Universität Mozarteum Salzburg
Wissenschaftliches Doktoratsstudium
zur Erlangung des akademischen Grades Doctor of Philosophy (PhD)
Fach Musikwissenschaft
Dissertation
gemäß Curriculum 2007, § 6 (6)
„Antimusic“
Versuch einer Darstellung des Wertewandels in der Musik nach 1980
Theorien, Konzepte, Fallbeispiele
Wolfgang Seierl, Mag. art.
Matr. Nr.: 7300786
wolfgang@seierl.com/0664 5969091/5026 Salzburg, Resatzstraße 6/5
Abgabedatum: 29. Juni 2009
2
Inhalt
Vorwort
7
Einleitung
9
1
Begriffe und Positionen
20
1.1
Methode
20
1.2
Begriffe
21
1.2.1
Neue Musik und Moderne
22
1.2.2
Das Begriffspaar alt und neu
27
1.2.3
Neue Musik
29
1.2.4
Moderne Musik
31
1.2.5
Avantgarde
33
1.2.6
experimentelle Musik
34
1.2.7
aktuelle Musik
35
1.2.8
Musik der Gegenwart
35
1.2.9
Zeitgenössische Musik
35
1.3
1.4
1.2.10 Musik der Postmoderne
36
1.2.11 Klangkunst und Musikperformance
41
1.2.12 E-Musik und U-Musik
43
1.2.13 Zusammenfassung
47
Music – Antimusic
49
1.3.1
Ritwik Sanyal
49
1.3.2
Athanasius Kircher und Robert Fludd
56
1.3.3
Dante Alighieri
58
1.3.4
Noh – Theater
60
1.3.5
Fréderic Chopin
63
1.3.6
Anästhetik
64
1.3.7
Satanismus
67
1.3.8
Zusammenfassung
70
Der Begriff prehension
71
1.4.1
Sammlung
71
1.4.2
Der Begriff der Sammlung in der christlichen Gebetspraxis
71
1.4.3
Die Schule der Sammlung
72
3
1.4.3.1
Gabriel Marcel
72
1.4.3.2
Romano Guardini
73
1.4.3.3
Philipp Dessauer
75
1.4.3.4
Günter Stachel
76
1.4.4 Der Begriff avÁdhana
2
76
1.4.4.1 avÁdhana in Abgrenzung zu dharana und dhyana
77
1.4.4.2 Der Begriff avÁdhana (prehension) bei Ritwik Sanyal
78
1.4.5
Verstehen und Nachvollzug
80
1.4.6
Codes
83
1.4.7
Musikalischer Sinn und Musikverstehen
87
1.4.8
Der Werkbegriff
90
1.4.9
Zusammenfassung
92
Energieströme
94
2.1
Okkulte Strömungen in Europa
94
2.1.1
Mesmerismus und Theosophie
96
2.1.2
Joachim-Ernst Berendt
103
2.1.3
Peter D. Ouspensky
107
2.1.4
Zusammenfassung
109
2.2
spirituelle Tendenzen in der europäischen Kunst bzw. Musik
110
2.2.1
Einspruch
114
2.2.1.1 Spiritualität als Einspruch
118
2.2.1.2 Revolutionäer und evolutive Systeme
119
2.2.1.3 Sinnkultur und Präsenzkultur
121
2.2.1.4 Spirituelle Tendenzen in der Musik
123
2.2.1.5 Aspekte des Einspruchs in der Musik
124
2.2.1.6 Musik als Phänomen – Gegenargumente
126
Musik und Theologie
127
2.2.2.1 Karlheinz Stockhausen
128
2.2.2.2 Musik als Religion
131
2.2.2.3 Jugendbewegungen
134
2.2.2
2.2.3 Zusammenfassung
135
4
2.3
3
Verwandte wissenschaftliche Bereiche
136
2.3.1 Medizin und Gehirnforschung
136
2.3.1.1 Musik und Sprache
137
2.3.1.2 Musik, Gehirn, Plastizität
139
2.3.1.3 Hören, Rhythmus
141
2.3.1.4 Neuroplastizität
144
2.3.1.5 Chronomedizin
147
2.3.1.6 Musik-Kinesiologie und Klangtherapie
148
2.3.2 Kommunikologie
150
2.3.3
Wirklichkeitsbegriffe: Quantenphysik und Buddhismus
153
2.3.4
Zusammenfassung
160
Fallbeispiele Eigeninitiativen
161
3.1
Historischer Hintergrund
161
3.1.1
Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM)
162
3.1.2
Die Donaueschinger Musiktage für zeitgenössische Tonkunst
164
3.1.3
Die Internationalen Ferienkurse in Darmstadt
165
3.1.4
Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen
168
3.1.5
Das Ensemble die reihe
171
3.1.6
Domain musical und IRCAM
172
3.1.7
Das Festival Wien Modern
173
3.1.8
Zusammenfassung
175
3.2
Fallbeispiele
175
3.2.1
Peter Ablinger (Österreich/Deutschland)
177
3.2.1.1 Radikalität, Unangepasstheit, Kompromisslosigkeit
178
3.2.1.2 Vollzug, Nachvollzug, Vermittlung
182
3.2.1.3 Engagement in der Schaffung neuer Strukturen
183
3.2.1.4 Spiritualität
184
Das KomponistInnenforum Mittersill (Österreich)
188
3.2.2.1 Kommunikation
188
3.2.2.2 Publikum
189
3.2.2.3 Vermittlung und Öffentlichkeit
189
3.2.2.4 Regionalität
192
3.2.2
5
3.2.3
3.2.4
3.2.5
3.2.6
3.2.7
Das Projekt No Music Day (Großbritannien)
193
3.2.3.1 Bill Drummond
194
3.2.3.2 No Music Day
195
3.2.3.3 Öffentlichkeit
197
3.2.3.4 Linz 09 und Pipedown
199
3.2.3.5 The 17
202
Die Chameleon Group of Composers (Großbritannien)
203
3.2.4.1 Ludger Hofmann-Engl
204
3.2.4.2 Soziales Engagement und Vermittlung
205
3.2.4.3 Menschenrecht und Künstlerbild
206
3.2.4.4 Die Rolle des Komponisten
207
3.2.4.5 Copyright
208
Das Festival Sajeta/Miha Kozorog (Slowenien)
209
3.2.5.1 Digitalisierung
210
3.2.5.2 Spirituelle Aspekte
210
3.2.5.3 Publikum
211
3.2.5.4 Schwerpunkte
212
3.2.5.5 Resultat, Prozess oder Situation
212
3.2.5.6 Begriffe
213
3.2.5.7 Ökonomische und soziale Lage
213
3.2.5.8 Organisation, Konzept
214
3.2.5.9 Was ist das Neue
215
Das International Multimedial Art Festival/Nenad Bogdanovic
(Serbien)
215
3.2.6.1 Publikum
217
3.2.6.2 Themen
218
Fair Music (Österreich)
221
3.2.7.1 Peter Rantaša
221
3.2.7.2 Menschenrecht
222
3.2.7.3 Fair Music
223
3.2.7.4 Gender Mainstream und Vielfalt
224
3.2.7.5 Manifest
225
3.2.7.6 Fair Music Award
225
6
3.3
4
Zusammenfassung
227
3.3.1 Peter Ablinger
228
3.3.2 Kofomi
229
3.3.3 No Music Day
229
3.3.4 Chameleon Group
230
3.3.5 Sajeta
230
3.3.6 IMAF
230
3.3.7 Fair Music
231
Ergebnis und Ausblick
4.1
232
Definitionen und Begriffsbestimmungen im Kontext des
Paradigmenwechsels nach 1980 als Ergebnis der Unter-
4.2
4.3
suchungen der Fallbeispiele im tiefenzeitlichen Kontext
232
Veränderte Hörgewohnheiten und neues Hören
244
4.2.1 Publikumswandel
245
4.2.2 Neue Oralität
246
4.2.3 Neue Medien
248
4.2.4 Zusammenfassung
255
Künstlerische Positionen als Parameter gesellschaftlicher Realität 257
Literatur
269
5.1
Lexika
269
5.2
Spezielle Literatur
270
5.3
Literatur im Internet
284
5.4
Abbildungen
287
Ehrenwörtliche Erklärung
288
5
7
Vorwort
Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird im gesamten Text auf geschlechtsspezifisch
differenzierende Terminologie verzichtet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der
Gleichbehandlung grundsätzlich für beide Geschlechter und sind nur dort
geschlechtsspezifisch differenziert, wo es sich um Zitate handelt oder wo der Satzsinn es
erfordert.
Die Motivation, mich dem Thema dieser Arbeit zu widmen, entspringt einerseits der Liebe
zur Musik, andererseits der Dankbarkeit dafür, dass die Beschäftigung mit Musik eine
wesentliche Rolle in meinem Leben einnehmen darf. Die Herausforderung der Zeit, in der
wir leben, ist es, Veränderungen nicht nur zu registrieren, sondern aktiv mitzugestalten.
Jede Jetztzeit in der Geschichte ist – vor jeder ordnenden Kategorisierung - komplex und
unüberschaubar. Jeder Versuch, Orientierung zu verschaffen, ist gleichzeitig ein Eingriff in
diese Geschichte, der – wie ein Filter – vieles ausblenden muss. In einem behutsamen
Schauen auf ausgewählte Aspekte, die in der Musik unserer Zeit eine Rolle spielen bzw.
wirksam sind, dokumentiere ich zunächst meine Position, die – wissenschaftlich reflektiert
– diese Sichtweise einer breiteren Diskussion öffnen will.
Bezüglich dieses mir mit dieser Arbeit eröffneten Dialogpotentials gilt mein Dank allen
voran meinen Eltern, die für die Grundlagen meiner Haltung zur Kunst und zur Musik
verantwortlich sind. Weiters meiner Frau Christine und meinen beiden Töchtern Flora
Miranda und Antonia Rosa Paulina, die meine Anstrengungen nicht nur durch in Kauf
genommene Entbehrungen, sondern auch durch aktive Teilnahme an dem in vorliegender
Arbeit ausgebreitetem Diskurs unterstützt haben. Mein Dank gilt auch dem Theologen und
Freund Dr. Ernst Fürlinger (Universität Wien, Donau-Universität Krems), mit dem ich
wesentliche Aspekte dieser Arbeit diskutieren konnte und von dem ich wichtige
Anregungen erhielt, - dem Theologen Ass. Prof. Dr. Karl Baier (Universität Wien), mit
dem ich ebenfalls Grund legende Details meiner Arbeit besprechen konnte, und dem
Theologen Dr. Karl-Heinz Steinmetz (Universität Wien), von dem ich den Begriff des
Einspruchs übernommen habe. Über die Vermittlung durch Dr. Ernst Fürlinger habe ich
den Dhrupad-Meister und Musikwissenschaftler Prof. Dr. Ritwik Sanyal in
Varanasi/Indien kennen gelernt. Aus dieser Begegnung und den Gesprächen mit ihm in
Varanasi und später in Mittersill ergab sich für mich der spezielle Zugang zu meinem
8
Thema über das Begriffspaar music – antimusic sowie über den Begriff prehension. Ihm
möchte ich besonderen Dank aussprechen. Schließlich danke ich Ao. Univ. Prof. Dr.
Wolfgang Gratzer (Universität Mozarteum Salzburg) für wesentliche Anregungen
bezüglich des Konzeptes meiner Arbeit und meinem Betreuer O. Univ. Prof. Dr. Peter
Maria Krakauer (Universität Mozarteum Salzburg), der den Fortgang meiner Studien
aufmerksam verfolgt und begleitet hat und von dem ich ebenfalls wichtige Anregungen
empfangen durfte. Nicht zuletzt gilt mein Dank allen Künstlerpersönlichkeiten und freunden, die in Gesprächen, Briefen und durch Bereitstellung von Unterlagen mit
Informationen bezüglich ihrer Arbeit bzw. Künstlerinitiativen einen wesentlichen Beitrag
zum Gelingen dieses Projektes geleistet haben. Es sind dies Peter Ablinger, Nenad
Bogdanovic, Bill Drummond, Dr. Ludger Hofmann-Engl, Dr. Miha Kozorog und Peter
Rantaša.
Wolfgang Seierl
Wien, im Juni 2009
9
Einleitung
Vorliegende Arbeit versucht, einen Wertewandel in der Musik seit etwa 1980 darzustellen.
Sie zielt nicht darauf ab, diesen Wertewandel lückenlos abzubilden, sondern will vielmehr
exemplarische Positionen und paradigmatische Entwicklungsmotive herausarbeiten. Für
Darstellung dieser war es notwendig – und durch die Methodenwahl vorweggenommen –
weiter auszuholen, um den Verständnisrahmen für aktuelle Entwicklungen herzustellen.
Ein Aspekt dieses Ausholens ist das Eingehen auf die Sichtweise des Indischen Musikers
und Musikwissenschaftlers Ritwik Sanyal auf die europäisch-amerikanische Avantgarde,
welches sich im Titel dieser Arbeit findet: antimusic als Gegenbegriff zu music ist nicht als
provokanter Hinweis auf moderne Verweigerungsstrategien zu verstehen. Das Begriffspaar
music - antimusic steht hier vielmehr für ein plastisches Bild eines übergreifenden
Musikverständnisses, das etwa die Dualität bzw. Polarität des Musikdenkens im Westen
bezüglich der Gegensätze alt und neu bzw. E und U überwindet.
Mit der Berücksichtigung des ebenfalls von Ritwik Sanyal eingeführten Begriffs
prehension möchte ich die Aktivität des Zuhörenden als wesentliches Merkmal des
musikalischen Prozesses thematisieren. Mit diesen beiden aus dem Kontext der
Philosophie der Musik von Ritwik Sanyal übernommenen Begriffen (antimusic und
prehension) lassen sich, wie ich zu zeigen versuchen werde, zwei wesentliche Paradigmen
der zeitgenössischen Kunstmusik darstellen.
„Ziemlich sicher erscheint, dass unsere gängigen Wertkriterien verbraucht sind und ersetzt
werden müssen.“ schreibt Hans Vogt bereits 1972 in Bezug auf die Entwicklung der Neuen
Musik1. Die Versuche, Wertekriterien in der aktuellen Musiklandschaft aufzufinden,
scheinen zum Scheitern verurteilt, denn nicht nur die Fülle, Komplexität und
Unüberschaubarkeit der Musik unseres Informationszeitalters ist ein Hindernis für das
Herausfiltern eines eindeutigen Wertekatalogs, auch die in unserer Zeit generierte neue
Weltsicht widerspricht einem solchen Unterfangen. Der Medien- und
Kommunikationstheoretiker Vilém Flusser beschreibt unsere kodifizierte Welt als ein
Gewebe aus Symbolen, welches die Menschheit immer dichter um sich webt, um darin
erworbene Informationen zu speichern und so dem Leben Sinn zu geben. Dieses Gewebe
sei von völlig undurchsichtiger Komplexität, - diese Undurchsichtigkeit liege in der
1
Hans Vogt, Neue Musik seit 1945. Stuttgart 1972, S. 97
10
Absicht des Menschen. Flusser bezeichnet es als verfehltes und naives Unterfangen, diese
kodifizierte Welt als die Welt der Kulturen auf irgendeine Weise katalogisieren zu wollen2.
Die Forderung Friedrich Nietzsches nach Umwertung aller Werte wurde zwar von der
letzten globalen Jugendbewegung im 20. Jahrhundert (etwa 1976 – 1978/80), dem Punk,
noch einmal radikal einzulösen versucht, doch hat die fundamentale Negations-Attitude
dieses mehrfach codierten Unversöhnlichkeits-Projektes3 nicht eine Klärung, sondern
vielmehr einen Taumel der Zeichen und Embleme, eine Kakophonie von ideologisch
geformten Bedeutungen, die mit zerstörerischem Furor in Sinnvernichtung überführt
wurden4, erzeugt. Nach Thomas Mießgang lässt sich die Energie dieses großen Nein!, der
Vision des Punk (Malcom McLaren) nicht nur bis zu den Avantgarden (z. B. dem
Dadaismus) des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen, sondern sogar bis zu den
mittelalterlichen Häretikern5. Die Positionen des Einspruchs waren nicht immer so
nihilistisch (no future) und radikal ausgeprägt, doch prägten und prägen sie bis heute die
kulturelle Entwicklung. Auch der Punk hatte entscheidenden Einfluss auf die kulturelle
Grundhaltung6, die entsprechend diesem und natürlich auch anderen Einflüssen eine den
traditionellen Wertesystemen gegenüber kritische bzw. entgegen gesetzte ist. Die heute
festzustellende Orientierungslosigkeit im Bereich des zeitgenössischen Musikschaffens
bildet womöglich eine Krise ab, die Vilém Flusser in unserer kodifizierten Welt insgesamt
ortet. Es gilt also nicht, alte Kriterien einfach zu ersetzen, sondern Orientierung zu
schaffen.
In Hinblick auf die Geschichte unserer Kulturen und im Speziellen der Musik ist es vor
allem unser eigenes Erkenntnis leitendes Interesse, das unterschiedliche
Bewegungsschichten und Entwicklungszyklen wahrzunehmen glaubt und aus dem
komplexen Gesamtstrom der Geschichte jeweils herausfiltert. Hier stellt sich die Frage, in
welcher Dimensionalität, geographisch-örtlich, historisch-zeitlich, oder thematischinhaltlich Paradigmenwechsel oder Krisen wahrgenommen werden. So wurde etwa in der
Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts seit dem Impressionismus hauptsächlich auf die
ästhetischen Neuerungen fokussiert und weniger auf die spirituellen Grundlagen. Diese
2
Vilém Flusser, Kommunikologie. Frankfurt am Main 1998, S. 77 f
Thomas Mießgang, No one is innocent. Chaos und Erleuchtung, Gewalt und Leidenschaft, Mode und
Verzweifllung – was vom Punk übrigblieb und was im schwarzen Loch verschwunden ist. In: Gerald
Matt/Thomas Mießgang (Hsg.), Punk. No one is innocent. Kunst – Stil – Revolte. Nürnberg 2008, S. 10 ff
4
Gerald Matt/Thomas Mießgang (Hsg.) (2008) S. 12
5
vgl. Gerald Matt/Thomas Mießgang (Hsg.) (2008) S. 10
6
Malcolm McLaren, der Begründer der Sex Pistols in einem Gespräch mit Gerald Matt, in: Gerald
Matt/Thomas Mießgang (Hsg.) (2008) S. 200
3
11
rational-formalistische Sicht konnte nur blind sein für die spirituellen Krisen, die diese
ästhetischen Neuerungen beeinflusst oder sogar ermöglicht haben7.
Ein Beispiel aus der Antike ist die Philosophie des Pythagoras, die ursprünglich auch eine
Auseinandersetzung mit Begriffen wie Seele, Seelenwanderung und Läuterung der Seele
beinhaltete. Die Lehre des Pythagoras wurde dann aber aus ihrem religiösen
Zusammenhang herausgenommen und auf eine Philosophie der Zahlen reduziert, die heute
vor allem den Mathematikern zugänglich ist8.
Die postmoderne Sicht verweigert sich diesen gefilterten Sichtweisen und sucht den Blick
aufs Ganze in seiner oben beschriebenen Komplexität und Undurchsichtigkeit, oder wie es
Jean de Loisy krass ausdrückt, in seiner verborgenen, bis ins Unendliche gepixelten, im
Blitzlichtgewitter unsichtbar gemachten, bis zum Verschwinden überbelichteten Realität9.
Christian Demand erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass die Vergangenheit nur
als Geschichte verfügbar, jede Geschichte aber eine Erzählung und jede Erzählung eine
Konstruktion sei. Das heißt, dass über ein und dieselbe Vergangenheit verschiedene
Geschichten erzählt werden können. Es sei interessant, dass unsere Geschichte trotz
erzählerischer Konkurrenz so uneingeschränkte Geltung erlangen konnte und schließlich
nur noch über sie definiert wurde, was überhaupt als historische Tatsache zur Erzählung
zugelassen werden durfte10.
Die Feststellung der Unmöglichkeit, die Welt zu katalogisieren, bedeutet auch für die
Wissenschaft und damit für vorliegende Arbeit, die überkommenen Aufgaben und Ziele
infrage zu stellen und neu zu definieren.
Wolfgang Welsch, dessen Denken die postmodernen Ansätze maßgeblich mit einbezieht,
plädiert für die Gestaltung unseres Lebens im Sinne der neuen wissenschaftlichen
Paradigmen. Seit der so genannten Grundlagenkrise – den Theorien Einsteins, Heisenbergs
uns Gödels – sowie in der Chaosforschung, der Theorie der Fraktale und dem Konzept der
dissipativen Strukturen, ist die Welt auch aus der Sicht der Wissenschaft durch Pluralität
und Heteronomie gekennzeichnet. Die Realität sei heute nicht homogen, sondern
heterogen, nicht harmonisch, sondern dramatisch, nicht einheitlich, mit einem Wort divers.
7
Jean de Loisy, Im Angesicht dessen, was sich entzieht. In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré.
Ausstellungskatalog. München/Berlin/London/New York 2008, S. 13
8
Christian Thomas Kohl, Buddhismus und Quantenphysik. Die Wirklichkeitsbegriffe Nagarjunas und der
Quantenphysik. Airtrang 2005, S. 18
9
Christian Thomas Kohl (2005) S. 23
10
Christian Demand, Revolution oder Reformation? – Über das Ethos des Neuen in der Kunst der Moderne.
In: Leander Kaiser/Michael Ley (Hsg.), Die ästhetische Gnosis der Moderne. Wien 2008, S. 33
12
Die logischen Formen der herkömmlichen Wissenschaft (Induktion und Deduktion,
Repetition und Reduktion, Konsequenz und Progression) werden in der Postmoderne von
Komplexität und Widerspruch, Paradoxie und Paralogie abgelöst, - die Forderung nach
Konsens würde weniger wichtig sein als die Bereitschaft zum Dissens11.
Fortschrittliche Wissenschaft sieht jede Aussage im Kontext eines bestimmten
Wirklichkeitsbegriffes. So ist z. B. die Integration der Philosophie in einen spirituellen
Weg (wie es etwa im Buddhismus der Fall ist, der in dieser Arbeit Berücksichtigung
findet) dem modernen westlichen Philosophieverständnis fremd12. Karl Popper versucht,
diesen Aspekt in seine Vorstellung von Wissenschaftlichkeit zu integrieren: Man kann
nicht leugnen, dass es neben metaphysischen Gedankengängen, die die Entwicklung der
Wissenschaft hemmten, auch solche gibt, die sie förderten. Und wir vermuten, dass
wissenschaftliche Forschung. psychologisch gesehen, ohne einen wissenschaftlich
indiskutablen, also, wenn man will, ‚metaphysischen’ Glauben an rein spekulative und
manchmal höchst unklare theoretische Ideen wohl gar nicht möglich ist.13
Die Kritik des überkommenen Wissenschaftsbegriffs durch Karl Popper (...dass es eine
logische, rational nachkonstruierbare Methode, etwas Neues zu entdecken, nicht gibt,...14)
steht im Einklang mit den Erkenntnissen der Quantenphysik, die unsere herkömmlichen
Vorstellungen von Welt wie absoluter Wahrheit in Frage stellt: Auch daraus ergibt sich,
dass unser Denken bloß scheinbar ‚objektiv' sein kann (abgesehen davon, dass es im
Subjekt und nicht in einer Maschine, einem Objekt stattfindet), denn wir lösen schon beim
Hinschauen ständig Ereignisketten durch einen Bewertungsfilter heraus, ordnen sie nach
verschiedenen, nur selten bewussten Kriterien, stülpen ihnen Netze aus Kategorien,
Verallgemeinerungen, Vorurteilen und Vorlieben über, und meist halten wir uns in dem
Glauben, die Wirklichkeit bestehe nur aus dem, was wir - derart gefiltert - beschreiben und
11
Wolfgang Welsch, Perspektiven für das Design der Zukunft. In: Ders., Ästhetisches Denken. Stuttgart
2003, S. 213 f
12
Im Fall des Okkultismus in Europa, der in dieser Arbeit berücksichtigt wird, ist die Frage nach dem
Wissenschaftsbegriff und dessen Abgrenzung vom Okkulten die Grundlage der Definition wie auch der
Auseinandersetzung mit dem Übersinnlichen schlechthin. Immerhin hatte die angebliche wissenschaftliche
Beweisbarkeit eines Lebens nach dem Tod für viele führende Wissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts
(etwa Henri Bergson, William James, William Crookes und Karl Friedrich Zöllner) einen großen Reiz (vgl.
Astrid Kury, „Heiligenscheine eines elektrischen Jahrhunderts sehen anders aus...“. Okkultismus und die
Kunst der Wiener Moderne. Wien 2000, S. 18). Im Bereich des Buddhismus, der in dieser Arbeit ebenfalls
zur Sprache kommt, sieht Christian Thomas Kohl die Problematik der Kontextgebundenheit (Was heißt es
denn, in einer Denktradition zu stehen?). Sie besteht u. a. darin, dass ohne meditative Praxis, - also ohne eine
hohe Stufe der spirituellen Realisierung erreicht zu haben, nicht alle Argumentationsebenen überprüft werden
können. In: Christian Thomas Kohl (2004) S. 14 – 18
13
Karl Popper, Die Logik der Forschung. Tübingen 2005, S. 14 f
14
Karl Popper (2005) S. 8
13
(technisch) beherrschen. Durch diese Auswahl, also buchstäblich durch unser
‚erkenntnisleitendes Interesse' schaffen wir so eine Sekundärwirklichkeit, von der wir
glauben, es sei unsere eigentliche15.
Die Meinung, Wissenschaft sei Generator zeitloser wie einziger und universeller Wahrheit,
ist längst nicht mehr haltbar. Die Unterscheidung von Verfügungswissen und
Orientierungswissen, gemessen an der Kritik Adornos, der die Wissenschaft in der
Moderne nicht nur als nützliche, sondern auch als vorsätzlich korrupte und ignorante
Geisel von Wirtschaft und Herrschaft - bis hin zu Auschwitz und Hiroshima – sieht16,
öffnet ein weites Diskussionsfeld, das auch heute an Aktualität nichts eingebüßt hat.
Aus diesem Grund setzen sich in kultur-, human- und geisteswissenschaftlichen
Disziplinen heute vermehrt perspektivisch, pluralistisch, interpretativ, kommunikativ, - im
weitesten Sinn postmodern arbeitende Ansätze durch17.
Der Politikwissenschafter Wolfgang Dietrich stellt fest, dass die Wahrheit einer Aussage
immer kontextgebunden ist und deshalb wissenschaftliche Objektivität - wenn es sie
überhaupt gibt – ebenfalls kontextgebunden sein muss. Der Kontext muss vor dem
Behaupten einer Wahrheit definiert werden... Eine Aussage ist immer nur im
Spannungsverhältnis von Adressanten und Adressaten wahr18.
Deshalb schlägt er intersubjektive Kommunizierbarkeit als weitere Richtlinie für die
Erarbeitung wissenschaftlicher Texte vor. Die Kommunizierbarkeit von
(wissenschaftlichen) Aussagen hänge nicht nur im streng linguistischen Sinn von einem
gemeinsamen Verständnis der Sprachzeichen ab, - auch die Sprachregelsysteme
spezifischer sozialer Einheiten, wie etwa Berufsgruppen, Altersgruppen oder
Wissenschaftsdisziplinen konnotieren in so unterschiedlicher Weise, dass die Aussagen
ohne Kenntnis des entsprechenden Bezugssystems häufig missinterpretiert oder gar nicht
verstanden werden können19.
Speziell für das Tema dieser Arbeit in Bezug auf Musikkultur, Digitalisierung und neue
Medien ist der Aspekt der Altersgruppe oder der Generation nicht zu vernachlässigen.
Nicht nur die Art der Prägung und Wissensaneignung, sondern auch die Folgerungen und
15
Claudius Kern, Macht und Ohnmacht der Philosophie. Zur Ideologiegeschichte des Abendlandes - Teil 2,
aus: http://cropfm.mur.at/philomacht2.htm (26. 12. 2006)
16
Wolfgang Dietrich, Deutungen und Bedeutungen des Begriffs Frieden
in der Internationalen Politik. Aus: http://homepage.uibk.ac.at/~c40268/ (30. 03. 2006)
17
Wolfgang Dietrich, Prüfungsunterlagen zur Vorlesung Deutungen und Bedeutungen des Begriffs Frieden
in der Internationalen Politik. Wien 2006, S. 5, aus: http://homepage.uibk.ac.at/~c40268/ (30. 03. 2006)
18
Wolfgang Dietrich (2006) S. 18
19
Wolfgang Dietrich (2006) S. 6
14
Schlüsse aus der Vergangenheit für zukünftige Entwicklungen betreffend, ist es von
Belang, welcher Generation eine sich etwa bezüglich der modernen Kommunikation
äußernde Person angehört. Z. B. sieht der jüngere David Jennings20 die Entwicklung der
neuen Medien viel positiver und unsere Situation viel weniger krisenhaft als Vilém
Flusser, der seine Warnungen in fortgeschrittenem Alter formuliert hat.
Eine Differenzieung, die Dietrich nicht nennt, ist die der Geschlechter.
Historisch gesehen, so schreibt Nancy K. Miller, steht z. B. Identität für die Frau nicht in
jenem Verhältnis zu Ursprung, Institution und Produktion, das für die männliche Identität
typisch ist. Frauen waren bzw. fühlten sich bis heute nie durch zu viel Selbst, Ego und
Cogito belastet. Die Frau sei juristisch von der Polis ausgeschlossen gewesen, war also
dezentriert und nicht institutionalisiert. In Bezug auf Integrität und Textualität, Begehren
und Autorität, gebe es wichtige strukturelle Unterschiede zwischen der Position der Frau
und der universellen Machtposition. Miller bezieht sich auf die Krise des Subjekts, die in
der Diskussion der Postmoderne innerhalb eines Textmodells inszeniert wird. In diesem
Sinn lässt sich auch die in dieser Arbeit versuchte Darstellung eines Wertewandels als
Krise der vorwiegend männlich geprägten Codes interpretiern21.
Die Grundlagen der Idee der Kontextgebundenheit sind in gewisser Weise bereits bei
Aristoteles zu finden, der jeder Erkenntnisart einen eigenen Wahrnehmungstyp zugeordnet
hat, welcher für die Erkenntnisart konstitutiv ist. Das heißt, dass Sinn ohne Wahrnehmung
nicht existiert22.
Auch Vilém Flusser sieht in einer zukünftigen Wissenschaft die Intersubjektivität als das
neue Wahrheitskriterium. Das Ziel der Geschichte, die ganze Welt objektiv zu begreifen,
sei zunächst ein religiöses, - der objektive Standpunkt transzendental. Flusser beschreibt
die künftige Vorstellung von Wahrheit und das ihr zugrunde liegende Kriterum der
Intersubjektivität folgendermaßen: Eine Aussage ist danach desto wahrer, je größer die
Zahl der Standpunkte ist, die in ihr zu Wort kommen, und je größer die Zahl derer ist, die
diese Standpunkte einzunehmen im Stande sind. Als Zeichen für diese Umwälzung nennt er
die Wissenschaftsphilosophie (Neopositivismus), die Phänomenologie seit Husserl, die
Kunstkritik sowie Methoden des Films und andere. Die Wahrheitssuche erscheint dann
20
Vgl. Kapitel 4.2., auch Kapitel 1.4.
Vgl. Nancy K. Miller, Wechseln wir das Thema/Subjekt. Die Autorschaft, der Schreiber und der Leser. In:
Fotis Jannidis et al (Hsg.) (2000) S. 255
22
Wolfgang Welsch, Ästhetisches Denken. Stuttgart 2003, S. 222 f
21
15
nicht mehr als Vormarsch Richtung Objekt oder Welt, sondern als Ausstrecken der Hände
den anderen entgegen. Wahrheitssuche ist dann nicht mehr eine Entdeckungsfahrt,
sondern der Versuch, sich mit den anderen hinsichtlich der Welt einig zu werden. Man
sucht dann nicht mehr nach Wahrheit, um die Welt zu erkennen und zu beherrschen,
sondern um gemeinsam mit anderen in ihr leben zu können. Die Folgen wären nicht nur die
Auflösung der Trennung von Wissenschaft und Technik, Kunst und Politik, sondern eine
radikal neue Stimmung, in die das menschliche Leben getaucht sein würde, die die
Wahrheitssuche wieder zu einer religiösen Suche machen würde23.
Noch weiter geht Wolfgang Welsch in der Ablehnung des Anthropozentrismus der
Moderne, die dem Begriff des Humanen lediglich den des Inhumanen entgegengesetzt hat.
