Kunstschaffen. Im Herbst 1998 gründete der 1955 in Odzaci/Serbien geborene Performance-Künstler Nenad Bogdanovic das International Multimedial Art Festival (IMAF). Bereits zuvor 643 Gabriele Klein/Wolfgang Sting (2005) S. 12 ff Gabriele Klein/Wolfgang Sting (2005) S. 15 f 645 Vgl. das Klangforschungsprojekt Songs of(f) Stage an der Universität Mozarteum. Aus: Helmi Vent, Spiel-Arten und Ereignisparameter im Experimentellen Musiktheater am Beispiel einer TanzMusikTheaterWerksattt. In: Gabriele Klein/Wolfgang Sting (Hsg.) (2005) S. 157 ff 646 Auch die traditionelle Konzertsituation ist kulturanthropologisch gesehen als cultural performance und in dem Sinn, in dem alle Arten von Performances kulturell kontextualisiert sind, eine Praxis, in der die Kultur sich selbst erkennt, in diesem Fall also ein Ort der bürgerlichen Repräsentation, das Konzert ein Ritual der bürgerlichen Gesellschaft. Vgl. Gabriele Klein/Wolfgang Sting (2005) S. 7 644 217 (1984/88) gründete Bogdanovic die Kunstzeitschriften Total und Secondo Manifesto, deren Herausgeber er auch war. Seit 1980 ist er Kurator verschiedener internationaler Kunstprojekte und Ausstellungen sowie Gründer und Leiter des Multimedial Art Studio und der MAS – Gallery in Odzaci, die sich der Performance-Kunst widmen. Seit 1980 tritt er mit seinen Performances und Kunstaktionen im Rahmen zahlreicher internationaler Festivals an die Öffentlichkeit. 1993 begann er das Kunst-Projekt Man Gallery. Das International Multimedial Art Festival widmet sich allen Formen zeitgenössischer Kunst unter Berücksichtigung aller modernen Medien. Eines der Ziele dieses Festivals ist die Erweiterung des Territoriums zeitgenössischer Kunst, die Ausweitung bestehender Grenzen. Es ist allen Medien gegenüber, die ein Künstler für seine Arbeit wählt, offen, um das Fundament für neue bzw. zukünftige Kunstformen zu legen. Es werden auch nur solche Künstler eingeladen, deren Arbeit als innovative und aufrichtige Kunstform angesehen werden kann. Die teilnehmenden Künstler kommen aus allen Teilen der Welt und finden hier ein interessiertes Publikum sowie eine Plattform für Austausch, Diskurs und Freundschaft. In diesem Sinn ist dieses Festival im internationalen Vergleich ein wichtiger Ort für Performance-Kunst. Die Motivation für Bogdanovic sind künstlerische Befriedigung und persönliches Wachstum. 3.2.6.1 Publikum Im Zusammenhang mit der Offenheit gegenüber neuen Kunstformen ist IMAF auch bestrebt, das Publikum in aktiver Weise zu integrieren. In einigen Fällen ist das Publikum sogar integrativer Bestandteil der künstlerischen Performance oder Aktion. Grundsätzlich sieht Bogdanovic sein Festival als einen Ort für Kommunikation, an dem die Besucher die Möglichkeit haben bzw. ermuntert werden, mit den am Festival beteiligten Künstlern in Kontakt zu treten. In diesem Sinne versucht man, während des Festivals eine entsprechend freundschaftliche Atmosphäre zu schaffen, um den Zusammenhalt, die Gemeinsamkeit zu forcieren. So wird auch jeder Teilbereich des kommunikativen Prozesses gleich wichtig genommen: Künstler, Publikum und die Kommunikation zwischen diesen beiden. Bogdanovic und sein Team sind der Meinung, dass in der zeitgenössischen Kunst grundsätzlich das Publikum genauso wichtig ist wie die Künstler, erst in der Aktivität beider wird quasi Kunst erst realisiert. Dabei geht das Interesse des Veranstalters weg vom traditionellen Werkbegriff hin zu dem des künstlerischen Prozesses und der Situation. Die materiellen Resultate im 218 Sinn von geschlossenen Produkten sind dabei weniger von Bedeutung als die Resultate, die sich aus Interaktionen ergeben, - Prozessorientierung steht also vor Ergebnisorientierung. Die Positionierung des Festivals im Kontext traditioneller Entwicklung und Begrifflichkeit ist grundsätzlich nicht angestrebt. Es gehe nicht darum, das Programm bzw. die auftretenden Künstler in einen wie auch immer gearteten historischen oder begrifflichen Kontext zu stellen, sondern ausschließlich um die präsentierte Kunst. Die Bedeutung des IMA Festivals für die Region steht in keinem Zusammenhang mit der finanziellen Unterstützung, die es bekommt. Verglichen mit der Tatsache, dass zeitgenössische Kunst in Serbien sehr wenig gefördert wird, sind aber die Arbeitsbedingungen relativ gut. Seit die lokale Gemeinde die Wichtigkeit von internationalem Kulturaustausch eingesehen hat, gibt es von dieser Seite genügend Unterstützung, doch wäre mehr staatliche Unterstützung für das Festivalteam wünschenswert. Dieses besteht im Prinzip aus zwei Personen, Nenad Bogdanovic und Radoslav B. Chugaly, beide Mitglieder der Serbischen Künstlervereinigung, - unterstützt von einigen Künstlern und Kunstkritikern. Weiters gibt es einen künstlerischen Beirat, der die Anmeldungen und Angebote prüft und über das Programm entscheidet. Einige Künstler werden aufgrund der Empfehlung international anerkannter Persönlichkeiten und andere aufgrund ihrer dem Team bereits bekannten Arbeit eingeladen. Als die wesentliche und ursprüngliche Motivation dieser Arbeit bezeichnet Bogdanovic die kulturelle Isolation seines Landes bzw. seiner Region, die man mit der Aktivität dieses Festivals aufbrechen will. Ein weiterer, nicht weniger wichtiger Grund für das Engagement ist, die zeitgenössische Kunst in eine Region zu bringen, die sonst mit Kunst nicht so stark in Berührung kommt, wie das z. B. in den Großstädten und Metropolen der Fall ist. Bogdanovic und sein Team wollen beweisen, dass kleine Gemeinden genauso wichtig sind wie die großen647. Kenneth McBride bezeichnet das Festival als den sozialen Körper (social body) des Landes, als einen Ort der Identität648. 647 aus einem per E-Mail geführten Interview mit Nenad Bogdanovic, Antworten vom 23. 03. und 01. 04. 2009 648 Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 34 219 3.2.6.2 Themen Eines der Grundthemen der in Odzaci gepflegten Performance-Kultur ist der menschliche Körper und – bevorzugt durch die Lage des Veranstaltungsortes am Ufer der Donau649 – die Natur. Das fünfte Internationale Multimedial Art Festival rückte mit dem Thema Nature of performance – performance in nature nicht nur die Auseinandersetzung mit der Natur in den Vordergrund, sondern vor allem den Diskurs über die Definition von Performance-Kunst650. So schreibt Caterina Davinio (Italien) im Textteil des Kataloges, dass das Ziel der Performance-Kunst sei, mit dem Körper und mit der Stimme zu kommunizieren, - einen interaktiven Raum zu schaffen, der den realen Lebensraum mit Kunst und die Kunst mit realem Raum verbindet. Die Konzepte vom Körper als Identität, Aktion und Interaktion haben sich durch das Internet und die Internet-Kunst radikal verändert. Die neuen Konzepte sind die der Verlagerung des Körpers und der Aktion in virtuelle Räume (Cyberspace), der Mehrfach-Identitäten und der kollektiven kreativen Handlung (cre-action). Mit der neuen Natur der Medienlandschaft und ihrer telematischen Durchmessung habe sich auch die Natur der Performance verändert, die sich nun der Kommunikationstechnologie bediene651. Klaus Groh (Deutschland) entwirft eine sechs Punkte umfassende, die Unterschiede zur Natur herausarbeitende Definition von Performance-Kunst: 1) Performance-Kunst ist künstliche kreative Aktivität, 2) Performance-Kunst ist konzentrierte Isolation vom Leben, 3) Performance-Kunst hat die Übertragung von Identität zum Ziel, 4) Performance-Kunst existiert nur im Dialog zwischen Akteur und Betrachter 5) Performance-Kunst verlangt intelligente soziale Reaktion 6) Performance-Kunst ist ein kultureller Prozess652. Die kanadische Performance-Künstlerin Pam Patterson setzte sich in ihrer Arbeit mit dem Atem bzw. dem Atmen als Ausdruckspotential auseinander. Mit Hilfe ihrer Hände ritualisierte sie das Ende eines Atemzugs und den Beginn eines neuen. Mit der Thematisierung des Atmens wollte sie die Notwendigkeit einer aktiven und bewussten Entscheidung, sich dem Leben und seinen Aktivitäten zu öffnen, zeigen653. 649 ein Teil des Programmes 2003 fand in Kamariste, 15 km von Odzaci entfernt, statt. Dieses Waldgebiet liegt an der Grenze zwischen Serbien und Kroatien und am Ufer der Donau. 650 Nenad Bogdanovic et al, IMAF 2003, Katalog zum 5. Internationalen Multimedial Art Festival 22. 08. – 30. 09. 2003 Odzaci, Serbien und Montenegro. Odzaci 2003, S. 18 - 36 651 Bogdanovic et al (2003) S. 18 652 Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 21 653 Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 19 f 220 Ein wichtiger Aspekt der Performance-Kunst ist das Verhältnis der Künstler zum Publikum. Für Hugh O’Donnell (Nordirland) ist die Natur der Performance mit der menschlichen gleichzusetzen: der Drang, etwas zu schaffen, die Bereitschaft, neue Medien auszuprobieren, den Körper als Medium und eine Art physischer Metapher einzusetzen, ermöglicht dem Publikum eine Erfahrung, die der des Künstlers gleich ist. Performances sind an den Ort gebunden, der dem Künstler ermöglicht, eine visuelle Sprache zu entwickeln, die für den Ort spricht und den Künstler mit dem Publikum verbindet654. Auch für Sarawut Chutiwongpeti (Thailand) geht es darum, Vertrautheit und emotionale Resonanz mit dem Betrachter zu erkunden655. Adina Bar-On (Israel) spielt in ihrer Arbeit View (1997/98) auf den Unterschied zwischen vertraut und entfernt, privat und öffentlich an. Unter anderem will sie damit die Legitimität des Romantischen zeigen und das Einfühlungsvermögen fördern656. Philosophische und spirituelle Themen liegen im Kontext dieser Kunstform, die rituelle wie kultische Aspekte in sich trägt, nahe. Paul King (Großbritannien) vergleicht seine Arbeit mit philosophischen Untersuchungen, die keine bestimmten, eindeutigen Antworten zulassen, - die jeweilige Antwort kann nur vom Betrachter subjektiv ermittelt werden. Mit seiner Arbeit gibt er keine Antworten, vielmehr stellt er Grund legende Fragen657. Natascha Pena-Urrutia (Schweden/Chile) sieht die Wurzeln der Perfomance-Kunst im ununterbrochenen Dialog mit der Natur, den die Menschen ursprünglich gepflegt und den sie in Ritualen ausgelebt haben. Im Zuge des Rationalisierungsprozesses in der westlichen Welt sei dieser unverfälschte Kontakt verloren gegangen. Die Performance-Kunst ist zu Beginn des vorigen Jahrhunderts als Antwort auf den Rationalismus und als Ausdruck des Bedürfnisses nach spiritueller Entwicklung entstanden. So trage die Performance-Kunst zur Wiedervereinigung des Menschen mit der Natur bei658. Aleksandar Jovanovic (Serbien/Montenegro) hebt in seinem Feedback das im Festival spürbare Anliegen nach größtmöglicher Kreativität und spiritueller Kommunikation mit dem Publikum hervor659. Der Spanier Bartolome Ferrando erwähnt die große Bandbreite von Praktiken, Aktionen und Interventionen in der heutigen Perfomance-Kunst. 654 Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 22 f Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 21 f 656 Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 25 657 Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 25 658 Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 29 659 Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 36 655 221 Diese Pluralität sei kein Zeichen für Auflösung oder Untergang, sondern mache Praktiken möglich, die Schnittpunkte zu erzeugen und Informationen auszutauschen in der Lage sind. In den Bereichen Malerei, Musik, Skulptur, Theater, Tanz, Film, Literatur, Installation, Environment, Dichtung, Video und Computer baue der Künstler Zusammenhänge, - er klebe die einzelnen Elemente nicht zusammen, er verschmelze sie ineinander. Performance sei nicht logisch, sie untergrabe die gewohnte Syntax von Aufführungen, - sie konfrontiere uns mit Diskontinuität660. 3.2.7 Fair Music Das Ziel von fair music, der ersten weltweiten Initiative für mehr Fairness und Gerechtigkeit in der Musikwirtschaft ist es, ein breiteres Bewusstsein für Fairness im Musikbusiness zu schaffen, die Stellung sowohl der KünstlerInnen als auch der MusikhörerInnen weltweit zu stärken, faire Regeln im Musikleben zu etablieren, künstlerische Freiheit zu schützen, faire Honorierung von Komponisten und Musikern sowie eine gerechte Verteilung der Chancen für kleine Produzenten weltweit zu erreichen. fair music wurde vom Musikinformationszentrum Austria (mica-music austria)661 initiiert, - die Idee stammt von dessen geschäftsführendem Direktor Peter Rantaša, der die Erfahrungen der Fair Trade Organisationen mit Nahrungsmitteln aufgegriffen und sie in die Welt kultureller Güter und Leistungen übertragen hat. 3.2.7.1 Peter Rantaša 1964 in Wien geboren und ursprünglich Klangkünstler, gründete Rantaša zunächst das Wiener Electronic Festival PhonoTAKTIK und die Wiener Electronic Plattform Rhiz - Bar Modern, bevor er 1999 die Geschäftsführung von mica - music austria übernahm. Seit 2003 ist Rantaša auch Mitglied des Vorstands des Internationalen Musikrates (IMC). Sowohl in seiner Rolle als Künstler als auch in der des Kurators und nicht zuletzt in der des Hörers und Musikfans haben ihn die unfaire Behandlung von Musikern und die Einschränkung deren künstlerischer Freiheit durch kommerzielle Interessen empört. 660 Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 29 mica – music austria wurde 1994 gegründet. Die Hauptaufgabe dieser unabhängigen Non-ProfitExpertenorganisation ist es, Österreichische Musik aller Genres weltweit zu verbreiten und zu unterstützen. mica - music austria ist Teil eines Netzwerks und Schnittstelle für Produzenten, professionelle Musiker und Hörer in Europa. Es schafft Verbindungen zwischen Politik und dem Musiksektor und ist ein Forum für alle Interessensgruppen im Bereich Musik. vgl. www.musicaustria.at (22. 03. 2009) 661 222 Musikschaffenden sollte künftig das Schicksal erspart bleiben, das vielen von ihnen schon zuteil wurde662. Rantaša hält den Moment für günstig: Die aktuellen dramatischen Veränderungen in der Musikbranche lassen keinen Stein auf dem anderen. Man kann diesen Strukturwandel als Modernisierungsschub begreifen. Er bietet uns die Chance, ein Bewusstsein für Fairness in Produktion und Vertrieb von Musik zu schaffen und in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen und NGOs aus dem Musikbereich breit akzeptierte Standards zu etablieren. 3.2.7.2 Menschenrecht Schließlich bezieht sich Peter Rantaša mit seiner Initiative auf Musik als ein Menschenrecht663. Der duale Charakter kultureller Güter und Leistungen werde oft ausgeblendet, wenn es in internationalen Debatten bezüglich kultureller Vielfalt oder Solidarität in erster Linie um die Verteilung von Geld geht. Mit diesem dualen Charakter ist gemeint, dass ein Kulturgut – etwa eine Komposition oder eine Musik-CD - eine ökonomische und eine ideelle Seite aufweist. Diese nicht-ökonomische Seite, die das Kulturelle von anderen verhandelbaren Sphären unterscheidet, lässt sich nicht in Zahlen ausdrücken, sei deshalb dem Missbrauch ausgeliefert und fände daher auch wenig Fürsprache, - außer durch das Menschenrecht selbst. Der duale Charakter kultureller Güter und Leistungen erzeugt einen Widerspruch im kulturellen Gegenstand selbst, ein Gegenstand, der sich – wie die sich entwickelnden Wissensgesellschaften – in einer Phase der Wandlung befindet. Dieser inhärente Widerspruch arbeitet ausgerechnet jenen traditionellen Kräften in die Hände, die das Kulturelle ... auf seine ökonomische Dimension reduzieren wollen, um es ohne Hindernisse handelbar und verhandelbar zu machen 664. 662 Als Beispiel erwähnt Rantaša Solomon Linda, der die Rechte für seinen Titel Mbube 1939 für einen geringen Betrag an seinen Verlag verkauft hatte und am späteren Welterfolg des zu The Lion sleeps tonight umbenannten Songs nicht mehr teilhaben konnte. Er verstarb 1962 völlig verarmt. Aus: http://fairmusic.net/?paged=2&s=fairness (03. 04. 2009) 663 Im Statut des International Music Council (IMC) sind die musikalischen Grundrechte verankert: 1) Alle Kinder und Erwachsene haben das Recht, sich in aller Freiheit musikalisch auszudrücken 2) Alle Kinder und Erwachsene haben das Recht, musikalische Ausdrucksformen und Fähigkeiten zu erlernen 3) Alle Kinder und Erwachsene haben das Recht auf Zugang zu musikalischen Aktivitäten: zur Teilnahme, zum Hören, zum musikalischen Schaffen und zur Information 4) Musikschaffende haben das Recht, sich als Künstler zu entwickeln und das Recht auf Kommunikation in allen Medien, indem ihnen angemessene Einrichtungen zu ihrer Verfügung stehen 5) Musikschaffende haben das Recht auf angemessene Anerkennung und Vergütung für ihre Arbeit. Aus: Peter M. Rantaša, Fair Music. In: Privacy 43, Katalog zur Ars Electronica, Linz 2007, S. 172 664 Aus einem persönlichen Gespräch des Verfassers mit Peter Rantaša am 05. 05. 2009 in Wien, vgl. auch Andreas Hirsch/Peter Rantaša, Strom ohne Wiederkehr. Für eine Dialektik kultureller Modernisierung. In: Hybrid. Living in paradox. Katalog zur Ars Electronica 2005, Linz 2005, S. 137, siehe auch: http://90.146.8.18/de/archiv_files/20051/FE_2005_Rantasa_%20Hirsch_de.pdf (06. 05. 2009) 223 Menschenrecht beinhaltet auch den Schutz des geistigen Eigentums. In unserer Zeit des digitalen Musikmarktes wird der Konflikt zwischen dem Recht auf Schutz des geistigen Eigentums einerseits und dem Recht auf Teilhabe an der Weltkultur andererseits sichtbar. Das bestehende, international uneinheitlich geregelte Urheberrecht wird dem durch die Digitalisierung insbesondere im Musikbereich ausgelösten Strukturwandel nicht mehr gerecht. Es vermag auch den dringend notwendigen Interessenausgleich zwischen dem Recht der Musikschaffenden auf faire Abgeltung und dem Recht der Menschen auf Teilhabe an der Weltkultur und deren Vielfalt nicht mehr widerspruchsfrei zu leisten665. Für den hier erwähnten Strukturwandel auf dem Musiksektor ist also in erster Linie die Digitalisierung verantwortlich, digitaler Musikvertrieb spielt in der globalisierten Welt eine wesentliche Rolle. Sowohl die von extremer Marktkonzentration geprägte Unterhaltungsindustrie als auch Internetanbieter und Service Provider agieren in erster Linie im Eigeninteresse, was auch die ungerechte Verteilung der Erträge zur Folge hat. Die Marktverzerrung durch übergroße Investoren für einige Unterhaltungsindustrieprodukte ist schließlich auch zu Gunsten der Darstellung kultureller Vielfalt zu hinterfragen666. 3.2.7.3Fair Music Der Start dieser Initiative fand im Rahmen des Mozart-Jahres 2006 statt, - dem Jahr, in dem weltweit der 250. Geburtstag von Wolfgang Amadeus Mozart gefeiert wurde. Mozart war für fair music nicht nur Anlass, sondern auch Symbolfigur, - denn Mozart gilt als der erste unabhängige Komponist in der westlichen Welt667. Die seit der Aufklärung einsetzende Befreiung des Künstlers aus Abhängigkeiten, die mit gesteigertem Selbstwertgefühl einherging, zeitigte nicht nur künstlerische Innovation, sondern auch z. B. das Urheberrecht. Dieses wurzelt, zumindest von der Idee her, im Kopierschutz (Copyright), der nach der Erfindung des Buchdrucks und der damit einhergehenden Möglichkeit der Vervielfältigung von Texten relevant geworden war. Das Urheberrecht, das ursprünglich eine Balance zwischen den Interessen der Urheber, Verleger und Konsumenten herstellen sollte, ist seit der Digitalisierung und dem Ansteigen des 665 Birgit Brandner, Pressetext zur fair music-Kampagne, Pressestelle der Initiative fair music, Wien 2007 Peter Rantaša (2007) S. 173 667 Die Geschichtsbeschleunigung der Zeit, ihre kulturelle Spannungsenergie fokussierte sich in Künstlern wie Mozart exemplarisch - ein Drängen zum Nullpunkt revolutionärer Veränderung wurde von ihm und anderen individualistisch ins Subjekt gebannt. Die Dekadenz der Adelsgesellschaft wurde für ihn brauchbare Substanz zum Komponieren. Aus: Herbert Lachmayer, Genie in Verwandlung. In: Herbert Lachmayer (Hsg.) Mozart – Experiment Aufklärung. Wien, Ostfildern 2006) 666 224 Internetmarktes ein komplexes wie erneut umstrittenes Thema. Aus den voraufklärerischen Abhängigkeiten befreit, sehen sich Künstler heute vielfach wieder in neue Abhängigkeiten verstrickt. Weltweit gibt es nach wie vor kein Urhebervertragsrecht, das KünstlerInnen vor nachteiligen Verträgen in Schutz nehmen würde. Nach wie vor sind die Fragen der ungerechten Verteilung im Bereich Weltmusik zwischen Nord und Süd unbeantwortet. So bleiben weiterhin viele KünstlerInnen zwar mit Begeisterung bei der Sache, bekommen aber von dem Geld, das in ihrem Namen von den Musikindustrien eingehoben wird, nur einen minimalen Anteil. fair music betont das Recht der Musikfans darauf, die Musik zu hören, die sie hören möchten, - auch das Recht der Kreativen, für ihre Leistungen und Ideen Anerkennung und Bezahlung zu bekommen. Dabei gehen die Musikfans davon aus, dass ihr in Musik investiertes Geld, auch den von ihnen geschätzten Künstlern zu Gute kommt. Die Initiative fair music setzt sich dafür ein, dass die Musikschaffenden einen gerechten Anteil am von ihren Fans bezahlten Geld erhalten und dass die Künstler ihre Musik künstlerisch frei und unter fairen Bedingungen produzieren können. Um diese Ziele zu erreichen, entwickelt die Initiative gemeinsam mit dem Internationalen Musikrat (IMC), der 1949 von der UNESCO gegründeten Musikdachorganisation, sowie NGOs aus Musik und Kultur Standards für die Zertifizierung von fair produzierter und vermarkteter Musik. Die fair music – Initiative ist in diesem Sinn an der Umsetzung der UNESCO -Konvention für Schutz und Förderung kultureller Vielfalt beteiligt und wird von der Österreichischen UNESCO - Kommission unterstützt. 3.2.7.4 Gender Mainstream und Vielfalt Zur Fairness im Musikbusiness zählt nicht zuletzt auch Gender Mainstream, die Erhaltung der Vielfalt in der musikalischen Produktion sowie die Stärkung von Minderheiten (so genannten Nischen). Entlang der erwähnten UNESCO - Konvention zum Schutz kultureller Vielfalt will die Initiative die betroffenen Interessensgruppen weltweit in einen Prozess mit einbegleiten, der die Errichtung anerkannter Standards zum Ziel hat. Die Konsumenten sollen sich wieder sicher sein können, dass die Künstler ihren fairen Anteil an den verkauften CDs und an den aus dem Netz herunter geladenen Musikdaten bekommen und dass deren künstlerische Freiheit nicht eingeschränkt wird668. 