Orientiert an asiatischer Kunst und asiatischem Denken, sieht er den Menschen als
weltverbundenes Wesen, das als denkendes und erkennendes Wesen nicht mehr ganz
anderer Natur als die Welt, sondern vielmehr durch sie geprägt sei, - unsere Erfahrung
wäre dann eine der Weisen, in denen die Welt zum Bewusstsein kommt. Diesen Ansatz hat
Welsch unter dem Stichwort des Transhumanen diskutiert24.
So steht auch die vorliegende Arbeit im Kontext der konkreten Lebensspur des Verfassers,
des ihm zur Verfügung stehenden Wissens und damit zusammenhängenden Standpunkten.
Dieses Wissen wurde unterschiedlichen Informationsquellen entnommen, die allesamt
nicht nur in konkreten zeitlich-räumlichen Kontexten stehen, sondern auch im subjektivpersönlichen Kontext25 zu suchen sind. Die Fragestellung selbst und die Beantwortung der
gestellten Frage wird also unter Berücksichtigung dieses Bezugssystems, dieses Horizonts
zu beurteilen sein.
Meine Motivation setzt ebendort an, wo Vilém Flusser die Orientierung in einer von ihm
konstatierten Krise der menschlichen Kommunikation als wesentlich erachtet. Flussers
These, dass die Welt und das Leben in der Welt im Netz der Codes erlebt, erkannt und
gewertet wird (im Netz von Codes, die unser Dasein programmieren), ist wichtig zum
23
Vilém Flusser (2000), S. 211 ff
Wolfgang Welsch, Art Transcending the Human Pale – Towards a Transhuman Stance. In: International
Yearbook of Aesthetics 5, 2001, S. 3 - 23
25
Während viele in dieser Arbeit aufgegriffenen Aspekte annähernd weltweit Geltung haben dürften (wie
etwa die Kodifizierung bzw. Digitalisierung), sind andere mehr auf die westliche Welt bzw. auf Europa
bezogen (z. B. sind die in dieser Arbeit präsentierten Fallbeispiele ausschließlich europäische Projekte).
Zudem sind es jahrelange persönliche Erfahrungen, die zur gestellten Frage wie zur Motivation, diese zu
beantworten, führen, - die auch mit meinem geografischen Standort zu tun haben, also als aus europäischer
Sicht betrachtet zu beurteilen sind.
24
16
Verständnis dieser Krise. In der okzidentalen kodifizierten Welt (in jener, an der wir
teilnehmen und deren Krise uns betrifft) ist seit ihrem Beginn vor etwa 3500 Jahren der
alphabetische Code der offizielle Hauptträger jener Hauptinformation, welche
„Geschichte“ genannt wird. Dieser Code sei in Gefahr, verdrängt zu werden. Demnach
steht gegenwärtig ein Umbruch unseres Erkennens, Erlebens und Wertens vor sich, in dem
Flusser der Erhellung wegen den Versuch unternimmt, diesen vom Alphabet her zu
fassen26.
Gleich, ob man die aktuellen Entwicklungen im gesellschaftlich-kulturellen Kontext seit
1980 nun als Wertewandel, Krise oder Paradigmenwechsel bezeichnet, in jedem Fall
nehme ich an, dass dieser oder diese in unterschiedlichen Bereichen Abbildung finden wird
bzw. Reaktionen auf diese Entwicklungen aufzuspüren sind27. Die im Titel aufscheinende
Jahreszahl 1980 markiert den Beginn der so genannten Digitalisierung28 der Musik, die
nicht nur die Musikindustrie29, sondern auch unseren Umgang mit Musik radikal verändert
hat. Noch befinden wir uns im Übergang von der Industriegesellschaft zur
Informationsgesellschaft. Digitalisierung, Computernetzwerke und neue
Kommunikationstechnologien verändern aber derzeit schon Produktion, Verteilung,
Veröffentlichung und Konsum der Informationsgüter nachhaltig. Die Digitalisierung hebt
die Bindung des Informationsgutes an die materiellen Träger auf30. Das entspricht der von
Siegfried Zielinsky festgestellten Entwicklungstendenz der allmählichen Ablösung der
Botschaft vom Körper des Boten31, wenngleich auf einer sehr fortgeschrittenen Stufe der
Entwicklung. Die Aufhebung räumlicher und zeitlicher Begrenzungen garantieren deren
uneingeschränkte Abrufbarkeit.
Ein im Kontext der Verbreitung und Vermarktung digitalisierter Musik wichtiger Aspekt
ist der der Komprimierung. 1986 bis 1994 wurde am Fraunhofer Institut in Erlangen der
26
Vilém Flusser (2000) S. 83
Ich möchte darauf hinweisen, dass Flusser den Beginn der Krise der menschlichen Kommunikation bzw.
der Krise der Codes schon mit Ende des 19. Jahrhunderts bzw. Beginn des 20. Jahrhunderts (etwa mit der
Erfindung der Fotografie) datiert.
28
Digitalisierung meint die Übertragung analoger Signale in digitale Daten, welche von
Computerprozessoren verarbeitet und in Computernetzwerken über große Entfernungen verschickt werden
können. Die digitale Technik erlaubt also eine Loslösung des Informationsaustausches von räumlichen wie
zeitlichen Bindungen und gewährleistet die zunehmende Speicherung und Nutzung von Informationsgütern
in digitaler Form, das schnelle und weltweite Wachstum von digitalen Netzwerken und die zunehmende
Verbreitung des Internet (World Wide Web). Vgl. Tobias Bauckhage, Das Ende vom Lied? Zum Einfluss der
Digitalisierung auf die internationale Musikindustrie. Stuttgart 2002, S. 14. f
29
Vgl. Tobias Bauckhage, Das Ende vom Lied? Zum Einfluss der Digitalisierung auf die internationale
Musikindustrie. Stuttgart 2002
30
Tobias Bauckhage (2002) S. 11 f
31
Siegfried Zielinsky, Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens. Reinbek
bei Hamburg 2002, S. 94
27
17
Dateistandard MP3 entwickelt, mit dem es möglich geworden ist, Musikdaten in kleine
Dateien umzuwandeln und leichter zu vervielfältigen und zu transportieren32.
Musik als vielleicht anspruchvollste und ursprüngliche Form der menschlichen
Kommunikation ist nicht nur der menschlichen Sprache sehr verwandt33, sondern
verwendet ein dem Alphabet und der Grammatik vergleichbares Zeichen- bzw.
Regelsystem. Es ist also nahe liegend zu vermuten, dass der Paradigmenwechsel bezüglich
der alphabetisierten Welt auch die Welt der Musik betrifft. Musikalische Zeichen sind wie
die Zeichen des Alphabets eindimensionale konzeptuelle Codes, die unsere Zeitvorstellung
bestimmen bzw. prägen. Der nun von Flusser prognostizierte Schritt einer weiteren
Verfremdung würde eine Umwertung der musikalischen Wertvorstellungen bedeuten, wie
z. B. die unserer musikalischen Zeiterfahrung.
Als Komponist und Musiker war es mir vor ungefähr 15 Jahren selbst Anliegen, auf die zu
dieser Zeit schon spürbare Veränderung traditioneller Strukturen und Werte im
musikalischen Kontext zu reagieren, in dem ich 1996 das KomponistInnenforum Mittersill
initiiert und gegründet habe, um mich gemeinsam mit Gleichgesinnten in Form einer
Mischung aus Dialog und Diskurs den neuen Herausforderungen zu stellen. Viele andere
von Künstlern ausgehende Initiativen reflektieren Teilaspekte dieses Wertewandels oder
Pardigmenwechsels, den ich anhand der Untersuchung einer Auswahl solcher Initiativen,
Projekte oder Positionen darzustellen versuche. Durch meine persönliche Auswahl dieser
ist die Aussage der Untersuchung zwar ebenso Kontext gebunden und subjektiv, erlaubt
mir aber, mir wesentlich erscheinende und in gelebter Praxis sichtbar werdende Aspekte
herauszuarbeiten und die Krisenhaftigkeit und den radikalen Wandel herkömmlicher Werte
und Denkstrukturen im Bereich aktueller Musikkultur zu zeigen. Dabei soll es nicht nur
um die ästhetischen Neuerungen und Brüche gehen, sondern auch um die spirituellen
Grundlagen dieser. In Hinblick auf die These Flussers ist die Verdrängung der bisher noch
32
Tobias Bauckhage (2002) S. 23 f. Auf Grund der Eigenschaften des mp3 – Formats entwickelte sich ein
weltweites Angebot digitaler Musik im Internet. Eine der ersten bekannten Musiktauschbörsen war Napster
(S. 24). Heute wird versucht, die unbeschränkte Kopierbarkeit von digitalen Musikdateien zu verhindern
(Kopierschutz). (S. 120)
33
Vgl. ein Beispiel aus dem Barock, eines aus dem 20. Jhdt. und eines aus der Indischen Musik: 1) Johann
Mattheson, Kern melodischer Wissenschaft. Hamburg 1737, ND Hildesheim 1976, S. 128 ff. Mattheson
vergleicht die Melodie mit der Rede, 2) Wilhelm J. Revers, Der Einfluss der Musik auf die psychische
Entwicklung. In: Wolfgang Roscher (Hsg.), Polyaisthesis Jg.1 Heft 1, Salzburg 1986, S. 40: Die Wurzel des
sprachlichen Ausdrucks ist auch die Wurzel des musikalischen Ausdrucks. 3) Die indische Musik gleicht
ihrem Aufbau einer Sprache. In: Alain Daniélou, Einführung in die indische Musik. Wilhelmshaven 1996,
S. 13
18
gültigen uralten Codes auch für die spirituelle Krise bzw. - milder ausgedrückt - die
radikalen Veränderungen im Geistigen verantwortlich.
Bill Drummonds No Music Day ist eine Initiative, die deutlich auf die Omnipräsenz und
Verfügbarkeit von Musik in unserer Zeit reagiert und sowohl sozialkritische wie spirituelle
Aspekte in sich trägt. Die Anregung des Sechsundfünfzigjährigen, die Frage, was Musik
sei, erneut zu stellen und damit unseren Umgang mit Musik zu hinterfragen, stellt die heute
undurchdringbar scheinende Kultur musikalischer Kommunikation wieder auf Null.
Der deutsch-englische Komponist Ludger Hofman-Engl nimmt mit seiner Initiative
Chameleon Group eine radikal soziale Position ein, die die traditionelle
Wertschöpfungskette von Musik sowie das traditionelle Künstlerbild infrage stellt.
Das slowenische Festival Sajeta steht für eine regionale, jedoch international orientierte
und vernetzte Initiative, die in der Betonung der Regionalität Austausch und Interaktion
unter Künstlern, aber auch zwischen Künstlern und Publikum thematisiert.
Das Projekt fair music orientiert sich am bereits existierenden Modell des gerechten
Handels (fair trade) und zeigt damit einerseits Mechanismen der Musikindustrie und des
Musikmarktes auf, und versucht andererseits, entlang den von der UNESCO definierten
Menschenrechten mehr Bewusstsein für die Positon der Musikschaffenden wie auch der
Musik-Konsumenten zu erzeugen.
In der Auseinandersetzung mit dem Komponisten Peter Ablinger und seinem Werk möchte
ich eine Haltung darstellen, die paradigmatisch für die Stellung des Künstlers aber auch
den neuen Werten bezüglich der Kunst bzw. Musik in unserer Gesellschaft ist. Als an der
bildenden Kunst orientiert, entwickelt Peter Ablinger eine kritische Sicht bezüglich der
Konventionen des Musiklebens, die eine grundlegend neue Musikauffassung zeitigt.
Schließlich soll der Aspekt der performativen Gesellschaft (performative society34) hier
nicht unerwähnt bleiben. Aus kultursoziologischer Sicht hat das Performative in Kultur
und Gesellschaft in Bezug auf das Herstellen und Ausagieren von Wissen und Tradition
mit dem radikalen Umbau der Gesellschaft seit den 1970er Jahren an Bedeutung
gewonnen. Diese gesellschaftlichen Veränderungen sind vielfältig und beinhalten nach
Gabriele Klein und Wolfgang Sting Entwicklungen wie Globalisierung und damit einher
gehende kulturelle, soziale und politische Fragmentierungen, weiters Informatisierung,
34
Vgl. Baz Kershaw, The Radical in Performance. Between Brecht and Baudrillard. London/New York
1999, S. 13
19
Virtualisierung und Medialisierung bei gleichzeitiger Eventisierung Theatralisierung und
Musealisierung des Sozialen. Dazu gehören aber auch neoliberale und postkoloniale
Politik, neue Formen der Wissensproduktion, die neue symbolische Macht der Bilder,
Codes und Zeichen und das gleichzeitige Implodiern von Bedeutungen durch Vorbehalte
gegen Metaerzählungen, das Wiedererstarken von Machtachsen, der Kollaps kultureller
Hierarchien und neue Distinktionslinien zwischen kulturellen Praktiken. Dadurch habe sich
ein völlig neues Konzept der Gesellschaft etabliert, auf dessen Grundlage die performative
society Flexibilität vor Fixiertheit, Fragmentierung vor Kohäsion, Pluralität vor Einheit und
kulturelle Vielfalt vor kultureller Homogenität stelle35. Aufgrund der Bedeutung des
Performativen, an dem die Musik keinen unwesentlichen Anteil hat, habe ich in meiner
Untersuchung von Fallbeispielen das International Multimedial Art Festival (IMAF), das
sich in erster Linie der Performance-Kunst widmet, berücksichtigt.
Angesichts dieser hier erwähnten Aspekte lässt sich kein homogenes, eindeutiges Ergebnis
dieser Arbeit erwarten. Vielmehr ist die Herausforderung, dieses Ergebnis im Sinne der
hier bereits angedeuteten neuen Paradigmen offen und beweglich zu halten, jedoch konkret
genug, um eine Standortbestimmung bzw. Orientierung zu ermöglichen. Die Frage, wer
diese Orientierung suchen bzw. wem sie nützen könnte, ist die Frage nach dem Kontext
und den Adressaten dieser Arbeit. In erster Linie will ich zur Diskussion in einem Bereich
beitragen, dessen Grenzen unscharf geworden ist, im Bereich der so genannten Neuen
Musik. Dort sind die Adressaten alle an dieser Neuen Musik Beteiligten bzw.
Interessierten, denn Orientierung heißt immer auch, die eigene Position in den Kontext
eines Bezugssystems zu stellen, zu überprüfen und auch zu hinterfragen. Dieses zu
beschreiben wird im Folgenden versucht.
35
Gabriele Klein/Wolfgang Sting (2005) S. 8
20
1
Begriffe und Positionen
1.1 Methode
Die von mir angewandten Methoden sind zunächst die Analyse der am Thema des
Wertewandels orientierten Aspekte westlicher (mitteleuropäischer) Musikkultur unter
vergleichender Berücksichtigung von Aspekten einerseits fernöstlicher (nordindischer)
Musikphilosophie, andererseits von Spiritualität, Gebet und Meditation, sowie die Analyse
europäischer Künstlerinitiativen (Intention – Realisierung - Rezeption) in Zusammenhang
mit diesen. Ein zweiter für mich wesentlicher methodischer Ansatzpunkt ist die von
Siegfried Zielinski36 eingeführte Methode der An-Archäologie. Der von ihm verwendete
Begriff der Tiefenzeit zielt auf die Berücksichtigung früher historischer Ereignisse, die
längst in Vergessenheit geraten sind, aber dennoch bis in die Gegenwart wirken, womit
Zielinsky die Aktualität des Vergangenen thematisiert. „...nicht Altes, das schon immer
Dagewesene, im Neuen suchen, sondern Neues, Überraschendes im Alten entdecken.“37
Dazu gehören für meine Arbeit sowohl Aspekte der Spiritualität im allgemeinen und des
östlichen Denkens38 im besonderen, als auch die der von Künstlern (aus dem Bereich
Musik, aber auch aus den Bereichen bildende und darstellende Kunst) initiierten Projekte
als kulturhistorische Dokumente. Es ist eine Methode, die Schnitte anlegt, um an den
Schnittflächen Entdeckungen machen zu können, die der genealogischen Betrachtung
verloren gegangen sind oder in ihr keine Betrachtung erfahren haben. Eine Methode, in der
nicht auf verbindliche Trends und zwingende Fluchtpunkte insistiert wird, sondern in der
es gelte, in historischen Meisterplänen Endungen und Brüche zu entdecken, die für die
Bewegung im Labyrinth des Etablierten nützliche Anregungen werden können39. Dieser
methodische Ansatz gründet nicht zuletzt auf einer Erfahrungsweise, die von Peter D.
Ouspensky so formuliert wurde: Es gibt Augenblicke im Leben, die von langen Zeiträumen
getrennt sind, die aber durch ihren inneren Gehalt und durch eine gewisse besondere
Empfindung auf seltsame Weise verbunden sind40.
36
Siegfried Zielinski, Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens.
Hamburg 2002
37
Zielinski (2002) S. 11 f
38
Zugespitzt formuliert stammen die philosophischen und praktischen Grundlegungen für den Bau der
modernen Medienwelten aus dem Fernen Osten, ... aus: Siegried Zielinski (2002) S. 302
39
Siegfried Zielinsky (2002) S. 17
40
Peter D. Ouspensky (1986) S. 5
21
Die Methode etwa der traditionellen Werkanalyse wird dagegen primär nicht zur
Anwendung gelangen. Vielmehr ist es mein Anliegen, den zeitlichen bzw. tiefenzeitlichen
Kontext, in dem musikalische Werke entstanden sind bzw. heute entstehen, zu
thematisieren und darzustellen..
1.2
Begriffe
Die Begriffe, die heute im Bereich der gegenwärtigen Kunstmusik gebräuchlich sind, sind
unterschiedlich entstanden und geladen. Teilweise sind sie aus der Tradition übernommen,
teilweise sind es Neuschöpfungen, die Noch-nicht-da- Gewesenes zu erfassen versuchen.
Meist sind es so genannte Regenschirmbegriffe, eine Metapher, die Rosalind Krauss für
alle Begriffe, die im 20. Jahrhundert entstanden sind, eingeführt hat41. Sie meint damit
Begriffe, die sehr Verschiedenes umspannen. Helga de la Motte Haber hat vorgeschlagen,
diese Metapher auf alle Benennungen anzuwenden, die seit der Emanzipation der Ästhetik
im 18. Jahrhundert gebräuchlich sind42.
Alle in diesem Kapitel erörterten Begriffe kann man grundsätzlich unter diesen
Gesichtspunkt stellen. Besonders betrifft das den zentralen Begriff der Neuen Musik.
Begriffe bezeichnen, definieren, kategorisieren und halten gleichermaßen auch fest. Sie
sind mehr als nur Namen, - sie sind Codierungen, die in gewisser Weise Sachverhalte nicht
nur verschlüsseln, sondern uns, die damit umgehen, auch programmieren. Das Lesen des
dem Begriff zugeordneten Begriffswortes oder Symbols geht mit der Aufforderung einher,
den Begriff gedanklich zu realisieren, die mit dem Wort assoziierten Erlebnisinhalte oder
Bilder zu reproduzieren. Begriffe sind aus diesem Grund elastisch, weil in ihnen
unterschiedlichste Erfahrungen zusammengefasst sind und dieser Erfahrungsschatz
veränderlich ist. Die Begriffsbildung, die auch Abstraktion genannt wird, steht oft mit
Wertungen und Positionierungen in Verbindung. Das Wort für einen Begriff ist zwar
etymologisch aufschlussreich, aber im Prinzip - rein logisch gesehen – gleichgültig und
deshalb auch austauschbar43. Die Absicht des Abstrahierens oder Abziehens ist, die Dinge
der Welt in den Griff zu bekommen, sie zu begreifen, - eine Bewegung von Dingen zu
41
Helga de la Motte-Haber, Konzeptionen von Klangkunst. Berlin 2002. Aus: http//www.floraberlin.de/soundbag/sbimages/motte.htm (11. 04. 2009)
42
Helga de la Motte-Haber (2002)
43
Vgl. Franz Austeda, Wörterbuch der Philosophie. Berlin 1975, S. 31, Alfred Wieser, Philosophie.
Einführung und Orientierung. Wien 1972, S. 30 f und Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel
(Hsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band I/A – C, Basel 1971, Sp. 780 ff
22
Informationen44. In der heutigen Informationsgesellschaft stellen diese Informationen
schließlich unsere Wirklichkeit dar45.
Begriffe sind nach Vilém Flusser wie das Alphabet eindimensionale Codes und damit Teil
unseres historischen Bewusstseins. Wie an anderer Stelle noch ausgeführt werden wird,
sieht Flusser aufgrund des Ansteigens der Wichtigkeit zweidimensionaler Codes die
eindimensionalen Codes in einer Krise46, das heißt, sie werden von jenen abgelöst bzw.
allmählich nicht mehr verstanden. Beide Aspekte, - die innere Vieldeutigkeit
(Regenschirm) und die Dialektik zwischen Begriff und Bild (Codes) geben dazu Anlass,
die aktuelle Begrifflichkeit im Bereich des Musikgeschehens zu diskutieren. Ein
Paradigmenwechsel in der Musik, der in dieser Arbeit dargestellt werden soll, wird sich
vielleicht schon auf der Ebene der Begriffe abbilden.
1.2.1 Neue Musik und Moderne
Wenn der künstlerische Leiter des Festivals Wien Modern im Jahr des 20-jährigen
Bestehens dieses größten und wichtigsten Festivals seiner Art in Österreich das Projekt
Avantgarde und damit seine Kurzformel Neue Musik (mit großem N) als historisches
Phänomen, das der Geschichte angehört, bezeichnet, so in erster Linie deswegen, um das
musikalisch Neue, das heute geschaffen wird, von Früherem abzugrenzen47.
Der Ausdruck Neue Musik dürfte sich etwa um 1919 als Begriffswort im
deutschsprachigen Raum durchgesetzt haben und 1925 endgültig als Begriff gefestigt
gewesen sein48. Vor allem der Dirigent, Musikkritiker und Intendant Paul Bekker49 hat zur
Begriffsbildung erheblich beigetragen. Ein Ausdruck, der ursprünglich nicht Kontext
gebunden war, wurde zum Brand- bzw. Markennamen einer Epoche stilisiert und damit
auch einem Bedeutungswandel unterzogen, - schließlich aber auch grundsätzlich in den
Kontext einer bestimmten Sprache und einer bestimmten musikalischen Entwicklung
gestellt. Arnold Schönberg hat sich 1933 in einem Vortrag bzw. Aufsatz zur Problematik
des Begriffs Neue Musik und offensichtlich auch zu Paul Bekker polemisch geäußert: Was
44
Vilém Flusser, Medienkultur. Frankfurt am Main 1997, S. 185 f
Wolfgang Welsch, Perspektiven für das Design der Zukunft. In: Ders., Ästhetisches Denken. Stuttgart
2003, S. 209
46
Wolfgang Welsch (2003) S. 12
47
Berno Odo Polzer in einem von Carsten Fastner geführten Interview Das Projekt Avantgarde ist
Geschichte. In: Falter 42a/08, Beilage Wien Modern zum Falter 42/08. Wien 2008, S. 20
48
Christoph von Blumröder, Der Begriff „neue Musik“ im 20. Jahrhundert. München, Salzburg:
Musikverlag Emil Katzbichler, 1981 (= Freiburger Schriften zur Musikwissenschaft, Bd. 12), S.49 ff
49
geboren 1892 in Berlin - gestorben 1937 in New York (Aus: Die Musik in Geschichte und Gegenwart
(MGG), Personenteil 2. Stuttgart 1999, S. 967)
45
23
ist „Neue Musik“ ? Offenbar doch eine solche, die es vor ihr noch nicht gegeben hat? So
neu muss aber Musik immer sein, sofern es sich um Kunst handelt! Denn nur das Neue,
Ungesagte ist in der Kunst sagenswert. So neu war tatsächlich Kunst zu jeder Zeit, und wir
hätten danach die Wahl, Werke von Josquin des Prés, oder von Bach oder von Haydn oder
von welchem großen Meister immer, als neue Musik zu verstehen; denn Kunst heißt: Neue
Kunst. Aber das haben die Erfinder dieses Schlagwortes nicht gemeint. Erfinder ist etwas
zu viel gesagt. denn es waren keine Erfinder, die der in den letzten Jahren entstandenen
Musik den Titel einer neuen Musik verliehen haben; sondern im Gegenteil eine Art
Historiker, wenn man Leute so nennen will, die vielleicht die wichtigsten Tatsachen der
Musikgeschichte, aber nicht deren Sinn kennen. (...) Neue Musik ist die Musik neuer
musikalischen Gedanken. Neue Gedanken zeigen sich in einer neuen äußeren Gestalt.
Musik aber, die einmal wahrhaft neu gewesen ist, kann in Wirklichkeit nicht veralten... 50.
Carl Dahlhaus spricht von der fundamentalen Veränderung der Situation der Neuen Musik
durch die Zäsur des 2. Weltkrieges und bezweifelt, von Neuer Musik als einer
geschlossenen, in sich zusammenhängenden Entwicklung sprechen zu können. Für
Dahlhaus ist Neue Musik Idee, Institution und Prestigevokabel, welche nur einen
quantitativ geringen Teil der Kompositionsgeschichte des 20. Jahrhunderts repräsentiert51.
Hermann Danuser weist in seinem MGG-Artikel zum Thema Neue Musik52 darauf hin,
dass die europäische Musikgeschichte der letzten tausend Jahre durch Prozesse der
Innovation vielfältig bestimmt war, und dass die Faktoren, die für unsere Neue Musik
gelten, auch schon früher – wenngleich in anderer Form, Qualität und Dichte – für
Neuerungen in der Musik bestimmend waren53. Er betont auch die Internationalität der
Kategorie Neue Musik, die in den einzelnen Sprachen nur unterschiedliche terminologische
Erscheinungsformen hat. Damit widerspricht er Christoph von Blumröder, der Neue Musik
begriffsgeschichtlich zunächst auf die deutsche Sprache beschränkt sieht54.
50
Arnold Schönberg, Neue und veraltete Musik, oder Stil und Gedanke. 3. Fassung eines Vortrags. In: Ivan
Voitêch (Hsg.), Arnold Schönberg, Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik. Nördlingen 1976,
S. 466 ff
51
Carl Dahlhaus, Vorwort. In: H. H. Stuckenschmidt, Neue Musik.Frankfurt/Main 1981, S. VII ff
52
Hermann Danuser, Neue Musik. In: Ludwig Finscher (Hsg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart.
(MGG), Sachteil Band 7, 1997 Kassel, Stuttgart, Sp. 75 f
53
Danuser nennt als Faktoren: terminologischer Neuansatz, kompositorische Neuerung, Schaffung einer
neuen Institution, Herausbildung einer neuen Gattung, Bestimmung einer bisher unbekannten Funktion,
Entgrenzung eines bestehenden Musikbegriffs, Beteiligung des Publikums, Entfaltung von
Reflexionsstrukturen, Einführung neuer Spiel- und Gesangsweisen. In: Hermann Danuser (1997)Sp. 75
54
Christoph von Blumröder, Neue Musik. In: Hans Heinrich Eggebrecht (Hsg.), Handwörterbuch der
musikalischen Terminologie. Stuttgart 1995, S. 300
24
Blumröder gibt in seiner 1981 als Buch erschienenen Dissertation55 über den Begriff Neue
Musik einen umfassenden und genau recherchierten Einblick in die Entstehungsgeschichte,
das historische Umfeld und auch die internationalen Erscheinungsformen dieses Begriffs.
Die Details dieser Darstellung, auf die ich hier näher eingehen werde, betreffen vor allem
die Entstehungsgeschichte und die damit verbundenen Begriffskonstanten. Dabei folge ich
im Weiteren auch der heute üblichen Schreibweise des Begriffs mit großem N.
Etwa 80 Jahre nach der Begriffsfestigung des Ausdrucks Neue Musik ist der Begriff auch
heute noch in Gebrauch. Nachdem der ursprünglich sehr eng gegenüber zeitgenössischen
musikalisch-ästhetischen Haltungen und Strömungen abgegrenzte Begriff entsprechend
den musikalischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, die jeweils durch ihn bezeichnet
worden sind, Bedeutungswandel erfahren hatte, ist er heute unscharf geworden56. War die
Großschreibung des Adjektivs, die sich bald durchzusetzen begann57, ein zusätzliches
Merkmal der Begriffsfestigung, ging diese nicht mit einer Schärfung des Begriffs einher.
Die Großschreibung ist heute die gängige Form, - der Hinweis auf das große N der
Versuch einer groben stilistischen Zuordnung von Musik, - gleichzeitig aber auch Beleg
für den Markencharakter.
Schon nach dem zweiten Weltkrieg und dem damit verbundenen Traditionsbruch wurde
zwischen neuer Neuer Musik und älterer Neuer Musik unterschieden58. Alle anderen
Begriffe, die seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts für die Bezeichnung neuer
musikalischer Strömungen verwendet wurden und die Blumröder von dem Begriff Neue
Musik abzugrenzen versucht, sind ebenfalls auch heute noch im Gebrauch: Moderne
Musik, Avantgarde, Experimentelle Musik, Aktuelle Musik, Musik der Gegenwart.
Hermann Danuser dagegen ortet zwischen diesen allein im Deutschen verwendeten
einschlägigen Begriffsvarianten eine so große Unschärfe, dass er den Versuch unterlässt,
sie scharf gegeneinander abzugrenzen, - was aber auch nicht heißen soll, dass sie dasselbe
55
Christoph von Blumröder, Der Begriff „neue Musik“ im 20. Jahrhundert. München, Salzburg:
Musikverlag Emil Katzbichler, 1981 (= Freiburger Schriften zur Musikwissenschaft, Bd. 12)
56
Alfred Baumgartner, Musik des 20. Jahrhunderts. Salzburg 1985 (5. Band der Reihe Der große
Musikführer) Baumgartner erwähnt den Begriff Neue Musik lediglich im dem Band beigefügten Kurzlexikon
zur Musik des 20. Jahrhunderts: ...nur unscharf abzugrenzende Musik des
20. Jahrhunderts, die keine älteren Formen und Techniken konserviert. Ob die Bezeichnung zum
Epochenbegriff werden wird, ist nicht abzusehen (S. 696)
57
Christoph von Blumröder (1981) S. 61, sowie Hans Heinrich Eggebrecht (Hsg.), Terminologie der Musik
im 20. Jahrhundert. Mainz 1995
58
Rudolf Stephan, Neue Musik. Versuch einer kritischen Einführung. Göttingen 1958,
S. 60 und S. 63
25
bedeuten59. Danuser stellt diesen terminologischen Normen lieber eine Pragmatik der
Neue-Musik-Kultur entgegen, - eine ausschließlich die Fakten berücksichtigende
Betrachtungsweise. Adäquate historische Erkenntnis Neuer Musik ist für ihn nur möglich,
wenn diese als allgemeine Kategorie musikalischer Modernität begriffen wird. Auch
Andreas Ballstaedt kommt in seiner Habilitationsschrift, die sich dem Thema Neue Musik
widmet, zum Schluss, dass jeder Versuch einer terminologischen abgrenzenden
Bestimmung angesichts eines häufig sich überschneidenden Begriffsfeldes aussichtslos
wäre60.
Die Begriffe Zeitgenössische Musik und Musik der Gegenwart sind als chronologische als
einzige wertneutral, werden aber heute auch als Synonym für Begriffe, die innovative
Strömungen in der Musik bezeichnen, verwendet. Beispiele für diese Unschärfe sind
Namen von Institutionen, Ensembles und Vereinen, die sich über diese Titel inhaltlich oder
ästhetisch positionieren, wie etwa die Internationale Gesellschaft für Neue Musik (die
englischsprachig Internatonal Society for Contemporary Music heißt, wobei das englische
Wort contemporary zeitgemäß oder zeitgenössisch heißen kann, - „der Zeit gemäß“ wäre
ein Ausdruck, der dem Begriff modern nahe steht und somit als wertend zu betrachten ist, zeitgenössisch hingegen ist als rein chronologisch aufzufassen), die Österreichische
Gesellschaft für Zeitgenössische Musik, das Ensemble Modern, das Festival Wien modern,
die Dresdner Tage Zeitgenössischer Musik, das Start Festival für aktuelle Musik, oh ton
Förderung aktueller Musik e.V., der Verband aktuelle Musik Hamburg61, und viele mehr.
War bei der Gründung der IGNM z. B. die Namensgebung noch umstritten, wobei die
Bezeichnungen neue Musik, Zeitgenössische Musik und Moderne Musik diskutiert
wurden62, so ist die Bezeichnung heute selbstverständlich geworden und meint ein breites
und, wie ich meine, ungenau definiertes Feld des zeitgenössischen Musikschaffens und
Musiklebens.
Das Ringen um Begrifflichkeit war um und nach der Wende zum 20. Jahrhundert ein
Merkmal des Ringens um Etablierung des noch nicht Etablierten. Seit etwa 1954
verbreitete sich ein pluralistisches Verständnis des Begriffswortes Neue Musik der als neu
59
Hermmann Danuser (1997) Sp. 76
„Alle drei Begriffe, Neue Musik, moderne Musik und Avantgarde sind [...] durch ihren sprachlichen
Gebrauch in Musikgeschichtsdarstellungen nicht generell zu differenzieren, vielmehr lässt sich jeder der drei
Begriffe in jeder der drei Verwendungsweisen (temporal, epochal und imperativ) finden.“ In: Andreas
Ballstaedt, Wege zur Neuen Musik. Berlin 1995, Typoskript S. 48, zitiert nach Danuser S. 76
61
http://www.vamh.de/index.php?what=verband (Angesichts der Zersplitterung zeitgenössischer Musik in
immer mehr Szenen, angesichts der politischen und wirtschaftlichen Lage wurde es auch in Hamburg Zeit für
einen Zusammenschluss, eine Vernetzung von Hamburgs experimenteller Musikszene.)
62
Christoph von Blumröder (1981) S. 67
60
26
empfundenen Musik des 20. Jahrhunderts seit etwa 191063. Bereits 1955 proklamiert
Herbert Eimert das Ende der Neuen Musik, weil er im seriellen Denken und der
elektronischen Musik ein Neues repräsentiert sah, das mit dem alten Begriff unvereinbar
geworden war64.
Die etablierten Institutionen des Musiklebens waren den Anforderungen, die die Neue
Musik an sie stellte, nicht gewachsen. Es ergab sich eine tief greifende und lang
andauernde Umwälzung des Musiklebens, in dem zu den traditionellen Institutionen neue
hinzutraten, welche die Kultur der Neuen Musik darstellten, - spezielle Institutionen
wurden auch deshalb gegründet, weil das traditionelle Konzertpublikum nicht bereit war,
die Neue Musik zu rezipieren. Die so entstandenen Spannungen führten regelrecht zu einer
Aufspaltung der bürgerlichen Musikkultur65. Die Aktivität der Internationalen Gesellschaft
für Neue Musik z. B. ist heute zu einem weltweit wirkenden Kultursystem geworden.
Diese wie auch etwa die 1946 gegründeten Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt waren
und sind nicht nur Plattformen für kompositionsgeschichtliche Entwicklungen, sondern
gleichzeitig selbst künstlerische Produktionsstätten. Das heißt, dass die in diesem Kontext
entstandenen und entstehenden Werke in engem Zusammenhang mit den Intentionen
stehen, die die Geschichte der Institution Neue Musik ausmachen66.
Die Neue Musik erscheint auch hier als das zu einer Marke stilisierte Label
musikgeschichtlicher Entwicklungen.
Im immer unübersichtlicher werdenden Pluralismus des zu Ende gehenden
20. Jahrhunderts kommt in den 80er Jahren noch ein weiterer Begriff, der für neue
Tendenzen bzw. ein neues Denken auch in der Musik steht, hinzu: der Begriff der
Postmoderne, der in Bezug auf Musik zunächst nicht präzise ausdrücken kann, ob er eine
Zeitperiode, eine Ästhetik, ein Rezeptionsverhalten oder eine Kompositionsmethode
benennt.
Die für das zeitgenössische Musikschaffen nach wie vor gebräuchlichsten Begriffe im
deutschsprachigen Raum, die zum Teil ursprünglich musikalische Stile oder historische
63
Christoph von Blumröder (1981) S. 114
Christoph von Blumröder (1981) r S. 127
65
Hermann Danuser (1997) Sp. 79
66
Hermann Danuser (1997) Sp. 81
64
27
Strömungen bezeichneten, sind also folgende, die ich im Anschluss auch einzeln
diskutieren werde:
• Neue Musik
• Moderne Musik
• Avantgarde
• Experimentelle Musik
• Aktuelle Musik
• Musik der Gegenwart
• Zeitgenössische Musik
• Musik der Postmoderne
• Klangkunst und Musikperformance
• E-Musik/U-Musik
1.2.2 Das Begriffspaar alt und neu
Das Attribut neu (lat. novus modern) ist im Zusammenhang des Begriffspaares alt-neu
{bzw. alt – jung) zunächst ein chronologisches. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und
Wilhelm Grimm unterscheidet zwar zwischen neu und jung, stellt aber beiden alt entgegen.
Alt bedeutet hoch aufgewachsen und hoch dem neuen jungen Schoß entgegenstehend67.
Neu bedeutet erst oder unlängst entstanden bzw. zum ersten Male, - etwas anderes als das
frühere und bisherige und etwas ganz neues, bisher Unbekanntes. Etymologisch scheint
neu mit nu (nun, jetzt) zusammenzuhängen68. Im Zusammenhang mit
Innovationstendenzen in den Künsten war und ist es auch immer ein (um-) wertendes. Als
Beispiel sei hier die Ars nova (14. Jhdt.) angeführt, die in der Ars antiqua (13. Jhdt.) ihren
Gegenpart hatte. Diese Übergangszeit zwischen Notre-Dame-Schule und Ars nova war
durch die Entstehung der Motette und die damit in Zusammenhang stehende Entwicklung
der Mensuraltheorie bzw. -notation gekennzeichnet. Der Name Ars antiqua kam
gemeinsam mit dem der Ars nova um 1320 in Paris auf. Ars nova war der Titel des um
1320 von Philippe de Vitry verfassten Traktates, mit dem sich der Autor auf eine neue
Sinngebung in der Kunst einerseits und die Neuerungen der Mensuralnotation andererseits
bezieht. Als Begriff für eine ganze Epoche wurde er von Hugo Riemann (Handbuch der
67
68
Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854, Bd. 1, Sp. 263
Jacob Grimm/Wilhelm Grimm (1854) Bd. 13, Sp. 644
28
Musikgeschichte, Leipzig 1905) eingeführt. In Johannes de Muris hatte die Ars nova einen
weiteren Theoretiker, dessen Werk Ars novae musicae bereits ein Jahr vor Vitrys Traktat
im Jahr 1319 erschien. Das zentrale theoretische Werk für die Ars antiqua, das Speculum
musicae des Jacobus von Lüttich, entstand um 1330 in einer Zeit, in der die Ars nova sich
bereits etabliert hatte69.
Ein Beleg für die Konflikthaftigkeit dieses Paradigmenwechsels am Beginn des
14. Jahrhunderts ist die Bulle Docta sanctorum patrum des Papstes Johann XXII. in
Avignon (1324 – 1325), in der dieser gegen die Musik der Ars nova Stellung bezog und
unter Androhung von Kirchenstrafen die Rückkehr zur alten Kunst (Ars antiqua, NotreDame-Schule) forderte. Die bedeutendsten Neuerungen hatten künstlerische wie
gesellschaftliche Aspekte: die neue Art der Mensuralnotation, das Übergewicht der
weltlichen über die geistliche Musik, die fast ausschließliche Geltung der mehrstimmigen
Musik, die Unabhängigkeit der Musik als autonomes, von den bisher bestimmenden
außermusikalischen Kräften unabhängiges Kunstwerk, und die Autonomie des
Komponisten70.
Der Dualismus von alt und neu war auch in der Verschiedenheit der englischen von der
kontinentalen Musik in der Mitte des 15. Jahrhunderts gegeben. Der für die damalige Zeit
ungewöhnlich kantable, improvisatorisch freie Stil John Dunstables und der Komponisten
der Englischen Schule hatte großen Einfluss auf die Komponisten des Festlandes und
begründete einen neuen Musikstil, der vom Komponisten und Theoretiker Johannes
Tinctoris ebenfalls mit Ars nova bezeichnet wurde71.
Ein letztes Bespiel für das Spannungsverhältnis zwischen alt und neu im Kontext der
Musikgeschichte ist der Traktat Della Musica antica e della moderna (1581) von Vincenzo
Galilei, in der dieser zugunsten des monodischen Stils gegen die kontrapunktische Musik
Stellung bezieht. Giulio Caccini fordert schließlich in seiner Vorrede zu Nuove Musiche
69
Karl H. Wörner, Geschichte der Musik, Göttingen 1972, S. 127 ff
Karl H. Wörner (1972) S. 130
71
Johannes Tinctoris, Proportionale musices. (1472/73) In: Edmond de Coussemaker (Hsg.) Scriptorum de
musica medii aevi nova series a Gerbertina altera. Hildesheim 1963
70
29
(1601), einer Sammlung von Sologesängen, und im Sinne des neuen monodischen Stils,
dass der Gesang sich dem Wort unterzuordnen habe72.
Hans Vogt stellt in Frage, ob Neu-Sein in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts noch eine
fruchtbare künstlerische Prämisse, - ein künstlerisches Qualitätsmerkmal sein kann und
identifiziert dieses Moment als Folge des materialistischen Denkens und der
Fortschrittsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts73. In diesem Zusammenhang erscheint auch
die Frage nach dem Alten, der Tradition in anderem Licht. Wystan H. Auden bemerkt
dazu, dass Tradition nicht mehr die Schaffensweise meint, die von einer Generation zur
nächsten weitergegeben wird, sondern dass man sich des Ganzen der Vergangenheit als
eines Gegenwärtigen bewusst ist74. Schließlich wäre hier noch ein Aspekt erwähnenswert,
auf den ich in Kapitel 2.2 näher eingehen werde: Das Neue impliziert nicht nur Fortschritt,
sondern auch Entwicklung. Entwicklung wieder hat einerseits die fast aufklärerische
Bedeutung von Freilegen, sogar Entwirren, andererseits die der technisch wie spirituell
interpretierbaren Höherentwicklung des Menschen, die im Prinzip auch mit der Idee der
Evolution in Verbindung steht. Das idealistische Excelsior war eine Formel, die unter
Künstlern im 19. Jahrhundert verbreitet war75.
1.2.3 Neue Musik
Die Bildung und Bedeutung des Begriffs Neue Musik wird vor dem Hintergrund des
Paradigmenwechsels und der Neuorientierung in allen Künsten um 1900 verständlich76.
Enthielt bereits der Begriff der Moderne die Absicht der Abwendung von der Romantik, so
stand das Wort neu für die Überwindung derselben77. Um 1920 waren folgende Konstanten
72
Karl H. Wörner (1972) S. 282 und 216. Hier beschreibt Wörner die weitere Entwicklung: Claudio
Monteverdi unterscheidet 1607 zwischen der Seconda Prattica und der Prima Prattica. Diese ist der
Kompositionsstil seit Ockeghem, bei dem „die Musik nicht Dienerin, sondern Herrin des Wortes“ ist, bei der
Seconda Prattica ist die dichterische Rede die Herrin der Musik. Geschichtlich wirkt sich diese Situation
anders aus, indem nämlich nunmehr das Alte nicht mehr überholt wird und der Vergessenheit anheimfällt,
sondern einen eigenen, selbständigen und konstitutiven Anteil behält. Das betrifft speziell das Fortleben des
Palestrinastiles (stile antico, stylus gravis), an dem durch die Jahrhunderte zäh festgehalten wird...Jeder
Komponist bis in unsere Gegenwart beherrscht den Palestrina-Stil und schreibt in den modernen Stilen der
Zeit...Eine Rivalität beider Stile besteht überhaupt nicht mehr.
73
Hans Vogt (1972) S. 94
74
Wystan H. Auden, Des Färbers Hand und andere Essays, Gütersloh 1962, S. 104, zitiert nach Hans Vogt
(1972) S. 97
75
Vgl. Rolf Zuberbühler, Excelsior!, in: Amrein, Ursula; Dieterle, Regina (Hsg.), Gottfried Keller und
Theodor Fontane. Vom Realismus zur Moderne. Berlin, New York 2008
76
Christoph von Blumröder (1981) S. 23
77
Diese grobe und standardisierte Kategorisierung der genannten Epochen hält einer genaueren Betrachtung
schon nicht ganz stand. Denn die Moderne scheint vielmehr in der Romantik zu wurzeln. Der deutsche
Dichter Novalis 1772 – 1801 (eigentlich Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg) drückt etwa in
der Wahl seines Pseudonyms, das er von dem Geschlechternamen von Roden, dem er entstammt, ableitet
30
mit dem Begriff Neue Musik verbunden78: kultureller Universalismus, geistige
Neuorientierung, Aktualitätsanspruch, Gegenposition zur Romantik, der epochale Aspekt
und die Einbindung in die Tradition. Auch Fortschritt und Avantgarde wurden und werden
noch immer als mit dem Neuen verwandt begriffen.
Wichtig ist mir, anzumerken, dass der Begriff Neue Musik nie wirklich bestimmte
kompositionstechnische oder stilistische Aspekte meinte, sondern unterschiedlichste
innovative Strömungen79. Er entstand im deutschsprachigen Kulturraum und wurde selten
wörtlich in andere Sprachen übersetzt. In der französischsprachigen Literatur finden sich
die Ausdrücke musique moderne oder musique contemporaine (zeitgenössische Musik), in
der englischsprachigen die Bezeichnungen modern music und contemporary music, nur in
Ausnahmefällen auch new music80.
Für Hermann Danuser resultiert das breite Bedeutungsspektrum des Begriffs Neue Musik
aus seinem Status als Relations- und Funktionsbegriff, dem fast jede Bedeutung
zugewiesen werden konnte, sofern sie sich in einem nachvollziehbaren Sinn gegen eine
bereits existierende Musik, die damit zu einer „älteren“ wurde, absetzen ließ. In diesem
Sinn betrachtet er Neue Musik als eine plurale Kategorie der Musik des 20. Jahrhunderts81.
Ulrich Dibelius, der durch den Begriff zunächst die Zeitspanne zwischen 1908 und 1950
eingegrenzt sehen will, sieht in ihm auch etwas von den auslösenden Postulaten und der
bewusst antiromantischen Haltung der Nachkriegsgeneration erhalten. Mit vielen anderen
Autoren ist er der Meinung, dass die Entwicklungen in der Musik nach 1950 im Begriff
(latinisiert und interpretiert als "einer, der Neuland bestellt"
http://www.whoswho.de/templ/te_bio.php?PID=687&RID=1/24. 05. 08) eine Haltung aus, die in seinem
Werk Abbildung findet und durchaus Aspekte der Moderne vorwegnimmt: Alte und neue Welt sind im Kampf
begriffen, die Mangelhaftigkeit und Bedürftigkeit der bisherigen Staatseinrichtungen sind in furchtbaren
Phänomenen offenbar geworden. (Novalis, Die Christenheit und Europa. In: Novalis, Fragmente und
Studien. Die Christenheit und Europa. Stuttgart 2006, S. 85)
Vgl. dazu auch Ritwik Sanyal, Philosophy of Music. New Delhi 1987, S. 52 f: Non-communist new music is
characrterised by novelty, i. e., newness in form or in content; romanticism (of the recent past) is
characterised by the supremacy of the artiste over art-work, listeners, and other elements of the art situation.
The meeting ground of the two is freedom: freedom of creativity. There is a continuity of the ideological and
historical line between romanticism and avantgardism. Classicists (mostly natuarlists) attack the avantgarde
as an extreme case of the disease of romanticism. Favourable critiscs, however, feel that romanticism not
only survived decadence and symbolism but remained one of the major factors in avant-garde art-music and
culture.
78
Christoph von Blumröder (1981) S. 54
79
vgl. Hermann Danuser (1997) Sp. 77: Neue Musik des 20. Jahrhunderts ist weder eine Stilrichtung noch
eine ästhetische Idee noch auch eine zusammenhängende Epoche. Als Fundamentalkategorie entfaltet sie
vielmehr nicht nur verschiedenartige, sondern gegensätzliche Bedeutungen und lässt sich in einer Vielzahl
von Antinomien formulieren, denn: Neue Musik ist immer eines und sein Gegenteil. Ein Aufweis dieser
Antinomien soll eine vereinfachende Sicht, , einen monomythischen Zugriff auf die Kategorie 'Neue Musik' in
Zukunft erschweren oder verunmöglichen.
80
Christoph von Blumröder (1981) S. 141
81
Hermann Danuser (1997) S. 76
31
Neue Musik nur mehr mit Mühe unterzubringen sind, es sei denn unter Einbußen an
definitorischer Bestimmtheit. Der von ihm vorgeschlagene Begriff Moderne Musik sei aber
hinlänglich präzise82.
Christian Demand verweist auf die zentrale Rolle der Kategorie des Neuen in der
Geschichte der europäischen Kunst seit etwa der Französischen Revolution. Innerhalb
kurzer Zeit wird – so Demand – der bis dahin gültige ästhetische Leitwert der Schönheit
durch den Begriff der Innovation ersetzt. Es handle sich dabei nicht um eine normale
Stilablösung, sondern um die Etablierung eines radikal Neuen, um einen Bruch, der die
Kategorie der Kontinuität infrage stelle. Der Versuch, mit dem einen Begriff der Moderne
oder später des Zeitgenössischen die unüberschaubare Vielfalt dessen, was – jeder
normativen Ästhetik widersprechend – als Kunst angesehen wird, zu fassen, erweise sich
als Fiktion83. Das Neue, aus der diese Moderne ihre Legitimation bezieht, ist - im
Unterschied zum vor der Französischen Revolution geltenden Neuen als einer Kategorie
der Gefälligkeit des Künstlers dem Publikum gegenüber – unbedingt, kompromisslos und
missionarisch. Es definiere sich vor allem als etwas, das mit dem Alten als Inbegriff des
Heteronomen und Uneigentlichen gar nichts gemeinsam hat, es negiere Tradition
schlechthin. Es gehe – wie auch Nietzsche schreibt - um das Abwerfen des historisch
zivilisatorischen Ballastes, um über die ganze mögliche Fülle der Existenz verfügen zu
können. Nur die unversöhnliche Opposition zum Alten garantiere einen unverstellten Blick
auf das Dasein84.
1.2.4 Moderne Musik
Zunächst gilt es, den Begriff modern (lat. modernus neu bzw. neuzeitlich, modo eben erst,
der neuesten Mode entsprechend, dem neuesten Stand der gesellschaftlichen
wissenschaftlichen und technischen Entwicklung entsprechend, zeitgemäß, der neuen und
neuesten Zeit zuzurechnen85) von dem der Mode (lat. modus Art und Weise, allgemeine
Bezeichnung für etwas, das dem gerade vorherrschenden Geschmack entspricht, die
Kleidung etc.86) zu unterscheiden und abzugrenzen. Der Ausdruck moderne Musik wurde
bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts als gleich bedeutend mit modisch (modus) auch
82
Ulrich Dibelius, Moderne Musik nach 1945. München 1998 (1966), S. 358 f
Christian Demand (2008) S. 34 f
84
Christian Demand (2008) S. 36 f
85
Meyers großes Taschenlexikon in 24 Bänden Band 14. Mannheim Leipzig Wien Zürich 1995, S. 299
86
ebda, S. 297 f
83
32
abwertend verstanden87. Die positive Bedeutung im Sinne von zeitgemäß (modernus) ist
auch heute noch gebräuchlich, ist aber sinngemäß im Begriff Neue Musik subsumiert.
Schon um 1919 vage geworden, wird der Begriff moderne Musik heute als Synonym für
Neue Musik verwendet.
Natürlich hängt dieser Begriff mit dem großen Begriff der Moderne zusammen, die als
Projekt – wie man es nimmt – noch nicht abgeschlossen oder aber gescheitert ist. Der
Begriff entstand bereits im Mittelalter, als sich die so genannten moderni von den antiqui
im heidnischen Rom zu unterscheiden versuchten. 1860 führte Charles Baudelaire den
Begriff la modernité ein, womit das Zeitbewusstsein des Heutigen charakterisiert war88.
Mit den Gesellschaftsutopien wechselte die Moderne vom Pradigma der Gegenwart zu
dem der Utopie.
Um die letzte Jahrhundertwende wurde die Diskussion, in welcher Moderne wir uns
befinden, wieder aufgenommen. Ein Ende der Moderne – so Hans Belting – könne sich
heute niemand vorstellen, nachdem uns die Postmoderne nicht daraus entlassen habe,
obwohl sie alle Mittel der eigenen Abschaffung immer schon in sich getragen habe. Auch
das Zeitalter globaler Telekommunikation werde prophezeit, mit dem die Moderne erst
richtig beginnen würde. Heinrich Klotz spricht von der zweiten Moderne, während andere
diese als die dritte Neuzeit bezeichnen. Belting sieht die Moderne von Anfang an als einen
Endbegriff, - neu seien heute die neuen Medien sowie die Erfahrungen mit einer durch die
Telekommunikation ermöglichten globalen Moderne. Sie sei heute längst kein Zeitbegriff
mehr, sondern eine Frage des Bewusstseins. Thesen, durch die uns die Welt vorstellbar
werden soll, gehören zu ihrem Zustand der Vorläufigkeit. In der Begegnung mit anderen
Kulturen stelle sich die Frage nach unserem Kulturverständnis wieder neu. Die lange
eingeübte Selbstreflexion ende gezwungenermaßen in einem Dialog mit neuen Partnern, die neueste Moderne wäre dann Thema einer weltweiten, den Westen mit einbeziehenden
Ethnologie89.
Christian Demand beschreibt die Pole der Diskussion der Moderne in den 80er Jahren mit
einerseits dem Bekenntnis zur Kategorie der Moderne90 als nach wie vor gültigen Rahmen
für die Deutung der Gegenwart, und andererseits der Verweigerung eines solchen
Bekenntnisses im Namen der Post-Moderne. Diese sei aber keine neue, die Moderne
87
Christoph von Blumröder (1981) S. 15
Hans Belting (2005) S. 338 f
89
Hans Belting (2005) S. 327 -345
90
Diese meint das Ergebnis einer langwierigen zivilisatorischen Entwicklung, die in ihren wesentlichen
Zügen nicht mehr umkehrbar ist. Vgl. Christian Demand (2008) S. 31
88
33
ablösende Epoche, sondern die Aktivierung eines in der Moderne selbst schon angelegten
Impulses zur Selbstkritik. Im Sinne Lyotards also ein ewiger ideologiekritischer Aufstand
gegen das Ganze, die Kohärenz, gegen das Dauerhafte und Darstellbare91.
1.2.5 Avantgarde
Das Wort avant-garde (frz. Vorhut), ursprünglich ein militärischer Ausdruck, wurde seit
1845 als Bezeichnung für künstlerische Positionierungen verwendet92, in denen der
Künstler, dem Fortschrittsgedanken folgend, in einer Art Vorreiterrolle neue, Richtung
weisende bzw. als Reaktion gegen die Tradition verstandene Konzepte entwickelte. Nach
1950 wurden mit dem Wort Avantgarde besonders extrem geltende Vertreter der Neuen
Musik etikettiert, - um 1960 ist es die gängige Bezeichnung für die Vertreter der seriellen
Musik93.
Auch heute ist der Begriff Avantgarde zwar noch eine übliche Etikettierung für die
Vertreter der Neuen Musik, obwohl der ursprünglich kämpferische Aspekt, der durch das
Militärwort noch unterstrichen wird, heute keine Rolle mehr spielt.
Außerdem hat sich der Anspruch der Avantgarde, in der Entwicklung der Künste einen
Fortschritt zu verkörpern, als problematisch erwiesen. Das Scheitern des Anspruchs einer
Vorreiterrolle94 äußert sich in den Bezeichnungen Postavantgarde und Transavantgarde95.
Eine gewisse Rehabilitierung erfuhr die Avantgarde in der Diskussion der Postmoderne96.
Danuser bezeichnet sie in ihrer postmodernen Vielfalt am Ende des 20. Jahrhunderts sogar
noch als aktuell, weil sie anstrebt, was Adorno 1961 als die Quintessenz Neuer Musik
gefordert hatte: Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind97. Jean François
Lyotard konstatiert 1985, dass auf dem Gebiet der Künste, und da speziell auf dem der
visuellen und bildenden Künste, die Meinung vertreten wird, dass es heute mit der großen
Bewegung der Avantgarde zu Ende ist. Man hätte beschlossen, über die Avantgarden als
91
Christian Demand, Revolution oder Reformation? – Über das Ethos des Neuen in der Kunst der Moderne.
In: Leander Kaiser/Michael Ley (Hsg.), Die ästhetische Gnosis der Moderne. Wien 2008, S. 31 f
92
Christoph von Blumröder (1981) S. 21
93
Christoph von Blumröder (1981) S. 134
94
Aus dieser Feststellung des Scheitern folgt nicht, dass die avantgardistischen Anti-Werke des 20. Jhdts.
künstlerischer Qualität entbehrten (Danuser Sp. 87)
95
Hermann Danuser (1997) Sp. 86 f
96
Hermann Danuser (1997) Sp. 112: Aufgrund der inneren Offenheit, nicht begrenzten Vielbezüglichkeit
und anderer experimenteller Eigenschaften erklärte Lyotard die künstlerische Avantgarde – zentral darin
John Cage - zum Vorbild postmodernen Denkens... War Habermas’ traditionalistischer Begriff der
Postmoderne gegen die Avantgarde gerichtet, entwirft Lyotard einen avantgardistischen, der gegen die
Tradition und die innerhalb der Moderne verborgenen Elemente hoher, traditioneller Kunst gerichtet ist.
97
Hermann Danuser (1997). S. 112. Das Adorno Zitat stammt aus Theodor W. Adorno, Einleitung in die
Musiksoziologie, Frankfurt am Main 1989, S.102 (Erstausgabe 1962)
34
Ausdruck einer veralteten Moderne zu lächeln oder gar zu lachen. In der Folge verwendet
Lyotard den Begriff Avantgardismus, den er als lange, verbissene, höchst
verantwortungsvolle Arbeit würdigt. Die darin aufrecht erhaltene Suche nach den in der
Moderne enthaltenen Voraussetzungen sieht er als wesentliche Funktion, das
Vergessen dieser zu verhindern. So versteht Lyotard auch das post von postmodern im
Sinne eines Prozesses der Analyse und Anamnese98. In diesem Sinne ist die Postmoderne
dem Avantgardismus verwandt, insofern nämlich, als der Postmodernismus nicht das Ende
des Modernismus, sondern dessen Geburt, dessen permanente Geburt bedeutet99.
1.2.6 Experimentelle Musik
Das Experiment (lat. experimentum, Versuch/Erfahrung) als naturwissenschaftliche
Methode steht in engem Zusammenhang mit Aspekten der Begriffe Avantgarde und
Fortschritt. Experimentelle Musik ist ein Begriff, der eher den Werkstattcharakter, also
mehr die Methoden und Inhalte der musikalischen Komposition, als deren (womöglich
gesellschaftlich relevanten) Ziele beschreibt. Experimentelle Musik ist in so ferne als
Synonym für Neue Musik aufzufassen, als Experiment und Forschung die permanente
Bedingung des Neuen ist. Die Problematik, dass Experimentieren und Forschen selbst
zwar künstlerische Prozesse sind, jedoch nicht von vorn herein schon Kunst bzw. Musik
sein müssen, weist auf eine unserem traditionellen Werkbegriff entgegenstehende Haltung,
die in der Gedankenwelt der Postmoderne zu Hause ist. Der Begriff Experimental Music
wurde 1958 von John Cage in die Diskussion eingebracht, um damit eine Aktion zu
bezeichnen, deren Ausgang nicht vorherzusehen ist100. Helmi Vent bezeichnet die Werke
Experimenteller Musik als offene Spielfelder, in deren Mittelpunkt das Interesse für
Klangerkundung, Klangherstellung und –entwicklung steht. Es sei das Spiel mit dem, was
zufällig passiert und was aus spielerischem Zugang resultiert, die Spielfelder verdichten
sich zu intermedialen Aktionen und sind wie ihre Spieler in Bewegung. Vent sieht in der
musikalischen Probe das Potenzial des Ausprobierens im Sinn von experimentum, dem
sich Einlassen auf Unbekanntes angelegt, doch sei die Probe im heutigen Musikeralltag zu
einer Routine des wiederholten Übens einer Textvorlage, des Nachvollzugs bestehender
98
Jean François Lyotard, Postmoderne für Kinder. Wien 1987, S. 104 f
Jean François Lyotard (1987) S. 26
100
John Cage, Silence. Lectures and Writings. New Hampshire 1961, S. 7 und S. 13
99
35
Kompositionen geworden und habe die Offenheit und Unsicherheit des Ausprobierens
verloren101.
1.2.7 Aktuelle Musik
Aktuell meint im augenblicklichen Interesse liegend, auf dem neuesten Stand, zeitgemäß,
gegenwartsnah, gegenwärtig, ganz neu. Der Begriff Aktuelle Musik ist ebenfalls dem der
Neuen Musik verwandt, ohne dessen Begriffsgeschichte zu teilen.
Aktualität spiegelt keine Haltung wieder, wie etwa die des Anti-Romantizismus der Neuen
Musik. Noch verweist sie auf konkrete musikalische Inhalte oder kompositorische
Absichten. So scheint der Begriff Aktuelle Musik ebenfalls ein chronologischer zu sein, der
nicht wie das Wort zeitgenössisch auf Lebenszeiten fokussiert, sondern auf den Puls der
Zeit, auf den Augenblick. Es muss nicht unbedingt Tagesaktualität gemeint sein, doch
weist es künstlerische Ereignisse oder Ergebnisse als Neuigkeiten im Sinne journalistischer
Nachrichten aus.
1.2.8 Musik der Gegenwart
Gegenwart102 ist im philosophischen Sinn der Zeitpunkt zwischen Vergangenheit und
Zukunft. So verstanden zielt der Begriff Musik der Gegenwart auf den (geschichtlichen)
Kontext Vergangenheit und Zukunft. In diesem Sinn ist er auch ein chronologischer, der
zunächst weder musikalische Inhalte noch Werte widerspiegelt. Bei genauerem Hinsehen
jedoch lässt sich doch eine Auffassung des Neuen als – zumindest im philosophischen Sinn
- zwischen Traditon und Vision Eingebettetes ablesen. Das Festival Wien modern etwa hat
Musik der Gegenwart in ihrem Untertitel, - ein Festival, das schwerpunktmäßig im
Rahmen von Komponistenportraits renommierte und gleichermaßen Richtung weisende
Künstlerpersönlichkeiten würdigt.
1.2.9 Zeitgenössische Musik
Obwohl eindeutig ein rein chronologischer Begriff, wird Zeitgenössische Musik ebenfalls
als Synonym für Neue Musik verwendet. Die Problematik dieser Gleichsetzung wurde
schon rund um die Gründung der IGNM (Internationale Gesellschaft für Neue Musik)
101
Gabriele Klein/Wolfgang Sting (Hsg.), Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst.
Bielefeld 2005, S. 151
102
gegenüber, in meinem Gesichtskreis gegen mich gekehrt oder gegen mich herkommend. In: Jakob
Grimm/Wilhelm Grimm (1854) Bd. 5, Sp. 2281
36
deutlich103. Die Differenz zwischen den Bezeichnungen der einzelnen Sektionen
begünstigte das Verständnis der Neuen Musik als zeitgenössische Musik, obwohl die
Innovation als ästhetisches Qualitätsmerkmal gegenüber dem rein chronologischen Aspekt
der Novität hervorgehoben wurde. In dem Sinne, in dem alles Zeitgenössische bzw.
Gegenwärtige neu sein muss, weil noch nie da gewesen, wird klar, dass hinter den
Begriffen, die, grob betrachtet, alle das selbe oder sehr Ähnliches meinen, Haltungen
stehen, die sehr unterschiedliche, mitunter einander widersprechende Sicht- und
Handlungsweisen (Weisen des Fortschreitens in der Geschichte) zeitigen.
1.2.10 Musik der Postmoderne
Der Begriff der Postmoderne104 bezeichnet zunächst eine Theorie, die in den 80er-Jahren
des 20. Jahrhunderts in allen künstlerischen Disziplinen ihren Niederschlag gefunden hat, relativ spät in der Musik105. Es war im Grunde eine Diskussion, die sich nicht von der
Moderne distanziert (so wie die Moderne sich von der Romantik distanziert hat), sondern
deren Ende schlicht und einfach feststellt hat106. Aus der Sicht Jürgen Habermas resultiert
die Postmoderne aus einem Neokonservatismus, der sich gegen die von der Moderne
verfochtenen aufklärerischen Positionen richtet107. So wie diese Sicht zu kurz greift, tut
103
Christoph von Blumröder (1981) S. 67
Der Begriff post-modern ist – obwohl schon seit mehr als einhundert Jahren in Gebrauch – erst 1959/60 in
den USA zum Leitbegriff einer Debatte geworden, von der die heute weltweite Diskussion ihren
Ausgangspunkt nahm. In: Wolfgang Welsch, Perspektiven für das Design der Zukunft. In: Ders..