668 Die Aktualität dieser Thematik wurde in einer Expertendiskussion deutlich, die am 26. Februar 2009 im Rahmen des UBIT-Zukunftsforum in Salzburg stattgefunden hat: Tatort Internet – Wie wir mit illegalen Downloads umgehen. Eine Veranstaltung der Fachgruppe Unternehmensberatung und Informationstechnologie der Wirtschaftskammer Salzburg in Zusammenarbeit 225 3.2.7.5 Manifest Das Manifest der Initiative umfasst folgende sieben Punkte, mit denen sie die breite Akzeptanz der geforderten Standards festlegt: 1. Unbeschränkte künstlerische Freiheit in der Musik 2. Freier Zugang zu musikalischem Ausdruck 3. Festlegung (Urheber) vertragsrechtlicher Mindeststandards 4. Adäquater Gebrauch von Technologie zur fairen Verteilung von Tantiemen 5. Fairness und Gerechtigkeit im Musikbusiness muss ein Schlüsselmoment kultureller Vielfalt sein 6. Volle Anerkennung des kulturellen Charakters musikalischer Produkte, anstatt sie auf rein ökonomische Eigenschaften zu reduzieren 7. Fairness und Gerechtigkeit in Musikbusiness müssen Normalität werden, nicht die Ausnahme bleiben 3.2.7.6 Fair Music Award Zudem schreibt fair music seit 2007 den fair music Award für vorbildliches Verhalten im Music Business aus. Musikproduzenten wie –konsumenten sind eingeladen, Unternehmen, Initiativen und Dienstleister zu nennen, die diesem Kriterium entsprechen, eine Jury669 wählt aus den Nominierten die Preisträger. Der erste fair music Award wurde am mit der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen, Salzburg. Diskussionsteilnehmer waren internationale Experten, unter ihnen der Leiter der Linzer Ars Electronica Gerfried Stocker, der Mitbegründer der schwedischen Datentauschplattform „Pirate Bay“ Magnus Eriksson, als Repräsentant des Walt Disney Filmkonzerns Ferdinand Morawetz und Labelbetreiber Karl Möstl. Während Stocker und Eriksson für ein Aufbrechen herrschender Copyrightverhältnisse eintraten, verteidigten Morawetz und Möstl die traditionellen Werte geistigen Eigentums. Während Stocker in der freien Zirkulation von Information eine Chance sieht und Eriksson meinte, Künstler müssten in Zukunft ihr Geld mit Konzerten verdienen, verwies Morawetz auf die Kosten und Möstl auf das Herzblut, das in jeder im Internet verfügbaren Produktion stecke. Vgl. auch Tobias Bauckhage, Das Ende vom Lied. Zum Einfluss der Digitalisierung auf die internationale Musikindustrie. Stuttgart 2002, S.7: Es ist viel und leidenschaftlich über das unautorisierte Kopieren von digitaler Musik diskutiert worden: die Vertreter der Musikindustrie beschwören den Untergang ihrer Branche und sogar das Ende vom Lied, ihre Kritiker begrüßen das Internet als den vermeintlichen Wegbereiter zur totalen Autonomie und entkommerzialisierten Musik. 669 Die Kriterien der Beurteilung sind folgende: Unbeschränkte künstlerische Freiheit in der Musik (im künstlerischen Prozess, Mitbeteiligung, Ausdruck und Kreativität), gerechte Bedingungen für Urheber (Komponist/Innen, Musiker/Innen, Künstler/Innen), innovative Geschäftsmodelle, Vertragsbedingungen, Renumerationen, kulturelle Vielfältigkeit (Repertoire, Werkverzeichnis, Bewerbung), Service für Konsument/Innen (garantierter Zugang von Musik, Nutzbarkeit, adäquater Gebrauch von Technologie zur fairen Verteilung von Tantiemen), Unterstützung von Künstler/Innen (Karrierenentwicklung), leichter Zugang von Musiker/Innen aus dem Süden zu Musikmärkten 226 8. September 2007 im Rahmen der Ars Electronica in Linz von mica – music austria und dem World Culture Forum (WCFA) in Zusammenarbeit mit der Ars Electronica und mit Förderung der Europäischen Kommission, Programm Education and Culture vergeben und die Preisträger vorgestellt. In einer Podiumsdiskussion wurden Fragen des Strukturwandels in der Musikwirtschaft und der mit diesem einher gehenden Chancen der Stärkung von Musikschaffenden und –hörern erörtert, auch Fragen der Wertschöpfungskette, insbesondere im digitalen Musikvertrieb, und der Verteilungsgerechtigkeit zwischen Nord und Süd, sowie auch die gefährdete kulturellen Vielfalt in einer globalen Landschaft der Ungleichheiten und Modelle für mehr Fairness und schließlich der Verlust der Privatsphäre diskutiert670. Mit der Vergabe der ersten fair music-Awards wurde die Bandbreite dieser Initiative deutlich: - Die Internet-Plattform Tonga Online, die durch den Einsatz neuer Technologien den Menschen außerhalb Zimbabwes Zugang zur Tongakultur und zur aktuellen Lage in Zimbabwe gewährt. - Female:pressure, ein Netzwerk von und für Künstlerinnen das sich für Gleichberechtigung der Geschlechter im Musikbusiness einsetzt. - Freibank Music Publishing, 1986 von Mark Chung gegründet, um die Urheberrechte der deutschen Band Einstürzende Neubauten wahrzunehmen, bot seine Dienstleistungen nach dem Motto „More and Faster“ kurze Zeit später auch befreundeten Künstlern an und übernimmt u. a. das Direktinkasso mechanischer Lizenzen, was einmalig in der deutschen Verlagslandschaft ist. - Extraplatte, ein Label, Vertrieb und Plattenladen, ist ein Nischenbetrieb, der sich für kulturelle Vielfalt im österreichischen Musikmarkt und die Förderung noch unbekannter Musiker einsetzt. 670 Am Podium waren Chris Gelbmann (Buntspecht Label), Volker Grassmuck (Humboldt Universität Berlin), Joichi Ito (Neoteny/Creative Commons), Ronaldo Lemos (Overmundo/iCommons Brasilia), Margit Niederhuber (Republik Österreich - UNESCO Kommission), Danny O’Brien (Electronic Frontier Foundation) und Peter Rantaša (mica -music austria) 227 Abb. 6: Darstellung der traditionellen Wertschöpfungskette der Musik671 3.3 Zusammenfassung Die hier dargestellten Fälle als Beispiele für aktuelle Initiativen, Aktivitäten und Haltungen, die auf die vielfachen, zum Teil radikalen Veränderungen und Entwicklungen unserer Zeit reagieren bzw. diese abbilden, ergeben die Kristallisationsfläche dieser Arbeit. Anhand dieser Beispiele versuche ich, die Dynamik und Wechselwirkung zwischen gesellschaftlicher Realität und künstlerischen Agierens aufzuzeigen. Einerseits reagieren Künstler mit ihren Initiativen etwa auf bedrohliche Entwicklungen, andererseits werden in ihnen künstlerische Visionen formuliert und realisiert. Diese weder kommerziell getriebenen, noch von der Öffentlichkeit in Auftrag gegebenen Projekte spiegeln kreatives Potential und Verantwortungsbewusstsein wider. So subjektiv und unterschiedlich ihre 671 Zur Verfügung gestellt von mica – music austria, music information center austria 228 Herangehens- und Umsetzungsweisen auch sein mögen, stimmen die Intentionen und Grundlegungen dieser Initiativen und Projekte mit den allgemein formulierbaren Maximen der aktuellen, international diskutierten Kunstdiskurse und Strömungen weitgehend überein. In der Untersuchung wird ein Wertewandel in der Musik durchaus deutlich, obwohl dieser, wie gezeigt wurde, weder inhaltlich eindeutig noch zeitlich auf eine Jahreszahl bezogen definiert werden kann, Es wird aber trotzdem klar, dass der mit der Jahreszahl 1980 markierte Beginn der Digitalisierung von Musik einen in viele Bereiche wirkenden Einschnitt darstellt, der neue Strategien auch auf Seite der Künstler zeitigte und zeitigt. 3.3.1 Peter Ablinger Die erste hier gezeigte Position ist die des Komponisten Peter Ablinger. Obwohl Ablinger auch Initiativen gesetzt hat, wurde hier seine persönliche, in seiner Arbeit extrem wiederzuerkennende Haltung in den Vordergrund gestellt. Sein Werk thematisiert das Hören und stellt damit gleichzeitig die traditionellen Hörgewohnheiten in Frage. Seine Arbeit knüpft nicht an die Tradition an, sondern orientiert sich an den Fragen in Bezug auf unsere Gegenwart, die über unser Erkenntnisvermögen definiert ist. Sie ist nicht der Ästhetik der Neuen Musik verpflichtet, - vielmehr bezieht sie sich auf Diskurse im Bereich der bildenden Kunst. Obwohl die gängigen Kriterien der postmodernen Ästhetik im Werk Ablingers nicht nachweisbar sind, lassen sich einige Aspekte seiner Arbeit grundsätzlich auf die im Kapitel 1.2 beschriebene postmoderne Haltung beziehen. Dazu gehören Strategien und Kunstgriffe, mit denen er versucht, den Hörer zu aktivieren bzw. aktiv in seine Arbeit miteinzubeziehen, - seine Sensibilität zu schärfen. Die Aktivität der Hörenden ist für Ablinger Garant für die von ihm angestrebte Unmittelbarkeit. Sein Eingeständnis des elitären Charakters neuer bzw. seiner Musik, die bewusst Unbefugte ausschließt, beinhaltet jedoch keinerlei Machtanspruch. Die Mitbegründung des Musikverlags Zeitvertrieb Wien Berlin dokumentiert seine kritische Haltung gegenüber den etablierten Normen, die für den Komponisten Abhängigkeitsverhältnisse bedeuten. Besonders in der Thematisierung der Hörens sowie des Rauschens in Peter Ablingers Werk sehe ich einen eindeutig spirituellen Bezug. Es ist ein sehr subtiler Einspruch gegen die Verfestigungen und Verhärtungen auch im Bereich der fortschrittlicheren Musikkultur, die sich bewusst der überkommenen Logik widersetzt. Die Krise, die in der Auseinandersetzung mit seinem Werk sichtbar wird, ist nicht die der traditionellen 229 Codierungen, sondern die unseres sich auf Tradition stützendes Erkennens, das durch den Verlust der Unmittelbarkeit sich selbst in Frage stellen muss. 3.3.2 KomponistInnenforum Mittersill Die Intention des KomponistInnenforum Mittersill ist – bezogen auf den Grundaspekt des Austausches und der Kommunikaton – das traditionelle Kommunikationsmodell Komponist-Musiker-Publikum zu dynamisieren bzw. es gleichzeitig zu hinterfragen. Wesentlich dabei ist, dass dieses auf Kreativität und Vermittlung gleichermaßen zielende Projekt fern der städtischen Zentren der Hochkultur in einer Gemeinde im Salzburger Oberpinzgau realisiert wird. Regionalität wie auch der im KomponistInnenforum Mittersill gelebte Pluralismus sind inzwischen auch wesentliche kulturpolitische Themen. Der Aufbau einer Plattform und eines Netzwerks für Musikschaffende war eine erste Reaktion auf die schon in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts komplexer und damit schwieriger werdende Kommunikation. Die Digitalisierung zeitigte zusätzlich eine Polarisiserung des Marktes, aus dem Minderheiten mehr und mehr ausgschlossen sind. Die Aktivitäten des Labels ein klang_records zielen einerseits auf die bessere Sichtbarkeit dieser, andererseits spielt auch hier der Vermittlungsgedanke, Bewusstsein für das Neue und Unangepasste zu schaffen, eine wichtige Rolle. In der speziellen Situation noch zwischen den Paradigmen Sozialismus und liberalisiertes Europa ist dieses Projekt schließlich auch eines der Integration in politischem wie künstlerischem Sinn. In diesem Zusammenhang wird besonders dem Gender Mainstream Rechnung getragen. 3.3.3 No Music Day Bill Drummond zeigt in seinen Aktivitäten hohe Sensibilität für die langsam sich vollziehenden Veränderungen des Musikmarktes. Nicht der radikale Einschnitt der Digitalisierung ist es in erster Linie, dem er die Krise des Musikhörens zuschreibt, sondern der schon wesentlich früher entwickelten Möglichkeit der Musikaufnahme (recorded music), die für ihn den Beginn des Verlustes der Gegenwärtigkeit von Musik markiert. Das Projekt No Music Day ist in erster Linie ein künstlerisch-spirituelles, das eine Neuorientierung unseres Verständnisses von Musik vorschlägt. Die als monumentale Version von John Cages 4’33’’ lesbare Plakat-Partitur ist beides: einerseits Partitur im Sinne einer radikalen musikalischen Komposition, andererseits eine Art des Einspruchs, für die auch das Plakat eine adäquate Form der Veröffentlichung darstellt. 230 3.3.4 Chameleon Group In Ludger Hofmann-Engls Initiative zeigen sich im Wesentlichen zwei Aspekte, die einen Wertewandel illustrieren. Zum einen ist es das Agieren jenseits der traditionellen Strukturen im Musikleben bzw. in der Musikwirtschaft, zum anderen das pädagogischsoziale Engagement, das dem Interesse folgt, die offensichtliche Kluft zwischen der Musik und dem Publikum zu überwinden. Grundlage dieser beiden Grundhaltungen ist ein neues Künstlerbild, das den uneigennützigen Einsatz für andere vor das durch Neid und Karrieredenken charakterisierte und narzisstisch geprägte traditionelle Künstlerimage stellt. In diesem Zusammenhang weicht auch das traditionelle Werkverständnis einer Auffassung, für die Prozesse und Entwicklungen wichtiger sind. 3.3.5 Sajeta Auch im Festival Sajeta geht es um eine Dynamisierung des Verhältnisses zwischen Musikern und dem Publikum. Dazu trägt die Abgelegenheit und Intimität des für das Festival gewählten Ortes bei. Ein zweiter wichtiger Punkt ist die Be- bzw. Aufwertung des Regionalen bzw. Dezentralen. Es scheint ein wesentlicher Faktor des Erfolges zu sein, dass das Festival nicht in großstädtischem Kontext stattfindet. Die Lage in der Natur bzw. an Wasserläufen begünstigt zudem eine Atmosphäre, die auch spirituell-mystische Anteile hat. Sowohl über die sich in Tolmin alljährlich versammelnden Künstler als auch über das Publikum wurde bereits ein Netzwerk aufgebaut, über das die im Festival präsentierte Musik und Musikauffassung Verbreitung finden kann. 3.3.6 IMAF Multimedia ist ein in der von den Medien geprägten Gegenwart entstandener Begriff für die Vielgestaltigkeit und Konplexität des Zusammenwirkens von Medien bzw. medialen Techniken. Die Performance ist eine Kunstform, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt wurde und die jeweils aktuellen Medien mit einbezieht. Nenad Bogdanovic zielt mit der Multimedialität vor allem auf die Ausweitung bestehender Grenzen der einzelnen Kunstsparten, die in der Performance-Kunst ja grundsätzlich in Frage gestellt sind. Dabei bilden die speziellen Themen des Festivals, Natur und menschlicher Körper, einen wesentlichen Aspekt der Performance-Kunst ab: das Ritualhafte und Archaische, das im Zusammenwirken mit aktueller Medientechnologie ein für unser heutiges Leben signifikantes Spannungsfeld aufbaut. 231 In der Performance-Kunst sind der Kontakt und die Interaktion mit dem Publikum bzw. dessen Integration wesentliche Bestandteile. Das Flüchtige dieser Kunstform sezt auch den traditionellen Werkbegriff außer Kraft. Schließlich ist auch diese Initiative eine regionale, fern von den kulturellen Zentren der Großstädte. 3.3.7 Fair Music Die Initiative Fair Music reagiert auf die radikalen Veränderungen des Marktes, der – begünstigt durch die aufgrund der Digitalisierung grenzenlose Verfügbarkeit musikalischer Güter – Musik als Massenware erscheinen lässt. In diesem Zusammenhang scheinen Künstlerrechte auf der Strecke zu bleiben. Im Kontext des hier geführten Diskurses ist die Problematik natürlich zweischneidig: einerseits arbeiten Künstler selbst an der Transformation der Begriffe Werk und Autor, die sich in der Diskussion der Postmoderne auch bereits aufgelöst haben, und stellen somit die traditionelle Wertschöpfungskette sowie das traditionelle Marktverständnis in Frage- andererseits sehen Künstler die Gefahr der Beschneidung ihrer Rechte und setzen sich für diese ein. Die Frage, ob der Musikmarkt mit dem Markt anderer Güter überhaupt verglichen werden kann, muss hier unbeantwortet bleiben. Das Recht auf freien Zugang zu kulturellen Gütern steht in einem gewissen Widerspruch zum Recht des Künstlers auf faire Entgeltung seiner Leistungen. Hier wird der duale Charakter kultureller Güter deutlich. Ein weiteres Anliegen dieser Initiative ist, Vielfalt zu erhalten bzw. zu ermöglichen. Massenkonsum bzw. ausschließlich Gewinn orientierter Markt schließen zwar nicht grundsätzlich Vielfalt, doch zumindest die Präsenz von Minderheiten aus. Wer heute nicht groß ist, ist nicht vorhanden. Fair Music zielt schließlich auf das Bewusstsein beim Musik-Konsumenten, der – entsprechend der Fair Trade-Idee – sich Gedanken darüber machen sollte, welcher Anteil des von ihm gezahlten Betrages für eine Konzertkarte oder eine CD dem Künstler zukommt. Auch das ist - im Entferntesten – ein Aspekt von prehension. Es geht hier darum, Wissen um und Sensibilität für die komplexen Verhältnisse zu schaffen, die dem Konsumenten heute normalerweise verborgen sind, und die ihn, wie die schwarze Kiste Flussers (Fernsehen, Massenmedien) manipulieren werden, solange er seine Rolle nicht aktiv einnimmt bzw. definiert. 232 4 Ergebnis und Ausblick 4.1. Definitionen und Begriffsbestimmungen im Kontext des Wertewandels nach 1980 als Ergebnisse der Untersuchungen der Fallbeispiele im tiefenzeitlichen Kontext Die aktuellen Themen bezüglich heutiger Musikpraxis und Musikerfahrung, die hier nun deutlich werden, sind folgende, wobei die Reihenfolge nicht wertend ist: • die unbegrenzte Verfügbarkeit von Musik durch Digitalisierung und Internet • Musik als Hintergrunddesign • Musikkonserve und Massenkonsum • das Verhältnis Musiker – Publikum • die Begriffe Werk und Autor • Regionalität, Vielfalt • Minderheiten, Gender mainstream • Körperlichkeit und Spiritualität • Politische und soziale Bezüge • Erneuerung traditioneller Strukturen der Musikkultur Zur Problematik der Musikkonserve, der reproduzierten Musik (recorded music) möchte ich folgendes Gedankenmodell diskutieren: Konsequent gedacht, ist schon die Schrift eine Aufnahme der gesprochenen Sprache, heißt es doch auch in unserem heutigen Sprachgebrauch etwa noch ein Protokoll aufnehmen, also mitschreiben. Dasselbe gilt für das Verhältnis von klingender Musik und Notenschrift. In einem tiefenzeitlichen Kontext lässt sich dieses Problem als eines der Medien begreifen, das sich seit Jahrhunderten durch die Kulturgeschichte zieht. Die ihm zugrunde liegende Funktion des Verschlüsselns und Entschlüsselns (Codierens und Decodierens) durchzieht die Wissenschaften seit dem 13. Jahrhundert. Siegfried Zielinski bezeichnet sie als untergründigen Bestandteil des scholastischen Zugangs zur Welt, der durch die Dominanz der Buchstaben und durch das Trivium der Königswissenschaften Grammatik, Rhetorik und Dialektik bestimmt war672. 672 Siegfried Zielinski (2002) S. 95 233 Die dem zugrunde liegende Entwicklung ist die der Ablösung der Botschaft vom Körper des Boten, der sie überbringt, die sich seit den ursprünglichen Formen der Übermittlung von Botschaften im alten China, in Kleinasien und der europäischen Antike vollzieht. Das treibende Interesse dieser Ver- und Entschlüsselungssysteme war es nicht nur, die Übermittlungsgeschwindigkeit zu erhöhen, sondern auch den Boten als Mitwisser auszuschalten. Wie ich meine, gehört hierzu auch, die Originalität der Botschaft zu Ungunsten kreativer Übermittlung zu bewahren, denn der menschliche Bote hat die im Gedächtnis aufbewahrte Botschaft vielleicht sinngemäß, wohl aber selten wortwörtlich übermittelt. Dieses Werkzeug oder Hilfsmittel ist durchaus auch – wie viele andere unserer Werkzeuge, die als Verlängerung, Erweiterung und Verstärkung der Fähigkeiten des menschlichen Körpers673 gebaut sind – vom menschlichen Körper bzw. seinen Sinnesorganen und der Funktion der Sinneswahrnehmung abgeschaut. Denn schon hier ist das Prinzip des Verschlüsselns und Entschlüsselns der primären Reize durch Nervensystem und Gehirn gegeben. Dieses Prinzip wird nun offensichtlich immer weiter quasi verschachtelt angewandt. Am Anfang dieser Reihe sollen hier die Phänomene Gedanke und Gefühl stehen. Schon Sprache und Musik könnte man als codierte Äußerungen des Gedachten bzw. Gefühlten sehen. Die Schrift als Verschlüsselung des gesprochenen Wortes674 wird nun erneut verschlüsselt, sei es in der Kryptologie durch Geheimschriften, in der Telegraphie durch das Morsealphabet oder in der Schallaufzeichnung durch elektromagnetische Wellen, bei der das Übermittelte erst durch dazwischen geschaltete Apparate wieder lesbar. bzw. hörbar wird. Die nächste Verschlüsselungsebene ist die der Digitalisierung, die die Entschlüsselung durch den Computer gestattet. Diese Kette von 673 Vgl. Herbert Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Düsseldorf/Wien,/New York/Moskau 1992, S. 61: Jede Erfindung oder neue Technik ist eine Ausweitung oder Selbstamputation unseres natürlichen Körpers, und eine solche Ausweitung verlangt auch ein neues Verhältnis oder neues Gleichgewicht der anderen Organe und Ausweitungen der Körper untereinander. [...] Im audio-taktilen Europa hat das Fernsehen den Gesichtssinn verstärkt und drängt die Europäer immer mehr zu amerikanischen Verpackungs- und Bekleidungsformen. In Amerika, der stark visuellen Kultur, hat das Fernsehen der nicht visuellen Welt der gesprochenen Sprachen, der Esskultur und der bildenden Kunst die Tore der audio-taktilen Wahrnehmung geöffnet. 674 Ludwig Klages, der die schriftliche Sprache, also die Schrift, als Voraussetzung des abstrakten Denkens sieht, erkennt im Bestreben des Menschen, auch räumlich entfernten Personen vernehmlich zu werden, die Ursache der Entstehung der Schrift als Ersatz für das Sprechen. Die Schrift überbiete die Sprache bzw. die menschliche Stimme an Reichweite und Beständigkeit in jedem nur wünschbaren Grad. Die Schrift als stummer Bewahrer des Wortes habe einen Wandel der Innerlichkeit zur Folge, die zum lautlosen Sprechen und zur Fähigkeit zum begrifflichen Denken der Schreibfähigkeit und zur denkerischen Begabung führte. In: Ludwig Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft.München 1968, S. 215 f. Der Begriff sei aber die hemmende und regelnde Schranke, die in der willkürlosen Ausdruckserscheinung des bedeutungserfüllten Lautes errichtet wurde. Ebda S. 213 234 Konvertierungen scheint uns immer mehr von der ursprünglichen Denk- bzw. Gefühlsebene, im Weiteren von den Klangphänomenen Sprache und Musik zu entfernen. Dabei ist der Unterschied zwischen analoger zur digitalen Codierung ein wesentlicher, der nicht ausschließlich im Zeitalter der Computer zu Hause ist. Die Entwicklung von analoger zu digitaler Übertragung von Information ist nicht linear. In Systemen von Zeichen, mit denen Ereignisse beschrieben werden (wie die modernen Schriften und Notenschriften), sind diese Zeichen Bedeutungsträger, - ihre Bedeutung verändert sich grundsätzlich nicht, ob sie in Stein gemeißelt sind oder mit Bleistift auf Papier geschrieben. In einem erstaunlich großen Toleranzbereich sind etwa auch Handschriften entzifferbar. Die von Ludwig Klages, dem Pionier der Graphologie postulierte Ausdruckbewegung675 ist in diesem Fall nicht Bestandteil des Systems. Im Gegenteil, auf diese und andere Ebenen wird zugunsten der Dechiffrierbarkeit verzichtet. In asiatischen Sprachen sind z. B. heute noch unterschiedliche Tonhöhen bedeutungstragend676, die bei uns immer mehr abflachen, weil sie in unserer Schrift nicht abbildbar sind. Analoge Übertragungssysteme (wie zum Beispiel die Schallaufzeichnung über Mikrophon und elektromagnetische Wellen oder auch manch grafische Notation) übermitteln Ausdrucksbewegungen in direkterer Weise, also auch die unterschiedlichen Tonhöhen und Tempi etwa eines gesprochenen Textes. Die Notenschrift, die diese Parameter zwar auch ausdrücken kann, ist aber trotzdem ein System von Zeichen, das nicht kontinuierlich wiedergibt. Das Lesen, Decodieren oder auch Abtasten funktioniert dementsprechend auch in unterschiedlicher Weise. Ein System von abstrakten Zeichen wie die Schrift eines ist, verlangt von uns die Fähigkeit des Lesens und die kreative Fähigkeit des Interpolierens, also des Ergänzens dessen, was über die Zeichen allein nicht übermittelbar ist. Andere solcher Systeme wie zum Beispiel die Strichcodes zur Kennzeichnung von Waren, werden von Scannern, also von Maschinen gelesen, dasselbe gilt für Compact Discs und MP3Player. Analoge Übertragungssysteme wie akustische Äußerungen des Menschen unabhängig von Sprache geben das Gefühl einer direkten Verbindung mit einem 675 Die Ausdrucksbewegung ist die gegenständliche Verwirklichung der dem Lebenszustande innewohnenden Antriebsform. Ludwig Klages (1968) S. 51 und S. 214 - 220. Ludwig Klages unterscheidet hier übrigens zwischen der schriftlichen Form als Ersatz für die mündliche (z. B. die Briefform), und der Schrift als eigenständigem Medium: Der echte Brief nämlich gibt keinen Gedankenausdruck, sondern teilt etwas mit und bedient sich dabei der schriftlichen Form als eines bloßen Ersatzes, nicht aber als eines selbständigen Mediums. Es heißt noch nicht, in diesem »zu Hause sein«, wenn man gelernt hat mit Hilfe von Feder und Tinte zu sprechen! Klages unterscheidet zudem ausdrückenden und mitteilenden Gebrauch des Wortes. 