Ästhetisches Denken. Stuttgart 2003, S. 202, vgl. auch Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne.
Weinheim 1988, S. 1-43
105
vgl. Hermann Danuser (1997) Sp. 109 f: Die musikalische Postmoderne kam in Deutschland auf, als in
der Entwicklung der Neuen Musik Mitte der 1970er Jahre eine junge Generation von Komponisten – der
bedeutendste unter ihnen Wolfgang Rihm – jene Tabus kühn durchbrach, die die Entwicklung der
Avantgardemusik im Ausgang von Adornos ‚Philosophie der neuen Musik’ getragen hatten,...Präfiguriert
Ende der 1970er Jahre durch schlagwortartige Formeln wie ‚Neue Einfachheit’, ‚Neue Ausdrucksmusik’ oder
‚Neue Subjektivität’, welche eine Opposition gegen die Geschichtsphilosophie der Neuen Musik bekundeten,
wurde der musikologische Diskurs über die ‚Postmoderne’ durch Jürgen Habermas’ Adorno-Preis-Rede
(1980) ausgelöst und verdichtete sich gegen Ende dieses Jahrzehnts zu einer zusammenhängenden
Diskussion.
106
Im Vorwort zur deutschen Fassung von Jean-François Lyotards Schlüsseltext für die Diskussion der
Postmoderne La condition postmoderne (Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Wien 1986, S. 9f),
schreibt der Herausgeber Peter Engelmann: Im Auftrag der Regierung von Québec erarbeitete er als
Philosoph einen Bericht über das Wissen in den höchst entwickelten Gesellschaften, für die er von
amerikanischen Soziologen die Bezeichnung „postmodern“ übernahm. Was als Bericht geplant war, wurde
dann aber zu einem Versuch, neue Entwicklungen in Wissenschaft und Technik, in der Politik, im
Alltagsleben und in der Kunst, nicht nur, wie sonst üblich, als Fortschreibung des Projektes der Moderne zu
verstehen, sondern sie als Phänomene des Bruches mit diesem Projekt zu begreifen. Lyotard geht davon aus,
dass wir die aktuellen Entwicklungen mit unseren traditionellen Theorien nicht mehr adäquat erfassen
können.“
107
Hermann Danuser (1997) Sp. 110 und weiter: Mit der Zeit allerdings drängte sich die Erkenntnis auf, dass
- entgegen Habermas’ Sicht – zwischen Moderne und Postmoderne eine Dialektik waltete, und man rückte
von der Annahme ab, bei der Postmoderne handle es sich um eine schlichte Negation der Moderne.
104
37
dies auch der Slogan anything goes, der Eklektizismus und falsch verstandene Pluralität
abbildet, wobei die eigentliche Stoßrichtung der Postmoderne gegen die Uniformierungsdynamik der Moderne zielt108. Charles Jencks hingegen sieht die Postmoderne als
Fortsetzung der Moderne und der Transzendenz (the continuation of modernism and
transcendence)109. Um die Jahrhundertwende (20./21. Jahrhundert) wieder abgeflaut, ist
die Thematik meiner Meinung nach nach wie vor aktuell und zu Unrecht wenig
berücksichtigt. In jedem Fall ist die Bildung des Begriffs Postmoderne die Folge eines
Paradigmenwechsels, der in der kontinuierlichen Beibehaltung etwa des Begriffes Neue
Musik keine Möglichkeit einer Abbildung findet. In der Literatur fanden postmoderne
Tendenzen bereits in den sechziger Jahren Beachtung, - vor allem in einer neuen
Verbindung von Elite- und Massenkultur110. In seinem programmatischen Essay Cross the
Border – Close the Gap drückte Leslie Fiedler die neue Haltung so aus: Wir leben jetzt in
einer sehr anderen Zeit – apokalyptisch, antirational, offen romantisch und sentimental. ...
Die Kluft zu schließen bedeutet auch, die Grenze zwischen dem Wunderbaren und dem
Wahrscheinlichen zu überschreien, zwischen dem Wirklichen und dem Mythischen ... Der
Postmodernismus schließt die Kluft zwischen Kritiker und Publikum ... Wichtiger ist, dass
er die Kluft zwischen Künstler und Publikum schließt, oder, in jedem Fall, zwischen
Professionalismus und Amateurtum ... Der postmoderne Künstler ist ein „Doppelagent“ ...
gleichermaßen zu Hause in der Welt der Technologie und in der Welt des Wunders111. Hier
kommen Aspekte zur Sprache, die durchaus auch in der Musik dieser Zeit zu finden sind,
etwa im Werk Karlheinz Stockhausens.
Seit der Mitte der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts und nach einer anfänglich sehr breit
geführten Diskussion des Gedankens der Postmoderne, entstand - vorwiegend im
englischsprachigen Raum - eine postmoderne Musikwissenschaft (New Musicology), die
neue Paradigmen, Musik zu verstehen, definierte112. Hier spielte die Berücksichtigung der
technologischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert, im Speziellen der
Aufnahmetechnologien für Musik, eine wichtige Rolle. Um die Jahrtausendwende wurde
108
Wolfgang Welsch, Perspektiven für ein Design der Zukunft. In: Ders., Ästhetisches Denken. Stuttgart
2003, S. 214 f
109
Vgl. Charles Jencks, What is Postmodernism. London 1986, S. 15
110
Wolfgang Welsch (2003) S. 202 f
111
Leslie Fiedler, Überquert die Grenze, schließt den Graben! In: Wolfgang Welsch (Hsg.), Wege aus der
Moderne. Schlüsseltexte aus der Postmoderne-Diskussion. Weilheim 1988, S. 57 - 74
112
Judy Lochhead, Introduction. In: Judy Lochhead and Joseph Auner (Hsg.), Postmodern
Music/Postmodern Thought. London/New York 2002, S. 2
38
die Weiterführung der Diskussion der Postmoderne in der Musik weit gehend infrage
gestellt, wie auch die Brauchbarkeit des Begriffswortes selbst, das vielen Autoren zu
unklar und schlüpfrig war. Doch gerade in der weiteren aktiven Beteiligungen der
Musikwissenschaft an den aktuellen Fragen, sieht Judy Lochhead
Notwendigkeit, Herausforderung und Chance: If musicology and music theory hope to be
more than parasitic on intellectual developments in other fields, they must take up the
debates, showing how musical production is implicated in its social context – how it
reflects and constructs that context. And while such study of music should rightly consider
how music of the past is used in the context of contemporary consumer society, it should
also consider the musics that are produced in all of the various traditions of music-making
– popular, jazz and concert music113. [Wenn Musikwissenschaft und Musiktheorie hoffen,
mehr als nur parasitär an den intellektuellen Entwicklungen in anderen Bereichen Teil
haben zu können, müssen sie die Debatten wieder aufnehmen und zeigen, wie
Musikproduktion im sozialen Kontext eingebettet ist und wie sie diesen Kontext reflektiert
und konstruiert. Während eine solche Studie der Musik zeigen sollte, wie die Musik der
Vergangenheit im Kontext der gegenwärtigen Konsumgesellschaft verwendet wird, sollte
sie auch die verschiedenen Traditionen der Musikproduktion – Pop, Jazz und
Konzertmusik – berücksichtigen. Übers. d. Verf.]
Als die für das Denken über Musik im Kontext der Postmoderne-Debatte relevanten
radikalen Veränderungen bezeichnet Judy Lochhead die von der Wissenschaft neu
definierten Konzepte der Zeit und der Zeitlichkeit, die erhöhten Reise- und
Kommunikationsgeschwindigkeiten, neue Konzepte des Raumes in Zusammenhang mit
der Geschwindigkeit des weltweiten Reisens und dem visuellen Zugang zu weit entfernten
Orten und lang vergangenen Zeiten durch elektronische Medien. Damit verbunden ist die
sich verändernde Wahrnehmung physischer und sozialer Distanz.
Diese Veränderungen zeitigen körperliche Interaktionen über Raum- und Zeitunterschiede
hinweg. Weiters verweisen veränderte Konzepte von Distanz auf eine Perspektivität im
Rahmen der Erkenntnistheorie. Zeit und zeitliche Prozesse können nicht mehr länger als
Zukunft orientiertes Fortschreiten, in welchem Ereignisse kausal miteinander
113
Judy Lochhead (2002) S. 4 [2005 widmet die Deutsche UNESCO-Kommission der UNESCO-Konvention
zum Schutz der kulturellen Vielfalt ein eigenes Themenheft ihrer Publikation "UNESCO heute - Zeitschrift
der Deutschen UNESCO-Kommission, 52. Jahrgang, Ausgabe 1/2005 (1. Halbjahr)]
39
zusammenhängen, betrachtet werden. Postmoderne Theoretiker verstehen die so genannte
große Erzählung114 als einschränkend und ausschließend mit negativen sozialen und
ökonomischen Folgen für jene Gruppen, deren Geschichten ausgelöscht wurden. Die
Konzepte perspektivischen Wissens haben die Idee der Wahrheit infrage gestellt, - ein
Verstehen der Welt im absoluten Sinn ist nicht möglich, das Wissen ist somit
ausschließlich interpretativer Natur, - Wahrnehmen ist vielmehr ein kreativer Akt. Roland
Barthes sieht die Quelle der Bedeutung eines Textes nicht mehr im Autor, sondern in der
Interaktion zwischen diesem und dem Leser. Michel Foucault verweist in seinen Arbeiten
auf die soziale Komponente von z. B. den hierarchischen künstlerischen Kategorien hoch
und nieder115. Die heute in Europa noch übliche Unterscheidung zwischen ernster (E) und
unterhaltender (U) Musik ist ein Beispiel für das Existieren solcher Kategorien in einem
kulturellen Kontext, in dem die Moderne bzw. die Neue Musik längst zu Standards im
kulturellen Leben geworden sind.
Die Abgrenzung und Schärfung des Begriffes gegenüber dem der Antimoderne, welche
das goldene Zeitalter Klassik und Romantik hochhält, zeigt die Postmoderne als anti-elitär
und offen gegenüber der Vielfalt der Musik. Sie entwickelt neue Hör-Strategien, in dem sie
das Bedeutungsfeld der Musik mehr im Hörenden ortet und nicht so sehr in Partituren,
Aufführungen oder den Musikschaffenden116. Jonathan D. Cramer versucht, die
Kennzeichen postmoderner Musik zusammenzufassen117: Postmodern music is:
(1) not a simple repudiaton of modernism or its continuation, but has aspects of both a
break and an extension;
(2) is, on some level and in some way, ironic;
(3) does not respect boundaries between sonorities and procedures of the past and of the
present;
114
Die große Erzählung als Form des so genannten historischen Bewusstseins, welchem nach Vilém Flusser
die Einführung des alphabetischen Codes zugrunde liegt, wird – ebenfalls nach Flusser – durch die Krise
dieses Codes infrage gestellt. (Vgl. Kapitel 2.3)
115
Judy Lochhead (2002) S. 6 f
116
Jonathan D. Cramer, The Nature and Origins of Musical Postmodernism. In: Judy Lochhead and Joseph
Auner (Hsg.) (2002) S. 13 ff
117
Jonathan D. Cramer (2002) S. 16, vgl auch dazu Hermann Danuser (1997) Sp. 111: Wenn wir ausgehen
von Wolfgang Welschs begriffsgeschichtlicher Rekonstruktion (W. Welsch 1987, S. 9ff.), sind unter den
allgemeinen Bestimmungen der Postmoderne für die Musik vor allem zwei Theoreme wichtig: zum einen
Leslie Fiedlers und Charles Jencks Forderung nach ‚Mehrsprachigkeit’ bzw. Mehrfachkodierung eines
Kunstgebildes – insbesondere im Blick auf eine Vermittlung zwischen ‚hoher’ und populärer Kunst bzw.
zwischen Elite- und Alltagskunst.
40
(4) challenges barriers between“high“ and „low“ styles118;
(5) shows disdayn for the often unquestioned value of structural unity;
(6) questions the mutual exclusivity of elitist and populist values;
(7) avoids totalizing forms (e.g., does not want entire pieces to be tonal or serial or cast in
a prescribed formal mold);
(8) considers music not as autonomous but as relevant to cultural , social, and political
contexts;
(9) includes quotations of or references to music of many traditions of cultures;
(10) considers technology not only as a way to preserve and transmit music but also as
deeply implicated in the production and essence of music;
(11) embraces contradictons;
(12) distrusts binary oppositions;
(13) includes fragmentations and discontinuities;
(14) encompasses pluralism and eclecticism;
(15) presents multiple meanings and multiple temporalities;
(16) locates meaning and even structure in listeners, more than in scores, performances, or
composers.
Zusammenfassend ergibt sich aus diesen letzten Betrachtungen die von mir eingangs
postulierte Unschärfe des Begriffs bzw. der Kategorie Neue Musik, die im heutigen
Musikleben zwar eine elitäre Rolle spielt, deren Vertreter und Anhänger eine Minderheit
darstellen, aber keine einheitliche Haltung mehr repräsentieren. Dass jede neue Kunst von
der Menge immer erst nachträglich begriffen wird und in diesem Sinne stets der Zeit
voraus sei119, wurde schon um 1900 festgestellt. Da unter ihn auch postmoderne und
andere Positionen subsumiert werden, ist der Begriff Neue Musik eigentlich zu einem
chronologischen Sammelbegriff geworden, der am ehesten noch an der im postmodernen
Sinn obsolet gewordenen Kategorie der ernsten Musik orientiert ist.
118
siehe auch Hermann Danuser (1997) Sp. 111 f: ‚Cross the Border, Close the Gap’ lautet der Titel des
berühmten, 1969 veröffentlichten Ausfsatzes des amerikanischen Literaturkritikers Leslie A. Fiedler, der zu
den Ursprungsdokumenten der Postmoderne gehört.
119
Christoph von Blumröder (1981) S. 28
41
1.2.11 Klangkunst und Musikperfpermance
Klangkunst ist ein Begriff, der aus dem englischen Wort Soundart entwickelt wurde. Er
bildet insofern ein erweitertes Verständnis von Musik bzw. die Abgrenzung zum engeren
Begriff Musik ab, indem das Wort Musik explizit in ihm gar nicht vorkommt120. Soundart
ist schließlich eine Variante des englischen Wortes für bildende Kunst - Visual Art. Die
ursprüngliche Bedeutung von Soundart ist das Phänomen, dass bildende Künstler mit
Klängen arbeiten. Heute ist der Parallelbegriff Klangkunst ein Gattungsbegriff, der sich auf
den Bereich zwischen den traditionellen Kunstgattungen bezieht und wurde vor allem
durch Helga de la Motte-Haber geprägt und gefestigt121. De la Motte-Haber weist in
diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich der traditionelle Kanon der Künste durch die
Entwicklung der Technik und der Medien (Mixed Media/Multimedia) aufgelöst hat und
die Feststellung eines Dazwischen heute gar nicht mehr möglich bzw. gegeben ist.
Klangkunst beinhaltet – entsprechend der oben erwähnten Metapher des
Regenschirmbegriffs – eine Vielzahl von Vorstellungen, die nicht in jeder künstlerischen
Arbeit vorhanden sein müssen bzw. können.
Grundlagen und Aspekte von Klangkunst, die von De la Motte-Haber herausgestrichen
werden, sind 1. der fortschreitende Prozess der Individualisierung und Autonomisierung
der Künstler seit dem 19. Jahrhundert, 2. die Standortbezogenheit, 3. das Moment der
Präsenz und Vergegenwärtigung, 4. den ephemeren Ereignischarakter, 5. die Synästhesie
im Sinne von Allgemeinqualität oder multisensorischer Zusammenwahrnehmung und
6. der Fokus auf Wahrnehmung schlechthin. Während traditionelle Kunst in der
Formulierung Ludwig Tiecks als Fernrohr der Sinne zu verstehen ist, ist die Klangkunst
die Lupe und widmet sich vor Allem dem Rätselhaften der menschlichen
Wahrnehmung122.
Gingen die ersten interdisziplinären Impulse für Soundart bzw. Klangkunst von den
bildenden Künstlern aus, gibt es inzwischen ebensolche Ansätze und Initiativen auf der
Seite der auditiven Künste, soweit man diese Unterscheidung noch aufrecht halten will.
Erwähnt seien hier das Audio Art Festival123 in Krakau und Warschau, das seit 1993
120
Schon Edgar Varèse hat die Bezeichnung Musik für seine Arbeit durch die Bezeichnung son organisé
(organisierter Klang) ersetzt. Vgl. Christian Utz, Musikperformance als Akt realer Gegenwart. Verstreute
Anmerkungen zur Phänomenologie und Geschichte. In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.), Musik,
Labyrinth, Kontext. Musikperformance. Linz 1995, S. 39
121
Helga de la Motte-Haber (2002)
122
Helga de la Motte-Haber (2002)
123
http://www.audio.art.pl/ (11. 04. 2009)
42
besteht und vom Komponisten Marek Choloniewski geleitet wird, das Dialogues
Festival124, das 1999 von den Komponisten Martin Parker und Pedro Rebelo gegründet
wurde, das Festival Soundframe125 in Wien, das seit 2007 besteht und von Eva Fischer
kuratiert und geleitet wird, und das internationale Festival Phonofemme126 in Wien (21. –
25. April 2009), das von der Komponistin und Musikerin Mia Zabelka initiert wurde.
Schließlich gehört auch das Werk des Komponisten Peter Ablinger hierher, auf dessen
Arbeit an anderer Stelle ausführlich eingegangen wird.
Den Intentionen der Klangkunst verwandt sind die der Performance Art127. Hier ist
besonders der Aspekt der Körperbezogenheit oder Leiblichkeit zu erwähnen, der mit dem
neuen Verständnis von Präsenz und einer neuen Konzeption des Raumes zusammenhängt.
Die Dimension des Leiblichen, die in der westeuropäischen christlichen Tradition eher
ausgespart ist, hat durch den Mesmerismus128 erstmals wieder Aufmerksamkeit
bekommen129. Die Musikperformance ist nur unscharf von der musikalischen Aufführung
zu trennen, In einer Zeittafel zu Musikperformance kennzeichnet Christian Utz den Beginn
der Musikperformance mit Vexations von Eric Satie. Das Klavierstück, das 840 Mal
wiederholt werden muss und – je nach gewähltem Tempo – 12 bis 24 Stunden dauert,
hat insofern eindeutig performativen, ritualhaften Charakter, als es die traditionelle Form
sprengt und eine auch körperliche Herausforderung an den Musiker wie an das Publikum
darstellt130. Seit den 20er Jahren habe sich diese – so Martin Sturm im Vorwort des
Kataloges zum Festival zeitgenössischer Musikperformance in Linz 1995 Das Innere Ohr
– analog zu anderen Künsten, in eine Richtung entwickelt, die den Raum als Musik- und
Klangkörper, die Aufführung, die Anwesenheit und Wahrnehmung des Zuhörers in einer
neuen Weise betrachtet. Christian Scheib zitierend schreibt er, dass Musikschaffende heute
mit multidimensional verflochtenen Tonräumen, mit Konzepten der Raumklangteilung und
Simultaneität, mit dynamischem Einsatz von Elektronik und Licht arbeiten, wobei der
124
http://www.dialogues-festival.org/ (11. 04. 2009)
http://www.soundframe.at/ (11. 04. 2009)
126
http://www.theaterkanal.de/theater/oesterreich/wien/kosmostheater/phonofemme--intenationalesklangkunstfestival-in-wien (11. 04. 2009)
127
Vgl. Kapitel 3.2
128
Vgl. Kapitel 2.1
129
Karl Baier (2009) S. 228
130
Christian Utz, Zeittafel. Einige Daten zur Musikperformance im 20. Jahrhundert. In: Thomas
Dézsy/Christian Utz (Hsg.), Musik, Labyrinth, Kontext.Musikperformance. Linz 1995, S. 9. In dieser
Publikation weist Gregor Schmitz-Stevens auf den Ursprung aller Arten der Performance-Kunst im
Dadaismus hin. Vgl. Gregor Schmitz-Stevens, Die Geburt der Aktion aus dem Geist der Kunstunterhaltung.
In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.) (1995) S. 51
125
43
Zuhörer vielmehr in der Rolle eines Eingebundenen gesehen werde. In Bezug zum
zeitgenössischen Musiktheater, das durch eine neue Beziehung zum szenischen
charakterisisert ist, werde die Handlung zum Kompositionsmaterial, das Bühnenbild zur
Partitur und die Musiker zu Akteuren131. Die so genannte Performance-Art und die
Musikperformance, beide elastische Begriffe, lassen sich nur schwer voneinander
abgrenzen. Thomas Dézsy erscheint die Performance-Art als eine Mischung von Aktualität
und überzeitlichem Ritual, eine Reflexion zur Gegenwart132. Sie erhebe Anspruch auf ein
bewusst und aktiv agierendes Publikum. Im Gegensatz zum Meisterwerk vergangener
Epochen bleibe die Performance im Hier und Jetzt, flüchtig und ohne Spur und beinhalte
auch das Scheitern quasi aus Absicht als komplementär zur kommerziellen
Massenproduktion133. Diese zeitigt durch Industrialisierung und Maschinisierung der
Produktion die radikale Änderung des akustischen Alltags. Die Musikperformance reagiere
auch auf diese Entwicklung, in dem sie durch naturwissenschaftlich-forschende,
laborversuchartige Strategien der akustischen Umwelt den Schrecken des Unerforschten
und Unkalkulierbaren zu nehmen versucht. Grundsätzlich sei Musikperformance das
Gegenstück zum Museum und zur reproduzierbaren Konsereve der Medienkonzerne, Musikperformance ist Anti-Gedächtnis134.
1.2.12 E – Musik und U – Musik
Die Kategorisierung Ernste Musik – Unterhaltungsmusik ist kein Spezifikum des aktuellen
Musikgeschehens135. Es erscheint mir dennoch wichtig, dieses Begriffspaar hier zu
untersuchen, weil es auch im Kontext aktuellen Musikschaffens heute noch immer
131
Martin Sturm, Vorwort. In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.) (1995) S. 7
Christian Utz nennt diesbezüglich zwei prototypische Klangzustände: den überdurchschnittlich lauten
Klang und die Klangverteilung. Während der laute Klang rituellen Ursprungs und somit Teil einer
primitivistischen Seite sei, könne die Klangverteilung als Errungenschaft neuester Technologien gesehen
werden. Der Schrei schaffe Unmittelbarkeit, die Klangverteilung löse die Distanz zwischen Ereignis und
Rezipienten auf und erfordere somit dessen selbständige Suche nach seinem individuellen Klangraum. In:
Christian Utz, Musikperformance als Akt realer Gegenwart. Verstreute Anmerkungen zur Phänomenologie
und Geschichte. In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.) (1995) S. 40 f
133
Thomas Dézsy, Im Staub der Geschwindigkeit. Notate zum Einfluss der Performance-Art auf die MusikPerformance. In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.) (1995) S. 23 f
134
Christian Utz, Musikperformance als Akt realer Gegenwart. Verstreute Anmerkungen zur
Phänomenologie und Geschichte. In: Thomas Dézsy/Christian Utz (Hsg.) (1995) S. 33 f
135
Einschränkend muss festgestellt werden, dass die Existenz der so genannten Entertainmentindustrie diese
Kategorisierung rechtfertigt, obwohl in diesem Fall nicht der Unterhaltungswert Ausschlag gebend ist,
sondern der kommerzielle Erfolg. Harold L. Vogel definiert Unterhaltung bzw. Entertainment so: anything
that stimulates, encourages, or otherwise generates a condition of pleasureable diversion (alles, das einen
Zustand angenehmer Zerstreuung anregt, fördert, oder sonst wie erzeugt), in: Harold L. Vogel, Entertainment
Industry Economics. A guide for financial analysis. Cambridge 1994, S. 1 ff und S. 29
132
44
verwendet wird und unsere Wertung von und Haltung zur zeitgenössischen
Musikproduktion beeinflusst und schließlich auch ein Thema in der PostmoderneDiskussion ist136. Das Begriffspaar E und U gehört zu jenen Begriffen, die uns
programmieren, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, die, solange sie noch im Gebrauch
sind, ihre Wirkung tun und unser Denken in überkommene Kategorien zwängen.
Theodor W. Adorno hat in seiner Philosophie der neuen Musik137 den unüberwindlichen
Gegensatz zwischen Avantgarde und Trivialmusik erkannt und damit die Kluft zwischen
so genannter E - und U – Musik manifestiert138. Am Überleben dieses Begriffspaares, das
seit Anfang des 20. Jahrhunderts gebräuchlich ist und auch durch die Verteilungspraxis der
Verwertungsgesellschaften gepflegt wird, wird deutlich, wie sehr Werte zugunsten der
Aufrechterhaltung traditioneller sozialer Unterschiede unreflektiert übernommen wurden
und werden. Erst mit den Argumenten der Postmoderne wird diese Kategorisierung
zumindest infrage gestellt. Leslie Fiedler und Charles Jencks fordern die
Mehrfachkodierung eines Kunstwerkes in Hinblick auf die traditionelle Unterscheidung
hoher von populärer Kunst, - von Elite und Alltagskunst139. Die Geschichte der
Unterscheidung zwischen ernster und unterhaltender Musik hängt aber offensichtlich eng
mit der Entwicklung des Bürgertums im 19. Jahrhundert zusammen. Thomas Nipperdey
beschreibt das Ausscheiden des Unterhaltungsmomentes aus der ernsten Kunst als Folge
der Kunstrevolution in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Ursache für die gesonderte
Existenz einer Trivial- und Unterhaltungskunst. Mit Kunstrevolution meint Nipperday die
Autonomiebestrebungen der Kunst, die keinen Auftraggebern mehr verpflichtet ist,
einerseits sowie ihre Verbürgerlichung andererseits, welche gleichzeitig geschehen und in
Wechselwirkung stehen. Der emphatisch autonome Kunstbegriff tendiert dazu, die
Momente von Unterhaltung und Vergnügen, Schau- und Hörlust aus der Kunst
auszuscheiden...noch bei der Uraufführung von Schuberts nachgelassener großer C-Dur
Sinfonie wurde die Satzfolge durch eingeschobene Donizetti-Arien „aufgelockert“, aber
seit der Jahrhundertmitte setzt sich das geschlossene, „ernste“, werkorientierte Programm
136
Vgl. David Brackett, "Where's It At"- Postmodern Theory and the Contemporary Musical Field.
In. Lochhead, Judy (2002) S. 207 ff
137
Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, Tübingen 1949/Frankfurt am Main 2003
138
zitiert nach Hermann Danuser (1997) Sp. 112 vgl. dazu auch Theodor W. Adorno, Einleitung in die
Musiksoziologie. Frankfurt am Main 1989, S. 145 f.: "Die konziliante Güte, die dem Zitherspieler auf dem
Land dasselbe Recht zubilligt wie dem verständnisvollen Hörer komplexer Stücke des späten Bach ...,
unterdrückt nicht nur die Qualitätsunterschiede sondern den Wahrheitsanspruch der Musik selbst“
139
zitiert nach Hermann Danuser (1997) Sp. 111
45
durch...der Ernst des Kunstwerks setzt sich durch140. Im Prolog der Oper Ariadne auf
Naxos (1912) von Richard Strauss (Libretto Hugo von Hofmannsthal) wird dieser Konflikt
thematisiert wie paraphrasiert.
Der emphatische Kunstbegriff steht in Zusammenhang mit zunehmender
Individualisierung und damit der Zunahme der Bedeutung des Gefühls. Mit diesem neuen
Bedürfnis nach Sentimentalität ging der Aufstieg der Trivialkunst und des Kitsches einher.
Mit der Verbürgerlichung der Kunst werden nach Nipperday die Konsumenten zur Masse,
die sich nicht mehr an den ständisch-traditionellen Normen orientiert, - der „Geschmack“
individualisiert sich und pluralisiert sich zugleich...In dieser Situation konnte sich das
Bedürfnis nach Unterhaltung und Sentimentalität, nach dem es von der ernsten Kunst
ausgegrenzt worden war, verselbständigen141.
Pierre Bourdieu nennt es den Ekel vor dem „Leichten“, der den so genannten „reinen“
Geschmack kennzeichnet, welcher die ursprüngliche Form des auf das Vergnügen der
Sinne reduzierten sinnlichen Vergnügens der Sinne ablehne. Das Leichte sei Hingabe an
die unmittelbare Empfindung, die mit Sorglosigkeit verbunden ist. Er betont, dass die
gesamte Sprache der Ästhetik in einer fundamentalen Ablehnung des Leichten befangen
sei, und dass der „reine Geschmack“ seinem Wesen nach negativ, auf physischem
Widerwillen, auf Ekel beruhe, sich selbst durch „Distanziertheit“ und „Teilnahmslosigkeit“
auszeichne. Der Grund für die Ablehnung des Leichten im Sinne von „einfach“ und „ohne
Tiefe“ ist seine leichte Entzifferbarkeit, seine unmittelbare Zugänglichkeit. Vom Aufwand
an Bildung her gesehen ist das Leichte „billlig“. Im Bereich der Musik werde im Fall der
„leichten Musik“ von gefälligen Effekten und „vulgärer Sinnlichkeit“ gesprochen. Das
Leichte stelle eine Beleidigung der Raffinesse des Kenners dar, die Methoden der
Verführung werden als „niederträchtig“ und „entwürdigend“ verworfen. Die populären
Veranstaltungen stehen im schroffen Gegensatz zur bürgerlichen Unterhaltung was zum
Beispiel die Publikumsbeteiligung betrifft: im einen Fall lautstark und direkt, im anderen
distanziert und stark ritualisiert. Der reine Geschmack verwirft die Gewalt, der sich das
populäre Publikum unterwirft, - ist der Ausdruck des Ekels als die pardoxe Erfahrung des
gewaltsam aufgezwungenen und Schrecken einflößenden Genusses142.
140
Thomas Nipperdey, Wie das Bürgertum die Moderne fand. Stuttgart 1998, S. 29 ff
Thomas Nipperdey (1998) S. 32 f
142
Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main
1998, S. 757 f. Bourdieu zitiert hier E. H. Gombrich, der den „guten Geschmack“ aus der Ablehnung
elementarer, folglich vulgärer Befriedigungen, - aus den „modernen Verboten“ ableitet (E. H. Gombrich,
Meditationen über ein Steckenpferd, Frankfurt am Main 1978, S. 76 ff). Bei Schopenhauer findet sich die
141
46
Auch die historischen Unterscheidungen zwischen den unterschiedlichen Funktions- bzw.
Gebrauchsfeldern der Musik im wissenschaftlichen Sinn stehen hier zur Debatte, weil sie
im Sinn des postmodernen Postulats Teil einer Geschichtsauffassung sind, die heute nicht
mehr haltbar zu sein scheint.
In den heute noch üblichen Kategorisierungs- und Bewertungssystemen orte ich die nicht
hinterfragte Aufrechterhaltung überkommener hierarchischer Systeme. Die Vielfalt
heutigen Musikschaffens lässt sich mit diesen Kategorien längst nicht mehr begreifen, wird
aber, zumindest was die Klassifizierungspraxis der Verwertungsgesellschaften betrifft,
heute noch angewandt.
Um sich in der Vielfalt und Vielzahl der zeitgenössischen Genres und Stile orientieren zu
können, bedarf es einer Aktualisierung der Definition von Musik sowie eines an dieser
Definition orientierten neuen Begriffskanons für Teilbereiche des großen Feldes Musik.
Die Beispiele historischer und aktueller Auseinandersetzung mit diesem Thema sind
vielfältig. Erwähnt sei hier etwa die Äußerung Karlheinz Stockhausens im Gespräch mit
David Paul143 im Jahr 1997 auf die Frage, ob er zwischen der so genannten ernsten und der
populären Musik unterscheide: Das Wort „ernst“144 ist vielleicht missverständlich. Ich bin
nämlich todernst, wenn ich versuche, etwas zu erfinden oder etwas zu entdecken, das ich
nicht kenne, und das ist jedes Mal so, wenn ich eine neue Arbeit beginne. Die Musik, die
der Mode unterworfen ist, die also im Radio gespielt und von vielen Menschen gekauft
wird und die auch von den Produzenten leicht verkauft werden kann - das ist eine Art von
Musik; sie passt sich der Nachfrage, dem Geschmack, der Werbung etc. an. Wohingegen
sich die Musik, die mir seit 1959 vorschwebt, einer derartigen Beziehung zwischen mir und
den Menschen verweigert. Ich mache nämlich das, was ich im Inneren höre, was ich
spannend finde und was mir selbst oft gänzlich neu ist. Es gibt also einen enormen
Unterschied zwischen Gebrauchsmusik oder kommerzieller Musik und Kunstmusik. Ich
sage dazu Kunstmusik, nicht „ernste“ Musik. Oft ist es sehr humorvolle Musik; sie ist nicht
Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Reinen. Das Reizende in Form der Darstellung von
Esswaren und nackten Gestalten in der Kunst lehnt er ab (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und
Vorstellung. In. Sämtliche Werke, Bd. 2. Wiesbaden 1961, § 40, S. 245)
143
Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008. Saarbrücken 2008, S. 69
144
Im Wörterbuch der Brüder Grimm [Jakob Grimm/Wilhelm Grimm (1854) Bd. 3 Sp. 924 f] liest man über
dieses Wort: ernst bezeichnet immer das wirklich gemeinte, wahre, feste und eifrige, den gegensatz von
scherz und spasz... zugleich liegt dem ernst die bedeutung von eifer und zorn unmittelbar nah... und so stellen
sich ërnst und spil, ernster kampf, wo es ans leben geht, und spil, bloszes ritterspiel, turnier einander oft
entgegen... und da mhd. ërnst wirklichen streit und kampf, ags. eornest sogar zweikampf bedeutet
47
nur ernst. Also, sie ist beides. Aber ich nenne sie Kunstmusik im Gegensatz zur
kommerziellen Musik.
In der Programmierung des Festivals Wien Modern, in dessen Programmbuch 2008 dieses
Zitat abgedruckt war, spielt die Berücksichtigung des so genannten Pop im Spannungsfeld
zwischen Mode und innovativen künstlerischen Ansätzen eine gewisse Rolle. Die subtile
Verbindung aus elektronischer Klangforschung und popkulturellen Energien sind für den
künstlerischen Leiter Berno Odo Polzer eine spannende Kombination, die den
Mechanismen der Gegenwart entstamme. Er erwähnt, dass für viele Musikschaffende aus
diesem Zwischenbereich zwischen E und U die Auseinandersetzung etwa mit Stockhausen,
Xenakis und Cage wichtig war145. Das bestätigt Karlheinz Stockhausen in erwähntem
Gespräch mit David Paul auch schon 1997, in dem er auch auf seine populärmusikalischen
Wurzeln verwies. Viele Popmusiker hätten behauptet, von ihm gelernt zu haben, die
Musiker von Grateful Dead und Jefferson Airplane z. B. besuchten 1966-67 seine
Kompositionsklassen in Davis/Kalifornien.
1.2.13 Zusammenfassung
Die Begriffe, die im deutschsprachigen Raum für die heute entstehende abendländischartifizielle Musik verwendet werden, sind im heutigen Verständniskontext in erster Linie
chronologisch (Neue Musik, Moderne Musik, Aktuelle Musik, Musik der Gegenwart oder
heutige Musik, Zeitgenössische Musik). Der Begriff Avantgarde bezeichnet eine gewisse
Dynamik (Vorreiterrolle) des Neuen, die mit dem Experiment in Verbindung steht, heute
aber meiner Meinung nach ein historischer ist. In der Diskussion der Postmoderne ist der
Begriff der Avantgarde allerdings wieder aktuell. Auch der Begriff Experimentelle Musik
bekommt im Zusammenhang mit postmodernen Konzepten wieder Aktualität, - der Begriff
der Musik der Postmoderne ist bezüglich der Haltung, die hinter dem Begriff steht, der
aktuellste und am meisten geladene.
Der Begriff Neue Musik als eine plurale Kategorie der Musik des 20. Jahrhunderts wurde
gleichzeitig zu einer Marke stilisiert und ist als solche nur scheinbar als ein Mittel der
Orientierung in der gegebenen pluralistischen Vielfalt zu sehen. Stephen Davies führt in
diese Diskussion noch einen anderen Aspekt ein, nämlich die öffentliche Einschätzung,
dass Musik auch ein Wort der öffentlichen Sprache sei. Er argumentiert, dass Kreative
145
Berno Odo Polzer in einem von Carsten Fastner geführten Interview Das Projekt Avantgarde ist
Geschichte. In: Falter 42a/08, Beilage Wien Modern zum Falter 42/08. Wien 2008, S. 20
48
zwar die geltenden Normen ihrer Musikkultur herausfordern, zurückweisen oder zu
unterlaufen versuchen, trotzdem aber an vielem festhalten müssten, das für den Begriff
Musik charakteristisch ist. Im Laufe der Zeit, so Davies, können alle Regeln erodieren, so
dass die zeitgenössische Musik nur mehr wenig wie ältere Musik klinge und von denen,
die mit der älteren Musik vertraut waren, nicht mehr als Musik aufgefasst werden könnten.
Die Tatsache, dass dieser Prozess sich nur schrittweise vollziehe, sei dafür verantwortlich,
dass das Neue mit dem Vorangegangenen soweit in Verbindung bleibe, dass es
vernünftigerweise als Musik gelten könne. Wenn wir eine Zeit erreicht haben, in der Stille,
Fabriklärm und vieles andere mehr als Musik gelten kann, dann zeigt das nicht, dass der
Begriff leer ist, sondern dass die geschichtliche Entwicklung des Begriffs eine zentrale
Rolle für seine Identität spielt146.
146
Stephen Davies (2007) S. 72 f. David Brackett entwickelt einen ähnlichen Zugang zur neuen
Begrifflichkeit. Nicht der Zusammenbruch der Kategorien, sondern die Entdeckung neuer Verhältnisse in
und zwischen diesen, sowie eine neue Art, diese neuen Verhältnisse auf ökonomischer und technischer Ebene
zu artikulieren, sei gefragt. (Rather than the collapse of categories, it seems to me that one of the explanatory
uses of a term like postmodernism is to shed light on new relationships within and between categories, and
new ways in which those relationships are articulated with shifts in the economic and technological levels of
cultural production. In: David Brackett, "Where's It At"- Postmodern Theory and the Contemporary Musical
Field. In: Judy Lochhead (2002) S. 224
49
1.3
Music – Antimusic
1.3.1 Ritwik Sanyal
Der Indische Musikwissenschafter und Dhrupad147-Meister Ritwik Sanyal unternimmt in
seiner Dissertation Philosophie der Musik148 den Versuch einer Definition des Begriffes
Musik als Wort, als Konzept und als Situation unter Berücksichtigung Indischer und
westlicher Begrifflichkeit, Logik und ästhetischer Theorie. Entlang seiner Methode der
philosophischen Analyse ergibt sich eine Definition von Musik als Wertbegriff sowie in
Form eines Kriterienkataloges zur Klassifizierung bzw. Beurteilung von Musik auf der
Basis der Vorstellung des musikalischen Prozesses als Interaktion aller an der
musikalischen Kommunikation Beteiligten.
In Betrachtung der Vielfalt musikalischer Phänomene orientiert er sich zunächst an
Begriffspaaren aus der musikalischen Praxis (regional/global, indisch/westlich,
klassisch/modern, etc.) zu denen er auch das Begriffspaar Musik – Antimusik (music –
antimusic) setzt. Die Unterscheidung music – antimusic hängt von Regeln ab, welche
traditioneller bzw. konventioneller Weise anerkannt sind und unter deren Befolgung Musik
den Menschen berühren und mystische Dimension erreichen kann bzw. wird. In diesem
Fall nennt er Musik Musik. Mit dem Begriff Antimusik meint Ritwik Sanyal aber zwei
Bereiche. Im ersten wird diesen Regeln oder Prinzipien aus Unkenntnis oder Unvermögen
nicht entsprochen. Diese Antimusik wäre als defekte oder fehlerhafte Musik zu bezeichnen.
Dazu zählt Sanyal auch vulgäre Musik, die die genannte mystische Ebene nicht anstrebt.
Werden die Regeln aber experimentell gebrochen, um etwa neue Regeln aufzustellen oder
einzigartige musikalische Artefakte zu schaffen, spricht er von Antimusik oder
Avantgarde149.
147
Dhrupad ist der strengste der Indischen Gesangstile. Da der klassische Dhrupad (Dhruvapada) als sehr
schwierig gilt, wird er heute nur noch von einigen wenigen großen Musikern vorgetragen. Aus: Alain
Danielou, Einführung in die Indische Musik. Wilhelmshaven 1996, S. 82 f
148
Ritwik Sanyal, Philosophy of Music. New Delhi 1987
149
Die experimentelle Musik der Avantgarde entspringt aus der Sicht Sanyals mehr dem Intellekt und
weniger dem Herzen und meint damit die mystische Ebene. Das Herz wird im Hinduismus auch als der Ort,
an dem alles grundgelegt ist und Ruhe findet beschrieben, sowie als Zustand der Vibration und als Strahlen,
das zu einer Identifikation (Energie der Freude) führt, bezeichnet. (In: Bettina Bäumer, Trika: Grundthemen
des kaschmirischen Sivaismus. Innsbruck 2003, S. 109. Diese Ansicht reflektiert Clytus Gottwald ähnlich:
Die musikalische Moderne wird mit Begriffen wie Aufklärung, Rationalität, Intellektualität, negativ mit
Begriffen wie Gefühlskälte, Traditionsfeindschaft oder Dogmatik zusammengebracht, kaum jedoch mit dem
Begriff Religion. In: Clytus Gottwald (2003) S. 5. Der romantische Mesmerismus, der eindeutige
Verbindungen zu indischem Gedankengut sowie zum Yoga aufweist, nimmt zwei unterschiedliche
Nervensysteme im menschlichen Körper an, das sympathische Nervensystem und das des Gehirns. Die
Aktivität des sympathischen Systems wird im magnetischen Zustand vor allem in Herz bzw. Herzgrube als
50
Der Begriff antimusic oder anti-music ist zwar auch in der westlichen Welt da und dort in
Gebrauch150, jedoch nicht (mehr) für die so genannte Avantgarde oder Neue Musik. Das
Präfix anti (griechisch gegen, wider) impliziert eine Haltung, die nur bedingt mit der der
Neuen Musik identisch ist. Im Kontext dieser identifiziert Sanyal antimusic als creative
noise, silence, or a shift from nice noise to noise which is more noisy than nice151.
Er unterscheidet drei Arten von Antimusik: 1. technologische Musik, 2. höllische Musik,
die die soziale Realität der Zeit widerspiegelt, und 3. mystisches Geräusch. Für Sanyal ist
antimusic (Gegenmusik) nicht mit nonmusic (Nichtmusik) gleichzusetzen, - antimusic sei
eine Art der Gattung music. Er nennt einerseits die Zweiheit von Musikalischem und
Nichtmusikalischem, - andererseits - im Bereich des Musikalischen - die der Musik und
der Antimusik.
Im Rahmen der Fragestellung nach einer Möglichkeit der Definition von Musik nennt er
als eines der Gegenargumente die zeitgenössische Praxis der so genannten Avantgarde, die
er größtenteils als anti-music bezeichnet: Side by side with the serious experimentalists
unfolding the meaning of music and extending its boundaries, there are those who indulge
into anti-musical antics and reduce music to absurdity. This anti-music can be identified
with silence, noise or a shift from musical sound to noise which is more noisy than nice
and yet to be called music.
Er konstatiert zwei Extreme in der Neuen Musik, Geräusch und Stille. Diese Stille, hier
dem Nihilismus zugeordnet, findet sich als Theorie in alten Texten wieder (struck –
unstruck, audible – inaudible), - Geräusch und Stille sind aber auch integrale Teile der
Musik. Das Konzept ãghãta ist sowohl dem Geräusch verwandt als auch der von
Deutlichkeit und Schärfe abhängigen Resonanz, - das Konzept von laya liegt in der Pause,
die Stille ist. Laya wird als Pause definiert, die unmittelbar auf eine Aktion folgt152. In
diesem Zusammenhang ist Musik bzw. Klang ein Ereignis, das die ursprüngliche Stille
unterbricht und schließlich wieder in Stille endet. Sie vermindert diese nicht, sondern gibt
ihr vielmehr eine Form. Tibeter und Hindus betrachteten die Geburt des Klanges als ein
dem sensiblen Mittelpunkt der Gesichte und Gefühle gespürt. Diese Mitte wird auch sympathisches Herz
genannt, die allgemeine Lebensmitte. Im stillen Verkehr, also einer Wechselwirkung bzw. einem
Zusammenspiel mit dem Gehirn, ist das Herz das rastlose, leibliche Gewirke der imaginativen, bildend,
zeichnend, mahlend, musikalisch und poetisch thätigen Seele. In: Karl Baier (2009) S. 229
150
etwa: http://www.anti-music.com/29. 02. 2008, Ritwik Sanyal hat diesen Begriff vom Westen
übernommen. Nach seiner Auskunft war der Begriff Anti-music zurzeit der Abfassung seiner Dissertation
eine damals übliche Bezeichnung für die Musik der westlichen Avantgarde.
151
Ritwik Sanyal (1987) S. 7 [kreatives Geräusch, Stille, oder der Wechsel von angenehmem Geräusch zu
einem, das mehr geräuschhaft als angenehm ist] Als Beispiel bringt er John Cage, 4’33’’
152
Ritwik Sanyal (1987) S. 39 ff
51
religiöses Geheimnis, in das die Seele nicht unwürdig eintreten dürfe. Die Geburt des
Klanges existiere nur für diejenigen, die, sich der ursprünglichen Stille bewusst, die
verborgenen Quellen der Innerlichkeit in sich wachsen fühlen.
Musik ist die Tochter der Stille, ....es liegt in der Abwesenheit von sich selbst, in der Musik
ihre Erfüllung erreicht. Deshalb müssen Klänge verklingen und sterben, um der
musikalischen Arbeit zum Leben zu verhelfen153.
Auch die psychologischen und soziologischen Aspekte seiner Fragestellung beinhalten die
Diskussion der Neuen bzw. Anti-Musik: moderne Kunst im Allgemeinen und Neue Musik
im Speziellen hätten sich einer negativen Kritik des Lebens hingegeben. Adorno versuchte,
die Dissonanz in der Musik als einen Ausdruck der gegenwärtigen sozialen Realität zu
rechtfertigen, - ihr unharmonischer und geräuschhafter Charakter korrespondiere mit der
Umweltverschmutzung und dem der Natur entfremdeten Menschen der modernen
Gesellschaft.
Ernest Ansermet, der in seiner an Husserl orientierten Phänomenologie der Musik ein
geschlossenes System des musikalischen Hörens und musikalischen Bewusstseins
vorgelegt hat, ordnet - seinen Studien zufolge – die späteren Werke John Cages und die
elektronische Musik einem außermusikalischen Bereich zu, weil diese Art von Musik keine
mitteilbare Sprache sein kann. Das tonale Gesetz ist für Ansermet eines des musikalischen
Bewusstseins, - ein inneres Gesetz, während Gesetze wie das der Reihe äußere darstellen.
In diesem Fall sei die Transzendenz materialisiert und hätte die Tiefendimension
eingebüßt154. In diesem historischen Dokument können wir auch über die
Nachkriegsgeneration von Boulez, Stockhausen und Nono lesen, deren „Musik“ (unter
Anführungszeichen!) sich auf Klangstrukturen beschränke, die für den Hörer äußerliche
Phänomene bleiben würden, weil alle Voraussetzungen für ihre Verinnerlichung dahin
sind. Das innerliche Phänomen, das aus den klanglichen Phänomenen erst „Musik“ macht
– der Einbildungsakt und seine sinngebende Tätigkeit – kann nicht sattfinden: die Musik ist
aus155.
153
Gisele Brelet, zitiert in Ritwik Sanyal (1987) S. 41
Ernest Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewusstsein. München 1965, S. 545 f
155
Ernest Ansermet (1965) S. 575
154
52
Ansermet, der von seinem auf die Tradition bezogenen System ausgeht, beschreibt wie
Sanyal die aus einer geschlossenen Systematik herausfallendes Phänomene, die er an
anderer Stelle Auch-Musik und Nichts der Musik156 nennt.
In jedem Fall aber, auch in der Bewertungsfrage, die die objektiven Komponenten
untersucht und etwa die Möglichkeit zu unterhalten nennt, ist anti-music im weit gefassten
Begriffsfeld Musik als ein Randbereich enthalten.
Im Kapitel Music of the Seven Spheres nennt Sanyal die sieben Stufen des Lebens
(infancy/frühe Kindheit, childhood/Kindheit, youth/Jugend, manhood/Mannesalter,
elderliness/reifes Mannesalter, old age/hohes Alter und ripe old age/reifes hohes Alter)
und setzt diese mit den sieben Bereichen des Klanges in Beziehung. Zu diesen gehören
Klänge, die im überirdischen Klang eintauchen bzw. als Infra- und Supraschall für uns
Stille bedeuten und als solche das Gegenteil von dem darstellen, das den Hintergrund der
Musik ausmacht157.
1 Bereich der körperlichen Empfindung (bodily sensation)
2 Bereich der Sinnesempfindung (sense perception)
3 Bereich der Wahrnehmung (perceptual conception)
4 Bereich der Logik (conceptual reasoning)
5 Bereich der logischen Beurteilung (reasoned judgement)
6 Bereich der gerichteten Handlung (judged action)
7 Bereich der handelnden Bewusstwerdung (acted realization)
Diese Bereiche werden in zwei Hemisphären unterteilt, - in der einen (sieben Welten) sind
die Musik und das Entzücken angesiedelt, in der anderen (sieben Unterwelten) Antimusik
und deren Wüst- und Verworrenheit (revelry). Diesen gibt Sanyal dem Sanskrit entliehene
156
Ernest Ansermet (1965) S. 575 f: Eine Dame hat einmal zu mir gesagt: „Wissen Sie- diese Musik hat mich
mein Ohr zu üben gelehrt.“ Wahrhaftig! Sie hat sich wohl noch nie darüber Rechenschaft gegeben, dass
beim Musikhören die Aufmerksamkeit gänzlich auf das Erlebnis gerichtet ist und dass man dabei nicht mehr
auf die Ohren achtet als beim Gehen auf die Beine. Selbige Dame aber behauptete keineswegs, etwas
„verstanden“ zu haben, und es ist ja auch tatsächlich unmöglich, dass diese Auch-Musik mehr als
Anwandlungen eines Sinnes für den Zuhörer haben könnte; denn die Sinn-Voraussetzungen der Musik, die
wir ja kennengelernt haben, sind hier ausgeschlossen. ... Nun wissen wir aber, dass der Sinn der Musik durch
ein nichtreflexives System von Logarithmen bedingt ist und dass willkürliche Berechnungen, die mit den
tonalen gesetzen nicht übereinstimmen, diese Logarithmen von außen her in keiner Weise beeinflussen
können. ... Und aus ihren Formeln, ihren Berechnungen und ihrer Ästhetik machen sie Auslegungen, die
ihnen das einzige Mittel liefern, das Nichts ihrer Musik zu verteidigen.
157
Ritwik Sanyal (1987) S. 175 f
53
Namen (Himmel: bhÚrloka, bhuvarloka, svarloka, maharloka, janaloka, tapoloka,
satyaloka. Höllen: atala, vitala, sutala, mahÁtala, talÁtaka, rasÁtala, pÁtÁla),
verwendet sie aber nicht in ihrer mythologisch-kosmologischen Bedeutung. Im Vergleich
dazu erwähnt er die in seinem ersten Kapitel genannten sieben Modi der Erfahrung
(1 bodily sensation, 2 sense perception, 3 perceptual conception, 4 conceptual reasoning,
5 reasoned judgement, 6 judged action, 7 acted realization), die den sieben Stufen der
Erkenntnis entsprechen:
Theorie
Praxis
7 Mysticism
Yoga
6 Religion
Morality and ritual
5 Philosophy
Fine Arts
4 Formal logic
Arguments
3 Science
Technology
2 Commonsense
Crude arts
1 Prelogical apprehension
Bodily behaviour
Die Musik gehört in dieser Darstellung dem 5. Bereich an, erscheint aber auch in allen
anderen Bereichen. Sie steigt zu niederen Sphären ebenso hinab, wie sie zu den höheren
aufsteigt (bis zur Kunst des Yoga in mystischer Musik).
Die Struktur der Musik als praktische Verwirklichung auf jeweils diesen sieben Stufen
stellt sich wie folgt dar:
1 prelogical natural
2 commensenseical
3 scientific
4 formal logical
5 philosophical
6 religious
7 mystical
54
Abb. 1: Ritwik Sanyal, Die sieben Sphären des Klanges158
Swami Pratyagatmananda159 verwendete die genannten Sanskrit-Namen, um die Stufen der
spirituellen Entwicklung zu bezeichnen. An der aufgegliederten Darstellung interessiert
mich hier wieder die Position der Antimusik, die jedes Mal extra erwähnt und explizit dem
Bereich der Hölle zugeordnet ist :
1
Music of bhÚrloka vom Körper wahrgenommen als Klang- oder Sprachmuster, die
gleichförmige Bewegungen stimulieren
Antimusic of atala ist charakterisiert durch vulgäre Körperbewegungen, schlechte
Eigenschaften auf der körperlichen Ebene (Anatonie und Physiologie)
2
Music of bhuvarloka die organischen Empfindungen werden zu den einzelnen
Sinnesorganen (Ohren, Augen, Nase, Zunge, Haut) geleitet und von diesen als Objekte
wahrgenommen. Das allgemeine Kriterium für Realität auf dieser Ebene ist
wahrgenommen zu werden. Die meisten von uns leben die meiste Zeit auf dieser Ebene.
158
Ritwik Sanyal ( 1987) S. 176
Japasutram, The Science of Creative Sound/Swami Pratyagatmananda Saraswati. Reprint. Chennai, Vak
Parampara, 2007
159
55
Ein solches Publikum legt Wert auf laute Musik, - auf Musik, die laut genug ist, um gehört
zu werden
Antimusic of vitala überschreitet diese Grenzen quantitativ und qualitativ, - hier findet
man alle Arten von bizarren, dünnen und lauten Klängen und Stimmen, - schlechte
Eigenschaften wie gedämpfte, nachlassende Stimme, aufgeblasener Hals
3
Music of svarloka Konzepte und Strukturen, Klangmuster als tonale Bewegung
wahrgenommen, die Eigenschaft ist Kompaktheit, die ein besonderes Merkmal der
westlichen technologischen Musik ist. Hier drückt Sanyal seine Besorgnis aus, dass die
technologische Lawine die Kreativität des Menschen auslöschen und ihn gegen seinen
Willen der Kunst enteignen könnte.
Antimusic of sutala meint nicht die gesamte technologisch orientierte Musikproduktion,
aber vieles entbehrt differenzierte künstlerische Dimension. Die Neue Musik oder
Avantgarde des Westens hat viele antimusikalische Experimente gemacht, wie auch die
Avantgarde im Allgemeinen (Antidichtung, Antikunst, Antitheater). In ihren Disziplinen
Metaethik, Metaphilosophie usw. hat sie versucht, die Grenzen der Verständlichkeit zu
erreichen. Die Mittel waren: neue Kombinationen bereits existierender Instrumente,
unübliche Verwendung gebräuchlicher Instrumente, und Experimente mit neuen
Tongeneratoren. Entwicklungen in der physikalischen und elektronischen Akustik haben
zu zahlreichen Experimenten in der Produktion musikalischer Klänge geführt. Die neuen
Klänge, verbunden mit neuen rhythmischen, harmonischen, melodischen und tonalen
Konzepten machen es schwierig, die Musik in Begriffen herkömmlicher Ästhetik zu
fassen. Einer der signifikantesten Aspekte moderner Musik betrifft neue Konzepte der
Tonalität, die sich nie zuvor so radikal geändert haben wie im 20. Jahrhundert. Antimusik
meint gestörte oder fehlende Kompaktheit tonaler Bewegung.
4
Music of maharloka konzeptuell logisch durchdachte Subjekte einer Klangmatrix,
Anteilnahme und Verständlichkeit
Antimusic of mahÁtala überschreitet diese Grenzen quantitativ und qualitativ und zerstört
sie zugunsten einer Unmenge an bizarren Tonkombinationen. Die schlechten
Eigenschaften wären unangebrachte Mikrotöne, Verwirrung, Überschreitung angemessener
Ordnung
56
5
Music of janaloka erscheint als rational ausgerichter Wert der Klangmatrix, als selbst
geleiteter innerer Verstand
Antimusic of talÁtala ist durch das Gegenteil der Eigenschaften weich (creamy) oder
Vollständigkeit charakterisiert. Die schlechten Eigenschaften sind u. a. heiser, krähenartig,
bedeutungslos, unanständig oder unkultiviert, unvollständig
6
Music of tapoloka Sanyal unterscheidet hier zwischen geistlicher und weltlicher,
tiefgründiger und weltlicher Musik. Geistliche Musik ist dasselbe wie religiöse Musik,
aber unter profunder, tiefgründiger Musik verstehen wir beides, religiöse und mystische
Musik.
Religiöse Musik ist reich an Gefühlen der Frömmigkeit, der Moral und des Patriotismus.
Sie ist ergreifend und wunderbar.
Antimusic of rasÁtala ist durch das Gegenteil von ergreifend, erhaben und den anderen
guten Eigenschaften der religiösen Musik charakterisiert. Die schlechten Eigenschaften
Trockenheit, Fröhlichkeit und Ekel verletzen die religiösen Gefühle der Zuhörer mit
Absicht.
7
Music of satyaloka entspricht der mystischen Realität, die durch yogische Praxis erreicht
wird, sowie der musikästhetischen Eigenschaft ruhig/friedvoll.
Antimusic of pÁtÁla ist durch das Gegenteil von Ruhe charakterisiert. Die schlechten
Eigenschaften sind: zu hohe Tonlage, der Bruch mit allen musikästhetischen Regeln,
Künstlichkeit, Entstellung und laute, gespreizte Stimme
Während in dem von Sanyal beschriebenen System die Musik letzten Endes in den Himmel
führe, führe die Antimusik in die Hölle.
1.3.2 Athanasius Kircher und Robert Fludd
Ähnliche zweipolige kosmologische Systeme finden sich in der europäischen
Kulturgeschichte wieder. In der barocken Antithetik, der etwa Athanasius Kircher nahe
stand, war der Kampf der katholischen Kirche gegen die Reformationsbestrebungen ein
57
Kampf des Guten gegen das Böse. Kirchers Denken war ebenfalls diesem zweipoligen
Denken verpflichtet, indem er Konsonanz und Dissonanz, Licht und Schatten
gegenüberstellte. Die Idee der Aufhebung dieser Polaritäten durch Mischung ihrer
Substanzen ist eine, die in der Alchemie zu Hause ist. Die Musik nahm in seinem Weltbild
einen wichtigen Platz ein. In Kirchers an Pythagoras orientierter Vorstellung sind
mathematisch-physikalischer Prozess und göttlicher Äußerungsakt eins. Harmonisch
vollkommene, also schöne Musik könne stark heilend wirken, disharmonische Musik
bewirke das Gegenteil und versetze die Seele in Turbulenzen. Seine Idee der musica
pathetica entsprach der damaligen Vorstellung vom Zweck der Musik, Rührung
hervorzubringen160.
Vergleichbare Vorstellungen entwickelte Robert Fludd, der die Welt u. a. durch das
Monochord zu beschreiben versuchte. Ebenfalls entlang den Entdeckungen von
Pythagoras kommt er zur Analogie von Wirklichkeit und Zahl. Die Grundlagen seines
Modells bilden zwei vertikale gleichschenkelig spitzwinkelige und in einander geschobene
Dreiecke, von denen eines die Basis in der hellen himmlischen Sphäre hat, das andere ruht
in der dunklen Materie des Erdinnern. Auch hier deutet die Sphäre der Äquivalenz in der
Mitte, die die Konstruktion im Gleichgewicht hält, auf alchemistisches Gedankengut. Die
beiden Dreiecke verhalten sich reziprok dynamisch zueinander und repräsentieren den
Aufstieg der Materie zum Göttlichen sowie das Wirken des göttlichen Prinzips zur Erde
hin. Diese beiden Elemente sind in dem Modell, dem das Monochord zugrunde liegt, durch
die beiden Oktaven der einzigen Saite repräsentiert, die sich über die gesamte vertikale
Hierarchie zwischen äußerster Dunkelheit und strahlendem Licht erstreckt. Das Verhältnis
von Dunkelheit und Licht erkennt Fludd als das theologische Problem von Finsternis und
Entbehrung, - in der Entbehrung die Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit. Die
Dunkelheit bzw. das Böse sei nicht einfach die prinzipielle Abwesenheit von Licht bzw.
des Guten, sondern seien komplementär zu begreifen. Sie durchdringen einander wie die
Dreiecke seines Weltmodells161.
160
Siegfried Zielinsky (2002) S. 147 ff
Siegfried Zielinsky (2002) S. 128 ff. Vgl. dazu Slavoj Zizek (2003) S. 89, der von der positiven Kraft des
Bösen spricht, die es anzuerkennen gelte, ohne zu einem manichäischen Dualismus zu regredieren. Schelling
entwickelte die Methode dazu: Das Böse unterscheide sich nicht „substantiell“ vom Guten, es sei keine
positive Kraft, die diesem entgegengesetzt ist, sondern das Böse sei substantiell dasselbe wie das Gute,
lediglich ein anderer Modus (oder eine andere Sichtweise) desselben. Kierkegaard sah das Böse als das im
Werden begriffene Gute, sowie den radikal negativen Bruch mit der alten substantiellen Ordnung als
Bedingung einer neuen Universalität.
161
58
Abb. 2: Robert Fludd, Das Weltmonochord162 Abb. 3: Robert Fludd, Dreiecksmodell163
Die prominenteste abendländische Darstellung eines polaren Weltbildes, das, wie die
beiden zuvor beschriebenen, eine dritte Vermittlungsebene vorsieht (hier das Purgatorio),
ist die schon wesentlich ältere in Dante Alighieris Göttlicher Komödie.
1.3.3 Dante Alighieri
Der Begriff anti-music erscheint in ganz anderem Zusammenhang als dem vorher
erwähnten in einem Essay von Maria Ann Roglieri164. Im Inferno, dem ersten Teil der
Göttlichen Komödie165, beschreibt Dante seine Reise durch das Jenseits. In lebendiger,
bildhafter Metaphorik schildert er neben den visuellen auch die akustischen Eindrücke, die
seinen Weg säumen. Maria Ann Roglieri erkennt in diesen verbal evozierten Klangkulissen
nicht Musik im gewohnten Sinn, sondern eine Musik, die unserer menschlichen Musik
162
Siegfried Zielinski (2003) S. 131
http://z.about.com/d/altreligion/1/0/T/-/-/-/2triangles.jpg
164
Maria Ann Roglieri, Twentieth-century musical interpretations of the „anti-music“ of Dante’s Inferno.
Italica 2002
165
Dante Alighieri (1265 – 1321), Die Göttliche Komödie. Stuttgart 1949
163
59
entgegengesetzt ist: Anti-Musik. Dante selbst verwendete diesen Begriff nicht, - es war
Edoardo Sanguineti166, der ihn eingeführt hat.
Dieser schreibt in seinem Text über höllische Akustik, dass die Geräuschkulisse der Hölle
nicht ausschließlich Leerheit oder Lücke ist, sondern vielmehr eine Fülle einer
unharmonisch harten und akustisch widerwärtigen Antimusik vermittle. Das im Inferno
beschriebene Gehörte, das im Text dem Gesehenen meistens vorausgeht, ist oft auf
Verzerrungen und Verdrehungen des Heiligen gerichtet, - am bemerkenswertesten ist der
Venantius Fortunatus Hymnus im 34. Gesang167. Diese Parodie baut im Purgatorio II eine
Zweiteilung zwischen dem Himmels- (In Exitu Israel de Aegypte) und dem Erdenlied
(Amor che nella mente mi ragiona) auf. Diese Zweiteilung dramatisiert den Beginn der
Bewegung „Vom ästhetischen zum ethischen Leben“ und einer Überschreitung
(transcendence) beider168.
Die sprachlich evozierten, unterschiedlichen und meist vokalen Klangwelten in Dantes
Göttlicher Komödie sind kalkuliert und präzise eingesetzt. Der Klangraum ist meist vom
Schreien und Wehklagen, von einer gedemütigt menschlichen und dämonischen Vokalität
im unvermeidlichen Register von Schreien und Zähneknirschen besetzt169.
Roglieri stellt nun die Frage, was an dieser Musik so schrecklich sei, dass sie genau das
Gegenteil von dem repräsentiere, was konventionelle Musik bedeutet. Antimusik sei, aus
166
Edoardo Sanguineti, Infernal Acoustics: Sacred Song and Earthly Song, Lectura Dantis 6.
Charlottesville/VA 1990.