676 Christoph Drössler, Dossier in der Beilage Wien Modern 09/42a zum Falter Nr. 42, Wien 2008, S. 5 235 ursprünglichen Ereignis, etwa einem Gefühl. Andere analoge Systeme benötigen auch Maschinen zur Entschlüsselung, wie zum Beispiel den Schallplattenspieler oder das Tonbandgerät. Recorded music ist aber in jedem Fall geschriebene Musik, also Schrift. Es wird nun klar, dass wir in der heutige Medienwelt und Kommunikationsstruktur mit vielfältigen Kombinationen aus den genannten Übertragungsmöglichkeiten konfrontiert sind. Und es sind auch unterschiedliche Ziele, die mit den verschiedenen Kodierungen erreicht werden sollen. Recorded music muss also zur Kategorie Technobilder gezählt werden.. Siegfried Zielinski beschreibt zwei solche Ziele der Telematik, die in der Perspektive der Technik und des Wissens um sie grundverschieden sind: Die strategische Zurichtung und Beschleunigung der Kommunikation im Interesse der etablierten Apparate wie der Kirche, des Staats, militärischer oder privater Körperschaften einerseits, die Entfaltung einer Taktik und Kultur der Verständigung unter Freunden andererseits, bei denen die Verabredung eines Codes nicht mehr als einer formalen Übereinkunft bedarf677. Ein in diesem Zusammenhang wesentlicher Faktor ist der des menschlichen Gedächtnisses. Möglicherweise ist es der Umgang mit diesem Gedächtnis, der eine Kultur grundsätzlich charakterisiert. Es gibt auch heute noch Traditionen, die ausschließlich mündlich überliefert werden678. Die Weitergabe von kulturellen Gütern über Zeichensysteme ist insofern Entfremdung, als solche Systeme starr und unbeweglich sind (eine Schrift- oder Tonaufzeichnung verändert sich nach der Niederschrift oder Aufnahme nicht mehr, außer sie verblasst oder wird beschädigt). Das menschliche Gedächtnis ist zwar fehlerhaft, aber gerade aus diesem Grund wertvoll zur Aufrechterhaltung der Lebendigkeit einer Kultur679. Morton Feldmans Interesse für türkische Nomaden-Teppiche galt vor allem der unausgewogener Symmetrie deren Muster, die durch die Knüpfart zustande kam. Während persische Teppiche so geknüpft werden, dass während des Knüpfens der gesamte Teppich überblickt und so das Muster kontrolliert werden kann, werden die türkischen Nomaden-Teppiche so gewirkt, dass der fertige Teil nach unten weggeht und deshalb nicht sichtbar bleibt. Das im Fall der 677 Siegfried Zielinski (2002) S. 97 Etwa der Dhrupad in Indien, vgl. Ritwik Sanyal/Richard Widdess, Dhrupad. Tradition and performance in Indian music. Asgate 2006 und Ritwik Sanyal (1987) S. 14 f 679 Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Baukasten zu einer Theorie der Medien. Kritische Diskurse zur Pressefreiheit, München 1997, S. 125: Die geschriebene Literatur hat, historisch gesehen, nur wenige Jahrhunderte lang eine dominierende Rolle gespielt. Die Vorherrschaft des Buches wirkt heute bereits wie eine Episode. Ein unvergleichlich längerer Zeitraum ging ihr voraus, in dem die Literatur mündlich war; nunmehr wird sie vom Zeitalter der elektronischen Medien abgelöst, die ihrer Tendenz nach wiederum einen jeden zum Sprechen bringen. 678 236 persischen Teppiche durch Anschauung Kontrollierbare ist hier ins Gedächtnis verlagert. Durch diese Gedächtnisarbeit ergeben sich Asymmetrien, weil unser Gedächtnis nicht so symmetrisch funktioniert wie das direkte Anschauen. Gerade in dieser Asymmetrie, in einem gewissen Sinn auch Fehlerhaftigkeit, interessiert Feldmann die Lebendigkeit des nach einer Seite hin offenen Musters, das Nicht-Ausbalancierte, das er auch als Komponist anzustreben sucht und seine Arbeitsweise an diesem nomadischen Teppichknüpfen orientiert680. Der Unterschied in der Herstellung von persischen und Nomaden-Teppichen könnte man mit Vilém Flusser auch mit diskursiven und dialogischen Kommunikationsstrukturen vergleichen. Sender von Diskursen müssen bei der Verteilung der Information darauf achten, dass diese nicht deformiert wird – dass keine „Geräusche“ in den Verteilungsprozess eindringen und die Information verändern681 (perfekte Symmetrie). Die von Feldman bewunderte Asymmetrie oder crippled symmetrie entsteht durch die dialogische Verarbeitung bzw. Veränderung der Information. Am Beispiel Musik könnte man im Ausführenden einer Notenschrift die Funktion des Maschinenhaften erkennen, der nicht spielt, was er selbst fühlt, sondern was ein anderer gefühlt hat. Dabei geht es hier nicht darum, dass ein guter Musiker durch Empathie sich dieses fremden Gefühls bemächtigen kann. Aber schon der Hörer von Musik oder von Gesprochenem, könnte man sagen, bekommt auf diese Art und Weise Gedanken und Gefühle übermittelt, die nicht seine eigenen sind. Schon der Leser einer Schrift vollzieht Gedanken nach, die nicht seine eigenen sind. Es geht also darum, in welcher Position wir diese Person oder uns selbst selbst wähnen, in der des Senders oder des Empfängers von Information, - und dabei wird noch eine große Rolle spielen, in welchem Kontext dieser Informationsaustausch passiert. Ein Orchestermusiker wird sich weniger als Empfänger und mehr als Vermittler bzw. Sender einer von ihm entschlüsselten Botschaft fühlen. Ein Solist wird immer auch sein eigener Zuhörer sein, also in einen Dialog mit dem Notentext treten. An dieser Stelle lohnt es sich, auf sehr weit zurückliegende Vorstellungen zurückzugreifen. Der Dichter, Philosoph und Arzt Empedokles aus Agrigent (6./5. Jhdt. v. Chr.) hatte – pythagoreisch geschult – ein intensives Verhältnis zur Musik, der er heilende Kräfte zusprach. Eines der Prinzipien, die seiner Naturlehre zugrunde liegen, ist das von 680 Walter Zimmermann, Morton Feldman – der Ikonoklast. In: Walter Zimmermann (Hsg.), Morton Feldman, Essays. Kerpen 1985, S. 15 f 681 Vilém Flusser, Kommunikologie. Frankfurt am Main 1998, S. 20 237 Attraktion und Repulsion oder Liebe und Hass, die – im Wechselspiel von Energie und Materie - alle Bewegung verursachen. Die ideale Form für Empedokles - durch die Vorherrschaft der Liebe gekennzeichnet - ist der Zustand von Ruhe, Frieden und Glück. Dieser Zustand ist für ihn nicht ewig bzw. statisch, sondern bedingt fortdauernde Bewegung. In diesem Zusammenhang unterscheidet Empedokles nicht zwischen subjektiver und objektiver Welt, zwischen Aktivem und Passivem. Seiendes bedeutet für ihn den ständigen Austausch zwischen dem Einen und dem Anderen, die beide aktiv sind. Hier setzt Empedokles mit seiner Porentheorie an. Um diesen Austausch zu gewährleisten, muss es eine Haut geben, die einerseits schützt und andererseits in beide Richtungen durchlässig ist. Dafür ist diese mit sehr feinen Poren ausgestattet, durch die unentwegt Ströme ausgesendet werden. Im Falle von Sympathie werden diese Ströme gegenseitig aufgenommen, dafür müssen die jeweiligen Poren aber in Größe und Form zusammen passen, müssen ein gemeinsames Maß haben. In diesem Zusammenhang sieht Empedokles die Liebe als die wichtigste Grundbedingung für die Wahrnehmung des Anderen. Sie ist ununterbrochene verströmende Tätigkeit auf der Grundlage einer im Inneren lodernden, nicht versiegenden Energie. Das gilt für das Sehen gleichermaßen wie für das Hören. Dieses findet für Empedokles im Inneren des Ohrs und an der Grenze zum Außen statt. Die Wahrnehmung von Klängen rühre von den inneren Geräuschen her, „wenn die Innenluft, indem sie vom Schall in Bewegung versetzt werde, einen Klang produziere“. Zuhören ist ein Hören in Zuneigung und setzt für ihn eine innere Bewegung voraus. Wahrnehmung begreift Empedokles als einen aktiven Vorgang, gelungene Wahrnehmung als den vollzogenen Austausch von Strömungen. Zielinski vermutet, dass Empedokles bezüglich des feinen Wahrnehmens auch eine Überschreitung zum Seelischen oder Geistigen anspricht, denn „alle alten Worte für Seele bedeuten ursprünglich Luft oder Atem.“ So erkennt etwa auch Gérard Simon die Texte der antiken Naturphilosophen als dem Arbeitsfeld einer „Theorie der Seele“ und nicht dem der Physik, Mathematik oder Geometrie zugehörig. Zusammenfassend sieht Zielinski in der Porentheorie des Empedokles eine Theorie der Wahrnehmung in der einfachsten und zugleich denkbar tiefsten Form. Technologisch gesehen ist sie eine Theorie der doppelten Kompatibilität, physikalisch eine der Affinitäten (psychologisch als Konzept der wechselseitigen Zuwendung von Aufmerksamkeit auffassbar), ökonomisch eine der Verschwendung und medienheuristisch eine für ein perfektes Interface. Später – beginnend mit Demokrit – mussten Schnittstellen künstlich hergestellt werden, um die Kluft zwischen 238 Sein und Schein, die es bei Empedokles noch nicht gibt, besser überbrücken zu können682. Das Utopische an dieser Porentheorie des Empedokles lässt vor allem eine Sichtweise und Haltung erkennen, die später etwa in der Dialogphilosophie Martin Bubers wiederzufinden ist683. Eine weitere meines Erachtens lohnende zurückgreifende Suchbewegung in diesem Zusammenhang ist die Auseinandersetzung mit dem Hinduismus in Bezug auf die Funktion der Sprache, die dort sowohl mit dem menschlichen Bewusstsein als auch mit dem Göttlichen identifiziert wird. Kann der spirituelle Aspekt bei Empedokles nur angenommen werden, so ist er hier evident. Im Hinduismus haben wir es mit einer Gedankenwelt zu tun, in der der menschliche Körper, der Klang des gesprochenen Wortes, das geschriebene Wort und das Göttliche in ein ganzheitliches System gebracht werden. Besonders im Kaschmirischen Sivaismus, der wichtigsten Schule des Sivaismus in Nordindien, ist der Klang von Grund legender Bedeutung684. Für die Kaschmirische Tradition, die auf die Traditionen der Saiva-Agama und der Grammatiker685 aufbaut, ist der Klang sowohl für Schaffung des Universums als auch für die Integration der Seele in den Kosmos wesentlich. Die höchste Realität ist die männliche Gottheit Siva, verbunden mit der femininen Energie des heiligen Klanges und der heiligen Sprache. In der Trika Philosophie (Kaschmirischer Sivaismus) repräsentiert jeder Buchstabe des Alphabets Energie in bestimmter Form686. Das höchste Ich-Bewusstsein beinhaltet alle 50 Buchstaben des Sanskritalphabets. Die 16 Vokale sind Energieformen, die den Gott Siva 682 Siegfried Zielinski (2002) S. 55 ff (das ganze Empedokles-Kapitel) Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung. In: Martin Buber, Ich und Du, Stuttgart 2006, S.3, Und die Liebe selber kann nicht in der unmittelbaren Beziehung verharren; sie dauert, aber im Wechsel von Aktualität und Latenz. ebda S. 17. Diese polare Sichtweise ist auch z. B. in der balischen Musik zu finden, die auf der Harmonie zweier essentieller Gegensätze beruht (Hans Oesch, Außereuropäische Musik, Band 2. Regensburg 1987, S. 82, in: Carl Dahlhaus, (Hsg.) Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Band 9. Regensburg 1987) 684 Guy L. Beck, Sonic Theology. Hinduism and Sacred Sound. New Delhi 1995, S. 160 ff 685 Philosophische Schule (etwa 1.Jhdt v, Chr. bis 5. Jhdt. n. Chr.), die sich mit der Sprache bzw. mit semantischen und linguistischen Methoden beschäftigt hat. Für die Grammatiker ist die Grammatik der wichtigste Teil der Vedischen Tradition, auf die die zentrale Bedeutung der Sprache zurückgeht und auf die sie sich beziehen. Für sie hat die Bedeutung eines Wortes keine objektive Existenz, - die Bedeutung liegt nicht in den Dingen sondern im menschlichen Bewusstsein, wo es mit dem Klang auf unterschiedlichen Ebenen verbunden ist. Neben dem Klang eines Wortes gibt es noch eine subtilere Form, in der Worte nicht durch Luftvibrationen artikuliert sind, sondern als mentaler Vorgang. Das Wissen um die Grammatik, das Geheimnis der Sprache, ermöglicht die höchste Erfüllung und Befreiung, das höchste Glück. Die Rolle der Grammatik ist, den Gebrauch der Mantras (heilige Worte oder Sätze) so zu kontrollieren und zu reinigen, sodass ihre Kraft erhalten bleibt. Die Ansicht, dass Wort und Bewusstsein austauschbare Begriffe sind, dass jeder Gedanke linguistische Form besitzt, stimmt übrigens mit einem Axiom der heutigen westlichen Phänomenologie überein. Vgl. Guy L. Beck (1995) S. 50 ff 686 auch die Energiezentren des menschlichen Körpers (Chakren) werden mit Buchstaben des Alphabets in Verbindung gebracht. Vgl. Guy L. Beck (1995) S. 205 683 239 repräsentieren. In den 34 Konsonanten sind die verschiedenen Existenzformen manifestiert. Die Phoneme sind kreative Kräfte des Universums. Das Universum ist nicht nur der sichtbare Ausdruck, sondern auch verbaler Ausdruck des Göttlichen687. Die Funktion der heiligen Texte, der Mantras, liegt im Klang. Guy L. Beck merkt an, dass Sprache in Bezug auf Rituale in erster Linie performativ war und erst in zweiter Linie kommunikativ. Vak, ein vedischer Begriff für das absolute Wort bzw. die Göttin der Sprache als Personifikation der Sprache als produktives energetisches Prinzip und somit mit Sakti688 gleichzusetzen, ist in Zusammenhang mit dem Klang einer der zentralen Begriffe im Buddhismus. Vak ist nicht nur die Personifikation von Sprache, sondern vor allem deren kreative Energie. Das Phänomen Sprache besteht in der Verschränkung zwischen Sprechen und Geist. NÁda-Brahman schließlich ist der Begriff für den heiligen Klang. Jeder Buchstabe ist die Verkörperung von Siva-Sakti in Verbindung mit einem bestimmten Chakra im menschlichen Körper689. NÁda ist ein Grund legender Begriff, ohne den es keine Musik, keine Töne und keinen Tanz geben könne. BrÁhma ist die Form von Náda. Alles, was der Rede oder der Sprache entstamme, sei nÁda. MataÆga Muni unterscheidet vier nÁdas, von denen eines im Herzen, eines im Hals, eines im Gehirn und eines in der Region des Mundes wohnt690. Für die oben erwähnte Überbrückung der Kluft zwischen Schein und Sein verwendet Vilém Flusser ein krasses Bild: Die kodifizierte Welt bietet den an ihr Beteiligten nicht nur einen Raum, in dem sie trotz ihres Wissens um den Tod ein sinnvolles Leben führen können, sondern in dem sie wie in einem Kerker herumtorkeln müssen691. Das Außen und Innen der Kommunikationsstruktur der heutigen Übergangszeit vergleicht Vilém Flusser - dem an anderer Stelle skizzierten Bild der Maske entsprechend - mit zwei Kisten, die durch Kanäle miteinander verbunden sind. Die eine ist weiß, die andere schwarz, - die eine ist die Empfangskiste (Massenkultur), die andere die Sendekiste (Elitekultur). Die heutige Wertekrise liegt nach Flusser in deren undurchsichtigen Schwärze, - in der Unhaltbarkeit des elitären Programms. Dieses maskiere die Verhaltensmodelle, und zwar so gut, dass sie sich selbst in ihnen nicht mehr wieder erkennt und sie daher selbst im Feedback empfängt. In diesem Zirkel erscheint das 687 Jaideva Singh, Abhinavagupta. Para-trisika-Vivarana. New Delhi 2005, S131 ff Göttliche Energie, Frau des Gottes Siva, einem der großen Götter im Hinduismus, vgl. Beck S. 250 689 Guy L. Beck (1995) S. 101 und S. 104 690 Prem Lata Sharma (1992) S. 7 f 691 Vilém Flusser, Medienkultur. Frankfurt am Main 1997, S. 107 ff 688 240 Medium selbst als die Botschaft. Die Bilder und Töne, die der Kiste (Fernsehapparat) entströmen, "bedeuten" etwas für den Empfänger. Sie bilden einen Code. Ein Code ist ein System, in dem sich Symbole regelmäßig ordnen. Der Empfänger kann die Bilder und Töne dekodieren und so ihre Bedeutung, ihre Botschaft lesen. Der Typ des Codes ist für ein Verständnis des Fernsehens sehr wichtig. Bis vor kurzem verfügte der Westen im Wesentlichen über zwei Typen von Codes: ein- und zweidimensionale, von den dreidimensionalen, wie der Skulptur und Architektur, einmal abgesehen. Zweidimensionale Codes, zum Beispiel Landkarten und Gemälde, sind Bilder, welche ihre Bedeutung "abbilden". Sie werden dank der Imagination (Einbildungskraft) gelesen. Eindimensionale Codes, zum Beispiel das Alphabet, sind aus Punkten bestehende Linien, welche ihre Bedeutung "abtasten". Sie werden begrifflich (konzeptuell) gelesen. Das Fernsehen ist wie auch der Film ein Code, in dem zweidimensionale Elemente (Bilder) sich in eine Linie (die Bildfolge) ordnen. Ihr Lesen kann entweder eine neue Art Bilderlesen, also ein Rückfall in den Analphabetismus, oder aber ein Lesen sein, bei dem sich das begriffliche Denken auf die Ebene der Imagination erhebt und andererseits die Imagination die Struktur des begrifflichen Denkens annimmt. Beim heutigen Gebrauch der Television ist nur die erste der beiden Lesarten möglich. Nach ihrer Dekodierung bedeuten die Bilder und Töne dem Empfänger Ereignisse dort draußen. Diese Bedeutung wird aber nur gewonnen, wenn der Empfänger sein Wissen von der Struktur des Fernsehens ausklammert, was ihm das Fernsehen selbst weitgehend erleichtert. Er weiß, dass die Kiste über ein Kanal genanntes Glied mit einer Stelle verbunden ist, an der die Bilder und Töne von Spezialisten behandelt werden, und dass dieses Glied nur ein Teil einer ihm nicht überblickbaren Kette ist, welche die Kiste höchst mittelbar mit den Ereignissen verbindet, die ihre Bilder und Töne bedeuten. Sonach weiß er, dass zwischen Bedeutung und Bedeutung ein kostspieliger Prozess liegt, der von jemandem bezahlt wird, und dass dieser Jemand ein Interesse daran haben muss, welche Botschaft als Endprodukt dieses Prozesses herauskommt. Der magische Charakter der Kiste lässt den Empfänger dieses Wissen für den Augenblick des Empfangs vergessen. Er liest die Botschaft der Kiste als direkte Vermittlung ("Medium") zwischen sich und den Ereignissen in der Welt dort draußen692. 