167
Dante S. 403, Vexilla regis prodeunt inferni – Virgil parodiert mit diesen Worten den Karfreitagshymnus
des Vernantius Fortunatus, indem er ihn von dem kreuztragenden Christus auf Luzifer überträgt: Vexilla
regis prodeunt,
Fulget crucis mysterium,
Quo carne carnis conditor
Suspensus est patibulo
Der Hymnus wirkt hier doppelt ironisch dadurch, dass der Herr der Hölle unbeweglich ist und nur die
Wanderer sich ihm nahen. Durch den Zusatz inferni wird zugleich auch das Motiv der Höllenfahrt Christi
angeschlagen, das auch in dem Hymnus selbst vorkommt. Es ist übrigens die Tageszeit, zu der droben auf der
Erde dieser Hymnus erklingt; vgl. F. D’Ovidio, Studi 562 f. A. De Vit, Illustrazione del vesro dantesco...
Alighieri III, 1891/2, 462-465 weist auf ein historisches Ereignis hin: bei der schauerlichen Plünderung
Paduas durch ein guelfisches Kreuzfahrerheer gegen Ezzolino da Romano im Jahre 1254 ließ der päpstliche
Legat wie zum Hohn diesen Hymnus singen. Aus: Hermann Gmelin, Vierunddreißigster Gesang. In: Dante
Alighieri, Die Göttliche Komödie. Band IV – Kommentar Erster Teil – Die Hölle. München 1988, S. 485
168
ebda, zitiert nach: Christopher Kleinhenz, American Dante Bibliography for 1990. In: Dante Studies
vol.109, Waltham/MA 1991. Drawing on therminology set forth by Boito and Shafer, the author argues that
"the soundscape of Hell ... cannot be reduced to mere musical emptiness" (excluding Nimrod's horn and
Mastro Adamo's belly); rather, there is a "meditated and meaningful plenitude of 'antimusic' ... [of]
disharmonic ha.rshness and acoustic unpleasantness." In the Inferno listening, which usually precedes seeing,
is often directed toward distortions and perversions of the sacred, most noteworthy the parody of Venantius
Fortunatus' hymn in canto XXXIV. This parody throughout the Inferno sets up the dichotomy in Purgatorio II
between the sacred song and the earthly song __ In Exitu Israel de Aegypto and Amor che nella mente mi
ragiona. This dichotomy dramatizes the beginning of the movement "from the esthetic to the ethical life" and
to a transcendence of both.
169
Edoardo Sanguineti (1990) S 69-79
60
Schreien und Klagen komponiert, eine pervertierte Form der Vokalmusik. Im Text des
Inferno erscheinen aber auch Instrumente wie Horn, Laute und Trommel sowie die Form
des Tanzes.
Diese radikal neue Antimusik in Dantes Inferno war bzw. ist eine faszinierende Anregung
für Komponisten, Stücke zu schreiben, die auf dessen klanglicher Ästhetik basieren. Diese
Fundgrube blieb aber vom 16. bis zum 19. Jahrhundert aufgrund der jeweils herrschenden
Konventionen praktisch unberührt und wurde erst von Komponisten im 20. Jahrhundert
aufgegriffen, begünstigt durch die neuen Techniken und Formen wie etwa die der
elektronischen Musik. Eine Ausnahme bildeten die Madrigalisten des 16. Jahrhunderts,
welche die im Inferno beschriebenen eigentümlichen Klänge des Wehklagens der
Verdammten in mehrstimmig chromatischen ausdruckstarken Sätzen abgebildet haben.
Roglieri nennt mehr als fünfzig Werke des 20.Jahrhunderts, denen Dantes Inferno zu
Grunde liegt170. Diese lassen sich in zwei Gruppen einteilen, diese, die einzelne Charaktere
wie Francesca oder Ugolino behandeln, und jene, die bestimmte einzelne Episoden
beschreiben171.
1.3.4 Noh-Theater
In der Suchbewegung noch weiter ausholend, widme ich mich nun einem Bereich, in dem
Musik ebenfalls eine tragende Rolle spielt. Musik, die Elemente in sich trägt, die - aus
unserer Perspektive betrachtet – der Idee der Antimusik entsprechen bzw. verwandt sind:
dem japanischen Noh172-Theater. Bevor ich auf dessen Musik eingehe, möchte ich einige
wesentliche Merkmale des Noh-Theaters erwähnen.
Es gibt zwei japanische traditionelle Künste, die in Europa relativ bekannt sind: Die Kunst
des Haiku und die des Noh-Theaters173. Das Wort Noh selbst ist ein buddhistischer Begriff
und bezeichnet die mentale Verbindung zwischen dem Darsteller und dem Publikum174.
Der Ursprung von Noh liegt im chinesischen bzw. koreanischen Sangaku, das zur Zeit der
alten Monarchie im 8. Jhdt. (Nara-Ära) nach Japan gekommen ist. In einigen Details ähnelt
das Noh-Theater der griechischen Tragödie, mit dem es den auf historischen oder
170
Ann Roglieri, Dante and Music. Musical Adaptions of the Commedia from the Sixteenth Century to the
Present. Hampshire 2001
171
Der Verfasser dieser Arbeit hat sich ebenfalls kompositorisch in seinem Werk für Altus und Elektronik
Don Giovanni /Introduzione (2006) mit diesem Thema auseinandergesetzt
172
Ich folge hier der in Europa üblichen Schreibweise
173
Kazuya Takaoka, Mutsuo Takahashi, Toshiro Morita, Noh. Tokyo 2004
174
aus: http://www.bookmice.net/darkchilde/japan/jnoh.html (1. 6. 2008)
61
legendären Figuren basierenden erzählerischen Charakter, die Verwendung von Masken
und die Miteinbeziehung von Musik und Tanz gemeinsam hat. Werden die Masken in der
griechischen Tragödie getragen, um dem Publikum die Unterscheidung der Rollen und
Charaktere zu ermöglichen, haben sie im Noh-Theater die Funktion, dem Schauspieler das
Einfühlen in die Rolle, die Identifikation mit dem jeweiligen Charakter zu erleichtern. Die
Hauptfiguren des Noh-Theaters gehören nicht unserer realen Welt an, sondern einer
Traumwelt, die ein reisender Mönch – eine Figur, die in allen Noh-Spielen in dieser
Funktion vorkommt - mit dem Publikum teilt. Die meisten Noh-Stücke haben eine Struktur
gemeinsam: ein Mönch (der keine Maske trägt) tritt auf, von seiner Pilgerreise erzählend.
Im Traum erscheint ihm der Geist eines Verstorbenen, der ihm von seiner Fixierung auf
seine Vergangenheit und von seinen Qualen, die er nun aushalten muss, erzählt und den
Mönch bittet, für seine Befreiung zu beten. Nachdem er durch das Gebet des Mönchs
Befreiung erlangt hat, drückt er seine Freude darüber mit einem Tanz aus.
Um eine solche Rolle zu spielen, genügt es nicht, nur ein Kostüm zu tragen, - der
Schauspieler muss in den Geist des darzustellenden Charakters eintreten, bevor er zu
spielen beginnen kann. Die Maske (omote) hilft ihm dabei, diese Tiefe der Identifikation
zu erreichen und die Konzentration während des Spiels aufrecht zu halten, um die
größtmögliche Wirkung auf das Publikum erzielen zu können. die Maske ist sozusagen die
Tür zu dieser anderen Welt. Omote meint die Vorderseite der Maske, die dem Publikum
zugewandt ist. Die Innenseite der Maske heißt ura, hinter der sich der Noh-Spieler in eine
Person aus einer anderen Welt verwandelt, in dem Bestreben, das Publikum dorthin
mitzunehmen. Er versucht, diesem mit seiner Ausstrahlung die Weise dieses Daseins und
Nicht-Daseins in dieser anderen Welt zu vermitteln. Die Masken selbst zeigen keinen
speziellen Ausdruck, doch gilt das nur für das Sichtbare. Im Dunkel des Maskeninneren
findet eine intensive Interaktion zwischen der Person der anderen Welt und dem NohSpieler statt. Diese Interaktion – von der ausdrucksneutralen Maske ausstrahlend - macht
das Spiel erst lebendig und wird als Überhöhung des Ausdrucks verstanden, - als ein
spiritueller Aspekt. Die Maske tragend, ist der Schauspieler vom Geist des von der Maske
repräsentierten Charakters beseelt. Diese Schauspieler müssen täglich üben, um diese
spirituelle Transformation vollbringen zu können. Zeami Motokiyo (14. Jhdt.), der als
Begründer des Noh-Theaters gilt, gab folgende Regel: Dô jûbu shin, dô nanabu shin
62
(Aktivität des Geistes 10, Aktivität des Körpers 7)175. Sie drückt das Prinzip aus, wonach
bei voller geistiger Aktivität des Schauspielers die körperliche zurückgehalten werden
sollte, sodass die spirituelle Energie von innen nach außen strahlen und eine Aura
erzeugen kann. Diese Aura wird vom Publikum als wesentlich Aspekt des Gelingens einer
Aufführung wahrgenommen und geschätzt.
Für die Rolle des Mönches gibt es kein Äquivalent in der griechischen Tragödie: er ist der
Vermittler zwischen dem Geist und dem Publikum, oder – in anderen Worten – dessen
Stellvertreter. Es handelt sich also in diesem Sinn um ein Drama, in dem der Geist durch
seinen Eintritt in die Traumwelt des Mönches in das Unterbewusste jedes einzelnen
Zuschauers gelangt. Die Zuschauer teilen sein Schuldbekenntnis bezüglich seiner
Anhaftung an das irdische Leben und seine Qualen in seinem Zustand nach dem Tod. Der
Geist repräsentiert die Toten. Das Miterleben erzeugt im Publikum ein Schuldgefühl, das
auftritt, wenn Lebende an die Toten denken, - das Gefühl, dass diese jenen etwas schulden,
- eine Schuld, die durch Gebete abgebüßt wird, die den Toten ermöglichen, Frieden zu
finden. Durch diesen Moment der engen Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten
hat Noh fundamentale Relevanz und wird als die Essenz der japanischen Kultur angesehen.
Im Noh-Theater wird die Grausamkeit oder Schwere unseres Lebens aus einer jenseitigen
Sicht beleuchtet.
Noh-Stücke sind Dramen von der Erlösung der Seelen, - auch wenn oft nur unbewusst,
sind sie für das Publikum spirituelle Therapie176.
Auch die Musiker des Noh-Theaters gehören zur Gruppe der Schauspieler bzw. Darsteller.
Sie eröffnen das Spiel und gehen zuletzt. Sie werden sogar als Hauptcharaktere bezeichnet.
Das Instrumentenensemble, das von ihnen gespielt wird, heißt shibyôshi (4 Rhythmen) und
besteht aus 4 verschiedenen Instrumententypen:nôkan (Flöte), kotsuzumi (kleine
Handtrommel), ôtsuzumi (große Handtrommel) und taiko –Trommel. Sie bilden ein
Quartett, das sich aber vom westlichen Begriff des Quartetts wesentlich unterscheidet. Sie
sitzen in einer Linie - nicht so, dass sie einander sehen können bzw. einen gemeinsamen
Klangkörper ergeben. Jeder Noh-Musiker konzentriert sich auf sein Instrument, das
Aufeinanderprallen der von ihnen erzeugten Klänge sowie die Spannung, die es erzeugt,
sind wichtige Bestandteile des musikalischen Effekts. Während ein westliches Ensemble
175
Meister Seami, Die geheime Überlieferung des Nõ. Aus dem Japanischen von Oscar Benl, Frankfurt am
Main 1986, S.89
176
Meister Seami (1986) S. 82 f
63
darauf abzielt, Klang zu schaffen, ist die Funktion der Noh-Musiker, Stille zu erzeugen, die
Abwesenheit von Klang. Diese Stille wird ma (Raum, Vakuum) genannt. Noh ist auch die
Einheit von Gesang und Tanz. Gesang ist hier der Ausdruck der Dichtung in der Stimme
des Hauptdarstellers. Die Instrumente begleiten diesen Gesang nicht, sie erschaffen den
Raum, in dem sich Gesang und Tanz entfalten können177. Ein wesentliches und für
europäische Ohren sehr auffälliges Element178 der Musik des Noh-Theaters sind die so
genannten Trommelrufe oder kakegoe. Diese von den Trommlern ausgestoßenen Rufe, die
sich stark von der übrigen vokalen Ästhetik unterscheiden und zum Teil wie Tierlaute
klingen, haben eine wichtige Funktion im musikalischen Gesamtablauf. Sie können mit der
Rolle des Dirigenten in der westlichen Musik verglichen werden, sind aber als klingende
Elemente einerseits Fremdkörper, andererseits selbst Teil der Musik. Die Trommler spielen
untereinander synchron und folgen grundsätzlich einer Struktur von jeweils acht Schlägen.
Ihre Rufe geben dieser rhythmischen Struktur Elastizität, die den Eindruck von Zufall
erzeugt, trotzdem aber für Klarheit sorgt. Aus diesem Grund ist es auch für Ungeübte
unmöglich, die acht Schläge zu zählen bzw. zu erfassen. Die Kakegoe koordinieren die
Aktionen der Schauspieler, Sänger und Instrumentalisten, tragen bzw. kontrollieren die
Spannung des ganzen Stücks179 und unterstreichen emotionale Wechsel. Es gibt vier
Grundtypen von kakegoe: yo, ho, iya und yoi. Yo und ho sind die am häufigsten
vorkommenden, die die musikalische Struktur schaffen und begleiten, während yoi das
baldige Ende eines Abschnitts signalisiert und iya das Ende bzw. den Anfang eines neuen
Abschnittes bezeichnet oder bestimmte musikalische Phrasen begleitet. Diese Rufe sind
Silben, die an sich keine Bedeutung haben, die aber alle am Spiel Beteiligten quasi
zusammen halten. Deshalb ist auch die Meinung verbreitet, dass die Trommelrufe für den
rhythmischen Ablauf des Noh-Spiels wichtiger sind als die Trommelschläge selbst180.
1.3.5 Fréderic Chopin
Alexander Becker bringt gegen Ende seines Artikels Wie erfahren wir Musik181
177
Meister Seami (1986) S. 346 f
Vgl. http://www.bte.org/index.php?page=drum-calls (29. 05. 2009): The first time I heard the music of
noh I nearly doubled over with laughter. The strange gutteral grunts of the drummers was too much for my
Western ears attuned to choral harmonies.
179
Richard Emmert, aus: http://www.bte.org/index.php?page=noh-music (29. 05. 2009)
180
Aus:. http://www.bte.org/index.php?page=drum-calls : [From the author’s Noh Preview column in the
Mainichi Daily News, April 22, 1986.] (29. 05. 2009)
181
Alexander Becker, Wie erfahren wir Musik. In: Alexander Becker/Matthias Vogel (2007), S. 306 ff
178
64
als Modell für den Nachvollzug182 den vierten und letzten Satz aus Fréderic Chopins
Klaviersonate in b-Moll op. 35. Dieser kurze Finalsatz ist deshalb bemerkenswert, weil
ihm alles, was eine strukturierte und nachvollziehbare Form ausmachen könnte, fehlt183.
Robert Schumann hat zu diesem Satz immerhin...denn Musik ist das nicht184 geschrieben.
Becker schließt aus der Analyse des Satzes und dem dazugehörigen Zitat Schumanns, dass
der Hörer sich durch diese quasi Anti-Musik verspottet fühle bzw. sie als unauflösbare
Irritation hinnehmen müsse185. Interessant ist in diesem Zusammenhang Beckers Deutung
als Modell für den Nachvollzug: der Hörer scheitert ja mit jedem Versuch, den Satz in
einer Weise nachzuvollziehen, die ihn als einheitliches, einen internen Zusammenhang
artikulierendes Gebilde erfahrbar macht. Der Bann, in dem der Satz den Hörer hält, ist
keine fassbare Einheit; es ist eine Einheit, die der Hörer unterstellt und die ihm zugleich
gänzlich entzogen bleibt. Dieser Bann zeitige die Suche nach einer Form auf seiten des
Hörers. Das anhaltende Scheitern beim Versuch, den Satz nachzuvollziehen, erzeugt eine
unauflösliche Spannung, die – wie Becker vermutet – der Musikerfahrung grundsätzlich
innewohnt186.
Das vorerst als Anti-Musik gekennzeichnete Musikstück wird in diesem Zusammenhang zu
einem Musterbeispiel für Musik an sich, – im Speziellen für das, was die Neue Musik
erreichen wollte und eine heutige noch zu erreichen versucht, – für Musik als ein
Sensorium für Prozesse, denen wir begrifflich (noch) nicht gewachsen sind187.
1.3.6 Anästhetik
Der Philosoph Wolfgang Welsch hat im Rahmen seiner Arbeit über Ästhetik188 den Begriff
der Anästhetik eingeführt, den er als Gegenbegriff zu Ästhetik verwendet.
Er meint damit jenen Zustand, in dem die Bedingung des Ästhetischen, die Tätigkeit des
Empfindens, aufgehoben ist. Während die Ästhetik das Empfinden stark macht,
thematisiert Anästhetik die Empfindungslosigkeit, und zwar im Sinne von Verlust,
182
vgl. Kapitel 1.4
Alexander Becker (2007) S. 308
184
Robert Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker. Leipzig 1883, zitiert nach Alexander
Becker (2007) S. 309
185
Alexander Becker (2007) S. 310
186
Alexander Becker (2007) S. 310 f
187
Matthias Vogel, Nachvollzug und die Erfahrung musikalischen Sinns. In Becker/Vogel (2007), S. 351
188
Welschs Definition von Ästhetik unterscheidet sich von der traditiionellen als einer, die auf das Schöne
bzw. die Kunst beschränkt ist. Er versteht sie als Aisthetik, - als Thematisierung von Wahrnehmungen aller
Art, sinnenhaften, geistigen, alltäglichen, sublimen, lebensweltlichen und künstlerischen. Aus: Wolfgang
Welsch, Ästhetik und Anästhetik. In: Ders., Ästhetisches Denken, Stuttgart 2003, S. 9 f
183
65
Verhinderung oder Unmöglichkeit jeglicher Sensibilität, von physischer Stumpfheit bis
geistiger Blindheit. Es ist ihm wichtig, Anästhetik von Anti-Ästhetik (die die Dimension des
Ästhetischen pauschal verwirft), vom Un-Ästhetischen (dem negativ Qualifizierten) und
dem Nicht-Ästhetischen (das keinerlei Bezug zu ästhetischen Fragen aufweist) zu
unterscheiden. Für Welsch ist Anästhetik vielmehr ein grenzgängerisches Doppel der
Ästhetik selbst. Bezug nehmend auf die Doppeldeutigkeit des Begriffs Aisthesis, der
sowohl Wahrnehmung als auch Empfindung, Gefühl oder Erkenntnis meinen kann, stellt er
in der traditionellen Auffassung von Ästhetik die Betonung des Kognitiven fest und ordnet
der Anästhetik primär die Empfindung zu. Anästhetik thematisisert einerseits die
Bedingung, andererseits die Grenze des Ästhetischen, also dessen Elementarschicht.
Anästhetische Tendenzen sieht Welsch in der Verfasstheit heutiger Wirklichkeit, nämlich
ihre zunehmende Bildwerdung, - die Bildlichkeit der medialen Welt. Krasser formuliert, ist
es die Auflösung der Wirklichkeit durch ihre simulatorische Überbietung.
Telekommunikation und zunehmende Medialität lassen die Menschen gegenüber der
eigentlichen, konkreten Wirklichkeit kontakt- und fühllos werden und zeitigen so soziale
Desensibilisierung. Die Formel, die Welsch für diese aktuelle Entwicklung findet,
bezeichnet er selbst als teuflisches Gesetz: Je mehr Ästhetik, desto mehr Anästhetik189.
Interessant ist Welschs Zuordnung der beiden Begriffe Ästhetik und Anästhetik in Hinblick
auf die Epochen Metaphysik, Moderne und Gegenwart. In der Metaphysik ist der Mensch
auf das Übersinnliche hin, also weg vom Sinnlichen, ausgerichtet. Metaphysik handle vom
Unbewegten, Unveränderlichen, Unsinnlichen. vom Nichträumlichen und Nichtzeitlichen.
Das Unsinnliche ist das Anästhetische. Die Moderne vertritt das gegenteilige Ideal,
nämlich das der Ästhetik.
Die Gegenwart, die Welsch als die Postmoderne bezeichnet, sieht er im Lichte einer
Dialektik von Ästhetischem und Anästhetischem. Diese Dialektik sehe ich auch in dem in
diesem Kapitel thematisierten Begriffspaar Musik und Antimusik. Die Verbindung bzw. das
Wechselspiel dieser beiden Begriffsmodule ist für die dialektische Dynamik des Begriffs
Musik verantwortlich, welche die Hauptthese Wolfgang Welschs unterstützt, nach der die
Anästhetik der Ästhetik nicht von außen zustößt, sondern aus ihrem Inneren kommt190.
Um diese Feststellung zu untermauern, bedient sich Welsch wahrnehmungspsychologischer und wahrnehmungsphänomenologischer Berfunde. Aus der Gesaltpsychologie
189
190
Wolfgang Welsch, Ästhetik und Anästhetik. In: Ders. (2003), S. 9 ff
Wolfgang Welsch, Ästhetik und Anästhetik. In: Ders. (2003), S. 31
66
stammt die Erkenntnis, dass zu jedem Wahrnehmen ein Nicht-Wahrnehmen gehört, und
dass diese Selektivität für das Wahrnehmen konstitutiv ist. Die Neurophysiologie ist heute
fähig, diese Erkenntnis noch besser darzustellen: kognitive Systeme können nur dann
umweltoffen operieren, wenn sie auf sich selbst bezogen geschlossen sind, was heißt, dass
wir nicht aus dem Grund sehen, weil wir nicht blind sind, sondern weil wir für das meiste
blind sind, - etwas sichtbar machen heißt, etwas anderes unsichtbar zu machen. Weiters ist
es wichtig – nicht zuletzt für die weiter unten versuchten Analogieschlüsse zwischen
Bildern und Musik – auf die unterschiedliche Struktur der Wahrnehmungsfelder des
Sehens und des Hörens hinzuweisen. Das visuelle Wahrnehmungsfeld ist eines des
Überblicks, das des Hörens ist bipolar und ereignishaft strukturiert. Die Bevorzugung eines
Sinnestyps ist für Welsch deshalb nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine
anästhetische Entscheidung, weil sie die jeweils andere Struktur ins Abseits, sogar ins
Vergessen drängt. Welsch findet in der abendländischen Bevorzugung des Sehens das
Ideal der Theorie wieder, das – im Gegensatz zum Betroffensein und Involviertsein des
Hörens - ein Betrachten auf Distanz anstrebt. Am abendländische Visualprimat, das
wesentliche Konsequenzen und Gefahren gezeitigt hat, hat nicht zuletzt auch Michel
Foucault191 Kritik geübt.
Aber auch jeder Sinn für sich beinhaltet eine Art interner Anästhetik, welche eine
notwendige Bedingung für die externe Effizienz des Wahrnehmens darstellt. Indem das
jeweilige Wahrnehmen als objektiv und richtig erscheint, negiert es guten Gewissens die
gleichen Rechte anderer oder abweichender Wahrnehmungsformen.
Wolfgang Welsch ortet vor allem in der Kunst Bestrebungen, diese latenten Strukturen
aufzubrechen, - sieht besonders in der künstlerischen Arbeit die Kompetenz für die
Aufdeckung und Neutralisierung ästhetischer Prägungen, - und darin sogar ihre Pflicht.
Der Kunst des 20. Jahrhunderts sei das Ästhetische suspekt geworden, - sie misstraue den
durch die Kunsttradition eingeübten ästhetischen Gewohnheiten. Das sei auch der Grund
für die radikalen Schnitte, für die Welsch zwei Beispiele bringt: die berühmte Szene aus
Luis Buñuels Andalusischem Hund (1928), in der ein Rasiermesser ein Auge
durchschneidet, und Marcel Duchamps Readymades. Seither arbeite die Kunst an
Überschreitungen, am Bruch mit dem Ästhetischen, - in einem Bereich des Übergangs zu
Doppelbewegungen von Ästhetik und Anästhetik. Das sei der Pulsschlag der heutigen
Kunst. Kunst trete als Instanz des Anästhetischen der schwülen Sensitivität der
191
Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 1977
67
Aneignungsgesellschaft mit Werken der Verweigerung entgegen, deren Aneignung
fehlschlägt.
Allgemeiner gesprochen handelt es sich um einen Wechsel vom modernen Programm
ästhetischer Akkumulation zu einer Sensibilisierung für Pluralität und Differenz, - von
einer Integration unterschiedlicher Perspektiven zu einem klaren Bewusstsein ihrer
konstitutiven Divergenz und Unversöhnbarkeit192.
In diesem Sinn ist zumindest eine Bedeutungsebene des Begriffs Antimusic zu lesen.
Die von Welsch zitierten Beispiele aus der bildenden Kunst haben durchaus ihre Entsprechungen in der Musik des 20. Jahrhunderts. Als Paradebeispiel ist hier wieder John
Cages 4’33’’ zu nennen. Das Modell Ritwik Sanyals integriert diese Positionen in ein
kosmologisches System, in dem Musik und Antimusik, Himmel und Hölle stabil und
ausbalanciert erscheinen.
1.3.7 Satanismus
Zurückkommend auf Sanyals Unterscheidung dreier unterschiedlicher Formen von
Antimusik, sei hier in Bezug auf höllische Musik, die die soziale Realität der Zeit
widerspiegelt (2) ein musikalischer Bezug zum Satanismus erwähnt, der in der Geschichte
der Rockmusik des 20. Jahrhundert eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Josef
Dvorák, Psychotherapeut, Mitbegründer des Wiener Aktionismus und Autor des einschlägigen Standardwerks Satanismus193 schreibt über die Präsenz des Teufels: Angefangen haben damit die Rolling Stones auf Anregung von Kenneth Anger mit 'Sympathy for
the Devil'. 1969 startete Black Sabbath in Birmingham. Deren Sänger Ozzy Osborne
machte mit seiner Picture-Disc 'Mr. Crowley' große Umsätze. „Satan“ wurde 1980 in
Newcastle gegründet, andere Gruppen heißen „Hellhammer“, „Judas Priest“ und „KISS“
(Knights in Service of Satan). „Venom“ ist in 'Leage with Satan' und orientiert sich an
LaVeys Satansfibel. Satanistisch ist das manchen Bands vorgeworfene 'Backward
Masking': Botschaften, die unterschwellig wirken sollen, werden bei der Aufnahme auf
einer von 24 oder 32 Spuren rückwärts eingespielt (oder die Texte werden so gewählt, dass
sie bei rückwärtigem Abspielen einen satanischen Wortlaut ergeben). Erstmals eingesetzt
wurde die Technik 1968 von den Beatles ('Revolution Nr. 9' in 'The Devils White Album').
... 'Listen! I will sing, because I live with Satan', tönt es, wenn man Led Zeppelins Lied
192
193
Wolfgang Welsch, Ästhetik und Anästhetik. In: Ders., Ästhetisches Denken. Stuttgart 2003, S. 31 ff
Josef Dvorák, Satanismus. Geschichtze und Gegenwart. Frankfurt am Main 1989
68
'Stairway to Heaven' zurücklaufen lässt (als erstes hört man dabei: 'Backward' ). Weiter
heißt es dann: 'There's no escaping it; it's my sweet Satan. The one will be the path, what
makes me sad, whose power is Satan.'
Jimmy Page, ein Anhänger Crowleys, war Lead-Gitarrist der Band. 'Hotel California'
bezieht sich auf den alten Ziegelbau in der California Street von San Francisco, wo die
Church of Satan gegründet wurde. Spielt man die Passage aus der ersten Strophe 'I saw
shimmering light...' rückwärts, so hört man: 'Yes, Satan: he organized his own religion.'194
Aleister Crowley (1875 – 1947), der Schwarze Romantiker195, wie ihn Josev Dvorák nennt,
vertrat eine individualanarchische und nietzscheanische Religion, deren Kern die Erleuchtung und Bewusstwerdung der Göttlichkeit des Menschen mithilfe sexualyogischer und
sexualmagischer Handlungen war. Dabei bediente Crowley sich religiösen, magischen,
mystischen, kabbalistischen, rosenkreuzerischen, alchemistischen, templerischen und
freimaurerischen Traditionen. Ähnlich wie die Theosophie verband er diese zu einem
großen System. Bezugnehmend auf die vier indisch-mittelalterlichen Zeitalter (Yugas),
deren letztes, das bleierne (schwarze) Kali Yuga dasjenige sein soll, in dem wir uns heute
befinden, ist der am Tantrismus orientierte Heilsweg die Fixierung der Menschen an die
Leidenschaften (vor allem Sex und Macht) durch deren Ritualisierung religiös zu transformieren. Das tantrische Shri Yantra stellt die Entfaltung der Urkraft durch aktives
Wechselspiel von Lingam und Yoni in Form von neun einander druchdringender auf- und
abwärtsgerichteter Dreiecke196 dar. Diese Symbolik soll mit der jüdisch-kabbalistischen
verwandt sein. Im Abendland entspreche dem Tantrismus der Satanismus, - aus christlicher
Sicht sei Gott Shiva identisch mit dem Teufel.
194
Aus: Die Zeit, als alle Platten rückwärts liefen: Satanszeit. In: Falter Nr. 20/09, 13.5.2009, S. 3 bzw. Josef
Dvorák (1989) S. 284 f
195
Wie Josef Dvorák bemerkt, sind es die Schriftsteller der Romantik, die eine Erlösung Satans (des Teufels
oder Luzifers) thematisieren. Überhaupt kann – nach Dvorák – der neuzeitliche Spiritismus als eine Folge des
Scheiterns der Revolution von 1848 angesehen werden. Für Victor Hugo ist das Böse lediglich ein Nichts im
aufklärereischen Sinn von Abwesenheit von Licht. Für ihn ist der Dichter Priester, das Genie aber
Hohepriester, - der Künstler schließlich Magier und Numerologe, - ein geheiligter Träumer [rêveur sacré].
Zur Zeit der bürgerlichen Revolution wird der vertriebene Tyrann in der Figur Satans, des Prinzips der
Negation des Bestehenden, zum edlen Menschen typisiert und heroisiert, der sich in Rebellion gegen eine
allumfassende Ordnung und darauf folgendem Sturz zum Individuum emanzipiert hat (...). Dieselbe Gestalt
deuteten die englischen Romantikerals Inbegriff des Volkswillens und und Helden der geistigen Revolution.
Aus: Josef Dvorák (1989) S. 205 ff und 234
196
Vgl. die Dreiecksdarstellung Robert Fludds (Abb. 3)
69
Am 1. Oktober 1983 zelebrierte Josef Dvorák Aleister Crowleys gnostisch-theosophische
Missa Phoenix im burgenländischen Breitenbrunn197. Den musikalischen Beitrag lieferte
der Wiener Künstler Konrad Becker mit seiner Heavy-Metal Gruppe Monoton. Becker, der
u. a. Mitgründer des Instituts für neue Kulturtechnologien/t0 und Initiator von Public
Netbase ist, galt als Führer der österreichischen Anhänger des indischen Gurus Maharaji Ji.
Im österreichischen Fernsehen propagierte er die gesetzliche Zulassung der Satansreligion.
Becker definiert Teufel und Dämonen als archaisches System zu Erfassung psychologischpsychosomatischer Energiefunktionen. Die personifizierte Fiktion des Bösen sei ein
Instrument zur Machtausübung, die Tabuisierung ein Mittel zur Unterdrückung von
Information. Die Musik der Gruppe Monoton wollte die reale Existenz als Erfahrung von
Leben im Jetzt erreichen. Monoton arbeitete mit integraler Massage durch Schalldruck
bzw. Vibration198. Die Funktion klangvoluminöser, großen Schalldruck erzeugender Musik
sei der Perversion und dem Konsum von Pornographie vergleichbar. Besonders im Falle
mangelhaften Selbstempfindens von Jugendlichen, die von der Gesellschaft narzisstisch
frustriert sind, können besonders intensive Sensationen Vernichtungsängste abwehren. In
diesem Sinn spricht Dvorák von Selbst erhaltender und reparierender Funktion. Diese kann
meiner Meinung nach in eben dem Sinn als heilend bezeichnet werden, in dem der Musik
grundsätzlich heilende Wirkung zugeschrieben wird. Besonders wirksam gegen
Depersonalisation sollen sich Beat- und Rockmusik erwiesen haben. Der große Schalldruck überwältige nicht nur das Gehör, sondern wirke direkt auf den Körper ein,
mobilisiere und stütze ihn. Die kompromissloseste Richtung der Rockmusik, der Hardrock
oder Heavy Metal bekenne sich übrigens offen zu Satan. Dvorák weist darauf hin, dass
nicht nur Pubertierende starke Stimuli bräuchten, um dem Gefühl der inneren Leere zu
entkommen, sondern auch normale Erwachsene. Normopathie, ein von Joyce McDougall
geprägter Begriff, bezeichnet das Sympton der Unterwerfung unter soziale Verhaltensnormen, durch die das in jedem Erwachsenen verborgene Kind unterdrückt werde. Die
Infantilität der Erwachsenen sei der Ursprung der Kunst und Poesie des Lebens. Zur
schöpferischen „Anormität“ gehören auch perverse „sexuelle Innovationen“. Das zunehmende Bedürfnis Erwachsener nach Panik- und Horrorprodukten der verschiedenen
Medien dürfte den Zweck haben, das „tödliche Gespenst“ der Normopathie zu verscheu-
197
Dieses Ritual wurde von der Burgenländischen Landesregierung unterstützt und im Fernsehen übertragen,
- vgl. Josef Dvorák (1989) S. 10
198
Josef Dvorák (1989) S. 9 - 17
70
chen199. Diese Beispiele zeigen, dass auch Musik, die im Sanyalschen Sinn der höllischen
oder zumindest der vulgären Musik zuzuordnen wäre, durchaus gegenteilige Aspekte in
sich trägt und sogar die mystische Ebene anstrebt.
1.3.8 Zusammenfassung
Im Kontext kosmologischer Betrachtungen stehen Gut und Böse, Himmel und Hölle, und
in unserem Fall Musik und Antimusik polar gegenüber. In gewisser Weise bedingen die
einzelnen Pole einander, die Polarität stellt Gleichgewicht her. In Ritwik Sanyals
Musikphilosophie stehen die jeweils siebenfach strukturierten Bereiche der Musik und der
Antimusik symmetrisch zueinander. Sanyals sowohl an der Indischen Musiktheorie, als
auch an der europäischen Avantgarde orientierter Begriff der antimusic ist nicht als
Abwertung oder Provokation zu verstehen, sondern vielmehr als ein Versuch der
Integration widersprüchlicher Ästhetik in ein geschlossenes funktionales System. Auch die
im Weiteren angeführten Dokumente antimusikalischer Phänomene (Dante, Noh, Chopin,
Satanismus) scheinen darauf hinzudeuten, dass den Antiwelten wesentliche Bedeutung
zukommt. Sind es in Dantes Inferno die zur Abschreckung eingesetzten Wehklagen, die
den Leser (bzw. Hörer) auf dem Weg zum Paradiso begleiten, sind die tierhaften,
gutturalen Laute der Trommler im Noh-Theater das wesentliche, Form bildendende
Element. Das Presto aus Chopins op. 35 schließlich markiert am deutlichsten die Funktion
des Antimusikalischen als eines sich den Konventionen Entziehenden. Hier zwingt die
Musik den Hörer, selbst aktiv zu werden, zwingt ihn in die Musik hinein, womit der im
folgenden Kapitel untersuchte Begriff der prehension (Zugriff) angesprochen ist.
Schließlich baut auch WolfgangWelsch der Einführung des Begriffs Anästhetik einen
Gegenpol zum Begriff der Ästhetik. Die Dialektik von Ästhetischem und Anästhetischem
entspricht durchaus der von Musik und Antimusik. Die Kompetenz künstlerischer Arbeit,
ästhetische Prägungen zu neutralisieren, wird zu einer positiven Eigenschaft der Anti-Kunst
Geste, weil sie die soziologische Wirklichkeit der Moderne ausdrücken will und sich nicht
bloß an einem bestimmten Kunstbegriff reibt200.
199
200
Josef Dvorák (1989) S. 285
Hans Belting (2005) S.13
71
1.4
Der Begriff prehension
1.4.1
Sammlung
In der im Folgenden ausgearbeiteten Bedeutung des Begriffes prehension Begriff steckt
das Moment der Sammlung als ein wesentliches Merkmal. Um jene Aspekte dieses aus
dem Kontext der christlichen Meditation stammenden Begriffes zu berücksichtigen,
möchte ich hier die wesentlichsten historischen Positionen, die meines Erachtens im
weitesten Sinn auch in der Kunstrezeption von Belang sind, herausarbeiten. Der Umgang
mit Musik verlangt – sei es im produzierenden oder konsumierenden Modus – eine der
Sammlung ähnliche, wenn nicht mit ihr identische Vorbereitung oder Haltung. Schließlich
aber versuche ich, die dialogische Struktur, Aktivität und Qualität des Musikschaffens wie
Musikerlebens am Begriff der Sammlung zu schärfen und die spirituelle Grundlage
derselben zu beleuchten.
1.4.2 Der Begriff der Sammlung in der christlichen Gebetspraxis
Der Begriff der Sammlung spielt in der christlichen Gebetspraxis des
20. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle. Verwandt mit den aus der mittelalterlichen
Gebetspraxis stammenden Begriffen Kontemplation (contemplatio) und Meditation
(meditatio)201, ist Sammlung ein Begriff der Neuzeit, der mit den veränderten
gesellschaftlichen Bedingungen202 in Beziehung steht. In der Bedeutung der
Gebetsvorbereitung (wie etwa bei Otto Zimmermann203) ist er mit der mittelalterlichen
201
Edgar Friedmann, Die Bibel leben. Lectio divina heute. Münsterschwarzach 1995, S 18: die vier Teile der
lectio divina nach Guigo (12. Jhdt.): lectio, meditatio, oratio, contemplatio
202
Es sind dies vor allem die nach dem Krieg auf Wiederaufbau und technischen Fortschritt gerichteten
Werte sowie Stress als Symptom der modernen Gesellschaft. Romano Guardini (1885-1986) schreibt 1943
vom Widerwillen des Menschen aus Zeitmangel und 1958 von der Unrast und von „vollgestopften“ Tagen
im Zusammenhang mit Gebet und Meditation. In: Romano Guardini, Vorschule des Betens. Mainz 1986
(Erstveröffentlichung 1943), S. 12 f. Siehe auch: Romano Guardini, Wille und Wahrheit. Geistliche
Übungen. Mainz 1958, S. 34 und: Romano Guardini, Tugenden. Meditationen über Gestalten sittlichen
Lebens. Mainz 1987 (Erstveröffentlichung 1963) S. 149
203
Otto Zimmermann verwendet den Begriff der Sammlung im Lehrbuch der Aszetik (Freiburg im Breisgau
1929). Für ihn ist Sammlung die (unabgelenkte) Zusammenfassung der inneren Tätigkeit auf einen
bestimmten Gegenstand im Gegensatz zum Zustand der Zerstreuung. Als besonderes Mittel der
Vollkommenheit sei sie eine außerhalb der Gebetszeiten durchgeführte innere geistliche Tätigkeit, die
er auch als Immerbeten außerhalb des Gebets bezeichnet. Sammlung ist für ihn sozusagen eine
Grundhaltung. In diesem Sinne trägt sie Züge der Achtsamkeit, die in der buddhistischen Lebenshaltung eine
wesentliche Rolle spielt. Siehe dazu Jiddu Krishnamurti, Der unhörbare Ton. Briefe über die Achtsamkeit.
München 1993, S. 48 f. Hier stellt Krishnamurti die Begriffe Empfindsamkeit und Aufmerksamkeit dem
Begriff der Konzentration gegenüber, den er als Prozess des Widerstandes bezeichnet.
Karlfried Graf Dürckheim, Mein Weg zur Mitte. Gespräche mit Alphonse Goettmann. Freiburg, Basel, Wien
1988, S.96: Aber das Meditieren als Exerzitium führt zu nichts, wenn die in ihm geübte Haltung nicht zum
72
meditatio zu vergleichen, nur teilweise aber auch mit den Begriffen Betrachtung und
Meditation, wie sie seit der Mitte des 20. Jahrhunderts verwendet werden204. Im ZenBuddhismus gibt es den Begriff des Sesshin, der den Geist sammeln oder konzentrieren
bedeutet205. Insgesamt scheint die Sammlung ein durch die neuen Technologien und
Lebensstrukturen herausgefordertes Konzept zu sein, das nicht nur die geistige Dimension
des Menschen zu verteidigen bzw. zu retten versucht (Günter Stachel/schweigt ihr nicht, so
bleibt ihr nicht), sondern – entsprechend zeitgenössischen Strömungen in der Philosophie
und Kunst – neue, dynamische Strukturen einer neuen Innerlichkeit zeitigt bzw. entwirft.
1.4.3 Die Schule der Sammlung206
1.4.3.1 Gabriel Marcel
Eine Kernaussage zum Thema Sammlung in Marcels Schriften ist der Satz: In-sich-gehen
bedeutet im Grunde Aus-sich-heraus-gehen207. Marcel geht vom Begriff der
Kontemplation aus, den er auf den einfacheren, aber mehrdeutigen Begriff des Blickens
zurückführt. Hier unterscheidet er den Zweckblick oder Ziel gerichteten Blick (looking for)
und die Kontemplation, die ein nicht auf ein Bestimmtes gerichtetes Blicken ist, - die sogar
die Vorzeichen wechselt und das Außen nach innen kehrt. [...] Kontemplation heißt, sich
angesichts von etwas sammeln – so zwar, dass eben die Wirklichkeit, vor der man die
Gedanken zusammennimmt, in das Insichgehen gewissermaßen selber eingeht.208
An einem Beispiel aus Corneilles Cinna209 zeigt Marcel den Moment der Sammlung als
ein In-sich-gehen und Wiederfinden des Wesens, in dem die Situation vom anderen Ende
her betrachtet wird. Kaiser Augustus kann erst im Aus-sich-heraus-gehen vom
Gesetz des Verhaltens im Alltag, d. h. des Verhaltens überhaupt wird. Die Grundtugend ist dann die
Wachsamkeit auch im Alltag und in allem Tun, in Einstellung und Haltung in Fühlung mit dem Wesen zu
bleiben. [...] Alltag als Übung bedeutet nie aufhörende Sammlung und Wandlung. S. 107
204
vgl. z. B. Carl Happich, Anleitung zur Meditation. Darmstadt 1948: hier entspricht die Meditation noch
der meditatio aus dem monastischen Sprachgebrauch; anders bei Lasalle (H. M. Enomiya Lasalle, ZenMediation für Christen. Weilheim 1968, S. 14): die von ihm vorgestellte Zen-Meditation ist eher mit der
mittelalterlichen contemplatio zu vergleichen.
205
Daisetz T. Suzuki, Die große Befreiung. Einführung in den Zen-Buddhismus. Bern 1976, S.176 f.
206
Im Werk von Gabriel Marcel (1889 – 1973), Romano Guardini (1885 - 1968), Philipp Dessauer (1898 –
1966) und Günter Stachel (1922) spielt der Begriff der Sammlung eine zentrale Rolle und wird deshalb als
Schule der Sammlung bezeichnet. Vgl. Karl Baier, Die Schule der Sammlung. In: Ders. (Würzburg 2009)
S. 695 - 812
207
Gabriel Marcel, Geheimnis des Seins. Wien 1952, S. 180
208
Gabriel Marcel (1952) S. 174 f.
209
Pierre Corneille 1606 – 1684, die Tragödie Cinna ou la Clémence d’Auguste (1639) ist die Geschichte
einer Verschwörung republikanischer römischer Patrizier gegen Kaiser Augustus und der großzügigen
Vergebung des Letzteren, als er die Verschwörung entdeckt
73
ursprünglich unwiderruflichen Verdammungsurteil Abstand nehmen, - erst im
Wahrnehmen eines größeren Zusammenhanges gelangt er zur Sammlung210. Anhand eines
weiteren Beispiels aus der Kunst (Vermeers Ansicht von Delft) zeigt Marcel die
Abhängigkeit des Künstlers von seinem Motiv. Bewundern ist schon in gewissem Maße
Schöpfertum, weil tätiges Empfangen211. Auf diesem Weg kommt Marcel zu einem tieferen
Verständnis des Wesens von Sammlung in der Feststellung des Abstands zwischen Sein
und Leben: Ich bin nicht mein Leben. Und wenn ich imstande bin, mein Leben zu
beurteilen, so unter der Bedingung, vorerst in der Sammlung, in der Einkehr zu mir selbst
zu kommen, jenseits jeder Beurteilung, jeder Vorstellung meines Lebens212. Von hier aus
ergibt sich der Begriff der Begegnung, die nur zwei mit Innenheit begabten Wesen möglich
ist. Begegnung liege auf der Ebene der schöpferischen Entfaltung213. Sowohl im Aus-sichheraus-gehen als auch im tätigen Empfangen liegt die Aktivität des ursprünglich eigentlich
Passiven, - des aktiven Zugriffs.
1.4.3.2 Romano Guardini
Für Guardini bedeutet Sammlung zunächst, dass der Mensch, der gewöhnlich durch die
Vielheit der Dinge hin und her gezogen ist, ruhig werde, - das schweifende Begehren
wegtut und sich dem Gebet bzw. Gott zuwende214. Dem Ursinn des Wortes entsprechend
sei Sammlung Ruhe, Anwesenheit, Geeintheit (Zusammennehmen) und schließlich wach
werden. Ruhe und innere Wachheit ermöglichen Begegnung, - erst Sammlung ermöglicht
dem Menschen, zu Menschen und Dingen in die richtige Beziehung zu kommen215. Auch
Guardini sieht erst den gesammelten Menschen als fähig, mit Gott in Beziehung zu treten.
Hier erwähnt er das Antlitz216, das bedeutet, dass der Mensch fähig sei, sein Inneres zu
richten, sich einem Menschen zuzuwenden,... [...] dass die Person den Entgegenkommenden
aufnimmt, das Verhalten der anderen Person empfängt217. Auch Guardini sieht in der
Begegnung eine Dynamik, die er so beschreibt: Wie lebendig das Antlitz werden kann,
kann man erfahren, wenn man etwa sieht, wie sich das Gesicht eines Menschen im Lauf
210
Gabriel Marcel (1952) S. 180
Gabriel Marcel (1952) S. 185
212
Gabriel Marcel (1952) S. 187
213
Gabriel Marcel (1952) S. 188
214
Romano Guardini, Vorschule des Betens. Mainz 1986 (Erstveröffentlichung 1943), S. 19
215
Romano Guardini (1986) S. 21 f. Im Gegenüber zu Gott und dem Ich-Du Verhältnis, von dem Guardini
spricht (S. 24), klingen die Dialogphilosophie Martin Bubers (Martin Buber, Ich und Du. Heidelberg 1983,
Erstveröffentlichung 1923) sowie Rainer Maria Rilkes Mystik mit
216
Antlitz eigentlich das uns entgegen gewendete Gesicht; mhd. antlitze
217
Romano Guardini (1986) S. 29.
211
74
eines Gesprächs, das ihn packt, oder einer Begegnung, die ihm nachgeht, auf einmal
öffnet, so dass man meint, jetzt erstehe es erst von innen her218.
Guardini sieht das menschliche Dasein nach zwei Polen ausgerichtet, zwischen denen es
quasi pendelt219. Die Innerlichkeit oder Mitte des Menschen und der Zusammenhang der
Dinge in der Welt, - Innen und Außen. Diese beiden Pole sollten im Idealfall in einem
ausgewogenen Verhältnis stehen, - im Alltagsleben hätten die Dinge des äußeren Lebens
aber für gewöhnlich, und besonders zur Zeit Guardinis, die Übermacht220.
In einer Zeit, die von den Medien beherrscht wird, - in der das Öffentliche immer mehr ins
Private eindringt, verdunste die innere Welt förmlich221.
Diesen auflösenden Tendenzen entgegenzuwirken, schlägt er die Frömmigkeit vor, die er
als im Gespräch mit Gott stehen beschreibt. Aus diesem Gedanken heraus entwickelt
Guardini seine sehr dynamische Interpretation des Gewissens: Um mit Gott im Gespräch
stehen zu können, muss sein Angesicht gesucht werden. Zum Gespräch mit Gott gehört
aber auch Gottes Stimme, - wir können Gott nur anreden, wenn er sich anreden lässt. Sein
Sprechen und unser Hören und Antworten nennt Guardini Gewissen. Und das „Gewissen“
ist die Fähigkeit, den Anruf zu vernehmen, zu verstehen und sich zu entscheiden222. Diese
innere Haltung, die Aufmerksamkeit, Bereitschaft und vollzogenes Stehen vor Gott
bedeutet, ist für Guardini Sammlung. Die ganze Existenz vollziehe sich in der Ich-DuBeziehung zwischen Gott und dem Menschen, - das Leben vollzieht sich in einem
ständigen Gespräch: Durch alles, was ihm geschieht – ebenso auch durch jede Regung
seines eigenen Lebens, redet Gott zu ihm. Diese Haltung gelinge aber nur durch
Achtsamkeit, die er ebenfalls – so wie schon die Haltung an sich – Sammlung nennt223.
Ohne Sammlung sind auch Ich-Du-Verhältnisse zwischen den Menschen unmöglich.
Gerne bezieht Guardini die Kunst in seine Betrachtungen mit ein. Sammlung sei die
Grundlage des Verstehens von Kunstwerken, auch dem Kunstwerk gegenüber bilde sich
218
ebenda S. 31
Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung. In: Martin Buber, Ich und Du,
Stuttgart 2006, S.3, Und die Liebe selber kann nicht in der unmittelbaren Beziehung verharren; sie dauert,
aber im Wechsel von Aktualität und Latenz. ebda S. 17. Diese polare Sichtweise ist auch z. B. in der
balischen Musik zu finden, die auf der Harmonie zweier essentieller Gegensätze beruht (Hans Oesch,
Außereuropäische Musik, Band 2. Regensburg 1987, S. 82, in: Carl Dahlhaus, (Hsg.) Neues Handbuch der
Musikwissenschaft, Band 9. Regensburg 1987)
220
Romano Guardini, Tugenden. Meditationen über Gestalten sittlichen Lebens. Mainz 1987
(Erstveröffentlichung 1963), S.147 f.
221
Romano Guardini (1987) S. 149, vgl. auch Vilém Flusser (2000) S. 17
222
Romano Guardini (1987) S. 151 f.
223
Romano Guardini (1987) S. 153
219
75
eine Art Abglanz des Ich-Du-Verhältnisses224. Das dialogische Prinzip – initiiert durch die
Haltung der Sammlung - als Voraussetzung für die Balance zwischen (gerichtetem, zu
gewandtem) Innen und Außen ist hier die zentrale Aussage.
1.4.3.3 Philipp Dessauer
Philipp Dessauer sieht wie Guardini im Innewerden wie im Verharren in diesem
Innewerden eine Grundlage des vollmenschlichen Lebens. In der nativen Sammlung, - in
der absichtslosen Sammlung des Kindes, sieht er die ideale Meditation, die drei Gefahren
ausgesetzt ist: der verfrühten Gewohnheit des Zugriffs, dem Besetztsein des
Menschenherzens mit einer Sorge, und der echten Neurose225.
Das Bewusstsein, das Dessauer als eine Vermittlung, die uns von innen und von außen die
Gehalte zuführt, sodass der Mensch darauf antworten kann, urteilen kann und dabei
reicher wird, sieht, unterteilt er in verhangenes, schweifendes, gestrafftes und gesammeltes
Bewusstsein. Er unterscheidet besonders die letzten beiden Bewusstseinsformen
(Konzentration, Sammlung226). Im Gegensatz zur Ziel gerichteten Konzentration ist die
Sammlung eine Bereitschaft aller geistigen Kräfte, - ein Zustand, zu dem der Mensch
immer wieder zurückkehren muss. Auch Dessauer sieht die Probleme des heutigen
Menschen, sich sammeln zu können und schlägt die Gegenwärtigung als Abhilfe vor.
Dessauer sieht wie Guardini227 erst in der Gegenwärtigung bzw. der Sammlung die
Möglichkeit, den Anderen zu erkennen, des Anderen Inne-zu-werden. In der
Gegenwärtigung trifft der eigene Innenraum mit seiner ganz hohen Aufmerksamkeit mit
der durch den Menschen gestalteten Umwelt zusammen. Innenweltfühligkeit und
Außenweltfühligkeit gehören zusammen228. Der gesammelte Mensch könne verweilen, sei
anwesend.
Als eine Gelegenheit, in der die Sammlung den ganzen Menschen erfassen kann, - in der
sich das Dasein ausweitet, sieht Dessauer den Kunstgenuss, die Hingabe an das
Kunstwerk229. In der Bereitschaft aller geistigen Kräfte, der Gegenwärtigung, der ganz
224
Romano Guardini (1987) S. 154 f.
Philipp Dessauer, Die naturale Meditation. München 1961, S. 25 f.
226
Die Unterscheidung Konzentration – Sammlung übernimmt Dessauer von Thielmann
227
Dessauer war Schüler Guardinis
228
Philipp Dessauer (1961) S. 42 ff.
229
Philipp Dessauer (1961) S. 46 f
225
76
hohen Aufmerksamkeit und Hingabe schwingt ebenfalls die Dynamik des Innen und Außen
mit, die das Inne-werden als höchst aktiven Prozess definiert.
1.4.3.4 Günter Stachel
Für den Religionspädagogen Günter Stachel ist die Sammlung zur Welt hin offen230. Im
Gegensatz zu Dessauer ist seine Interpretation des Verhältnisses des Menschen zu Gott
sowie des Begriffs der Sammlung nicht phänomenologisch, sondern dialektisch. Die
Dialektik von Gott und Welt wird im Menschen bzw. in dessen Sammlung realisiert, - die
Sammlung entscheide über die Zukunft der Welt231. Die Begriffspaare Innen und Außen,
Materie und Form, das Eine und die Vielheit, Integration und Zerrissenheit, Zeit und
Ewigkeit, Leben und Tod, Individuum und Gesellschaft sieht er als das dialektische Feld,
dessen Spannungen durch die Sammlung ausgeglichen werden und die auf die
Grunddialektik von Gott und Welt verweisen, - manifestieren Antithese und Synthese des
Menschenherzens als eines Ortes möglicher Präsenz Gottes in der Welt. Die Sammlung
bewege sich stets zwischen diesen Polen232. Die Dynamik der Sammlung ist bei Stachel
eine des Geschehen-Lassens, also eine eher passive233. Zur Praxis der Sammlung empfiehlt
Stachel unter anderem Humanität und Kultiviertheit, - Kunstwerke (Bild, Musik, Gedicht)
lehren meditieren234. Auch hier begegnen wir der Polarität von Innen und Außen in einer
Dialektik, die die Aktivität im Dialogischen sehr subtil vermittelt.
1.4.4 Der Begriff avÁdhana
Während der vom Sanskritwort avÁdhana abgeleitete und in diesem Zusammenhang von
Ritwik Sanyal eingeführte Begriff prehension235 mit der Nähe zu Meditation einen starken
spirituellen Bezug aufweist, sind die entsprechenden Begriffe
(Mitvollzug/Nachvollzug/Vermittlung) der aktuellen westlichen Philososphie technisch
funktional. Bei genauerem Studium dieser Zugangsweisen zum Phänomen der
230
„Weltoffene Sammlung“ anerkennt die Entgöttlichung der Welt und setze alles auf die Bedeutung der
Gottzugewandtheit. In: Günter Stachel, Aufruf zur Meditation. Graz, Wien, Köln 1972, S. 19 f. vgl. auch
Gabriel Marcel, In-sich-gehen bedeutet im Grunde Aus-sich-heraus-gehen
231
Günter Stachel (1972) S. 21
232
Günter Stachel (1972) S. 23 ff. vgl. dazu auch das Pendeln zwischen Innen und Außen bei Guardini (S. 6)
233
Stille, Schweigen, Geschehenlassen als Grundlage der Glaubensfähigkeit. Stachel vergleicht diesen
modernen Weg der Stille mit dem einfachen Weg Buddhas in der Zen-Meditation, der er sich seit seiner
Begegnung und Zusammenarbeit mit Lasalle 1968 gewidmet hat
234
Günter Stachel (1972) S. 62 ff.
235
in meiner Übersetzung sinngemäß Zugriff. Prehension wird auch mit Ergreifen übersetzt. Ergreifen, das
zwar auch Aktivität ausdrückt, erinnert jedoch sehr an die passive Form des sprichwörtlichen Ergriffenseins
durch Musik
77
musikalischen Kommunikation lassen sich durchaus Parallelen zwischen diesen beiden
durch kulturelle Unterschiede geprägten Positionen finden. In Bezug auf das Thema des in
dieser Arbeit fokussierten Paradigmenwechsels in der westlichen Musikwelt gibt es aber
noch eine zweite Diskussionsebene, die sich von der der Untersuchung musikalischen
Verstehens grundsätzlich abhebt. Die aktuellen Studien zu diesem Thema beziehen sich
auf musikalisches Hören und Verstehen an sich. Sosehr zwar allgemeine soziale und
kulturelle Unterschiede in die Diskussion miteinbezogen sind, sowenig sind die aktuellen,
radikal geänderten Hörgewohnheiten und Bedürfnisse berücksichtigt. Das Wissen um die
Ergebnisse dieser Untersuchungen, nicht zuletzt die der Gehirnforschung, sensibilisiert die
Wahrnehmung für neue Strategien vor allem von Musikschaffenden, traditionelle
Kommunikationsstrukturen in Hinblick auf gelingende musikalische Kommunikation zu
hinterfragen und zu verändern. Auf dieser Ebene kommen sehr wohl spirituelle Ansätze ins
Spiel. Spirituelle Ansätze, die in der westlichen Musikgeschichte durchaus nicht neu und
einmalig sind, die jedoch gezielt auf die Dimension der Musik hinweisen, die in
kapitalistischen Systemen zur Ware zu verkommen droht. Im Umgang mit Musik wie auch
im Umgang mit Religion spiegelt sich gesellschaftliche Realität wider. Die Gesellschaft
entscheidet jeweils über das Verhältnis des Menschen zu den greifbaren und weniger
greifbaren Dingen, - zum Materiellen wie zum Sublimen. Die radikale
Nichtgegenständlichkeit236 der Musik ist einer der Gründe für das relative Desinteresse der
Philosophie.
1.4.4.1 avÁdhana 237 in Abgrenzung zu dharana238 und dhyana239
Das Sanskritwort avÁdhana wird auch mit Konzentration übersetzt240. Im
Zusammenhang mit Meditation wird es gemeinsam mit den Wörtern dharana und dhyana
236
Alexander Becker/Matthias Vogel, Einleitung. In: Ders. (Hsg.) Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer
Philosophie der Musik. Frankfurt am Main 2007, S.7
237
Ritwik Sanyal, Philosophy of Music. Mumbay, New Delhi 1987, S. 100 (The Sanskrit term „avadhÁna“ is
a fluid word drwan upon general semantics. It is frequently used in aesthetic semantics, especially in music;
then, it becomes a technical word. It means attention or concentration with a purpose.) Auf S. 73. benennt
Sanyal die alte Bedeutung mit intuition bzw. imagination. Vgl. auch: avadhÁna =attention, devotion (Arthur
Anthony Macdowell, A practical Sanskrit Dictionary)
238
Abhinavagupta, Para-trisika-Vivarana. The Secret of Tantric Mysticism. New Delhi 1988, S. 37: dharana
(concentration)
239
ebda S. 37: dhyana (meditation)
240
Emmie te Nijenhuis, Sangitasiromani - A Medivial Handbook of Indian Music. Brill 1992, S. 591
78
erwähnt, in dem avÁdhana die Bedeutung von Aufmerksamkeit, dharana die von
Konzentration, und dhyana die von Meditation zugeordnet wird241.
Virgil C. Aldrich hat avÁdhana mit dem englischen Wort prehension (etwa dem
deutschen Wort Zugriff entsprechend) übersetzt242. avÁdhana (attention, attentiveness,
intentness) setzt sich aus dem Präfix avÁ (off, away, down) und dhana zusammen, - die
Wurzel dha bedeutet eintauchen. Somit wäre die Bedeutung das Ein-, Hinein- oder
Hinuntertauchen243.
1.4.4.2 Der Begriff avÁdhana (prehension) bei Ritwik Sanyal
Sanyal bezieht sich zunächst auf alte Quellen indischer Musiktheorie und
Musikphilosophie. Der Musiktheoretiker Dattila (4. Jhdt. vor Chr.) verwies auf die
Bedeutung von avadhÁna als wesentliches Element von gÁndharva (Bezeichnung für
Musik, Sprache der Engel244). Sanyal sieht in seiner Deutung ebenfalls den Aspekt der
ästhetischen Einsicht, des Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitspotentials, das jeder
Künstler entwickeln und kultivieren muss, um gute Musik machen zu können.
Abhinavagupta245 betrachtete avÁdhana nicht als Teil von gÁndharva, sondern vielmehr
als Konzentration, - und rechnete avÁdhana nicht zu den musikalischen Parametern svara
(Ton), tÁla (Schlag) und pada (Vers).
Der Indische Musiktheoretiker und Arzt SÁrÉgadeva (13. Jhdt.) schenkte dem Begriff
Aufmerksamkeit, indem er ihn den Qualitäten der besten Komponisten und Sänger zu
ordnete und seine Bedeutung für die Demonstration der sthÁya-s betonte246.
241
vgl. ebda S. 37: Bhavana [contemplation, vgl. S. 274] in a general sense includes dharana
(concentration), dhyana (meditation), samadhi (absorption) [entranced attention, vgl. S. 179]; in a specific
sense, it means creative contemplation. Acharya Mahaprajna schreibt in einem Artikel
(HereNow4U/07.05.2007): AvadhÁna a is the first stage of meditation (attention), the next state is that of
Dharana (concentration). This state succeeds that of Avadhãna (meditation)and precedes that of Dhyana
proper.
242
Ritwik Sanyal (1987) S. 101, Prehension is the aestethic perceptiveness or attentiveness required for the
purpose of creating or enjoying or understanding a work of art. [...das ästhetische Wahrnehmungs- oder
Aufmerksamkeitsvermögen, das durch die Absicht des Schaffens und Verstehens von bzw. des Erfreuens an
einem Kunstwerk gefordert ist]
243
Monier Monier-Williams, Sanskrit-English Dictionary, new edition 1899,
Reprint Delhi: Munshiram Manoharlal 2002, Seite 99 und nach Auskunft von Dr. Ernst Fürlinger, Wien
244
Alain Danielou, Einführung in die indische Musik. Wilhelmshaven 1996, S. 169 und Ritwik Sanyal (1987)
S. 122: gÁndharva ist die organische Einheit von Ton, Schlag (beat) und Vers
245
etwa 950-1020 Indischer Gelehrter, Philosoph, Mystiker, Musiker
246
Ritwik Sanyal (1987) S. 104. Der Begriff sthaya bedeutet musikalische technische Phrase oder tonale
Bewegung (Emmie te Nijenhuis, Sangitasiromani - A Medivial Handbook of Indian Music. Brill 1992,
S. 505 ff)
79
Simhabhûpãlã, der Kommentator SÁrÉgadevas, zitierte Daksprajapati, der avÁdhana als
den bestimmenden Faktor von gÁndharva bezeichnete247.
Ritwik Sanyal verwendet den von Aldrich vorgeschlagenen Begriff prehension248 für das
Sanskritwort und spricht von prehension (avÁdhana) als einem Begriff für Konzentration
und Aufmerksamkeit speziell in Bezug auf Kunst und Ästhetik. Es komme auf die Absicht
des Betrachters an, ob er einen Gegenstand als ästhetisches Objekt sieht oder nicht, ob er
es nur qualifiziert oder animiert, es beobachtet oder belebt. Ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit und Aufmerksamkeit sind für ihn spezielle Fähigkeiten, sich mit Dingen zu beschäftigen, - ein Kunstwerk sei ein materieller Gegenstand, - speziell für diese Art von
Wahrnehmungsfähigkeit und Aufmerksamkeit hergestellt. Er grenzt die ästhetische Aufmerksamkeit (prehension) vom Begriff der allgemeinen Aufmerksamkeit (attention) ab.
Entsprechend den in Sanyals Arbeit unterschiedenen drei Positionen der musikalischen
Betätigung, der des Spielers (saÉgÍtakrt), des Hörers (saÉgÍtabhuk) und des
Kritikers/Theoretikers (saÉgÍtajna), nennt Sanyal drei Modi des Zugriffs (prehension) auf
sowie der Realisierung (realization) von Musik, in der Empfindsamkeit249 und psychische
Distanz250 wesentliche Rollen spielen. In jeder dieser Kategorien gibt es wieder Stufen auf
dem Weg zum höchsten Ziel, nämlich dem Entzücken (delight), das er als Subjekt-Objekt
Verhältnis identifiziert und in kreatives, ästhetisches und intellektuelles Entzücken gliedert.
Auf der höchsten Stufe des Entzückens wiederum erlange der Musiker Nähe (kinship) zum
Schöpfer und einen flüchtigen Eindruck von Freiheit (mokÒa), - der Zuhörer erlebe einen
ähnlich mystischen oder ekstatischen Zustand. Interessant dabei ist die in jedem der drei
Bereiche geforderte Aktivität bzw. das aktive Zugreifen zur Realisierung von Musik als
einer letztlich spirituellen Erfahrung.