692 Das Phänomen des Verbergens des technischen Vorgangs ist in der Mediengeschichte bekannt. In den Apparaten Athanasius Kirchers (17. Jhdt.), etwa dem Metamorphosen-Apparat, soll nicht erkenntlich sein, wer oder was agiert. Vor allem auf Grund des Konzepts von der Reinigung der Seelen durch ihre durch solche Apparaturen hervorgerufene Erschütterung werden diese so gebaut, dass ihre Funktionsmechanismen den Benutzern rätselhaft bleiben. Die projizierte Welt soll als künstlich hergestellte nicht erkenntlich sein. 241 Der Ansager gibt dem Leser den Schlüssel. Aber er kann selbst ein Schauspieler sein, der einen Ansager vorstellt. Dadurch wird die ganze Welt, welche das Fernsehen vorstellt auch wenn es sie angeblich darstellt -, fiktiv. Die Folge ist ambivalent zu werten. Entweder verliert für den Empfänger der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion jede Bedeutung, oder er überlässt die Unterscheidung einem anderen. Beides sind Symptome einer perniziösen Entfremdung. ... Politisch zielt die Botschaft auf eine Entpolitisierung des Empfängers693. Ähnlich beurteilt Wolfgang Welsch die heutige Erscheinungsform der Dokumente, die zweifach existieren – visuell aufbereitet auf dem Bildschirm und digital verschlüsselt im Speichermedium. Die meisten Benützer von Computern bewegen sich auf der Benutzeroberfläche, die so genannte Software ist für sie eine schwarze Kiste, eine Black Box. Er identifiziert diese Dopplung von Erscheinungsform und verborgener Struktur auch in der realen Welt. Die innere Struktur der Phänomene – etwa die physikalische oder chemische Struktur einer Pflanze – ist uns im Alltag ebenfalls verborgen. Während die klassische Ontologie das Verhältnis von Erscheinung und Wesen thematisiert, ist diese Unterscheidung in der elektronischen Welt aufgehoben, - Monitorexistenz und Speicherexistenz seien völlig deckungsgleich694. Dieses Fehlen der vertikalen Differenz von Sein und Erscheinung sieht Welsch durchaus positiv. In horizontaler Richtung besitze die elektronische Welt eine der Alltagswelt unbekannte Offenheit für Veränderungen, Mutationen und Innovationen. Die elektronische Welt sei zwar eine völlig flache, dafür aber eine unendlich weite Welt695. Welsch folgert, dass die Medien-Ontologie im Gegensatz zur herkömmlichen anti-klassisch sei und statt einer hierarchisch organisierten Welt eine Welt von lateralen Anschlüssen, Kreuzungen und Vernetzungen, - von rhizomatischen Wucherungen und Transformationen entfalte. Dieses Bild entspreche den avanciertesten Wirklichkeitsbeschreibungen seitens der Philosophie der letzten Jahrzehnte, etwa denen von Jacques Derrida und Gilles Deleuze. Diese beiden haben in den späten sechziger Jahren – annähernd zeitgleich mit der Geburt der elektronischen Medien – die Aus: Siegfried Zielinsky (2002) S. 164 ff. Die technologische Entwicklung wie auch die Medienkonzepte der 1990er Jahre waren darauf angelegt, die Grenze zwischen Mediennutzern und Apparaten unmerklich zu machen. Man sollte in eine so genannte virtuelle Realität von Bildern und Tönen eintauchen können, ohne zu spüren und noch mehr: ohne zu wissen, dass es mit einer präzise vorstrukturierten, berechneten Konstruktion von Oberflächen und Zeitverläufen zu tun hat. In: Siegfried Zielinsky (2002) S. 297 693 Vilém Flusser, Medienkultur. Frankfurt am Main 1997, S. 107 ff 694 Wolfgang Welsch (1996) S. 302 f 695 Vgl. Holger van den Boom, Digitaler Schein – oder: Der Wirklichkeitsverlust ist kein wirklicher Verlust. In: Florian Rötzer (Hsg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main 1991, S. 203, zitiert nach Wolfgang Welsch (1996) S. 304 242 Wirklichkeit als durch Übergängigkeit, offene Vernetzungsketten, permanente Sinnverschiebungen und eine prinzipielle Unabschließbarkeit der Sinnprozesse gekennzeichnet gesehen696. Diese Postulate implizierten eine tief greifende Korrektur der traditionellen Philosophie. Habe sich die traditionelle Philosophie von einer Prägung des Denkens durch die Medien Mündlichkeit oder Schriftlichkeit (Programmierung durch Codes697) frei geglaubt, so setze sich heute die Überzeugung durch, dass es ohne Verbindung mit einem Medium keinen Sinn geben könne. Eric Havelock zeigte bereits 1963 die Prägewirkung des griechischen Alphabets auf die griechische Philosophie auf, und Derrida konnte nachweisen, dass Sinn sich stets der Einschreibung in Medien verdanke. Medialität komme nicht erst nachträglich zum Sinn dazu, sondern sei konstitutiv für diesen, - habe produktive Bedeutung für Sinnprozesse. Friedrich Nietzsche hat diesen Umbruch des Denkens vorweggenommen, indem er schrieb: Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken698. Die Entwicklung der Medien gehe weiter in Richtung Hypergeschwindigkeit, Leichtigkeit, Transformierbarkeit und Virtualität, - neben das Visuelle trete das Auditive und Taktile699. Die Veränderungen seien aber zweifacher Natur, - neben der Virtualisierung und Derealisierung unseres Verständnisses von Wirklichkeit kommt es zu einer Revalidierung nicht–elektronischer Wirklichkeitserfahrungen. Die neuen Technologien können Möglichkeiten, die anderen Wirklichkeitsformen vorbehalten sind, nicht ersetzen. Insofern bekommen Eigenschaften wie Trägheit, Widerständigkeit, Unveränderlichkeit, Beharren, Massivität, Konstanz und Verlässlichkeit neue Bedeutung. In diesem Zusammenhang betont Welsch die Bedeutung der Leiblichkeit im Gegensatz zu den Tendenzen der Immaterialisierung in den elektronischen Medien, - nicht aber als Gegenprogramm, sondern im Sinne der Komplementarität. Diese liege der Moderne als Leitlinie zugrunde. Im Kontext der Moderne nannte Stephen Toulmin Descartes’ Wissenschaft der Geistigkeit und Transparenz einerseits, und den Humanismus von 696 Diese Dynamik scheint in einer Zeit vorgezeichnet zu sein, in der Elektrizität und Galvanismus ein dynamischeres Verständnis von Zeit und Raum in der Physik zeitigte. In seiner Theorie des Glühens spricht Johann Wilhelm Ritter von der Verschmelzung von Zeit und Raum: Überall ist Veränderung, nirgends bleibende Stätte. Alles hat seine Zeit, und diese selbst besteht in keiner ruhigen Succession, die es überhaupt nirgends giebt. Aus: Johann Wilhelm Ritter, Versuche und Beobachtungen über den Galvanismus. In: Magazin für den neuesten Zustand der Naturkunde... Bd. VI, Sept. 1803, S. 213 f, zitiert nach Siegfried Zielinsky (2002) S. 205 697 Anmerkung des Verfassers 698 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. München 1986, Bd. 6, S. 172. Zitiert nach Wolfgang Welsch (1996) S. 306 699 Wolfgang Welsch (1996) S. 306 f 243 Erasmus oder Montaigne andererseits als die Wurzeln dieser komplementären Kräfte700. In den künstlichen elektronischen Welten kulminiere die Cartesianische Wissenschaftstradition, in der komplementären Neubewertung des Endlichen, Körperlichen und Individuellen sind die Motive des Humanismus wiederzuerkennen. Hatte der Cartesianismus beansprucht, den Humanismus zu überwinden, stehen wir heute vor einer Neubewertung humanistischer Motive. In diesem Sinn plädiert Welsch dafür, die Balance dieser beiden Motive anzustreben701. Diese Unterscheidung, die die wissenschaftliche Diskussion bis heute prägt, erwähnt Siegfried Zielinsky als eine zwischen aufklärerischem Rationalismus (Physik, Astronomie) und okkulten, magischen Auffassungen (Biologie, Chemie, Medizin), - zwischen der Sicht der Welt als Mechanismus und der Sicht der Welt als Organismus. Am Anfang der Moderne erkennt er die Mechanik als Vorbild des Lebens, wobei das Lebendige gleichzeitig zur Leitmetapher der Maschinen und Programme werde. Damit beschreibt er im Prinzip den bereits genannten Grundzug der Moderne, die Komplementarität: Die Sprache in den Netzen der verschalteten Maschinen und Programme ist durchdrungen von Organismen, genetischen Prozessen, Strömen und Flüssen702. Die Polarität von Gehirn und Bauch, die noch heute in unserem Sprachgebrauch auch in Zusammenhang mit kulturellen Themen zu finden ist, wurde in der Medizin der Romantik ausgebaut. Aber bereits die medizinisch-alchemistische Theorie in der Tradition des Paracelsus erkannte die Bedeutung des Wechselspiels zwischen dem oberen Bauchraum und dem Gehirn. 1682 vertrat Johann Baptist van Helmont die Auffassung, dass die Verstandeskräfte im Gehirn nur tätig seien, insofern sie aus der Herzgrube erleuchtet werden. Johann Christian Reil, der Leibarzt Goethes, führte die menschliche Nerventätigkeit auf zwei Systeme zurück, - das Cerebralsystem (Gehirn, Rückenmark) und das Gangliensystem (mit Sonnengeflecht). 1811 übernahm Carl Alexander Ferdinand Kluge die Theorie Reils als Erklärungsmodell der magnetischen Phänomene. Das von der Herzgrube repräsentierte Bauch-Gangliensystem wurde zum Ort der geheimnisvollen Nachtseite des Lebens, zum Organ des Unbewussten, während das Gehirn und Zentralnervensystem den willentlichen Weltbezug, das Bewusstsein herstellt703. 700 Stephen Toulmin, Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne. Frankfurt am Main 1991, S. 13, zitiert nach Wolfgang Welsch (1996) S. 322 701 Wolfgang Welsch (1996) S. 301 ff 702 Siegfried Zielinsky (2002) S. 86 703 Karl Baier (2009) S. 190 244 In Anbetracht der aktuellen Unüberschaubarkeit alles Gegenwärtigen im Kontext historischer wie visionärer Positionen sind die dargestellten Initiativen Beispiele für handelnde Stellungnahmen, Aktivitäten und Taten. Sie reflektieren Geschichte und Gegenwart und vollziehen diese gleichzeitig. Sie weisen künstlerischen Fragen erneut Grund legende Bedeutung zu und tragen insofern zur Orientierung bei, indem sie aufzeigen, eingreifen und verändern. Die weiter zurückliegenden Denkansätze scheinen die sich heute uns zeigende Gegenwartsstruktur zu bestätigen, die in ihrer Uneinheitlichkeit und Vieldeutigkeit unsere Aktivität und Kreativität herausfordert. Als ein wesentliches, heute oft vernachlässigtes Werkzeug zur Erfassung der Welt, wurde an mehreren Stellen das Hören thematisiert. Mit den sich verändernden Hörgewohnheiten verändert sich auch unsere Welt. Wie aktiv oder passiv wir mit unserem Hören umgehen, entscheidet über die Beschaffenheit unseres Bewusstseins von dieser. Die obsolet werdenden alten Codes haben auch unser Hören programmiert bzw. es in einen ganz bestimmten Kontext gestellt. Was das neue Hören sein kann, werden wir selbst zu definieren haben. In der Welt, in der wir heute leben, wird es womöglich ein erweitertes Hören sein, das im Sinne der hier getätigten Untersuchung sozial-politische, körperlichsinnliche, zeitlich-räumliche und spirituelle Dimensionen mit einbezieht, - ein Hören als eine Haltung der umfassenden Aufmerksamkeit und Gegenwärtigkeit. 4.2 Veränderte Hörgewohnheiten und neues Hören Das laute „Pfui“ einer Zuhörerin im Publikum während der Uraufführung eines Werkes von Klaus Lang im Rahmen eines Wien-Modern-Konzertes im Jahr 2007 nennt der künstlerische Leiter des Festivals Berno Odo Polzer zwar als Beispiel für auch heute noch vorkommende Publikumseklats, doch bemerkt dieser gleichzeitig dazu, dass damit der Mitschnitt dieser Uraufführung ruiniert gewesen wäre. Er hätte nichts gegen hemmungslose Auseinandersetzungen über Musik, wenn sie bloß vor oder nach den Stücken stattfinden704. Dieser Ausspruch ist symptomatisch für eine nicht explizit ausgesprochene Haltung, doch eine sehr wohl gelebte und damit auch spürbare. Es ging in diesem Fall also offensichtlich nicht darum, dass die anderen Zuhörer möglicherweise gestört hätten werden können, sondern um die gelungene Tonaufnahme. Wenn weiter in diesem Zusammenhang gleichzeitig die gegenwärtige Musik und die Auseinandersetzung 704 Berno Odo Polzer in einem von Carsten Fastner geführten Interview Das Projekt Avantgarde ist Geschichte. In: Falter 42a/08, Beilage Wien Modern zum Falter 42/08. Wien 2008, S. 20 245 mit ihr vom klassischen Musikbetrieb abgegrenzt und mit der Frage verknüpft wird, was mit den Emotionen bei der Erfahrung von völlig unbekannter Musik passiere, so ist damit eine Offenheit angesprochen, die vom heutigen Musikbetrieb auch in diesem Bereich nicht eingelöst wird. Die veränderten Hörgewohnheiten gehen zunächst aber mit einer Veränderung der Gesellschaft, im Speziellen mit einer Veränderung des Publikums einher, die weltweit zu beobachten ist. Das World Forum on Music des Internationalen Musikrates (IMC), das erstmals im Jahr 2005 abgehalten wurde, versteht sich als Plattform, die dem Erfahrungsaustausch von Musikschaffenden aus der ganzen Welt und der Diskussion um die Vorbereitung des Musikbereichs auf die Herausforderungen der Zukunft gewidmet ist. Das im Oktober 2009 in Tunis geplante nächste Forum wird sich u. a. auch dem Thema „Changing audiences: Challenges for art music around the world“ („Publikumswandel: Herausforderung für die Kunstmusik in der ganzen Welt“) widmen. Bezug nehmend auf dieses Tagungsthema gab es im Rahmen des Festivals Wien Modern 2008 am 10. November 2008 eine Konferenz zu dieser Thematik. Im Mittelpunkt standen die Stellung der Kunstmusik im 21. Jahrhundert sowie die Herausforderungen und Gefahren in Bezug auf freien Markt und weltweite Marktentwicklungen. Referenten waren unter anderen der Musiksoziologe Michael Huber und die Pianistin und Komponistin Katharina Klement, auf deren Beiträge ich hier näher eingehen will. 4.2.1 Publikumswandel Michael Huber arbeitet am Institut für Musiksoziologie Wien in den Bereichen Stellenwert und Funktion der Musik in der Gesellschaft, Musik und neue Medien, Strukturen des gegenwärtigen Musiklebens, Sozialisation und Musikrezeption, sowie Populäre Musik, Jazz und elektronische Musik in Österreich. Er stellte zunächst fest, dass wir zurzeit nicht wüssten, wie das Publikum der zeitgenössischen Kunstmusik in Österreich aussehe, was es denke und welche Bedürfnisse es habe. Der Grund dafür sei, dass zwar aktuelle Kulturstudien über Österreich und Wien gebe, die zeitgenössische Kunstmusik darin aber nicht berücksichtigt sei. Das einzige, was wir vermuten können, ist, dass dieses Publikum überdurchschnittlich hoch gebildet und bereit sei, überdurchschnittlich viel Zeit und Geld in den Konsum von zeitgenössischer Musik zu investieren. Die wesentlichen Faktoren für diesen Konsum seien neben verfügbarem Zeit- und Geldkapital Urbanität und 246 Bildungsgrad. Für die Veränderung des Publikums seien verschiedene Faktoren verantwortlich, - Huber nennt die folgenden: 1) Die Überalterung der Bevölkerung führt zur spezifischen Ausrichtung des Angebots und in der Folge zum Verlust des jüngeren Publikums 2) Die Schrumpfung der Bevölkerung ist für weniger Steuereinnahmen und dementsprechend härtere Verteilungskämpfe verantwortlich 3) Die Heterogenisierung der Bevölkerung durch Migration senkt das Interesse an nationalem Kulturerbe 4) Die Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen erschwert PublikumsSegmentierung und Besucherbindung. Hier spricht Huber auch die Krise der Tonträger-Industrie an 5) Die Globalisierung der Kulturwirtschaft vergrößert das Angebotsspektrum 6) Wirtschaftskrisen verringern das Zeit- und Geld-Potenzial der Menschen für kulturelle Aktivitäten Entlang dieses Katalogs fordert Huber mehr wissenschaftliche Studien über das Musikpublikum sowie Konzepte und Aktivitäten seitens der Musikvermittlung und Kulturpolitik bezüglich der speziellen Bedürfnisse des älteren wie des jüngeren Publikums, sowie des Publikum-Nachwuchses. Vor allem Nachwuchspflege sei von zentraler Bedeutung, - nur wer in jungen Jahren auch aktiv Musik macht, bleibe als Publikum erhalten705706. 4.2.2 Neue Oralität Katharina Klement stellt die neue orale Technik der Elektronik und wieder belebten Improvisation, die sich neben der traditionellen Schriftkultur entwickelt hat, in den Mittelpunkt ihrer Überlegung zum Publikumswandel. Diesen legt sie die Begriffe primäre Oralität und sekundäre Oralität zugrunde. Primäre Oralität ist die Weitergabe der Musik von einer Generation zur nächsten lediglich über das Hören ohne Zuhilfenahme von 705 Michael Huber arbeitet selbst zurzeit an einer entsprechenden Studie, die Ende 2009 erscheinen soll, Andrea Hausmann aus Frankfurt/Oder hat einen Sammelband zum Thema Demographischer Wandel und Kultur erstellt, der inzwischen erschienen ist 706 Michael Huber, Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er zerbricht Die Kunstmusik und ihr Publikum in Österreich. Vortrag im Rahmen der Konferenz Publikumswandel: Herausforderungen für die Kunstmusik in der ganzen Welt am 10. November 2008 im Wiener Konzerthaus, vgl. http://www.mica.at/mica_aktuell/detail_18772.html (21. 03. 2009) 247 Schrift. Diese oralen Traditionen sind heute vom Aussterben bedroht. Sekundäre Oralität meint die Übermittlung von Musik über Tonträger und ist die heute gängige Form des musikalischen Austausches. Klement meint damit vor allem die durch das Komprimierungsformat mp3 ermöglichte Verfügbarkeit von Musik im Internet (iPodGeneration). Zeitgenössische Kunstmusik verweigere sich aber in mehrfacher Hinsicht dieser Praxis und ist dem entsprechend immer weniger sichtbar. Diese lasse sich nicht in komprimierter Qualität zufrieden stellend abbilden, sei eine Kunst, die die Ränder der Wahrnehmung berühre (von der Lautstärke bis zum Klangspektrum), und sich nicht in einen Stereo-Hörraum zwängen lässt. Mit komprimierter Qualität meint sie aber auch die ästhetisch limitierte und schematisierte Audio-Produktion, die dieses Medium vorgibt und die die so genannte Pop-Musik zu ihrem vorrangig genutzten Präsentationsfeld gewählt hat. Zeitgenössische Musik arbeite vorrangig nicht für dieses Medium, sondern werde als real stattfindendes Ereignis (Konzert) konzipiert und rezipiert. Dabei hat sich seit den 50erJahren nicht nur die Spieltechnik verändert, sondern auch die musikalische Schriftkultur im Sinne etwa der grafischen Notation oder im Bereich der reintegrierten Improvisation. Letzten Endes hat aber die Elektronik den ästhetischen Zugang revolutioniert. Alles Aufnehm- und Speicherbare wird der virtuellen Sample-Datenbank einverleibt. Das diaphane musikalische Spektrum, das transparente Übereinander vielfältiger musikalischer Kulturen, das heute vorherrsche, erschwere differenziertes Registrieren. Für das junge Publikum, das sich auf Internetforen verlinkt, gibt es die traditionellen ästhetischen Kategorien immer weniger. Die neuen Medien bieten nicht nur schier unbegrenzten Zugang zu jeder Art von Musik, sondern erleichtern auch das Selbstproduzieren mittels leistbarer Computer-Software. Hier setzt Klement mit Ihrer Forderung an, das Fortbestehen einer non-konformen zeitgenössischen Musik zu sichern. Ihre Forderung zielt vor allem in den pädagogischen Bereich, wo junge Menschen zum aktiven Hören, aber auch zum kreativen musikalischen Gestalten angeleitet werden sollen, um in der von den Medien vereinnahmten Welt Handlungs- und Aktionsspielräume zu erhalten. Der Zugang zum Unmittelbaren, der von den Medien, wenn nicht verstellt, so doch behindert wird, ist ein wesentliches Anliegen. Der von Klement vorgeschlagene neuen Oralität, die polar zur Dauerbeschallung des lärmenden Alltags steht, müsse gefördert und vermittelt werden. In diese Beschallung habe sich u. a. auch die so genannte „world music“ integriert, die auf ein exotisches musikalisches Menü abzielt, in denen die Gewürze Emotion und Fernweh nicht zu kurz kommen, letztlich aber ein Ausverkauf im Kolonialstil ist. Zeitgenössische Musik sollte 248 Ereignisraum bleiben, das Offene beherbergen und keine Hochglanzprodukte, - keine Unterhaltung liefern. Neue Musik muss eine Kategorie des Ungewissen bleiben, es darf nicht zum Establishment werden, und bleibt damit ein sensibles und schützenswertes Vorhaben707. Dieser pädagogische Ansatz scheint heute auf vielen Ebenen wichtig zu sein, um jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, auf die Herausforderungen des digitalen Zeitalters aktiv zu reagieren und kreativ damit umzugehen. Im musikuniversitären Bereich aber ist es offensichtlich oft nicht so sehr die Herausforderung neuer Paradigmen, die die Entwicklung neuer Strategien notwendig macht, sondern das Verharren im Gewohnten und Überkommenen. Wir haben uns in unseren musikkünstlerischen Ausbildungsgängen daran gewöhnt ... nachgestaltend tätig zu sein... die meisten universitären musikkünstlerischen Ausbildungskonzepte im deutschsprachigen Raum [haben] über die Aufbruchsbewegungen des 20. Jahrhunderts hinweggespielt und tun es zum großen Teil immer noch. Experimentelles als künstlerisches Verfahren gibt es in instrumental- und vokalorientierten Studienbereichen derzeit noch äußerst selten. Ausbildungskonzepte, die die wechselseitige Verknüpfung von Nachgestaltung und experimenteller Neugestaltung beinhalten, scheitern an Konvention und Tradition708. 4.2.3 Neue Medien Der Zugang zu Musik jeder Art war noch nie so leicht wie heute, die Auswahl noch nie so groß. Diese Verfügbarkeit auf Abruf bringe neben der Spannung auch Angst mit sich und fordere Verantwortung, der Akt der Erkundung und Entdeckung (was werde ich als nächstes hören?) rückt somit in den Mittelpunkt. David Jennings sieht heute drei Ebenen der Kommunikation: 1) Die Welt der Daten im Internet, die auf unterschiedlichsten Wegen allen zugänglich sind 2) Die so genannten blogs im Internet, die die menschliche Ebene der Kommunikation und des Persönlichen darstellen 3) Rock’n Roll als das Paradigma, das unser Interesse am Erkunden der Kultur wach hält,707 Katharina Klement, Zeitgenössische Musik als Neo-Oralität des 21. Jahrhunderts. Vortrag im Rahmen der Konferenz Publikumswandel: Herausforderungen für die Kunstmusik in der ganzen Welt am 10. November 2008 im Wotruba-Saal des Wiener Konzerthauses, vgl. http://www.mica.at/mica_aktuell/detail_18772.html (21. 03. 2009) 708 Helmi Vent (2005) S. 148 f 249 Jennings nennt diese Ebene die der Haltung (attitude) und des Appetits. Zudem ist die so genannte Mundpropaganda (word of mouth) heute nach wie vor – wenn auch heute im Internet - eines der wichtigsten Medien709. Jennings beschreibt damit exakt die Kommunikationsstrukturen, die Vilém Flusser vorgeschlagen hat, - übertragen in die Epoche des Internets. Die Welt der im Netz verfügbaren Daten entspricht der Form des Diskurses, im Speziellen der des Baum- und Amphitheaterdiskurses, in dem Informationen unverändert übermittelt werden. Die blogs wären den Kreisdialogen zuzuordnen, in denen Geräusche, also Veränderungen und Synthesen der Information gegeben sind, und die Mundpropaganda ein Netzdialog, das kollektive Gedächtnis710. Der Titel von Jennings Buch (der den drei genannten Ebenen entspricht) ist gleichzeitig auch Fahrplan oder Rezept für Orientierung im Internet. Die neuen Technologien, die als Web 2.0 bekannt geworden sind, sieht Jennings als Chance für Vielfalt wie für Nischen. Das Web 2.0 sei eine Plattform, die die Erkundung von Bereichen ermöglicht, die die Massenmedien normalerweise ignorieren. Chris Anderson711 weist darauf hin, dass z. B. Verkäufe von Musik im Internet nicht mehr auf Hits konzentriert sind, sondern sich auf ein größeres Spektrum verteilen. Die so genannten blogs712 ermöglichen bzw. erleichtern den Austausch von Meinungen und bieten Musikfans die Möglichkeit, einander gegenseitig Informationen zuzuspielen. Die Mittel, mit denen heute Neues - also auch neue Musik entdeckt werden kann, seien quasi unbegrenzt. Jennings spricht von einer celestial jukebox, die uns die gegenwärtige Epoche des Überflusses beschere und betont vor allem die Aktivität des Einzelnen beim Suchen in diesen neuen, schier unerschöpflichen Kanälen sowie die Möglichkeit einer interaktiv-dynamischen Verbindung zwischen Produzenten und Konsumenten. Jennings verwendet für diese selbst-motivierte und -gesteuerte Entdeckungsreisen im Internet die Metapher des foraging, was so viel wie Futtersuche bedeutet. Die blogs sind Richtungsweiser von Fans für Fans und bieten Hilfestellungen zur erfolgreichen Suche713. 709 David Jennings, Reaching an audience in the age of blogs and social networks. Vortrag im Rahmen des Symposiums The fan, the music and the net am 12. November 2007 in Wien, vgl. auch David Jennings, Net, Blogs and Rock’n’ Roll. London/Boston 2007 710 Flusser (2000), S. 24 - 33 711 Chris Anderson, The Long Tail: How Endless Choice Is Creating Unlimited Demand. Random House 2006, zitiert nach David Jennings (2007) S. 5 712 Blogs sind Plattformen im Internet, die Vielfalt, Verbreitung und Austausch von individuellen, authentischen Stimmen und Freundschaften bieten. Vgl. David Jennings, Net, Blogs and Rock’n’ Roll. London/Boston 2007, S. 4 713 David Jennings, Net, Blogs and Rock’n’ Roll. London/Boston 2007, S. 4 ff 250 Während einige noch Angst haben, dass die iPod-Culture die Menschen in die Isolation treibt, in dem sie sie in ihre personalisierten Cocons einsperrt, sei es vielmehr heute so, dass die Konsumenten über die genannten Schnittstellen bzw. Plattformen kommunizieren und bereits kleine Gruppen andere informieren und anstecken können. Die neuen Medien und ihre Angebote bieten neue Wege der Kommunikation, - der Pflege von Kontakten und der Suche nach Gleichgesinnten714. Hier soll zumindest angemerkt sein, dass die von Jennings propagierte neue Ära der Entdeckung (new era of discovery) in erster Linie vom Bereich des Entertainments die Rede ist. Grundsätzlich ist die Nutzung der neuen Technologien aber nur insofern Genre gebunden, als die so genannte zeitgenössische Kunstmusik in den im Internet gängigen Formaten wie MP3 oft nicht zufrieden stellend abgebildet werden kann. Auf der anderen Seite ist in jedem Fall die Verbindung verschiedener Formate wie Audio, Bild und Video eine Bereicherung, die von den unterschiedlichsten Kunstformen zumindest einen Überblick oder Eindruck übermitteln kann. Das, was Kritiker als Musikberieselung (vgl. Kapitel 3.2 – Hörstadt/Linz) bezeichnen, ist durch Brian Eno als Ambient in die neuere Musikgeschichte eingeführt worden. Bei der Einführung dieses Begriffs ging es ihm darum, sich weniger auf die Produktion, als auf die Rezeption von Musik, auf das Hören zu beziehen. Und es ging vielen in dieser Zeit um die Aufhebung der hierarchischen Unterscheidung zwischen Produzenten und Konsumenten715. Eno schrieb im Klappentext zu seinem Album Discreet Music 1975, dass er versuchte, ein Stück zu machen, dem man zuhören, aber es auch ignorieren konnte, ganz im Geist Eric Saties, der Musik machen wollte, die sich mit den Geräuschen des Essbestecks bei Tisch vermischen kann716. Im Zusammenhang mit den neuen Hörgewohnheiten der iPod-Generation ist ein großer Teil des Musikhörens dem ambientlistening zuzuordnen, das auch als passives Hören (Berieselung) bezeichnet wird, das Jennings aber differenzierter sieht. Passivität charakterisiert für ihn weder das, was Eno meinte, noch die aktuelle Situation. Vielmehr haben Eno und seine Freunde das Hören Jennings nennt die folgenden sieben Punkte als wesentliche Charakteristika der Blog-Culture (S. 6): 1) An open form of mass participation in media where anyone can contribute. 2) A conversation, not a lecture or a broadcast – there is no „final word“. 3) No commissioners, no editors, self-publishing with no infrastructure of control. 4) Mostly a non-commercial activity (corporate blogs and mainstream media blogs exist, but are arguably not what the ethos of blogging is really about). 5) The fan economy is a gift conomy, rewarded by recognition and in-kind returns from fellow contributors. 6) A focus on the individual, authentic voice. 7) Part of a wider activity of personal networking, finding like-minded souls. and building communities of interest. 714 David Jennings (2007) S. 7 und S. 179 715 David Toop, Ocean of Sound. Klang, Geräusch, Stille. St. Andrä-Wördern 1997, S. 54 716 zitiert nach David Jennings (2007) S. 116 251 konfiguriert, - das Hören ist einem ständigen Wechsel der Aufmerksamkeitspotenziale unterworfen717. Ambient war Symptom eines tief greifenden Wandels der zunächst britischen Musikproduktion. Diesem neuen Musizieren lag die Idee zugrunde, dass Maschinen live spielen, und dass die Energie der Leute, die spielen, von denen aufgegriffen wird, mit denen sie zusammenarbeiten und schließlich zu den Leuten zurückkommt, von denen sie sie genommen haben718. Mit der Entwicklung des Web 2.0 wird das Internet ein interaktives Medium, das die des passiven Konsumenten in die des aktiven „Prosumenten“ (prosumers) verwandelt, der seine eigenen Musik-Hörprogramme zusammenstellt und der Suche und Auswahl mehr Aufmerksamkeit schenkt als das in Zeiten beschränkten Angebots der Fall war719. Das steht meiner Meinung nach im Kontext einer länger zurückreichenden Entwicklung, die Prozesse der Auswahl von und des Zugriffs auf Musik betreffend. Stellte (im Bereich der Kunstmusik) ursprünglich der kirchliche oder fürstliche Auftraggeber durch die Vergabe der Aufträge und das Engagement der Musiker sein Musikprogramm zusammen, übernahmen in der bürgerlichen Gesellschaft diese Funktion die Intendanten und Funktionäre der Musikvereinigungen bzw. Veranstalter. Diese Programme waren einerseits Ausdruck des bürgerlichen Musikgeschmacks, andererseits aber programmierten sie das Publikum bzw. das Vokabular bürgerlicher Ästhetik. Mit der technischen Möglichkeit der Aufzeichnung und Übertragung akustischer Phänomene war die Verbreitung von Musik nicht nur über Konzertsäle, sondern auch über Rundfunk, Telefon und Schallplatte gegeben. Mit Ausnahme von Hörer-Wunschprogrammen war und ist die Auswahl auch dort in Händen von Spezialisten. Obwohl das Radio in seinen Anfängen durchaus auch als dialogisches Medium zumindest angedacht war720, ist es – auch durch die Rundfunkpolitik des Nationalsozialismus – nach wie vor Massenmedium. Erst 1970 machte Hans Magnus Enzensberger in seinem Aufsatz im Kursbuch 20, Baukasten zu einer Theorie der Medien, wieder auf Brechts Ideen aufmerksam. Mark Coleman bezeichnet übrigens die Single-Schallplatte und den tragbaren Transistorradio als die Geburtshelfer für den Rock’n’Roll721. Mit dem Siegeszug der Schallplatte wurde auch 717 David Jennings (2007) S. 116 f. Vgl. dazu auch Wolfgang Welsch (1996) S. 255 f David Toop (1997) S. 67 f 719 David Jennings (2007) S. 116 f 720 etwa in Brechts Radiotheorie, vgl. Bertold Brecht, Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks (1932/33). In: Bertold Brecht (1967) S. 127 ff. Brecht fordert in dieser Schrift einen Hörfunk, der nicht nur sendet, sondern auch empfängt, - dessen Hörer sich bei Bedarf in 'Sender' verwandeln können. 721 Mark Coleman, Playback. Zitiert nach David Jennings (2007) S. 222 718 252 der so genannte Disc-Jockey geboren, der ebenso Spezialist sein musste. Seine Funktion war es, vor allem bei Tanzveranstaltungen die Platten nicht nur zu wechseln, sondern auch dem Zweck entsprechend auszuwählen. Dabei ging es nicht nur darum, die Kontinuität des Musikflusses aufrecht zu halten, sondern auch das jeweils gängige Repertoire abwechslungsreich zu mischen und damit Spannung zu erzeugen. Disco Mixing, das Überschneiden und Vermischen von Schallplatten negierte den Musiker und stellte die Unantastbarkeit der musikalischen Darbietung infrage. Nicht nur stilistische Grenzen und kulturelle Differenzen wurden aufgelöst, sondern damit auch die Abgeschlossenheit des traditionellen Werkbegriffs. Das Problem der menschlichen Kommunikation wurde innerhalb von Maschinen ausgetragen722. Nach und nach, besonders nach Einführung der digitalen Formate wurde der Discjockey, nun DJ, selbst zum Künstler. Song und Komposition wurden auseinander genommen und in miteinander kombinierbare Module und Fragmente zerlegt. Damit reagierte man auf die Bedürfnisse nachts lebender ekstatischer Tänzer im Unterschied zu den klassischen Modellen, nach denen die Mehrheit der Popmusikhörer verlangte. Songs wurden flüssig ... Der DJ – oft irrtümlich zum Schamanen befördert – ist gleichzeitig Bibliothekar, Bastler und Prophet723. Das so genannte DJ-ing ist bereits ein komplexes Aufbereiten von musikalischem Material, das zum Teil extra für diesen Zweck vorbereitet bzw. aufgenommen wird. Es beinhaltet den manuell-physischen Eingriff (scratch) sowie die elektronische Veränderung des Ausgangsmaterials (remix). Diese Praxis macht den DJ selbst zum Kreativen, jeder DJ entwickelt sein eigenes Profil als Spezialist und genießt Künstlerstatus, DJ - Events haben nunmehr Live-Musikcharakter. Durch die neuen Technologien und Angebote des Web 2.0 und der Musikdownloadplattformen, die eine breite Auswahl seitens des Konsumenten nicht nur ermöglichen, sondern diesem auch intelligente Hilfe zum Auffinden der Musik seines Geschmacks bietet, ist nun der Konsument selbst in die kreative Rolle des DJs geschlüpft, zumindest was die Auswahl und Zusammenstellung eines persönlichen MusikHörprogramms betrifft. Was einerseits Chance ist, ist andererseits Gefahr, - denn auch die im Netz angebotenen Meta-Programme programmieren uns, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, denn auch wenn jetzt jeder Einzelne zum Spezialisten werden darf, stecken doch auch noch andere dahinter. Das Internet ist in diesem Sinn ein Musterbeispiel für das, was Vilém Flusser Technobild nannte. Ein Apparat, über den uns ein Bild von der Welt 722 723 David Toop ( 1997) S. 57 David Toop ( 1997) S. 58 253 vermittelt wird, das im Grunde lügt724. Wir hören zwar „Musik“ aus dem Netz als Musik, doch sie ist etwas anderes als Musik im traditionellen Sinn, - die aus dem Netz empfangenen Klänge bedeuten nicht Musik sondern Texte oder Begriffe. Wir sind uns nicht bewusst, dass wir lediglich ihr Logo vor uns haben, nicht aber die Musik selbst725. Die Kunst reagiert insofern auf diesen Sachverhalt, als sie Strategien entwickelt, die es erlauben, mit dem neuen Paradigma kreativ umzugehen und damit einen wesentlichen Beitrag zur Entzifferung der uns umgebenden kodifizierten Welt leistet726. Dazu gehören Kunstrichtungen wie das erwähnte DJing (im Audiobereich) und VJing (im Videobereich) und viele andere, zum Teil interdisziplinär arbeitende Gruppen, die die aktuellen Technologien nutzen, wie etwa die so genannte Demo-Szene im Bereich des Real timeVideos. Eine Kunstrichtung, die Peter Weibel als eine der wichtigsten Kunstströmungen des 21. Jahrhunderts bezeichnet hat727, ist die so genannte Klangkunst oder Soundart, die bereits im ersten Kapitel als Begriff Erwähnung findet. Voraussetzung für diese neue Strömung war u. a. die Autonomisierung der Kunst, die in den Avantgardebewegungen in Europa (etwa ab 1930) und den USA (etwa ab 1950) mit der Aufgabe der bis dahin noch existierenden Materialbindungen der Künstler einherging. Das gilt sowohl für die bildende Kunst als auch für die Musik, wo Grenzüberschreitungen zu neuen Formen in Zwischenbereichen der traditionellen Gattungen führten und neue ästhetische Auffassungen prägten. Helga de la Motte-Haber, die zur Festigung des Begriffes und der Bewegung beigetragen hat, erwähnt László Moholy Nagy und Erik Satie als Wegbereiter der neuen Kunstform, die in den 1920er Jahren. Nagy transformierte optische Eindrücke mittels Ritzungen auf Schallplatten in akustische, und Satie möblierte öffentliche Räume mit Klang. Diese Idee der Klanginstallation wurde mit fortschreitender Entwicklung der Technik vervollkommnet und neue Präsentations- wie Rezeptionsmodelle entwickelt, in denen vor allem die Autonomie des Rezipienten ausgeprägt ist. Ein wesentlicher Faktor dieser neuen Ansätze war und ist der neu hinzukommende Aspekt des Raumes, der sich 724 Vilém Flusser (2000), S. 148 Jean de Loisy, Im Angesicht dessen, was sich entzieht. In: In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München 19. September 2008 bis 11. Jänner 2009. München 2008, S. 22 f 726 Vilém Flusser, Kommunikologie. Frankfurt am Main 1998, S. 230 727 Aus: http://www.theaterkanal.de/theater/oesterreich/wien/kosmostheater/phonofemme--intenationalesklangkunstfestival-in-wien Übrigens hat der Salzburger Komponist Reinhold Schinwald Peter Weibel die Frage gestellt, wie es seiner Meinung mit der Musik weitergehe. Peter Weibel antwortete: remix (aus einem persönlichen Gespräch mit Reinhold Schinwald am 17. 04. 2009 in Wien 725 254 um den Rezipienten quasi als energetisches Feld aufbaut, in dem für diesen - stärker als in den traditionellen Kunstformen - eine vielschichtige und mehrdeutige Struktur erlebbar wird. Klangkunst ist in ihrer Räumlichkeit auch Standort bezogen, und auch hier in Hinblick auf die konkrete räumliche Situation, aber auch in Bezug auf den Standort des Publikums. Im Zentrum des neuen Raumbegriffs stehen Ideen wie die Verzeitlichung von konkreten Räumen bzw. Orten, welche nur durch die Integration von Zeitvorstellungen erlebbar werden bzw. im Grunde selbst zeitlich-situationsspezifisch sind728. Dem entspricht der Aspekt der Verräumlichung der Zeit, der auch in der Musik etwa seit Schönberg und der 2. Wiener Schule diskutiert wird729. In meiner Arbeit Die Abschaffung der Zeit730 habe ich diese Fragen ausführlich erörtert. Waren diese Momente der Verräumlichung in der Musik zu dieser Zeit im Wesentlichen Material bezogen, so sind sie heute Situation bezogen und haben eine wesentlich höhere Relevanz gegenüber den Rezipienten, obwohl etwa Jakobik in Bezug auf die Musik Schönbergs ein neues Hören fordert, das der neuen klangräumlich orientierten Konzeption (etwa dem Denken in zwei Zeitebenen) Rechnung tragen könnte731. Einen weitern Aspekt dazu liefert Theodor W. Adorno, der im Aufschreiben der Musik als Partitur das Moment der Verräumlichung angelegt sieht. Das Werk-als-Partitur sei eine erste Verdinglichung der Musik, und in seiner Objektivierung die Verräumlichung ihrer Zeitlichkeit. Sie sei eine historische Voraussetzung dafür, dass sich die Kunstform zum Vehikel der Subjektivität und zu einer Erkenntnisweise entwickeln konnte, sodass die Musik eigentlich ihre Freiheit durch Beschränkung und ihre Autonomie durch Verdinglichung und Fetischisierung erlangt habe. Die Verräumlichung des Zeitlichen ist notwendig, nicht bloß empirisch inadäquat. Autonomie und Fetischismus sind zwei Seiten des gleichen Sachverhalts732. Mit dem Aspekt des Raumes geht auch der der Präsenz und Gegenwärtigkeit einher. Auch hier unterscheidet Helga de la Motte-Haber zwischen traditionellen Kunstformen, in denen meist Abwesend-Transzendentes Präsenz bekommt, und den neuen Künsten, in denen etwas eigentlich Anwesendes, aber nicht Registriertes präsentiert wird. In diesem Sinn adressieren die neuen Künste, insbesondere die Klangkunst, an die Wahrnehmungsfähigkeit des Publikums bzw. versuchen, die Rätselhaftigkeit der menschlichen Wahr728 Helga de la Motte-Haber, Konzeptionen von Klangkunst, Berlin 2002 Albert Jakobik, Arnold Schönberg. Die verräumlichte Zeit. Regensburg 1983, S. 20 730 Wolfgang Seierl, Die Abschaffung der Zeit. Aspekte des Zeitproblems in der Musik. Salzburg 1987. In Erinnerung kommt hier Richard Wagners bzw. Parsifals Diktum Zum Raum wird hier die Zeit (1882) 731 Albert Jakobik (1983) S. 10 732 Theodor W. Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Frankfurt am Main 2001, S. 72, zitiert nach Max Paddison (2007) S. 220 729 255 nehmung zu thematisieren733. In diesem Zusammenhang von den Veränderungen der Hörgewohnheiten zu sprechen, heißt, eine Erweiterung über den Hörsinn hinaus zu beschreiben. Diese ließe sich durch den Begriff Synästhesie fassen, der 1892 von Jules Milet, einem französischen Psychologen, eingeführt wurde und eigentlich weiter gefasst war, als in der Bedeutung, in der er heute Verwendung findet. Er meint die ganzheitliche Alltagswahrnehmung durch alle Sinne, und auch, dass auch unimodale, also einheitliche, - auf ein Sinnesorgan bezogene Wahrnehmung multisensorische Qualität hat. Das Hören von Musik ist also durchaus auch von anderen visuell-räumlichen Sinneswahrnehmungen begleitet. Heutige Kunst zielt auf ganzheitliche, Körper bezogene und interaktive Rezeption. 4.2.4 Zusammenfassung Die technischen Medien des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts bedienten nicht mehr die gesellschaftlichen Eliten, sondern gaben die Möglichkeit, nicht spezifisches Publikum zu erreichen. Sie entstanden als Techniken der Kultur, die weltweit funktionieren und jegliche Grenzen überschreiten sollten. Die, die sie benutzen, identifizieren sich nicht mehr als Zuschauer bzw. Zuhörer, sondern sind Teilnehmer an einer globalen Veranstaltung, - Mitspieler im Kontext der Interaktion bzw. Kommunikation. Diese Welt präsentiert uns nicht mehr technische Artefakte, sondern zusammengesetzte technische Sachsysteme. Technologie ist, indem sie mit Fortschritt verbunden ist, auch mit der Macht verbunden. Computer und weltumspannende Datenleitungen mit ihren Knotenpunkten stehen im Mittelpunkt. Auch wenn sie mit hochleistungsfähiger Elektronik und Programmen arbeiten, sind sie doch Systeme in der Tradition der Mechanik734. Hans Belting spricht bezüglich der Digitalisierung zumindest im Bereich des Fotomarktes von einer Zeitenwende. Was für das Foto zutrifft, gilt – meiner Meinung nach – auch für das digitale Audiofile. Es lässt sich augenblicklich weltweit versenden. Zudem konstatiert Belting die Körperflucht der digitalen Bilder, weil sie echter zu sein scheinen als Körper, indem sie uns von unseren Körpern zu befreien scheinen. Während auf der einen Seite die digitalen Bildwelten auf virtuelle Körper ausweichen, entzieht uns auf der anderen Seite der genetische Code in einem analogen Ikonoklasmus die visuelle Evidenz dessen, was wir 733 734 Helga de la Motte-Haber (2002) Siegfried Zielinski (2002) S. 322 f 256 heute vom Körper wissen oder wissen wollen735. Die Digitalisierung verändert nicht nur unsere Hörgewohnheiten, sondern das Hören selbst. Die Explosion der fotografischen Abbilder der Wirklichkeit entspricht einer schier unbegrenzten Verfügbarkeit von Abbildern musikalischer Wirklichkeit. Dies zeitigt ein ständiges, ununterbrochenes Hören, das nicht mehr an Events gebunden ist. Vorgebildet scheinen diese aktuellen Entwicklungen in der Vorstellung Stockhausens vom meditativen Hören, das er als Gegensatz zum üblichen Wunsch-Hören definiert. Mit dem Begriff meditatives Hören bezieht er bereits 1952 eine Position, die später durch die Popularisierung fernöstlicher Musikkultur (Hippie-Bewegung, The Beatles u. a.) aktuell geworden ist. Ständige Anwesenheit von durchgeordneter Musik, die keine ‚Entwicklung’ darstellt, kann allein den Zustand meditativen Hörens ... hervorrufen: Man hält sich in der Musik auf, man bedarf nicht des Vorausgegangenen oder Folgenden, um das einzelne Anwesende (den einzelnen Ton) wahrzunehmen736. Die beiden französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari erschließen in ihrem Gemeinschaftswerk Anti-Ödipus737, das vor allem eine Kritik an der Freudschen Ödipus-Theorie ist, ein völlig neues, Bahn brechendes Modell des Unbewussten: Das Unterbewusste ist die Energie, die auf Verwirklichung in der Welt, Entladung und Lustgewinn drängt. Diese Energie oder Produktionskraft ist Wunschproduktion, das Unbewusste ist eine Wunschmaschine, die Körperteile sind Maschinenteile. Gemeint ist eine elementare, molekulare Kraft, die sich über die Koppelung von Körperteilen und Objekten ständig zu verwirklichen trachtet, die vorübergehend Produktionseinheiten bildet, die sich wieder auflösen, damit andere Produktionseinheiten gebildet werden können. Die Funktion des Unterbewussten ist Produktion, - gesellschaftliche Produktion ausschließlich Wunschproduktion738. 735 Hans Belting (2005) S. 303 ff Karlheinz Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Band 1. Köln 1963, S. 21, zitiert nach Christoph von Blumröder (1993) S. 117 f 737 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Anti-Ödipus. Paris 1972 738 Die Metapher der Maschine hat der russische Philosoph Peter D. Ouspensky in seiner Psychologie der möglichen Evolution des Menschen (Saarbrücken 20086) verwendet. Der Mensch sei eine von äußeren Einflüssen in Tätigkeit gesetzte Maschine, die tief unter ihrem Niveau arbeite und trotz vieler Hindernisse fähig sei, sich zu entwickeln und für sich selbst ganz andere Stufen der Aufnahmefähigkeit und Tätigkeit aufzubauen. (S. 60 ff) Zur Ästhetik Deleuzes/Guattaris passt auch Ouspenskys Vorstellung, dass der Mensch eine Vielheit ist. Er habe kein Ich, das einheitlich, beständig und unwandelbar ist. Auch David Toop (1997) nennt ein Kapitel seines Buches Ocean of Sound „Bewusstseinserweiterung/Die Maschine“: Im letzten Jahrzehnt haben Computer die kybernetische Musik in einen Bereich jenseits der menschlichen Kapazitäten getrieben. (S. 217) 736 257 Wird nun das Unterbewusste als Ort chaotischer, nicht-gesellschaftsfähiger Wünsche - also dieser Wunsch zu wünschen - unterdrückt, räumt diese produktive Kraft zugunsten einer anderen Kraft das Feld, die sich nur mehr im Mythos, in der Tragödie oder im Traum ausdrücken kann. Deleuze und Guattari entwickelten über ihre Kritik an Freud und die neue Theorie des Unbewussten eine ähnlich neue Konzeption des Lesens. Sie postulieren die Idee des Rhizoms (Wurzelgeflecht) als dynamische Struktur eines Agierens und Produzierens im Fluss und in nicht zentrierten Systemen. Im folgenden Textausschnitt lässt sich das Wort Buch ohne weiteres durch das Wort Musik ersetzen: Findet die Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt. Wir lesen und schreiben nicht mehr in der herkömmlichen Weise. Es gibt keinen Tod des Buches, sondern eine neue Art des Lesens... Ein Buch muss mit etwas Anderem eine Maschine bilden, es muss ein kleines Werkzeug für ein Außen sein. Keine Repräsentation der Welt, auch keine Welt als Bedeutungsstruktur. Das Buch ist kein Wurzel-Baum, sondern Teil eines Rhizoms, Plateau eines Rhizoms für den Leser, zu dem es passt. Die Kombinationen, Permutationen und Gebrauchsweisen sind dem Buch nie immanent, sondern hängen von seinen Verbindungen mit diesem oder jenem Außen ab. Ja, nehmt was ihr wollt!739 Das Rhizom ist also wie eine offene (Land-)Karte, die in allen ihren Dimensionen verbunden, demontiert und umgekehrt werden kann, - ständig modifizierbar ist. Man kann sie zerreißen und umkehren; [...] Man kann sie auf Mauern zeichnen, als Kunstwerk begreifen, als politische Aktion oder als Meditation konstruieren. Eines der wichtigsten Merkmale des Rhizoms ist es, viele Eingänge,- Zugänge zu haben740. 4.3 Künstlerische Positionen als Parameter gesellschaftlicher Realität Wenn Siegfried Zielinski am Beginn seines Buches über die Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens741 die Frage stellt, ob wir nicht gerade gegenwärtig verstärkt Naturwissenschaftler brauchen, die Augen wie Lüchse und Ohren wie Heuschrecken haben, und Künstler, die etwas aufs Spiel setzen, anstatt den gesellschaftlichen Fortschritt mit ästhetischen Mitteln nur zu moderieren, dann ist damit einerseits die Gefahr artikuliert, dass Wissenschaft und Kunst ihre ureigensten Aufgaben vernachlässigen könnten und andererseits ein Aufruf zur aktiven Begegnung mit den Herausforderungen des Medien739 Gilles Deleuze/Félix Guattari, Rhizom. Berlin 1977, S. 40 Gilles Deleuze/Félix Guattari (1977) S. 21 f 741 Siegfried Zielinski (2002) S. 22 740 258 zeitalters. Dieses etwas aufs Spiel setzen ist für ihn durchaus etwas, das mit dem Reich der Illusionen, das die Medienwelt darstellt, vereinbar ist. Dabei bezieht er sich auf den Philosophen Dietmar Kamper, der darauf aufmerksam macht, dass das Wort illudere nicht nur bedeute, etwas vorzutäuschen, einen schönen Schein zu erzeugen, sondern dass in ihm etwas mitschwinge, das für mediales Handeln besonders wichtig sei, nämlich dieses etwas aufs Spiel setzen, die eigene Person mit eingeschlossen. So plädiert er etwa für eine eingreifende Medientheorie und –praxis, die an der Schnittstelle zwischen Medienmenschen und Medienmaschinen aktiv ist. Von den Künstlerinnen und Künstlern, die sich auf das riskante Spiel eingelassen haben, sollte man lernen, mit und durch die neuen Techniken für das Andere zu sensibilisieren und das Vertraute allmählich umzukehren, das Mögliche mit seinen eigenen Unmöglichkeiten zu konfrontieren742. Dieses etwas aufs Spiel setzen ist in der Musik, vor allem in der so genannten Neuen Musik, im Vergleich mit der bildenden Kunst ein Moment, dem vor allem Tradition, Konvention und feldspezifische Eigenschaften (wie die traditionelle Wertschöpfungskette zeigt) deutlich entgegenstehen. Es ist auffallend, dass die Mehrzahl der im FallbeispielKapitel vorgestellten Initiatoren starke Bezüge zur bildenden Kunst haben. Diese sind, und auch das fällt auf, ausschließlich Männer. Tradition und Konvention sind in der Welt der Musik nach wie vor vorherrschend. In seinem Aufsatz Fragmente einer Verteidigung743 artikuliert der Komponist Peter Ablinger diese Problematik in großer Deutlichkeit. Zunächst weist er auf die Abhängigkeit der Musik von den Institutionen Orchester, Ensemblebesetzung, Akademie, Ausbildung, Instrumententradition, Konzertsaal und Musikwissenschaft hin. Diese Abhängigkeit ist - für Ablinger - für die erdrückende Historizität des Musikbetriebs verantwortlich, wird für die neueste Musik zur korrumpierenden Falle und schaffe zumindest ein von Vorurteilen belastetes Klima gegenüber allem musikalischem Tun, das auch gar nicht versuche, diese Institutionen zu umgehen. Deutlich wird ihm diese Art Korruption im Vergleich mit der bildenden Kunst, wo der freie Zugriff des Autors auf sein Medium, ein anything goes selbstverständlich ist, für die zeitgenössische Komposition aber Fiktion geblieben ist. Die Musikschaffenden jenseits der institutionellen Anpassung744, die einen Vergleich mit der bildenden Kunst 742 Siegfried Zielinski (2002) S. 21 Peter Ablinger, Fragmente einer Verteidigung. In: Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008, Saarbrücken 2008, S. 104 f 744 Ablinger nennt Charlie Parker, Velvet Underground, Einstürzende Neubauten, Diamanda Galas, John Zorn, Cecil Taylor 743 259 nicht zu scheuen brauchen, werden nach Ablinger von der Neue-Musik-Lobby ignoriert und lässt diese anderen Bereiche wie den verdrängten Schatten der Neuen Musik erscheinen. Ablinger zeichnet hier den Unterschied zwischen den Künstlern, die den gesellschaftlichen Fortschritt mit ästhetischen Mitteln nur moderieren und jenen, die etwas aufs Spiel setzen (Zielinski) nach. Ablingers kritische Haltung bezieht sich jedoch auf noch Grund legendere historische Entwicklungen. Entsprechend dem Satz von MacLuhan the medium is the message745 ist für Ablinger jede Botschaft, jede Information nur ein Mittel zwischen etwas und etwas (jemandem und jemandem). In der bildenden Kunst etwa wurden unter Berufung auf dieses Medium Ausdruck, Inhalt und Form erfolgreich verdrängt. Der größte Teil der Neuen Musik ist für Ablinger über den abstrakten Expressionismus, mit dem er die Intaktheit des äußeren Erscheinungsbildes meint, nicht hinausgekommen. Wie in der bildenden Kunst gab es in der Musik zwar auch serielle, minimale, stochastische und modulare Konzepte, doch hatten diese Konzepte meist keinen Einfluss auf das musikalische Ganze, sondern nur auf Teilbereiche wie die des Tonsatzes oder der Instrumentaltechnik. Der fatale Kompromiss bestehe also zwischen dem Anspruch Neue Musik zu schreiben und gleichzeitig den vorhandenen Institutionen, die die Positionierung von Klang und Hörer (Konzertsaal), die Dauer und Abläufe (Veranstaltungen), den Standard dessen, was man von den Ausführenden verlangen kann (Interpreten, Ausbildung) und die Gattungsgeschichte, Virtuosität, Notenschrift usw. (Instrumentarium) vorgeben bzw. definieren. Gemäß der Meinung Klaus Theweleits, dass Polyphonie und Liebe einander ausschließen würden, plädiert Ablinger für die Einstimmigkeit, die er mit der Zweidimensionalität des Bildes vergleicht. In der Mehrstimmigkeit sieht er keine weitere Dimension, sondern nur deren Illusion, wie etwa die Perspektive in der Malerei. Einstimmigkeit ist sozusagen illusionslos. Ist grundsätzlich das, was es ist. Eine Stimme im Raum. Ein Mensch an einem Ort. Einer der singt.746 745 Herbert Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Düsseldorf/Wien/ New York/Moskau 1992, S. 17 746 Peter Ablinger, in: Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008, Saarbrücken 2008, S. 105 260 Medienhistorisch relevant ist schließlich auch Ablingers Relativierung der Notenschrift als Distanzierung, die Annäherung verspricht, in erster Linie Kontrolle liefere und zur Funktion des Ganzen werde. Notenschreiben und Komponieren sind für ihn nicht das Gleiche, können fast das Gegenteil sein. In Bezug auf die mündliche Weitergabe von Information in früheren bzw. anderen Kulturen entlarvt er Schrift als Synonym für Versteinerung. Das Ziel Peter Ablingers wäre in diesem Zusammenhang nicht ein mehr an Komplexität, die erst über die Schrift möglich geworden ist, sondern Unmittelbarkeit ohne vorgegebene Denk-Schemata. Gerade in der Entwicklung der neuen Medien sieht er einen Moment der Annäherung und einer Direktheit des Blicks und meint damit, dass Klänge als solche gehört werden können und nicht mehr als Hinweisschilder für etwas, nicht mehr Projektionsmomente sind für Emotionen, nicht mehr Repräsentanten für irgendeine Form von Ordnung. Die Quintessenz ist, dass Peter Ablinger als Künstler auf das Wesentliche zurückkommen will, auf die ureigensten Bedingungen des Musikmachens und Musikhörens. Wenn er in seinen Überlegungen bis zum Beginn der Mehrstimmigkeit zurückgeht, holt er zwar sehr weit aus, bringt aber doch damit eine weitere Fragestellung auf den Punkt. Angesichts des offensichtlichen und quasi klaffenden Unterschiedes zwischen unserer westlichen Musikkultur und z. B. der Indischen, die sich sowohl Einstimmigkeit als auch mündliche Überlieferung bewahrt hat, erscheinen uns diese beiden Kulturmodelle zwar getrennt, aber doch einer Wurzel zu entspringen, wenn wir unsere Geschichte weit genug zurückverfolgen. Es waren zum Teil radikale Entwicklungen bzw. Entscheidungen, die unsere Kultur zu der gemacht hat, die sie ist. Die Sehnsucht nach den Wurzeln als dem Ursprünglichen ist verständlich, die Suche nach dem Wesentlichen orientiert sich oft an diesem. Aus der Position des Inders, hier im Speziellen des Musikers Ritwik Sanyal (der die Position dieser und den Blickwinkels aus dieser anderen Musikkultur repräsentiert), ist es die Schrift, die in den westlichen Kulturen diese unterschiedliche Entwicklung gezeitigt hat. Aber jetzt, am Anfang des 21. Jahrhunderts, bestünde die Aufgabe darin, diese Unterschiede, die über mehrere Jahrhunderte im Vordergrund gestanden haben, zu vergessen und das Gemeinsame in Emotionalität und Kreativität zu suchen. Aus seiner Sicht war und ist die westliche Musik mehr dem Denken verpflichtet, die Indische hingegen dem Gefühl, dem Herzen747. 747 Aus einem persönlichen Gespräch zwischen Ritwik Sanyal und dem Verfasser am 14. September 2008 in Mittersill 261 Auf die heute wahrzunehmende Umorientierung vom Wunsch-Hören zum meditativen Hören hat, wie bereits erwähnt, Stockhausen hingewiesen748. Mit der diese Umorientierung begleitende geistigen Wandlung vom überspitzt Individualistischen zum PersönlichKollektiven spricht er von einem Aspekt, der sich auch in den in dieser Arbeit dargestellten Bereichen erkennen lässt. Ist in den untersuchten Positionen nicht unbedingt rein politisches Engagement zu finden, so aber doch das Engagement in ästhetischen, sozialen und politischen Bereichen. Nach Vilém Flusser ist jedes Veröffentlichen ein Politisieren. In dem Sinn also, in dem der Künstler seine Arbeit an die Öffentlichkeit bringt, nimmt er auch an einem politischen Diskurs teil. Es ist eine Gratwanderung zwischen dem individuell - Persönlichen und dem allgemein - Öffentlichen, die die heutige Situation des Künstlers kennzeichnet. Am deutlichsten wird dies an den Aktivitäten Bill Drummonds, aber auch den anderen, stilleren Positionen. Dass der Bereich außerhalb der Gesellschaft nach wie vor einen wesentlichen für den künstlerischen Prozess darstellt, beschreibt Hannah Arendt so: Offensichtlich ist die Position außerhalb des politischen Bereichs, und damit außerhalb der Gemeinschaft, zu der wir gehören, außerhalb auch der Gesellschaft, in der wir uns unter unseresgleichen bewegen, dadurch gekennzeichnet, dass sie eine der mannigfachen Weisen des Alleinseins darstellt. Unter den existentiellen Modi des Alleinseins sind hervorzuheben die Einsamkeit des Philosophen, die Isolierung des Wissenschaftlers und Künstlers, die Unparteilichkeit des Historikers und des Richters und die Unabhängigkeit dessen, der Fakten aufdeckt, also des Zeugen und des Berichterstatters. ...Diese Weisen des Alleinseins sind in mancher Hinsicht zu unterscheiden, aber sie haben gemeinsam, dass sie alle das politische Engagement, das Eintreten für eine Sache ausschließen749. Dieses Alleinsein, von dem Arendt schreibt, erinnert an die Einsamkeit zum Tode, von der Vilém Flusser spricht, gegen die uns der Kunstgriff der menschlichen Kultur bzw. Kommunikation bewahren soll750. Es lässt sich also vermuten, dass die Erfahrung der Einsamkeit bzw. des Alleinseins immer wieder Voraussetzung ist für die Produktion kultureller Güter. Dasselbe muss jedoch auch für die Konsumenten dieser gelten, die heute mit der Übermacht diskursiver Medien konfrontiert, ebenso der Einsamkeit ausgeliefert 748 Karlheinz Stockhausen, Situation des Handwerks (Kriterien der punktuellen Musik). (Manuskript, 1952), in: Texte I, S. 17 – 23, zitiert nach Wolfgang Gratzer (2003) S. 325, vgl. Kapitel 2.2.2.1/S. 131 dieser Arbeit 749 Hannah Arendt, Wahrheit und Politik, Berlin 2006. S.55 750 Vilém Flusser, Kommunikologie. Frankfurt am Main 20002, S 9 f 262 sind. Auf jeden Fall gehört die Verteidigung des Individuums hierher, dem sich die Künstler etwa in den 50er-Jahren gewidmet und damit ihre Aufmerksamkeit dem spirituellen Wachstum zugewandt haben751: Die Seele des Individuums ist in Gefahr [...]. Mit Seele meine ich nicht nur die mentale Klarsicht, sondern auch das Gefühl, sich seines ganzen Körpers bewusst zu sein. Solange dieser zarte, sensible Körper in Gefahr ist, werden wir versuchen, seinen Schrei, seine Tränen, sein Gebet mit der Kunst auszudrücken752. Siegfried Zielinskyi folgert hingegen, dass der programmierten und standardisierten Welt nicht durch den Maschinensturm beizukommen wäre. Der sei schon im vorletzten Jahrhundert nicht erfolgreich gewesen. In diese Welt sei nur wirksam einzugreifen, indem man ihre Handlungsgesetze lernt und sie überzulaufen oder unterzulaufen versucht753. Das meint ein aktives und kreatives Umgehen mit den neuen Medien und Technologien. Erst über künstlerische Auseinandersetzung bzw. Prozesse werden die schwarzen Kisten der Technobilderzeugung transparent und verlieren die von Flusser postulierte Gefährlichkeit. 751 Jean de Loisy, Im Angesicht dessen, was sich entzieht. In: In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München 19. September 2008 bis 11. Jänner 2009. München 2008, S. 21 752 Allen Ginsberg, T. S. Eliot est entré. In: Gérard-Georges Lemaire (Hsg.), Beat Generation, une anthologie. Romanville 2004, S. 28, zitiert nach: Jean de Loisy, Im Angesicht dessen, was sich entzieht. In: In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München 19. September 2008 bis 11. Jänner 2009. München 2008, S. 21 Dieser Gedanke findet sich in ähnlicher Form bereits bei William Blake (Dichter und Kupferstecher, geboren 1757 in London – gestorben 1827 in London): Doch erst muss die Vorstellung, dass der Mensch einen von der Seele verschiedenen Körper habe, ausgemerzt werden: dies werde ich tun durch Drucken nach der höllischen Methode, mit Ätzstoffen, die in der Hölle heilsam und zuträglich sind, indem sie die sichtbaren Oberflächen wegschmelzen und das Unendliche enthüllen, das darunter verborgen lag. Wenn die Pforten der Wahrnehmung geläutert würden, würde jedes Ding dem Menschen erscheinen, wie es ist, unendlich. Denn der Mensch hat sich selbst eingeschlossen, bis er alle Dinge nur mehr durch schmale Ritzen seiner Höhle sieht. Aus: William Blake, Die Hochzeit von Himmel und Hölle. In: Thomas Eichhorn (Hsg.), William Blake. Zwischen Feuer und Feuer. München 2007, S. 229. 753 Siegfried Zielinski (2002) S. 299. Initiativen, die sich wie die im Kapitel 3.2. erwähnte Aktion gegen die Zwangsbeschallung (Hörstadt/Beschallungsfrei/Pipedown) um eine Hygiene der akustischen Umwelt bemühen, sind übrigens zahlreich. Eine Initiative, die ihre Aktivität nicht gegen die gegenwärtigen Tatsachen (Stichwort Maschinensturm) richtet, sondern sich für einen aktiven, künstlerisch-kreativen und sensiblen Umgang mit der akustischen Umwelt einsetzt, ist etwa das Forum Klanglandschaft (FKL). Aus einem Impuls des seit 1993 bestehenden internationalen Netzwerks des World Forum for Acoustic Ecology (Vancouver B.C.) entstanden, ist es ein Ziel dieses von der österreichischen Komponistin Gabriele Proy geleiteten internationalen Forums, die Qualität der uns umgebenden akustischen Kulisse zu steigern und zur Aufmerksamkeit, zum aktiven Hören gegenüber dieser anzuregen. Einen Schwerpunkt in der Arbeit des Forums bzw. seiner Mitglieder bildet die so genannte Soundscape Komposition, - eine Form der elektroakustischen Komposition, die ihr Material aus den alltäglich uns begleitenden Klangphänomenen bezieht. Der Pionier dieser Bewegung ist der Komponist Raymond Murray Schafer. Vgl. http://www.klanglandschaft.org//content/view/12/38/lang,de/ (21. 06. 2009). 263 Das in dieser Arbeit thematisierte Begriffspaar music – anti-music bildet, zumindest in unserem Denken - die von unserer Vernunft erzwungene Teilung zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen ab. Während das Rationale sich dem Prinzip der Vernunft unterwerfe, sei das Irrationale der verfluchte, sich jeder Darstellung entziehende Teil des Realen. Der französische Philosoph Jean-Louis Poitevin setzt sich mit Robert Musils Konzept des Nicht-Ratioïden auseinander, das dieses Prinzip der Vernunft als Rechtfertigung der instrumentalen Betrachtungsweise des Realen in Frage stellt754. Robert Musil beschreibt das nicht-ratioïde Gebiet als das der Ausnahmen über die Regel und bezeichnet den Unterschied zum ratioïden Gebiet als polar, - eine vollkommene Umkehrung der Einstellung des Erkennenden verlangend. Die Tatsachen unterwerfen sich nicht auf diesem Gebiet, die Gesetze sind Siebe, die Geschehnisse wiederholen sich nicht, sondern sind unbeschränkt variabel und individuell. Es sei das Gebiet der Reaktivität des Individuums gegen die Welt und die anderen Individuen, das Gebiet der Werte und Bewertungen, das der ethischen und ästhetischen Beziehungen, das Gebiet der Idee. ...Das ratioïde Gebiet ist beherrscht vom Begriff des Festen und der nicht in Betracht kommenden Abweichung755. Poitevin verweist auf die Gegenwartsforschung wie auch die individuelle Erfahrung, welche zeigen, dass es kein Festes gibt. Die Welt sei beweglich, zusammengesetzt und durchquert von beweglichen Elementen, - sie beruhe auf Gesetzen, die sich der kartesianischen Vernunft entziehen. Im Zusammenhang mit dieser heutigen neuen Konzeption des Realen diskutiert Poitevin eine neue Beurteilung des Bösen. Die Frage des Bösen, dem nun ein Ende gesetzt werden könne, habe ihren Ursprung in der Moral, dem exakten Pendant zum Festen und Ganzen. Von nun an sei aber der Rückgriff auf absolute Werte nicht mehr möglich und jener auf die Fiktion vorrangig. Wesentlich sei die Erforschung dieser unbekannten Zone, die Robert Musil das wahre Leben nennt. Musil sehe die Zukunft des Denkens nicht in neuen Erfahrungen, sondern in der Entwicklung neuer experimenteller Methoden756. Damit zeigt Poitevin, dass die von Musil postulierte Möglichkeit ein konstitutiver Teil der Wirklichkeit ist. Antimusik, und damit die experimentelle, unangepasste, dem Großteil des Publikums unzugängliche Musik, stellt sich so als das im Kontext des Rationalen die Funktion des Bösen bzw. Unmoralischen Einnehmende dar, die jene unbekannte Zone ist oder abbildet. Jene Zone, die nach 754 Jean-Louis Poitevin, Die Gerüche der Küche. Ein Essay über Robert Musil. Innsbruck 2006, S. 58. Ein Zeitgenosse Musils, nämlich Ludwig Klages, hat das übrigens so ausgedrückt: Bindung der wirkenden Lebensregung an die vom Geiste aufgestellte Gesetzlichkeit. In: Ludwig Klages (1969) S. 111 755 Aus: Robert Musil, Essays, S. 1027 f, in: Jean-Louis Poitevin (2006) S. 58 f 756 Jean-Louis Poitevin (2006) S. 59 f 264 Heidegger aus dem dichtenden Wesen der Kunst ... inmitten des Seienden eine offene Stelle aufschlägt, in deren Offenheit alles anders ist wie sonst. Kraft des ins Werk gesetzten Entwurfes der sich uns zuwerfenden Unverborgenheit des Seienden werde demnach durch das Werk alles Gewöhnliche und Bisherige zum Unseienden757. Der Dualismus von Musik und Antimusik, der in unserer Zeit noch unauflösbar zu sein scheint, kann auf diese Weise zurückgewiesen werden. Wenn in dem am Beginn vorgestellten System Ritwik Sanyals music und antimusic polar gegenüberstehen und jeweils einander entgegengesetzten Bereichen (Himmel und Hölle, die einander jedoch zu einem Ganzen ergänzen) angehören, so lässt sich nun ein Modell entwickeln, in dem Antimusik von Musik nur dadurch verschieden ist, dass Antimusik sich nicht der Vernunft unterwirft und den groben Raster der Moral, also die allgemein gültige Codierung negiert. Sie erweist sich als der wesentliche Teil der Musik, als ihr konstitutives Merkmal. Die Einheit, so schreibt Poitevin, sei nicht abhanden gekommen, sondern der Weg, sie in ihrer ganzen Macht zu erfahren, sei schwer zu finden. Zusätzlich seien die Hilfestellungen, diesen Weg zu finden, verschleiert worden. Er meint damit die mystischen Texte, die in einer Zeit, in der die Wissenschaft regiere, nicht hoch im Kurs stünden. Musil versuche zu klären, wie eine Allianz zwischen Genauigkeit und Leidenschaft, Wissenschaft und Mystik, Affekt und Verstand aussehen könnte. Dichter seien Staatsfeinde, weil sie nach Veränderung verlangen, der Staat jedoch zu bewahren sucht. Es sind zwei Arten des Denkens, die Musil unterscheidet, wovon eine, ihre Herrschaft etablierend, im Herzen des Wissens die Trennung einführt, die andere aber auf die Zerstörung dieser Trennung zielt758. Die Polaritäten und Dualismen sind in unserem Denken, - Musil plädiert für ein ungeteiltes Denken, das nicht Affekt und Idee trennt, Vernunft und Gefühl, Liebe und Wissen. Diese Einheit werde in der Ekstase erfahren, die – nach Martin Buber - ein Zusammenprall der Ordnung der Dinge mit einer außergewöhnlichen Wirklichkeit ist759. Der von Musil eingeführte Begriff des anderen Zustands meint eine Befindlichkeit, die auf eine andere Ebene führe, diese existieren ließe, auch wenn dieser andere Zustand nur 757 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart 1970, S. 82 - 89 Jean-Louis Poitevin (2006) S. 156 f. Poitevin zitiert hier eine Stelle aus Musils Mann ohne Eigenschaften, die an buddhistisch spirituelle Praktiken denken lässt: Man muss seinen Geist aller Werkzeuge berauben, und daran hindern wie ein Werkzeug zu dienen. Das Wissen ist von ihm abzutun und das Wollen; der Wirklichkeit und des Begehrens, sich ihr zuzuwenden, muss man sich entschlagen. Ansichhalten muss man, bis Kopf, Herz und Glieder lauter Schweigen sind. Erreicht man so aber die höchste Selbstlosigkeit, dann berühren sich schließlich Außen und Innen, als wäre ein Keil ausgesprungen der die Welt geteilt hat...! (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 1234) 759 Jean-Louis Poitevin (2006) S. 159 ff 758 265 vorübergehend sei. Diese andere Ebene sei die als Netz ständig in Bewegung stehender Ströme erlebte Welt, - die Welt einer Folge vorübergehender Zustände und hinfälliger Momente. übereinander gestapelter Schichten, ständiger Wandlung der Positionen und der sich durchkreuzenden Kräfte. Dieser Zustand der Unbestimmtheit sei die Möglichkeit eines Handelns, das das Erreichen der Selbstbestimmung des Gefühls als Welt zeitige760. Im Kontext dieser Argumentation scheinen die in dieser Arbeit untersuchten Begriffe bzw. Begriffspaare wie alt und neu, E und U, etc. hinfällig bzw. – in den Worten Nagarjunas – substanzlos zu sein. Hier drängt es sich auf, ein Gedankenmodell zu entwickeln, das die Musik als Zeitkunst in den Kontext etwa des hier skizzierten Denkens Robert Musils wie des an anderer Stelle erwähnten Modells von Peter D. Ouspensky stellt. Somit wäre die Musik als ständig in Bewegung Befindliches ein Räumliches, das unser Bewusstsein als solches noch nicht wahrnehmen kann, - das Phänomen Musik ein Querschnitt einer Welt, die Novalis als die andere Welt bezeichnet, Ouspensky als die der vierten Dimension, Musil als den anderen Zustand. Dass die bildenden Künstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Musik als Vorbild nahmen, würde die Annahme bestätigen, dass diese ein Schlüssel für das angestrebte Geistige, - ein höheres Bewusstsein sei. Musik machen und Musik hören hieße dann, in einer Welt agieren, die wir noch nicht wirklich betreten, von der wir jedoch über die Musik eine Ahnung bekommen können. Diese Sichtweise würde die Musik bzw. die Kunst – wie das auch schon geschehen ist – auf dieselbe Stufe stellen, auf der die Religion im weitesten Sinn gesehen wird. Diese Tendenzen, wie etwa auch das problematische elitäre Gehabe, mit dem Künstler sich als Erleuchtete präsentierten, soll in dieser Arbeit keiner Wertung unterzogen werden. Auf die offensichtliche Parallelität der als krisenhaft zu bezeichnenden Entwicklung unserer Musik-Hörgewohnheiten und unseres Zugangs zur Musik einerseits zur allgemeinen spirituellen Krise andererseits, die sich heute zeigt, habe ich an anderer Stelle bereits hingewiesen. Die Problematik der Begrifflichkeit in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, in der der Begriff Neue Musik im Prinzip nur mehr auf das Phänomen hinweist, dass die Musik sich der Begrifflichkeit mehr und mehr entzieht, bildet diesen Wertewandel auch sozusagen an der Oberfläche ab. Die hier angeführten Fallbeispiele zeigen, dass künstlerische Initiativen diese Entwicklung einerseits abbilden, andererseits sie aber gleichzeitig mitgestalten bzw. mittragen. Die 760 Jean-Louis Poitevin (2006) S. 176 f 266 Widersprüchlichkeiten heutiger Realität, die sie aufzeigen bzw. die in ihrer Arbeit deutlich werden, sind Dokumente für die Hinfälligkeit überkommener Kategorien im künstlerischen, politischen und sozialen Sinn. Die in dieser Weise skizzierte komplexe und unseren bisherigen Anschauung widersprechende Beschaffenheit der Welt, wie sie in der Kunst des 20. Jahrhunderts bereits vorweggenommen zu sein scheint, wird von den aktuellen Forschungsergebnissen sowohl der Neurowissenschaft als auch der Quantenphysik bestätigt. Dass die in dieser Arbeit Darstellung findenden spirituellen und okkulten Strömungen, die in der Kunst extrem stark reflektiert wurden, heute nicht in dem Maße wirken bzw. sichtbar sind, wie es etwa bis zum 2. Weltkrieg der Fall war, hat mehrere Gründe. Der Missbrauch durch den Nationalsozialismus und andere Bewegungen hat offensichtlich auch zu Misstrauen und Desinteresse an diesem Thema geführt. Der weltweit Verbreitung gefunden habende Mesmerismus ist ein Beispiel dafür, dass die Entdeckung der Elektrizität und des Magnetismus zunächst auch spirituelle und okkulte Dimensionen zeitigte. Dass der sich heute vollziehende Wertewandel auf der Wirkung der Elektrizität beruht, ohne die etwa die Digitalisierung und die weltweit vernetzten Computersysteme nicht möglich wären, ist vielen nicht bewusst bzw. ist heute in erster Linie ein fast selbstverständliches Ergebnis technischen Fortschritts. Das Interesse am Okkulten und das Bedürfnis nach Spiritualität werden sich heute in jedem Fall anders artikulieren als zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Wenn die aktuellen künstlerischen Positionen etwa Körperlichkeit und kybernetisches Denken ins Spiel bringen, so weisen sie damit darauf hin, dass wir die technischen Errungenschaften in anderer Weise sehen und nützen können, – eine andere Seite von ihnen761 , nämlich in einer Weise, die sie uns kontrollieren lassen im Unterschied zum heute krisenhaft–drohenden Umstand, dass sie sich verselbständigen und vielmehr uns kontrollieren. Auf diesen Umstand hat Vilém Flusser eindringlich hingewiesen, wobei dieses Drohende als Böses nur wieder das bezeichnet, für das wir noch keinen Sinn, keine Begriffe entwickelt, das wir noch nicht im Griff haben. Noch wird versucht, mithilfe der neuen Technologien die alten, überkommenen Muster nachzubauen und damit festzuschreiben. Die Benutzeroberflächen von digitalen Computerprogrammen zur Produktion und Bearbeitung von Musik etwa sehen aus wie unsere gewohnten Instrumente (wie etwa Klaviaturen und Mischpulte, - mit Knöpfen, 761 Vgl. dazu die Bemerkungen zu Pythagoras (S. 11), dessen Lehre heute auf die rein mathematische Ebene reduziert wird. Mauricio Kagels Unter Strom (1969) etwa beleuchtet die mystische Seite der Elektrizität. 267 Schiebereglern und Tasten). Es ist nicht leicht – wie Flusser sagt – die eine Welt zu verlassen, solange man nicht weiß, was die andere bzw. die neue sein oder bringen könnte. Der Wertewandel in der Musik ist eingebettet in radikale wie vielgesichtige gesellschaftliche Veränderungen. Wenn die Autonomie der Kunst als Voraussetzung der Moderne mit der Verbürgerlichung der Gesellschaft verknüpft war, so lassen sich aufgrund des derzeit sich vollziehenden Umbaus unserer Gesellschaft (in der das Bürgertum langsam verschwindet) entsprechende Entwicklungen in der Kunst erwarten bzw. heute schon feststellen. In meiner Untersuchung wird deutlich, dass dieser Wertewandel, der durch die Digitalisierung um 1980 sicherlich einen starken Akzent erhalten hat, bereits wesentlich früher eingesetzt bzw. Vorbereitung gefunden hat. Das Problem, vor dem wir heute im Sinne des Kulminationspunktes des Hier und Jetzt stehen, ist, dass wir verschiedenene Entwicklungsströme wahrnehmen, die einander überlagern und die nicht eindeutig sind. Das Jetzt im Sinne der hier beschriebenen Gedanken ist immer Veränderung, - im weitesten Sinn ein immerwährender Wertewandel. Im tiefenzeitlichen Kontext betrachtet, lassen sich aber ganz andere Kanäle und Entwicklungsstränge, unter anderem auch verborgene und vergessene, wahrnehmen. Gemessen an den hier zur Sprache gebrachten neuen Möglichkeiten des Denkens sind diese nicht nur zu vernachlässigende, vergangene Geschichte, sondern ebenso wirkende Wirklichkeit und Gegenwart. In diesem Sinne erscheint anti-music als eine diesen Wandel illustrierende und also wesentliche musikalische Kategorie. Im Zusammenhang und Zusammenwirken mit dem hier mit prehension bezeichneten, Aktivität und Kreativität fordernden Kommunikationsmodell, wird ein radikal neuer, dynamischer Musikbegriff spürbar, der im Prinzip in allen Fallbeispielen in der zentralen Bedeutung des Vermittlungsgedankens Abbildung findet. Der sich vollziehende Wandel unserer Werte geht mit der Veränderung dessen, was wir als Wirklichkeit bezeichnen einher. Die hier angesprochene Krise der Musik entlang der von Vilém Flusser konstatierten Krise des alphabetischen Codes lässt sich ebenso als Chance werten, wenn die Integration der unbeschwerteren Dynamik der jüngeren Generation in die warnende Haltung der älteren gelingt. In diesem Zusammenhang nimmt die jeweils neue Musik eine Schlüsselrolle ein. Unser Zugang zu bzw. Umgang mit ihr reflektiert sowohl gesellschaftliche Realität wie auch gesellschaftliche Utopie. Musik in allen in dieser Arbeit besprochenen Facetten ist der Erweiterungsmodus unseres Bewusstseins, - ein Fenster ins noch Unerforschte. Sie ist die fremde Schönheit, von der Stockhausen glaubt, dass sie die Hoffnung des Menschen nährt. 268 Abb. 7: Bill Drummond, Notice. Plakat zum Projekt The 17/2005762 762 Bill Drummond, 17. London 2008, S.3 269 5 Literatur 5.1 Lexika Austeda, Franz, Wörterbuch der Philosophie. Berlin 1975 Baumgartner, Alfred, Musik des 20. Jahrhunderts. Salzburg 1985 (5. Band der Reihe Der große Musikführer Brunner, Otto (Hsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Band 5. Stuttgart 1984 Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), Personenteil 16. Stuttgart 2006 Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), Personenteil 2. Stuttgart 1999 Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), Personenteil 13. Stuttgart 2005 Fuchs, Werner/Klima, Rolf/Lautmann, Rüdiger/Rammstedt, Otthein/ Wienold, Hans (Hsg.), Lexikon zur Soziologie. Opladen 1978 Grimm, Jacob/ Grimm, Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, Band I. Leipzig 1854 Günther, Bernhard (Hsg.), Lexikon zeitgenössischer Musik aus Österreich. Komponisten und Komponistinnen des 20. Jahrhunderts. Wien 1997 Macdowell, Arthur Anthony, A practical Sanskrit Dictionary. London 1965 Mattheson,, Johann, Kern melodischer Wissenschaft. Hamburg 1737, ND Hildesheim 1976 Meyers enzyklopädisches Lexikon, Band 3. Mannheim 1971 Meyers enzyklopädisches Lexikon, Band 7. Mannheim 1973 Meyers großes Taschenlexikon in 24 Bänden, Band 14. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 1995 Monier Monier-Williams, Sanskrit-English Dictionary, new edition 1899 Reprint Delhi: Munshiram Manoharlal 2002 Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried / Gabriel, Gottfried (Hsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band I/A – C, Basel 1971 Sadie, Stanley (Hsg.), The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd. 12. London 2001 270 5.2 Spezielle Literatur Abado, Claudio/Knessl, Lothar, „...immer weiter, und offen...“ - Claudio Abado im Gespräch mit Lothar Knessl. In: Polzer, Berno Odo (Hsg.), Wien Modern 2008. Saarbrücken 2008, S. 7 - 9 Abhinavagupta, Para-trisika-Vivarana. The Secret of Tantric Mysticism. New Delhi 1988, Ablinger, Peter, Fragmente einer Verteidigung. In: Polzer, Berno Odo (Hsg.), Wien Modern 2008, Saarbrücken 2008, S. 104 - 105 Adorno, Theodor W., Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt am Main 1989 (Erstausgabe 1962) Adorno, Theodor W., Klangfiguren. Frankfurt am Main 1959 Adorno, Theodor W., Einleitung in die Musiksoziologie. Frankfurt am Main 1989 Adorno, Theodor W., Philosophie der neuen Musik, Tübingen 1949, Frankfurt am Main 2003 Adorno, Theodor W., Voraussetzungen. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 11. Frankfurt am Main 1981, S. 431 - 446 Adorno, Theodor W., Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Frankfurt am Main 2001 Adorno, Theodor W., Zum Verhältnis von Malerei und Musik heute. In: Ders., Gesammmelte Schriften, Bd. 18. Frankfurt am Main 1984, S. 140 - 148 Altenmüller, Eckart, Brian’s Brain: Zur Neurophysiologie der hyperkomplexen Musik von Brian Ferneyhough. In: Polzer, Berno Odo (Hsg.), Wien Modern 2008, Saarbrücken 2008, S. 45 - 48 Anderson, Chris, The Long Tail: How Endless Choice Is Creating Unlimited Demand. Random House 2006, zitiert nach David Jennings (2007) Ansermet, Ernest, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewusstsein. München 1965 Arendt, Hannah, Wahrheit und Politik, Berlin 2006 Asiáin, Martin, Sinn als Ausdruck des Lebendigen. Medialität des Subjekts – Richard Hönigswald, Maurice Merleau Ponty und Helmuth Plessner. Bonn 2004 Assman, Jan, Die Mosaische Unterscheidung. München 2003 Auden, Wystan H., Des Färbers Hand und andere Essays, Gütersloh 1962 271 Baier, Gerold, Der Naturforscher als Hörer. In: Polzer, Berno Odo (Hsg.), Wien Modern 2008, Saarbrücken 2008, S. 19 - 24 Baier, Gerold, Rhythmus. Tanz in Körper und Gerhirn. Hamburg 2001 Baier, Karl, Meditation und Moderne. Würzburg 2009 Ballstaedt, Andreas, Wege zur Neuen Musik. Berlin 1995 Barthes, Roland, Der Tod des Autors. In: Jannidis, Fotis/ Lauer, Gerhard/ Martinez, Matias/ Winko, Simone (Hsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 185 - 193 Bauckhage, Tobias, Das Ende vom Lied. Zum Einfluss der Digitalisierung auf die internationale Musikindustrie. Stuttgart 2002 Baumann, Claus, Die Leipziger Schule. Blick in die Sammlung/6. Die Neue und die Alte?. Leipzig 2005 Bäumer, Bettina, Trika: Grundthemen des kaschmirischen Sivaismus. Innsbruck 2003 Beck, Guy L., Sonic Theology. Hinduism and Sacred Sound. New Delhi 1995 Becker, Alexander, Wie erfahren wir Musik. In: Alexander Becker/Matthias Vogel (2007) S. 265 - 313 Becker, Alexander/Vogel, Matthias, Einleitung. In: Ders. (Hsg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Frankfurt am Main 2007, S. 7 - 24 Belting, Hans, Szenen der Moderne. Kunst und ihre offenen Grenzen. Hamburg 2005 Berendt, Joachim-Ernst, Nada Brahma. Die Welt ist Klang. Frankfurt am Main 1986 Blake, William, Die Hochzeit von Himmel und Hölle. In: Thomas Eichhorn (Hsg.), Blake, William, Zwischen Feuer und Feuer. München 2007, S. 212 - 245 Blomberg, Katja, Vorwort. In: Blomberg, Katja (Hsg.), Peter Ablinger/Hören hören/hearing listening. Berlin 2008, S. 16 - 17 Blumröder, Christoph von, Der Begriff „neue Musik“ im 20. Jahrhundert. (Freiburger Schriften zur Musikwissenschaft, Bd. 12). München, Salzburg 1981 Blumröder, Christoph von, Die Grundlegung der Musik Karlheinz Stockhausens. Stuttgart 1993 Blumröder, Christoph von, Neue Musik. In. Hans Heinrich Eggebrecht (Hsg.), Handwörterbuch der musikalischen Terminologie. Stuttgart 1995, S. 300 Bogdanovic, Nenad et al, IMAF 2003, Katalog zum 5. Internationalen Multimedial Art Festival 22. 08. – 30. 09. 2003 Odzaci, Serbien und Montenegro. Odzaci 2003 Bohmann, Thorleif, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen. Göttingen 1968 272 Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1998 Brackett, David, "Where's It At"- Postmodern Theory and the Contemporary Musical Field. In. Lochhead, Judy (2002) S. 207 - 231 Brandner, Birgit, Pressetext zur „fair music-Kampagne“, Pressestelle der Initiative fair music, Wien 2007 Brecht, Bertold, Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. In: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 18. Schriften zur Literatur und Kunst, Bd. 1. Frankfurt am Main 1967, S 127 ff. Buber, Martin, Ich und Du, Stuttgart 2006 Buber, Martin, Ich und Du. Heidelberg 1983, Erstveröffentlichung 1923 Cage, John, Silence. Lectures and Writings. New Hampshire 1961 Cerha, Gertraud, Vierzig Jahre „die reihe“. Wien 1999 Chesterton, G. K., Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen. Frankfurt am Main 2000 Cramer, Jonathan D., The Nature and Origins of Musical Postmodernism. In: Judy Lochhead and Joseph Auner (Hsg.), Postmodern Music/Postmodern Thought. London/New York 2002, S. 13 - 26 Dahlhaus, Carl, Vorwort. In: H. H. Stuckenschmidt, Neue Musik. Frankfurt am Main 1981, S. VII - XXVI Dahlhaus, Carl, Zur Problematik der musikalischen Gattungen im 19. Jahrhundert. Bern 1973 Daniélou, Alain, Einführung in die indische Musik. Taschenbücher zur Musikwissenschaft Bd. 36, Wilhelmshaven 1996 Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie. Stuttgart 1949 Danuser, Hermann, Neue Musik. In: Ludwig Finscher (Hsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil Band 7, Kassel, Stuttgart 1997, Sp. 75 - 122 Davies, Stepen, Musikalisches Verstehen. In: Alexander Becker/Matthias Vogel (Hsg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Frankfurt am Main 2007, S. 25 - 79 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix, Anti-Ödipus. Paris 1972 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix, Rhizom. Berlin 1977 273 Demand, Christian, Revolution oder Reformation? – Über das Ethos des Neuen in der Kunst der Moderne. In: Leander Kaiser/Michael Ley (Hsg.), Die ästhetische Gnosis der Moderne. Wien 2008, S. 31 - 42 Dercon, Chris, Grußwort. In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München 19. September 2008 bis 11. Jänner 2009. München 2008, S. 7 Dessauer, Philipp, Die naturale Meditation. München 1961 Dézsy, Thomas/Utz, Christian (Hsg.), Musik, Labyrinth, Kontext.Musikperformance. Linz 1995 Dézsy, Thomas, Im Staub der Geschwindigkeit. Notate zum Einfluss der Performance-Art auf die Musik-Performance. In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.), Musik, Labyrinth, Kontext.Musikperformance. Linz 1995, S. 23 - 32 Dibelius, Ulrich, Moderne Musik nach 1945 (I). München 1998 (1966) Diels, Hermann, Die Fragmente der Vorsokratiker. Berlin 1974 Drössler, Christoph, Dossier in der Beilage Wien Modern 09/42a Wien Modern 08 zum Falter Nr. 42, Wien 2008, S. 5 - 6 Dubuffet, Jean, L’art brut préféré aux arts culturels. Paris 1949 Dürckheim, Karlfried Graf, Mein Weg zur Mitte. Gespräche mit Alphonse Goettmann. Freiburg, Basel, Wien 1988 Dvorák, Josef, Satanismus. Geschichte und Gegenwart. Frankfurt am Main 1989 Eberlein, Dorothee, Ciurlionis, Skrjabin und der osteuropäische Symbolismus. In: Karin von Maur (Hsg.), Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts. München 1985, S. 340 - 345 Eco, Umberto, Das offene Kunstwerk. Frankfurt am Main 1977 Eggebrecht, Hans Heinrich (Hsg.), Terminologie der Musik im 20. Jahrhundert. Mainz 1995 Erdmann, Johann Eduard, Philosophie der Neuzeit. Der deutsche Idealismus. Geschichte der Philosophie VII. Hamburg 1971 Fabre, Gladys C., Vom Orphismus zum Musikalismus. In: Karin von Maur (Hsg.), Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts. München 1985 Falter Nr. 20/2009, Wien 2009, S. 3 Falter Nr. 21/2008, Wien 2008, S. 67 Fastner, Carsten, Das Projekt Avantgarde ist Geschichte. In: Falter 42a/08, Beilage Wien Modern zum Falter 42/08. Wien 2008, S. 20 - 21 274 Ferneyhough, Brian, Collected Writings. Taylor and Francis 1997 Fiedler, Leslie, Überquert die Grenze, schließt den Graben! In: Wolfgang Welsch (Hsg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte aus der Postmoderne-Diskussion. Weilheim 1988, S. 57 - 74 Fischer, Reinhard/Reimann, Werner (Hsg.), jim morrison, ein amerikanisches gebet. Berlin 1978 Flusser, Vilém, Kommunikologie. Frankfurt am Main 2000 Flusser, Vilém, Medienkultur. Frankfurt am Main 1977 Foucault, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 1977 Fricke, Stefan (Hsg.), World New Music Magazine Nr. 16, Juli 2006. Saarbrücken 2006 Friedmann, Edgar, Die Bibel leben. Lectio divina heute. Münsterschwarzach 1995 Friedrich, Hugo, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Reinbeck/Hamburg 1968 Früchl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hsg.), Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt am Main 2001 Gallese, Vittoria, Mimesis und Neurowissenschaften: Der Körper des Theaters. In: Polzer, Berno Odo (Hsg.), Wien Modern 2008, Saarbrücken 2008, S. 51 - 57 Gauchet, Marcel, La Désenchantement du monde. Paris 1985 Ginsberg, Allen, T. S. Eliot est entré. In: Lemaire, Gérard-Georges (Hsg.), Beat Generation, une anthologie. Romanville 2004, S. 28, zitiert nach: Loisy, Jean de, (2008) S. 13 – 24 Gmelin, Hermann (Hsg.), Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie. Band IV – Kommentar Erster Teil – Die Hölle. München 1988 Goldman, Alan H., The Value of Music. In: Journal of Aesthetics and Art Critscism 50, 1992, S. 38 Gombrich, E. H., Meditationen über ein Steckenpferd, Frankfurt am Main 1978 Gottwald, Clytus, Neue Musik als spekulative Theologie. Religion und Avantgarde im 20. Jahrhundert. Stuttgart 2003 Grassl, Markus/Kapp, Reinhard (Hsg.), Darmstadt-Gespräche. Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Wien. Wien, Köln, Weimar 1996 Gratzer, Wolfgang Komponistenkommentare. Beiträge zu einer Geschichte der Eigeninterpretation. Wien/Köln/Weimar 2003 275 Grunwald, François, Einführung in das Werk P. D. Ouspenskys. In: P. D. Ouspensky, Tertium Organum, der dritte Kanon des Denkens. Ein Schlüssel zu den Rätseln der Welt. Bern/München 1988, S. 303 - 325 Guardini, Romano, Vorschule des Betens. Mainz 1986 (Erstveröffentlichung 1943) Guardini, Romano, Wille und Wahrheit. Geistliche Übungen. Mainz 1958 Guardini, Romano, Tugenden. Meditationen über Gestalten sittlichen Lebens. Mainz 1987 (Erstveröffentlichung 1963) Gumbrecht, Hans Ulrich, Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. Über Musik, Libretto und Inszenierung. In: Früchl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hsg.), Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt am Main 2001, S. 63 - 76 Halbmayr, Alois, Zur Renaissance der negativen Theologie. In: Salzburger Theologische Zeitschrift, Jg. 7, Heft 1. Salzburg 2003, S. 69 Happich, Carl, Anleitung zur Meditation. Darmstadt 1948 Häusler, Josef, Spiegel der Neuen Musik: Donaueschingen. Chronik – Tendenzen – Werkbesprechungen. Kassel 1996 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Ästhetik, Bd. 2. Frankfurt am Main o. J. Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart 1970 Heidegger, Martin, Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den „Humanismus“. Bern 1954 Heidegger, Martin, Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959 Helga de la Motte-Haber, Konzeptionen von Klangkunst. Berlin 2002 Hevesi, Ludwig, Jan Toorop. In: Ders., Acht Jahre Sezession. Klagenfurt 1984, S. 36 Hilmar, Rosmary, Alban Berg, Leben und Wirken bis zu seinen ersten Erfolgen als Komponist. Wien 1978 Hirsch, Andreas/Rantaša, Peter M.., Strom ohne Wiederkehr. Für eine Dialektik kultureller Modernisierung. In: Hybrid. Living in paradox. Katalog zur Ars Electronica 2005, Linz 2005, S. 136 - 140 Hirst, Damien/Galguera, Hilario, Damien Hirst. The Death of God. Towards a better Understanding of Life Without God Aboard the Ship of Fools. Ausstellungskatalog, London 2006 Hofmann-Engl, Ludger, The Role of the Composer in a Contemporary Society. Vortrag in Rosario/Argentinien am 23. 10. 2006, Salon de Actos de la Escuela de Musica de la UNR. London 2006 Hofmann-Engl, Ludger, The Tristan Chord in Context. London 2008 276 Horvath, Christian/Schneider, Gunther (Hsg.), Verwegene Wege. Neue Musik für Gitarre aus Österreich. Wien 1999 Huber, Annegret, Visionen – Symmetrien. Schlüsselstrategien zu paritätisch verteilten Kulturräumen. In: Marion Diederichs-Lafite (Hsg.), Österreichische Musikzeitschrift Heft 11-12/2008, Wien 2008, S. 15 - 17 Huber, Michael Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er zerbricht Jakobik, Albert, Arnold Schönberg. Die verräumlichte Zeit. Regensburg 1983 Jameson, Frederic, Foreword. In: J.-F. Lyotard, The Postmodern Condition. A Report on Knowledge. Manchester 1984, S. VII - XXI Jankélévitch, Vladimir, Debussy et le mystère de l’instant. Pars 1989 Japasutram, The Science of Creative Sound/Swami Pratyagatmananda Saraswati. Reprint. Chennai, Vak Parampara, 2007 Jennings, David, Net, Blogs and Rock’n’ Roll. London/Boston 2007 Jennings, David, Reaching an audience in the age of blogs and social networks. Vortrag im Rahmen des Symposiums The fan, the music and the net am 12. November 2007 in Wien Jencks, Charles, What is Postmodernism. London 1986 Jost, Ekkehard (Hsg.), Musik zwischen E und U. Mainz 1984 Kaiser, Leander/Ley, Michael (Hsg.), Die ästhetische Gnosis der Moderne. Wien 2008 Kaiser, Leander, Eine ästhetische Religion? Schönberg und der moderne Irrationalismus. in: Arnold Schönberg und sein Gott. Arnold Schönberg-Center, Wien 2003 Kaiser, Leander, Kandinsky, die Musik und Madame Blavatsky. In: Zwischenwelt, Jg. 19, Nr. 1, Wien 2002, S. 13 Kaiser, Leander, Moses und Perseus – Bildverbot und Bildlist als Voraussetzung der europäischen Malerei. In: Kaiser, Leander/Ley, Michael (Hsg.), Die ästhetische Gnosis der Moderne. Wien 2008, S. 43 - 62 Kamper, Dietmar, Vom Hörensagen. Kleines Plädoyer für eine Sozio-Akustik. In: Ders./Christoph Wulf (Hsg.), Das Schwinden der Sinne. Frankfurt am Main 1984, S. 112 - 114 Kandinsky, Wassily, Essays über Kunst und Künstler. Bern 1973 Kandinsky, Wassily, Punkt und Linie zu Fläche. München 1926 Kandinsky, Wassily, Über das Geistige in der Kunst. Bern 1965 Kershaw, Baz, The Radical in Performance. Between Brecht and Baudrillard. London/New York 1999 277 Kircher, Athanasius, Magnes sive de arte magnetica. 1641 Klages, Ludwig, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck. München 1968 Klein, Gabriele/Sting, Wolfgang (Hsg.), Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst. Bielefeld 2005 Klein, Gabriele/Sting, Wolfgang, Performance als soziale und ästhetische Praxis. In: Klein, Gabriele/Sting, Wolfgang (Hsg.), Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst. Bielefeld 2005, S. 7 - 24 Klein, Walter, Das theosophische Element in Schönbergs Weltanschauung. In: Arnold Schönberg zum fünfzigsten Geburtstag. Sonderheft der Musikblätter des Anbruch, 6. Jg., August-September-Heft. Wien 1924, S. 273 - 274 Kleinhenz, Christopher, American Dante Bibliography for 1990. In: Dante Studies vol.109, Waltham/MA 1991 Klement, Katharina, Zeitgenössische Musik als Neo-Oralität des 21. Jahrhunderts. Vortrag im Rahmen der Konferenz Publikumswandel: Herausforderungen für die Kunstmusik in der ganzen Welt am 10. November 2008 im Wotruba-Saal des Wiener Konzerthauses, auch: http://www.mica.at/mica_aktuell/detail_18772.html (21. 03. 2009) Koelsch, Stefan /Fritz, Tom, Musik verstehen – Eine neurowissenschaftliche Perspektive. In: Becker, Alexander/Vogel, Matthias (Hsg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Frankfurt am Main 2007, S. 237 - 264 Kohl, Christian Thomas, Buddhismus und Quantenphysik. Die Wirklichkeitsbegriffe Nagarjunas und der Quantenphysik. Airtrang 2005 Kramer, Mario, Klang & Skulptur. Der musikalische Aspekt im Werk von Joseph Beuys. Darmstadt 1995 Krishnamurti, Jiddu, Der unhörbare Ton. Briefe über die Achtsamkeit. München 1993 Kury, Astrid, Heiligenscheine eines elektrischen Jahrhundertendes sehen anders aus... Okkultismus und die Kunst der Wiener Moderne. Wien 2000. Band 9 der Studien zur Moderne, Spezialforschungsbereich Moderne, Universität Graz. Hrsg. Karl Acham, Moritz Csáky, Rudolf Flotzinger, Dietmar Goltschnigg, Rudolf Haller, Helmut Konrad, Götz Pochat Lachmayer, Herbert, Genie in Verwandlung. In: Herbert Lachmayer (Hsg.) Mozart Experiment Aufklärung. Wien, Ostfildern 2006, S. 15 - 22 278 Lampe, Angela, Auf den Spuren des Geistigen. In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München 19. September 2008 bis 11. Jänner 2009. München 2008 Lasalle, H. M. Enomiya, Zen-Mediation für Christen. Weilheim 1968 Levin, Gail, Die Musik in der frühen amerikanischen Abstraktion. In: Karin von Maur (Hsg.), Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts. München 1985, S. 368 - 373 Ley, Michael/ Kaiser, Leander (Hsg.), Von der Romantik zur ästhetischen Religion. München 2004 Lochhead, Judy, Introduction. In: Lochhead, Judy /Auner, Joseph (Hsg.), Postmodern Music/Postmodern Thought. London/New York 2002. S. 1 - 11 Lohninger, Alfred, Befindlichkeitsdiagnostik und Resonanzphänomene in der Interaktion zwischen Musikern und Publikum. Vortrag, gehalten am 04. 11. 2008 im Rahmen des Symposium Neue Musik im Spannungsfeld von Introspektion, Meditation und Motorik (Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien in Zusammenarbeit mit Wien Modern). Loisy, Jean de, Im Angesicht dessen, was sich entzieht. In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München, München/Berlin/London/New York 2008, S. 13 - 24 Lubac, Henri de, Der Ursprung der Religionen, Graz 1956 Lyotard, Jean-François, Das postmoderne Wissen. Wien 1986 Lyotard, Jean-François, Postmoderne für Kinder. Wien 1987 Malabou, Cathérine, Was tun mit unserem Gehirn? Zürich-Bern 2006 Malraux, André, Les voix du silence. In: ders. Œuvres complète. Paris 1989 – 2004, Bd. IV Marcel, Gabriel, Geheimnis des Seins. Wien 1952 Maturana, Humberto R./Varela, Francisco J., Der Baum der Erkenntnis. Bern, München 1987 McLaren, Malcolm/Matt, Gerald, Malcom McLaren im Gespräch mit Gerald Matt. In: Gerald Matt/Thomas Mießgang (Hsg.), Punk. No one is innocent. Kunst – Stil – Revolte. Nürnberg 2008, 196 - 201 McLuhan, Herbert Marshall, Die magischen Kanäle. Düsseldorf/Wien/ New York/Moskau 1992 McLuhan, Marshall/Powers, Bruce R., The Global Village. Transformations in World Life and Mediain the 21st Century. New York 1989 279 Meister Seami, Die geheime Überlieferung de Nõ. Aus dem Japanischen von Oscar Benl, Frankfurt am Main 1986 Mello, Chico, Zwischen Abbild und Selbstreferentialität: Mimesis und Rauschen bei Peter Ablinger. In: Blomberg, a. a. O. S. 99 - 101 Metzger, Heinz-Klaus/Riehn, Rainer (Hsg.), Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen. In: Metzger, Heinz-Klaus / Riehn, Rainer (Hsg.), MusikKonzepte, Heft 36, München 1984, S. 4 Mießgang, Thomas, No one is innocent. Chaos und Erleuchtung, Gewalt und Leidenschaft, Mode und Verzweifllung – was vom Punk übrigblieb und was im schwarzen Loch verschwunden ist. In: Gerald Matt/Thomas Mießgang (Hsg.), Punk. No one is innocent. Kunst – Stil – Revolte. Nürnberg 2008, 10 - 29 Miller, Nancy K., Wechseln wir das Thema/Subjekt. Die Autorschaft, der Schreiber und der Leser. In: Fotis Jannidis et al (Hsg.) (2000), S. 251 - 278 Moldenhauer, Hans und Rosaleen, Anton Webern. Chronik seines Lebens und Werkes. Zürich 1980 Musil, Robert, Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg 1987 Newman, Barnett, The Plasmic Image. In: Bonn/Sally, L’Expérience éclairante sur Barnett Newman. Brüssel 2005, S 78 Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Bd. 6, München 1986 Nijenhuis, Emmie te, Sangitasiromani - A Medivial Handbook of Indian Music. Brill 1992 Nipperdey, Thomas, Wie das Bürgertum die Moderne fand. Stuttgart 1998 Novalis (Friedrich von Hardenberg), Die Christenheit oder Europa. In: Carl Paschek (Hsg.), Novalis (Friedrich von Hardenberg), Fragmente und Studien. Die Christenheit oder Europa. Stuttgart 2006, S. 67 - 92 Novalis (Friedrich von Hardenberg), Fragmente und Studien. In: Carl Paschek (Hsg.), Novalis (Friedrich von Hardenberg), Fragmente und Studien. Die Christenheit oder Europa. Stuttgart 2006, S. 5 - 66 Novalis (Friedrich von Hardenberg), Fragmente I. 1957 Oesch, Hans, Außereuropäische Musik, Band 2. In: Dahlhaus, Carl (Hsg.) Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Band 9. Regensburg 1987, S. 82 Ouspensky, Peter D., Ein neues Modell des Universums. Die Prinzipien der Psychologischen Methode in ihrer Anwendung auf Probleme der Wissenschaft, Religion und Kunst. Basel 1986 280 Ouspensky, Peter D., Psychologie der möglichen Evolution des Menschen. Saarbrücken 20086 Ouspensky, Peter D., Tertium Organum, der dritte Kanon des Denkens. Ein Schlüssel zu den Rätseln der Welt. Bern/München 1988 Paddison, Max, Die vermittelte Unmittelbarkeit der Musik: Zum Vernittlungsbegriff in der Adornoschen Musikästhetik. In: Alexander Becker/Matthias Vogel (Hsg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Frankfurt am Main 2007, S. 175 - 236 Paschek, Carl, Nachwort. In: ders. (Hsg.), Novalis (Friedrich von Hardenberg), Fragmente und Studien. Die Christenheit oder Europa. Stuttgart 1996, S. 150 Paul, David, Karlheinz Stockhausen. Seconds#44 1997. Zitiert nach Berno Odo Polzer, Wien Modern 2008. Saarbrücken 2008, S. 65 - 67 Penrose, Roger, Das Große, das Kleine und der menschliche Geist. Heidelberg/Berlin 2002 Pettazzoni, Raffaele, Der allwissende Gott, Frankfurt 1957 Plessner, Helmuth, Anthropologie der Sinne. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3. Frankfurt am Main 1980, S. 317 - 393 Poitevin, Jean-Louis, Die Gerüche der Küche. Ein Essay über Robert Musil. (Aus dem Französischen von Jule Winter). Innsbruck 2006 Polzer, Berno Odo (Hsg.), Wien Modern 2008. Saarbrücken 2008 Polzer, Berno Odo, Vorwort. In: Polzer, Berno Odo (Hsg.), Wien Modern 2008, Saarbrücken 2008, S. 5 Polzer, Berno Odo/Fastner, Carsten, Das Projekt Avantgarde ist Geschichte. In: Falter 42a/08, Beilage Wien Modern zum Falter 42/08. Wien 2008, S. 20 - 21 Popper, Karl, Die Logik der Forschung. Tübingen2005 Raffaseder, Hannes, Zur Datenskulptur im Klangturm 08 – ein Projekt von Markus Wintersberger und Irene Suchy, gemeinsam mit Studierenden der FH St. Pölten. In: Irene Suchy, Otto M. Zykan. Band I, Materialien zu Leben und Werk. Wien 2008, S. 6 - 7 Rantaša, Peter M. , Fair Music. In: Katalog zur Ars Electronica 2007, Linz 2007, S. 172 - 174 Rantaša, Peter/Scheib, Christian, Nur keine Angst vor der Unübersichtlichkeit. In: Marion Diederichs-Lafite (Hsg), Österreichische Musikzeitschrift. Jg55/7. Wien 2000, S. 18 - 27 281 Revers, Wilhelm J., Der Einfluss der Musik auf die psychische Entwicklung. In: Wolfgang Roscher (Hsg.), Polyaisthesis Jg.1 Heft 1, Salzburg 1986 Ritter, Johann Wilhelm, Versuche und Beobachtungen über den Galvanismus. In: Magazin für den neuesten Zustand der Naturkunde... Bd. VI, Sept. 1803 Rögl, Heinz, Komponistenforum Mittersill. In: Nauck, Gisela (Hsg.), Positionen. Texte zur aktuellen Musik. Nr. 77/November 2008. Mühlenbeck/Berlin 2008, S. 62 - 63 Roglieri, Maria Ann, Dante and Music. Musical Adaptions of the Commedia from the Sixteenth Century to the Present. Hampshire 2001 Roglieri, Maria Ann, Twentieth-century musical interpretations of the „anti-music“ of Dante’s Inferno. Italica 2002 Rosset, Clément, Das Reale in seiner Einzigartigkeit. Berlin 2000 Roth, Gerhard, Das Gehrin und seine Wirklichkeit. Frankfurt am Main 1995 Sanguineti, Edoardo, Infernal Acoustics: Sacred Song and Earthly Song, Lectura Dantis 6. Charlottesville/VA 1990. Sanyal, Ritwik, Philosophy of Music. Mumbay, New Delhi 1987 Sanyal, Ritwik/Widdess, Richard, Dhrupad. Tradition and Performance in Indian Music. London 2004 Schafer, R. Murray, Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens. Frankfurt am Main1988 Scheib, Christian, Ohne Titel. In: Blomberg S. 105 - 108 Schiele, Egon, Brief an Dr. Hermann Engel. Wien 1911. Schwarz-braune Tusche auf Papier, 22,5 x 14,4 cm, Leopold Museum, Wien – Inv. Nr. 4497 Schmitz-Stevens, Gregor, Die Geburt der Aktion aus dem Geist der Kunstunterhaltung. In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.), Musik, Labyrinth, Kontext. Musikperformance. Linz 1995, S. 45 - 52 Schnebel, Dieter, Denkbare Musik. Köln 1972 Schönberg, Arnold, Neue und veraltete Musik, oder Stil und Gedanke. 3. Fassung eines Vortrags. In: Ivan Voitěch (Hsg.), Arnold Schönberg, Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik. Nördlingen 1976, S. 466 - 477 Schönberg, Arnold, The Relationship to the Text. In: Ders., Style and Idea. Selected writings. London 1984 Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung. In. Sämtliche Werke, Bd. 2. Wiesbaden 1961 Schumann, Robert, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker. Leipzig 1883 282 Scruton, Roger, The Aesthetics of Music. Oxford 1997 Sedlmayr, Hans, Die Revolution der modernen Kunst. Hamburg 1955 Seierl, Flora Miranda, Regressiv oder progressiv – realistische Malerei der Gegenwart. Versuch einer Positionierung des gegenstandsbezogenen Darstellens im 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund vergangener kunsthistorischer Entwicklungen. Salzburg 2009 Seierl, Wolfgang, Die Abschaffung der Zeit. Aspekte des Zeitproblems in der Musik. Salzburg 1987 Seierl, Wolfgang, Verstehen und verstanden werden - Musikvermittlung bei Webern und durch das Komponistenforum Mittersill. In: Dominik Schweiger/Nikolaus Urbanek (Hsg.), Webern_21. (Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte, Band 8) Wien 2009, S. 13 - 18 Shringy, R. K., Sharma, Prem Lata, Sangitaratnakara of SÁrÉgadeva, Vol I and II. Poona, Anandashram 1897 Sierek, Martin Die Geschichte des Ensembles „die reihe“, Wien 1995. Simon, Artur, Kategorien des Musiklebens in traditionellen Kulturen Afrikas, Asiens und Ozeaniens. In: Ekkehard Jost, Musik zwischen E und U. Mainz 1984, S. 32 - 53 Singh, Jaideva, Abhinavagupta. Para-trisika-Vivarana. New Delhi 2005 Sloterdijk, Peter, Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung. Ästhetischer Versuch. Frankfurt am Main 1987 Smola, Franz, Vom „Menschenbewusstsein“ zum neuen Menschenbild – Egon Schiele und der Anthropogeograph Erwin Hanslik. In: Leander Kayser/Michael Ley (Hsg.) (2008) S. 123 - 146 Spengler, Oswald, Der Untergang des Abendlandes. München 1999 Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München 19. September 2008 bis 11. Jänner 2009. München 2008 Stachel, Günter, Aufruf zur Meditation. Graz, Wien, Köln 1972 Steiner, Rudolf, Vor dem Tore der Theosophie. Dornach 1991 Stephan, Rudolf, Neue Musik. Versuch einer kritischen Einführung. Göttingen 1958 Stockhausen, Karlheinz, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Band 1. Köln 1963 Sturm, Martin, Vorwort. In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.), Musik, Labyrinth, Kontext. Musikperformance. Linz 1995, S. 7 Suzuki, Daisetz T., Die große Befreiung. Einführung in den Zen-Buddhismus. Bern 1976 283 Takaoka, Kazuya/Takahashi, Mutsuo/Morita, Toshiro, Noh. Tokyo 2004 Tinctoris, Johannes, Proportionale musices. (1472/73) In: Edmond de Coussemaker (Hsg.) Scriptorum de musica medii aevi nova series a Gerbertina altera. Hildesheim 1963 Toop, David, Ocean of Sound. Klang, Geräusch, Stille. St. Andrä-Wördern 1997 Toulmin, Stephen, Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne. Frankfurt am Main 1991 Trimondi, Victor und Victoria, Hitler, Buddha, Krishna. Eine unheilige Allianz vom Dritten Reich bis heute. Wien 2002 Utz, Christian, Zeittafel. Einige Daten zur Musikperformance im 20. Jahrhundert. In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.), Musik, Labyrinth, Kontext. Musikperformance. Linz 1995, S. 9 - 22 Utz, Christian, Musikperformance als Akt realer Gegenwart. Verstreute Anmerkungen zur Phänomenologie und Geschichte. In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.), Musik, Labyrinth, Kontext. Musikperformance. Linz 1995, S. 33 - 44 Van den Boom, Holger, Digitaler Schein – oder: Der Wirklichkeitsverlust ist kein wirklicher Verlust. In: Rötzer, Florian (Hsg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main 1991 Vent, Helmi, Spiel-Arten und Ereignisparameter im Experimentellen Musiktheater am Beispiel einer TanzMusikTheaterWerkstatt. In: Klein, Gabriele/Sting, Wolfgang (Hsg.) (2005) S. 147 - 164 Vogel, Harold L., Entertainment Industry Economics. A guide for financial analysis. Cambridge 1994 Vogel, Matthias, Nachvollzug und die Erfahrung musikalischen Sinns. In Becker/Vogel (2007) S. 314 - 368 Vogt, Hans, Neue Musik seit 1945. Stuttgart 1972 Welsch, Wolfgang, Art Transcending the Human Pale – Towards a Transhuman Stance. In: International Yearbook of Aesthetics 5, 2001, S. 3 - 23 Welsch, Wolfgang, Ästhetik und Anästhetik. In: Ders., Ästhetisches Denken, Stuttgart 2003, S. 9 - 40 Welsch, Wolfgang, Ästhetisches Denken. Stuttgart 2003 Welsch, Wolfgang, Der Klang der Dinge: Akustik – eine Aufgabe des Design. (Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens?) In: Welsch, Wolfgang, Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart 1996, S. 231 - 259 Welsch, Wolfgang, Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart 1996 284 Wieser, Alfred, Philosophie. Einführung und Orientierung. Wien 1972 Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen (1953), Nr. 115, zitiert nach zitiert nach: Wolfgang Welsch, Ästhetik und Anästhetik. In. Ders., Ästhetisches Denken. Stuttgart 2003, S. 35 Wittgenstein, Ludwig, Philososphische Untersuchungen. In: Ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt am Main 1984 Wood, Christopher, music matters. In: week ending, 03. 05. 2002 Wörner, Karl H., Geschichte der Musik, Göttingen 1972 Zeilinger, Anton, Einsteins Schleier. Die neue Welt der Quantenphysik. München 2005 Zielinsky, Siegfried, Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens. Reinbek bei Hamburg 2002 Zimmermann, Otto, Lehrbuch der Aszetik. Freiburg im Breisgau 1929 Zimmermann, Walter, Morton Feldman – der Ikonoklast. In: Walter Zimmermann (Hsg.), Morton Feldman, Essays. Kerpen 1985, S. 10 - 23 Žižek, Slavoj, Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion. Frankfurt am Main 2003 Zuber, Barbara, Gesetz und Gestalt, München 1995 Zuberbühler, Rolf, Excelsior!, in: Amrein, Ursula/Dieterle, Regina (Hsg.), Gottfried Keller und Theodor Fontane. Vom Realismus zur Moderne. Berlin, New York 2008, S. 87 - 112 5.3. Literatur im Internet De la Motte-Haber, Helga, Konzeptionen von Klangkunst. Berlin 2002. Aus: http//www.floraberlin.de/soundbag/sbimages/motte.htm (11. 04. 2009) Deisl, Heinrich, Bill Drummond, der Pate für die wildesten Träume. In: Skug Journal für Musik. Wien, August 2004, aus: http://www.skug.at/index.php?Art_ID=2750 (18. 01. 2009) Dietrich, Wolfgang, Prüfungsunterlagen zur Vorlesung Deutungen und Bedeutungen des Begriffs Frieden in der Internationalen Politik. Wien 2006, aus: http://homepage.uibk.ac.at/~c40268/ (30. 03. 2006) Emmert, Richard, aus: http://www.bte.org/index.php?page=noh-musicEnzensberger Hans Magnus, Baukasten zu einer Theorie der Medien. Kritische Diskurse zur Pressefreiheit, München 1997 285 Hossbach, Martin, Ich höre Stimmen in meinem Kopf. Aus: http://www.spex.de/512/artikel.html (01. 02. 2008) How No Music Day struck a chord, in: http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/scotland/7104144.stm (28. 05. 2009) http://90.146.8.18/de/archiv_files/20051/FE_2005_Rantasa_%20Hirsch_de.pdf (06. 05. 2009) http://ablinger.mur.at/i+r8_tb+r.html (31. 05. 2009) http://fairmusic.net/?paged=2&s=fairness (03. 04. 2009) http://o94.at/file-storage/view/radiomacherinnen/radio-territories%5C/drummond.pdf (30. 01.2009) http://90.146.8.18/de/archiv_files/20051/FE_2005_Rantasa_%20Hirsch_de.pdf (06. 05. 2009) http://www.anti-music.com/ (29. 02. 2008) http://www.audio.art.pl/ (11. 04. 2009) http://www.bookmice.net/darkchilde/japan/jnoh.html (01. 06. 2008) http://www.bte.org/index.php?page=drum-calls : [From the author’s Noh Preview column in the Mainichi Daily News, April 22, 1986.] (29. 05. 2009) http://www.chameleongroup.org.uk/research/composer.pdf (17. 05. 2009) http://www.chameleongroup.org.uk/research/The_Tristan_Chord_in_Context.pdf (17. 05. 2009) http://www.dialogues-festival.org/ (11. 04. 2009) http://www.dilloo.de/wie.htm (01. 06. 2009) http://www.ein-klang-sein.at/le_klang.htm (28. 05. 2009) http://www.falter.at/web/shop/detail.php?id=26650&SESSID=366d70837879d761aebf640 c0868fdc1 (28. 05. 2009) http://www.guardian.co.uk/music/2006/oct/15/9 (30. 05. 2009) http://www.herenow4u.de/Pages/eng/Sections/Mind_Beyond_Mind/MindBeyondMind04 MaketheMi.htm: Acharya Mahaprajna/HereNow4U (07. 05. 2007) http://www.iscm.org/about.php (10. 08. 2008) http://www.iscm.org/WMD2006reportorlando.php (10. 08. 2008) http://www.klanglandschaft.org//content/view/12/38/lang,de/ (21. 06.2009) http://www.klangschale.at/klangmassage.php (28. 05. 2009) http://www.leanderkaiser.com/texte/downloads/t_01.pdf S. 2 f (10. 04. 2009) 286 http://www.mailworx.at/sys/landingpage.asp?ID=1895&IDCampaign=12329&IDSubscrib er=1862558&v=pop: Tatort Internet – Wie wir mit illegalen Downloads umgehen. Eine Veranstaltung der Fachgruppe Unternehmensberatung und Informationstechnologie der Wirtschaftskammer Salzburg in Zusammenarbeit mit der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen, Salzburg. (26. 02. 2009) http://www.mica.at/mica_aktuell/detail_18772.html (21. 03. 2009): Die Kunstmusik und ihr Publikum in Österreich. Vortrag im Rahmen der Konferenz Publikumswandel: Herausforderungen für die Kunstmusik in der ganzen Welt am 10. November 2008 im Wiener Konzerthaus http://www.musicaustria.at (22. 03. 2009) http://www.musikkinesiologie.at/content/view/30/52/lang,de/ (28. 05. 2009) http://www.musikkinesiologie-berlin.com/kinesiologie_1.html (28. 05. 2009) http://www.musikmagieundmedizin.com/standard_seiten/muzak.html (28. 05. 2009) http://www.pipedown.de (10. 02. 2009) http://www.pipedown.info (08.02.2009) http://www.pipedown.info/uploaded/dir/1.pdf, (10. 02. 2009) http://www.soundframe.at/ (11. 04. 2009) http://www.standards.dfes.gov.uk/eyfs/site/profile/index.htm (16. 03. 2009) http://www.theaterkanal.de/theater/oesterreich/wien/kosmostheater/phonofemme— intenationales-klangkunstfestival-in-wien (11. 04. 2009) http://www.theaterkanal.de/theater/oesterreich/wien/kosmostheater/phonofemme— intenationales-klangkunstfestival-in-wien (31. 05. 2009) http://www.tomatis-institut.at/app.html (29. 05. 2009) http://www.uni-marburg.de/musik-inhessen/themen/darmstadt/ferienkursevergangenheitgegenwart (11. 08. 2008) http://www.uni-marburg.de/musik-in-hessen/themen/darmstadt/steinecke (11. 08. 2008) http://www.vamh.de/index.php?what=verband (04. 06. 2009) http://www.whoswho.de/templ/te_bio.php?PID=687&RID=1, (24. 05. 08) http://zeitvertrieb.mur.at (02. 01. 2009) Kern, Claudius, Macht und Ohnmacht der Philosophie. Zur Ideologiegeschichte des Abendlandes - Teil 2. Aus: http://cropfm.mur.at/philomacht2.htm (26. 12. 2006) Laczika, Klaus-Felix / Lohninger, Alfred, Musikmedizinische Forschung an der Medizinischen Universität Wien. Aus: http://www.meduniwien.ac.at/innere-med1/_images/philharmonikerprojekt.pdf (16. 03. 2009) 287 Ruch, Christian, Ein „Sphärentraum in ewgen Galaxien“ – zur Vollendung von Karlheinz Stockhausens Opernzyklus LICHT. Zürich 2002, aus: http://www.kath.ch/infosekten/text_detail.php?nemeid=33763 (31. 05. 2009) Steiner; Rudolf, Über einige Wirkungen der Einweihung. In: Ders., Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? Berlin 1909, http://www.dilloo.de/wie.htm (01. 06. 2009) Time Out London, Bill Drummond on his new book ‚17’, in: http://www.timeout.com/london/music/features/5318/Bill_Drummond_on_his_new _book-17-.html (28. 05. 2009) Vongehlen, Dirk, Wer ist eigentlich Bill Drummond. Aus: http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/3657470 (18.02.2007) Wagner, Arfst, Nationalokkultismus, Teil II. Aus: http://www.lohengrinverlag.de/artikel/nationalokkultismus%202.htm (04. 06. 2009) White, Michael, Who’ll Stop the Ring Tones? Aus: http://www.nytimes.com/2007/11/18/arts/18whit.html?ex=1353128400&en=6a993 bf5bd605935&ei=5124&partner=digg&exprod=digg (18.11.2007) Zone-Magazine, Sommer 2006/ aus: http://www.pipedown.info/uploaded/dir/1.pdf (10. 02. 2009) 5.3 Abbildungen Abb. 1 (S. 54) Ritwik Sanyal, Die sieben Sphären des Klanges. Aus: Ritwik Sanyal ( 1987) S. 176 Abb. 2 (S. 58) Robert Fludd, Das Weltmonochord. Aus: Siegfried Zielinski (2003) S. 131 Abb. 3 (S. 58) Robert Fludd, Dreiecksmodell. Aus: http://z.about.com/d/altreligion/1/0/T//-/-/2triangles.jpg Abb 4 (S. 170) Plakat mit Ankündigung der 4 Propaganda-Abende des Vereins für musikalische Privataufführungen 1919. Aus: Hans und Rosaleen Moldenhauer (1980) S. 207 Abb. 5 (S. 199) Bill Drummond, Plakat zum No Music Day. Aus: http://www.nomusicday.com/2005/index.php (17. 06. 2009) Abb. 6 (S. 227) Darstellung der traditionellen Wertschöpfungskette der Musik. Zur Verfügung gestellt von mica – music austria, music information center austria Abb. 7 (S. 268) Bill Drummond, Notice.Aus: Bill Drummond, 17. London 2008, S. 3 288 Ehrenwörtliche Erklärung “Ich erkläre ehrenwörtlich, die vorliegende Dissertation „Antimusic“ Versuch einer Darstellung des Wertewandels in der Musik nach 1980 Theorien, Konzepte, Fallbeispiele ohne unerwähnte Hilfe und nur unter Verwendung der im Literaturverzeichnis angegebenen Schriften (Druckwerke, Internet etc.) verfasst zu haben. Wörtliche und sinngemäße Zitate sowie aus Publikationen anderer übernommene Informationen und Abbildungen sind durch vollständige bibliographische Angaben ausgewiesen. Der Text / Textteile wurde / wurden bislang nicht zur Erlangung eines Studienabschlusses vorgelegt.“ Salzburg, am 29. Juni 2009 .......................................................... Wolfgang Seierl, Mag. art.