Ein Blick auf traditionelle Kulturen in nicht industrialisierten Ländern zeigt übrigens, dass
dort das Moment des aktiven Mitgestaltens fest eingebettet ist und nur in unserer Kultur
247
It is avadhãna which forms gãndharva; svara, pada etc. come after it. Without avadhãna the three elemnst
cannot be achieved.(R. K. Shringy, Prem Lata Sharma, Sangitaratnakara of SÁrÉgadeva, Vol I and II. Poona,
Anandashram 1897)
248
Vgl. dazu Apprehension von lat. apprehendere: das Ergreifen oder Erfassen einer Sache, aber auch die
sinnlich-geistige Vergegenwärtigung. In. Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried/Gabriel, Gottfried (Hsg.),
Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band I/A – C, Basel 1971, Sp. 459 f
249
Ritwik Sanyal (1987) S. 111. Das äquivalente Sanskritwort sahrdayatÁã meint, die Qualität, ein Herz zu
haben
250
Sanyal S. 106: Virgil C. Aldrich has clinched the issue of psychic distance as being the ground of
objectivity of beauty (that is rasa, the obejct of aesthetic experience).
80
einem kommerzialisierten Musikleben und einem Konsumentenverhältnis zwischen
Musiker und Hörer gewichen ist251.
Der französische Musikwissenschaftler Alain Daniélou erwähnt in seiner Einführung in die
indische Musik252 einen doch bemerkenswerten Aspekt bezüglich des Hörens Indischer
Musik. Der immer präsente Grundton ist die Grundlage allen musikalischen Geschehens,
wobei jedes melodische Element in Beziehung auf diesen Grundton wahrgenommen wird,
und zwar ohne einer melodischen Linie zu folgen. Die Wahrnehmung in der modalen
Musik ist vertikal ausgerichtet. Aus den musikalischen Phrasen erschafft der Hörende in
seinem Bewusstsein eine Architektur aus übereinander geschichteten und nebeneinander
existierenden Tönen, die den Modus und die entsprechende Stimmung ausdrücken. Die
einzelnen Bausteine dieses musikalischen Bauwerks werden zugunsten von Präzision und
Klarheit der Musik nacheinander geliefert, wobei die Reihenfolge (die melodische Folge)
der Töne nicht maßgeblich sei, sondern ihre Gesamtheit. Auch das Bewusstsein des
ausschließlich improvisierenden Musikers ist auf das Ganze, auf die vertikale Summe
gerichtet. Dieses Modell ist ein weiteres Beispiel für die Aktivität und Kreativität des
Hörens, das die Musik nicht konsumiert, sondern diese überhaupt erschafft.
1.4.5 Verstehen und Nachvollzug
Das Verstehen von Kunst bzw. von Musik wird auch in der westlichen Musiktheorie als
Aktivität oder aktives Mitgestalten des Zuhörers verstanden. So schreibt etwa Theodor
Adorno 1961: Man versteht ein Kunstwerk nicht, wenn man es in Begriffe übersetzt – tut
man einfach das, so ist es vorweg missverstanden -, sondern sobald man in seiner
immanenten Bewegung darin ist; fast möchte man sagen, sobald es vom Ohr seiner
eigenen Logik nach nochmals komponiert, vom Auge gemalt, vom sprachlichen Sensorium
mitgesprochen wird253. Verstehen als Erfolgsverb funktioniert nur, wenn auch Misserfolg,
Missverstehen oder Nichtverstehen, denkbar sind.
Dieser Gedanke inneren Wiederholens findet sich auch bei Ludwig Klages, der festhält,
dass das Kennertum dem Könnertum nachfolge, dass der Kenner sich in die Leistung des
Könners hineinversetze, was nichts anderes sei als ein Wiederhervorbringenin der
Phantasie und demnach eine abgekürzte Erneuerung des Gestaltungsvorganges selbst, die
251
Artur Simon, Kategorien des Musiklebens in traditionellen Kulturen Afrikas, Asiens und Ozeaniens. In:
Ekkehard Jost, Musik zwischen E und U. Mainz 1984, S.39
252
Alain Daniélou, Einführung in die indische Musik. Taschenbücher zur Musikwissenschaft Bd. 36,
Wilhelmshaven 1996, S. 16 f
253
Theodor W. Adorno, Voraussetzungen. In: Ders., Noten zur Literatur. Frankfurt am Main 1981, S. 433
81
als überhoben jeder Einlassung mit der ablenkenden Technik die „Intention“ des Könners
sogar reiner nachzubilden vermag, als sie im Werk verwirklicht wurde254.
Der Komponist Peter Ablinger, auf dessen Arbeit vor allem im Kapitel 3.2 (Fallbeispiele)
eingegangen wird, thematisiert in seinem Werkzyklus Weiss/Weisslich mimetische
Prozesse, also Prozesse der Abbildung von Klangereignissen. Durch intensive Annäherung
an eine Klangquelle mittels akribischer Untersuchungen der Klangspektren wird die
Abbildfunktion zugunsten der Selbständigkeit der daraus resultierenden Klänge
aufgehoben,- die Klangbilder werden nicht mehr als Stellvertreter der Quelle gehört. Die
Tonaufnahmen etwa von Rauschen sind durchaus mit der Abbildfunktion der Fotografie
vergleichbar, doch ist das Ohr nicht ausreichend geschult, um die Eindrücke erkennend
wahrzunehmen. Das hat zur Folge, dass das Abbild selbstreferenziell bzw. abstrakt wird255.
Ablinger gelingt es auf diese Weise, im Hörenden Aufmerksamkeit für das augenblickliche
Ereignis zu erzeugen. Chico Mello erkennt in der hier sichtbar werdenden Funktion der
Kunst als eine Membran zwischen verschiedenen Zuständen des Wahrnehmens und
Erkennens eines der Grundmotive in Ablingers Werk. In der Installation Quadraturen III
für maschinell gesteuertes Klavier etwa, in der das Klavier die menschliche Stimme
imitiert und gleichzeitig als Aufnahme- und Wiedergabegerät fungiert, werden zwei
unterschiedliche Systeme – Musik und Sprache – verbunden und die unterschiedlichen
Wahrnehmungsebenen thematisiert. Das derart sprechende Klavier ist eine mimetische
Maschine256. Das Faszinierende an dieser Arbeit ist die Gleichzeitigkeit von
Wahrnehmungsebenen. Einerseits das verblüffende Phänomen der Erkennbarkeit des
mittels Computer übertragenen Klangspektrenrasters des gesprochenen Textes,
andererseits die abstrakte Ebene, auf der diese Musik als Klaviermusik (nicht-referienzielle
Klangkaskaden) wahrnehmbar ist. Es spielt quasi mit unseren Hörgewohnheiten, stellt
diese einerseits in Frage und schärft andererseits Wahrnehmung und Konzentration. Nach
der Aufführung von Quadraturen IIIf (A Letter from Schönberg, 2006) im Rahmen des
Festivals Wien Modern am 3. November 2008 in Wien erklärte der Gehirnforscher Stefan
Koelsch, was beim Hören dieses Stückes im Gehirn passiere. Die durch den
Übertragungsprozess und das Medium vorgegebene Unschärfe verlange gesteigerte
254
Ludwig Klages (1968) S. 201
Chico Mello, Zwischen Abbild und Selbstreferenzialität: Mimesis und Rauschen bei Peter Ablinger. In:
Katja Blomberg (2008) S. 99
256
ebda S. 100
255
82
Aktivität vom Hörer, der das Gehörte mit seiner Erfahrung vergleicht. Die Tätigkeit des
Gehirns ist also eine sehr aktive, interpolierende, die gerade durch die grobe Rasterung, das
Lückenhafte, zur erhöhten Aufmerksamkeit gezwungen ist257.
In dieser Übertragung des gesprochenen Wortes auf ein Musikinstrument haben
Berechnung mittels Computer und Ausführung durch eine Maschine nur insofern
Bedeutung, als die Genauigkeit der Übertragung maximiert und die Ausführung des für
einen menschlichen Pianisten unspielbaren Stückes möglich ist. Hier ist die Parallele zu
technischen Entwicklung in der bildenden Kunst besonders deutlich und es wird auch klar,
dass hier eine andere Mimesis angesprochen ist, als die in der Musik traditionellerweise
angestrebte. Die Parallele zur Fotografie wird von Peter Ablinger selbst erwähnt. Nicht erst
die Fotografie, sondern schon die Camera Obscura war für Maler technisches Hilfsmittel
zur Bewältigung der Aufgabe der Abbildung der Wirklichkeit. Die Fotografie selbst hat die
Malerei ihrer ursprünglichen Funktion des Abbildens enthoben. Parallelen zur Musik
liegen zwar nicht auf der Hand, doch lassen sie sich durchaus finden bzw. vermuten. Die
abbildende Funktion der Musik ist zunächst schwer festzumachen. Das Beispiel
Quadraturen IIIf ist eine Ausnahme, weil die Musik nicht die Sprache imitiert, sondern
eine menschliche Sprache ist, die ihre Regeln an den grammatikalischen und rhetorischen
Regeln der Sprache bzw. Rede orientiert. Ist es durchaus auch Naturnachahmung, die den
Musiker antreibt, so wird dieses mit der Verwendung von Instrumenten verdoppelt, wenn
diese im Prinzip die menschliche Stimme nachahmen oder im Sinne eines Werkzeuges
verlängern und um Ausdrucksmöglichkeiten bereichern.
Die technische Entwicklung der Tonaufnahme hat die Musik von dieser quasi Pflicht der
Repräsentation der Natur (auch in Bezug auf ihre Regeln, die mit den Naturgesetzen
korrelieren) ebenso befreit wie die Fotografie die Malerei. Was dadurch wieder freigelegt
oder sichtbar wird, ist der rituelle Aspekt bzw. der des nicht-referenziellen Ereignisses, auf
den gerade die Arbeit Peter Ablingers verweist. Musik wird wieder selbst zur Trägerin der
Energie, oder vielmehr - um noch genauer zu sein - zu einer die Energiezentren in uns
selbst aktivierenden bzw. stimulierenden Instanz (Membran).
257
aus der persönlichen Mitschrift vom 03. 11. 2008. In diesem Konzert wurde Quadraturen IIIf übrigens
zweimal gespielt, einmal ohne und einmal mit dem Text quasi als Untertitel.
83
1.4.6 Codes
Pierre Bourdieu sieht den Konsum von Kunst als einen Akt der Dechiffrierung oder
Decodierung, der die Beherrschung einer Art Geheimschrift voraussetzt. Die Fähigkeit des
Sehens bemisst sich am Wissen, oder wenn man möchte, an den Begriffen, den Wörtern
mithin, über die man zur Bezeichnung der sichtbaren Dinge verfügt und die gleichsam
Wahrnehmungsprogramme darstellen258. Kunst ist also nur für denjenigen von Interesse,
der die Kompetenz, d. h. den angemessenen Code besitzt bzw. versteht. Diejenigen aber,
denen diese Codes fehlen, fühlen sich überfordert, wenn nicht überwältigt, weil sie das
offensichtliche Chaos an Tönen und Rhythmen, Farben und Zeilen ohne Vers und Verstand
nicht verstehen können. Bourdieu unterscheidet zwischen primären oder natürlichen und
sekundären oder konventionalen Bedeutungen. Während zum Verständnis der primären
Bedeutungen nur ein gewisses Maß an Sensibilität und Emotionalität notwendig ist,
verlangt das Verstehen der sekundären Bedeutungsebene die Kenntnis der Begriffe oder
Codes, mithilfe derer jenseits der natürlich-sinnliche Ebene etwa die stilistischen
Merkmale von Kunstwerken erfasst werden können. Die Betrachtung eines Kunstwerkes
verlangt keine Spontanreaktionen, sondern setzt einen Erkenntnisakt voraus und impliziert
die Anwendung eines kognitiven Potentials, eines kulturellen Codes. Der reine Blick ist
insofern geschichtliche Erfindung, als er mit dem Auftreten einer autonomen Kunst
korreliert, die in Produktion und Konsum die eigenen Normen durchsetzen. In diesem Sinn
fordert etwa die postimpressionistische Malerei aus dem Postulat heraus, welches die
Darstellung über das Dargestellte stellt, die ausschließliche Aufmerksamkeit für die Form.
Das so genannte offene Kunstwerk259 ist das letzte Stadium der Eroberung künstlerischer
Autonomie, welche der Form, dem Stil, der Manier und eben nicht dem Inhalt Vorrang
gibt, denn Inhalt würde die Unterwerfung unter Funktionen bedeuten. Bourdieu bezeichnet
das als den Übergang von einer die Natur imitierenden Kunst zu einer die Kunst
imitierenden Kunst. Die ästhetische Einstellung, die Produktionen eines zu hoher
Autonomie gelangten künstlerischen Feldes erheischen, ist nicht zu trennen von einer
258
Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main
1982, S. 19
259
vgl. Umberto Eco, Das offene Kunstwerk. Frankfurt am Main 1977. Auf S. 271 schreibt Eco: Der Künstler
muss, sobald er bemerkt, dass das Kommunikationssystem mit der geschichtlichen Situation, von der er
reden möchte, nicht mehr zusammenstimmt, begreifen, dass er die Situation nicht durch Exemplifizierung
eines geschichtlichen Sujets zum Ausdruck bringen kann, sondern allein durch die Verwendung und
Erfindung von formalen Strukturen, die zum Modell dieser Situation werden. Der eigentliche Inhalt des
Kunstwerks wird somit seine Art, die Welt zu sehen und zu beurteilen, ausgedrückt in einem
Gestaltungsmodus, und auf dieser Ebene muss dann auch die Untersuchung der Beziehungen zwischen Kunst
und Welt geführt werden.
84
besonderen kulturellen Kompetenz260. Der so genannte reine Blick bedeutet einen Bruch
mit dem allgemeinen Verhältnis zur Welt, und gleichzeitig auch einen gesellschaftlichen
Bruch, - Verfremdung (etwa im Brecht’schen Sinn), auf die ich weiter unten noch zu
sprechen kommen werde. Die systematische Ablehnung alles Menschlichen, die Ortega y
Gasset der modernen Kunst attestiert, ist die Ablehnung aller Leidenschaften, Gefühle,
Empfindungen, mit denen sich die gewöhnlichen Menschen in ihrem gewöhnlichen Dasein
herumschlagen. Die populäre Ästhetik ordne die Form unter die Funktion. Aus diesem
Grund sperrt sich das Publikum aus unteren Klassen gegen jede Art formalen
Experimentierens und gegen alle Effekte, die dadurch, dass sie gegenüber den
einschlägigen Konventionen (...) eine Distanz einführen, auch zum Zuschauer oder Leser
auf Distanz gehen, diesen damit den Zutritt zum Spiel und die volle Identifizierung mit den
Gestalten verwehren (...). Die populäre Ästhetik verweigert daher die Ablehnung des
Leichten, Oberflächlichen, Trivialen und Vulgären, auf der das formal Experimentelle
basiert. Die aus populären Schichten Stammenden beziehen sich auf die Normen der Moral
oder des Vergnügens, ihre Wertung wird immer auf ein ethisch fundiertes Normensystem
zurückgreifen261. Die Ablehnung des niedrigen, groben und vulgären, sprich des
natürlichen Genusses, einhergehend mit der Zuwendung zum sublimierten. raffinierten,
interesselosen und zweckfreien Vergnügen, mit dem die Kunst Überlegenheit demonstriert,
ist der Grund, warum Kunst und Kunstkonsum sich – ganz unabhängig vom Willen und
Wissen der Beteiligten – so glänzend eignen zur Erfüllung einer gesellschaftlichen
Funktion der Legitimierung sozialer Unterschiede262.
Für Vilém Flusser beruht die menschliche Kommunikation auf zu Codes geordneten
Symbolen. Die Kultur sei eine aus diesen Codes gewobene Hülle, die zwischen Mensch
und Welt vermittelt, indem sie einerseits für den Menschen die Welt bedeutet, andererseits
ihn von der Welt abschirmt, ihn vor ihr schützt. Die kodifizierte Welt steht zwischen
Mensch und Welt zugleich wie ein Wall und wie eine Brücke. Mit Absicht ordne der
Mensch Symbole zu Codes, um erworbene Information speichern und damit die Welt
leugnen zu können. Diese Leugnung oder Entfremdung wird philosophisch als Existenz
(ek-sistere = außerhalb stehen), theologisch als Sündenfall (Vertreibung aus dem Paradies)
verstanden.
260
Pierre Bourdieu (1982), S. 22
ebda S. 23 f
262
ebda S. 27
261
85
Als Symbol bezeichnet Flusser ein Phänomen, das nach Übereinkunft ein anderes
Phänomen bezeichnet. Code dagegen meint jedes System, das die Manipulation von
Symbolen ordnet. Diese Hülle aus Symbolen wird gewoben, um dem Leben einen Sinn zu
geben. Flusser unterscheidet drei charakteristische Codes, nämlich vor-alphabetische,
alphabetische und nach-alphabetische. Bereits die Vorstufen zum Alphabet (Piktogramme,
Ideogramme, Hieroglyphen) stellen Formen der Verfremdung dar, - weg von der Welt –
Bewegungen. Während die Hieroglyphen von Priestern für Priester geschaffen wurden, ist
der alphabetische Code, ursprünglich für Händler und Kaufleute entwickelt, hingegen ein
für das Rechnen und Zählen, Wiegen und Messen vereinbarter Code. Dieser Code, der die
Desakralisierung des Daseins enthält, kennzeichnet die gesamte Geschichte. Flusser
identifiziert den Bilderstreit als einen Kampf zwischen dem Alphabet (dem Code der Elite)
und dem Code der Bilder (dem Code des Volkes), - als Kampf zwischen dem historischrechnenden und dem imaginierend-magischen Bewusstsein. Zum Verständnis der
Dynamik und inneren Zerrissenheit der westlichen Gesellschaft sei wichtig, dass die
Träger des neuen Bewusstseins (oder Codes) Juden und Griechen waren, weil diese, die
westliche Gesellschaft, sich heute noch in einem ständigen inneren Dialog zwischen ihrer
jüdischen und griechischen Komponente befinde. Die feinen Unterschiede, auf die
Bourdieu anspielt, sind hier alos schon in der Zeit zwischen Bibel und Gutenberg angelegt.
Die heidnische Masse stellt diesen Streit der kleinen Eliten immer wieder in Frage263.
Durch die Erfindung des Buchdrucks und der dadurch möglich werdenden Verbreitung der
Texte werden zunächst die Bürger, dann die Proletarier alphabetisiert. Auf dieser
Grundlage erst entwickeln sich Wissenschaft und Technik der so genannten Neuzeit. Die
Moderne sei aufgrund der neuen Errungenschaften zwar sicher und mächtig, aber
unfruchtbar. Die innere Sicherheit des historischen Bewusstseins (...) verleiht diesem
Bewusstsein eine Verschlossenheit der Welt gegenüber, welche an Paranoia erinnert264.
263
Vilém Flusser (2000) S. 74 – 94
ebda S. 97. Vgl. dazu das Fragment 87 von Novalis, in dem er über die Werkzeuge schreibt, die den
Menschen armieren, also bewaffnen. ...der Mensch versteht, eine Welt hervorzubringen - es mangelt ihm nur
am gehörigen Apparat... Er verwirklicht (verkörpert) einen Gedanken, indem er durch alles dieses
[Werkzeug] sich gleichsam zu einer ungeheuren Maschine macht. Aus: Novalis (Friedrich von Hardenberg),
Fragmente und Studien. In: Carl Paschek (Hsg.), Novalis (Friedrich von Hardenberg), Fragmente und
Studien. Die Christenheit oder Europa. Stuttgart 2006, S. 27 f. Man könnte das Werkzeug, das den
Menschen mit der Welt verbinden soll, ihn aber letzten Endes von ihr trennt, mit Flussers Codes bzw.
Apparaten vergleichen.
264
86
Ludwig Wittgenstein erkennt diesen Sachverhalt ebenfalls und benennt ihn so: Ein „Bild“
hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in der Sprache, und sie
schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen265.
Flusser schließlich sieht diese heute noch gültigen Codes in einer Krise. Die Welt der
alphabetisch verschlüsselten Texte sei nicht mehr gültig, der Glauben an sie sei im
Schwinden. Der nachalphabetische Code, der nun im Begriffe sein soll, den alphabetischen
abzulösen, ist der Code der so genannten Technobilder. Die Bilder dieses Code-Modells
haben nichts mit den vor-alphabetischen Bildern gemeinsam. Während die
voralphabetischen Bilder die Welt bedeuten sollten, bedeuten die Technobilder nun Texte.
Dabei skizziert Flusser ein Szenario, das dem nach der Erfindung des Buchdrucks
entspricht, in dem die neuen Codes von der Mehrheit bzw. der Masse noch nicht
verstanden werden. Das mache die heutige Situation krisenhaft, denn die Codes
programmieren uns, ohne dass wir es wissen266. So kann der Dirigent Ernest Ansermet in
seiner Phänomenologie der Musik schon 1961 feststellen, dass bei der modernen Musik in
der Vielzahl der Fälle niemand das gespielte Werk wirklich versteht oder verstehen kann.
Man erfasst „Effekte“, partielle Sinnereignisse, Sinnbrocken, die sich nicht
zusammenreimen und die kein Ganzes bilden. Dafür gibt es (wenn man die Wirkung der
rein spekulativen Verfahren beiseite lässt, deren Tragweite durchaus gefährlich ist) zwei
Gründe: Die Komplexität oder, wenn man will, die Beladenheit der Struktur ist solcher
Art, dass viele dieser sinnhaltigen Elemente gar nicht „über die Rampe“ kommen und vom
Hörer (und wenn es der Komponist selbst ist) nicht bemerkt werden. Zum zweiten kann das
Werk nicht in seiner Ganzheit erfasst werden, weil es der Komponist selbst nicht in seiner
Ganzheit erfasst hat267.
Der britische Philosoph Roger Scruton unterstreicht Bemerkungen dieser Art, die in der
traditionellen bürgerlichen Ästhetik fußen, indem er schreibt, dass die atonale Musik sich
als unfähig erweise, eine Zuhörerschaft zu finden oder sie zu erschaffen. Die harschen
Verbote und untadeligen Theorien dieser Musik bedrohten die musikalische Kultur, indem
sie das natürliche bürgerliche Leben herabsetzten, von dem sie abhängt268. Das heißt
soviel wie „Die Hand, die uns füttert, beißt man nicht“. Für Scruton ist das bürgerliche
265
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1953), Nr. 115, zitiert nach: Wolfgang Welsch,
Ästhetik und Anästhetik. In. Ders. (2003) S. 35
266
Ludwig Wittgenstein (1953) S. 98 ff
267
Ernest Ansermet, Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewusstsein. München 1965, S. 20
268
Roger Scruton, The Aesthetics of Music. Oxford 1997, S. 506
87
Bewusstsein das absolute Maß, - Musik muss sich nach diesen Normen richten, wenn sie
als verständlich gelten soll269, sie muss die Spielregeln befolgen, muss die Codes
verwenden, die verstanden werden können. Dem schließt sich auch Stephen Davies an,
wenn er sagt, dass Musik, die inkohärent, unvorhersehbar oder von Zufall gesteuert ist, im
Unterschied zum Normalfall nur in einem institutionellen, musikhistorischen oder
sonstigen Kontext als Musik gilt, nicht aber aus der Erfahrung des Hörers. Solche Musik
bezeichnet Davies sogar als parasitär gegenüber den Werken, die einer kontinuierlichen
Tradition entspringen270. Musik, die sich den traditionellen Werten verweigert, wird also
zunächst nur von Spezialisten verstanden werden können, da dem breiten Publikum der
Schlüssel zum Verständnis fehlt. Musik Verstehen heißt, das eigene Hören an einer
implizit erfassten Struktur auszurichten271. Ein wesentlicher Aspekt dieses Verständnisses
ist die Wiedererkennung, die Davies als nahtlos mit der Wahrnehmung verbunden sieht, als einen Aspekt des Wahrnehmungsprozesses also. Im Fall komplexer musikalischer
Strukturen werden die Schwierigkeiten bei der Rezeption durch Übung, Konzentration und
große Aufmerksamkeit bewältigt. Viele Hörer würden bezeugen, dass die Anstrengungen,
langen und komplexen Musikstücken zu folgen, durch das sich einstellende erweiterte
Verständnis belohnt werden. So genannte normale Hörer, die keine formale Ausbildung
besitzen, verfügten trotzdem über eine Art Alltagsmusikologie272.
1.4.7 Musikalischer Sinn und Musikverstehen
Musik als Teil unserer kodifizierten Welt zu verstehen, legt den Schluss nahe, dass
entsprechend der von Vilém Flusser konstatierten Krise, in der sich die von den
alphabetischen Codes geprägte bzw. programmierte menschliche Kommunikation befindet,
auch die Musik in einer vergleichbaren Krisensituation sei. So wie das Alphabet ist das
heute gebräuchliche musikalische Zeichensystem eines, das wie das alphabetische (in
unserem Kulturkreis) von links nach rechts gelesen wird und somit ganz wesentliche
Vorstellungen vom musikalischen Zeitlauf prägt. Auch die Entwicklungen und
269
Max Paddison, Die vermittelte Unmittelbarkeit der Musik: Zum Vermittlungsbegriff in der Adornoschen
Musikästhetik. In: Alexander Becker/Matthias Vogel (Hsg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer
Philosophie der Musik. Frankfurt am Main 2007, S. 178
270
Stepen Davies, Musikalisches Verstehen. In: Alexander Becker/Matthias Vogel (Hsg.), Musikalischer
Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Frankfurt am Main 2007, S. 29
271
ebda S. 40, vgl. Alan H. Goldman, The Value of Music. In: Journal of Aesthetics and Art Critscism 50,
1992, S. 38
272
Stepen Davies (2007) S. 41 f und 48 f
88
Verbreitung dieser beiden Systeme lassen sich nicht nur vergleichen, sondern stehen in
einem gemeinsamen Kontext. Die Vervollkommnung des Notensystems im
13. Jahrhundert leitete eine Desakralisierung ein, und auch die für die Verbreitung des
Alphabets wichtige Erfindung des Buchdrucks war in der Form des Notendrucks273 für die
Verbreitung des neuen musikalischen Codes verantwortlich. So wie die Menschen, die eine
Schriftsprache erlernten, eigentlich nicht mehr im ursprünglichen Sinn sprachen, sondern
unsichtbare Texte vorlasen (vgl. Kapitel 2.3), führte die Notenschrift zu ähnlichen
Phänomenen und trug zur Ausbildung des historisches Bewusstseins bei. So wie die
alphabetische Schrift gibt die Notenschrift die durch sie schriftlich festgehaltenen
musikalischen Phänomene nur unvollkommen wieder, und doch hat sie sich, so wie das
Alphabet, weltweit durchgesetzt. Dennoch gibt es noch immer Kulturen, deren
Musiktradition ausschließlich mündlich überliefert ist. An diesem Punkt wird der
grundsätzliche Unterschied im Verstehen, - im nachvollziehenden Hören von Musik,
deutlich. Während die durch Notenschrift codierte Musik zunächst von Musikern gelesen
bzw. entschlüsselt werden muss, wird die über orale Traditionen vermittelte Musik ohne
diese Zwischenstufe der Codierung ausgeführt und wahrgenommen.
Der in dieser Arbeit angenommene Wertewandel oder Paradigmenwechsel in der Musik,
der durch die Digitalisierung eingeleitet wurde, erweist sich hier als Teilaspekt eines
größeren Zusammenhangs, eines kontinuierlichen Prozesses: Digital und komprimiert ist
die akustische Botschaft erneut vereinfacht. Die Wirkung des Realen wird auf Distanz
gehalten, und man ist sich nicht immer darüber im Klaren, dass man das Logo der Werke
oder Dinge vor sich hat, nicht sie selbst. Wie die Musik im iPod wird die Welt komprimiert,
273
Die älteste Form des Notendrucks war der so genannte Typendruck, der erstmals 1476 in Rom entwickelt
wurde. 1498 übertrug Ottaviano de Petrucci in Venedig den Typendruck auf Mensuralnoten. Seine ersten
Drucke niederländischer Chansons erschienen 1501. Vgl. Karl H. Wörner, Geschichte der Musik. Göttingen
1972, S. 158 und Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), Personenteil Bd. 13, Stuttgart 2005,
Sp. 426 f
Theodor W. Adorno bezeichnete die Partitur in gewisser Weise als Feind des Gedächtnisses, auch wenn sie
als Gedächtnisstütze betrachtet werden könne. Das Werk als Partitur ist für ihn die erste Verdinglichung der
Musik, - in seiner Objektivierung sei es die Verräumlichung der musikalischen Zeitlichkeit. Als
Zeichensystem sei es ein Bild des Werkes. Die musikalischen Zeichen, welche die Musik der Vieldeutigkeit
und Vergänglichkeit entwanden, sind dafür Bilder von Gesten. Als Rationalisierung der Magie hat die
Notenschrift die mimetische Praxis festgehalten, während der musikalischen Übung das Gedächtnis an jene
bereits zu entschwinden begann. Das Aufkommen der Partitur in der westlichen Gesellschaft seit dem
Mittelalter bedeute das Verschwinden des Gedächtnisses als Speicherort der kollektiven Musiktradition. Aus:
Theodor W. Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Frankfurt am Main 2001, S. 224,
zitiert nach Max Paddison (2007) S. 220
89
das Leben erreicht uns als Abklatsch, leeren Körpern gleich, die auf einem unbekannten
Planeten herumirren274.
Ansermet, der die Musik als eine melodische Sprache bezeichnet, die man lernen kann wie
jede andere275, erwähnt einen - den bereits genannten Folgen der Codierung ähnlichen Aspekt im Bereich der musikalisch-melodischen Erfindung. Nach Abschluss des
historischen Ausbildungsprozesses der musikalischen „Sprache“ ist die musikalische
Erfindung notgedrungen stärker eingeschränkt, weil diese „fertige“ musikalische Sprache
die Erfindungsgabe einschränke. Der Komponist sei dazu gezwungen, „Musik über Musik“
zu schreiben – der zeitgenössische Komponist komponiert tatsächlich „über“ Musik, weil
er sich der schöpferischen Tätigkeit erst nach der Erlernung der musikalischen Sprache
widmet. Insbesondere seine Beherrschung des Kontrapunkts macht ihn glauben, es genüge
hinfort , Kontrapunkt zu machen, wenn er Musik machen will276. Diese Verwechslung der
auf der Grundlage dieser musikalischen Sprache möglichen mittelbaren Technik mit dem
spontanen unmittelbaren Ausdruck wurde vom Komponisten Otto M. Zykan als
Verwechslung des Komponierens mit Buchhaltung entlarvt277. Diese Momente der
Entfremdung sind Merkmale von Kodierungsprozessen, die nicht erst in der Geschichte der
Medien zu finden sind. Für Ansermet ist der authentische und sinnerfüllte Ausdrucksakt
durch die reflexive Haltung zwar nicht ausgeschlossen, aber doch problematisch278.
Kontrapunkt und Zwölftontechnik etwa sind aber als Methoden bereits Apparaturen, die –
im Sinne der Technobilder Flussers – die Ergebnisse sowie auch deren Erfahrbarkeit, deren Nachvollzug auf eine andere Ebene stellen.
Ein Beispiel aus der bildenden Kunst möge hier den Paradigmenwechsel von der analogen
zur digitalen Welt veranschaulichen. Der Galerist Claus Baumann schrieb über seine
274
Jean de Loisy, Im Angesicht dessen, was sich entzieht. In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Katalog
zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München 19. September 2008 bis 11. Jänner 2009.
München 2008, S. 22 f
275
Ernest Ansermet (1965), S. 464
276
Ernest Ansermet (1965) S. 465 f
277
Die Methode betrachte ich als mein persönliches Eigentum. Sie ist also unverkäuflich und geheim, um
Nachahmer vor unbedachtem Fehlverhalten zu schützen. Man denke nur an die verheerenden
Folgeerscheinungen der Publikmachung von Schönbergs so genannter Zwölftonerfindung. (Jahrzehnte – wie
man weiß – verwechselten hoffnungsvolle Tonsetzer das Komponieren mit Buchhaltung.) Aus: Hannes
Raffaseder, Zur Datenskulptur im Klangturm 08 – ein Projekt von Markus Wintersberger und Irene Suchy,
gemeinsam mit Studierenden der FH St. Pölten. In: Irene Suchy, Otto M. Zykan. Band I, Materialien zu
Leben und Werk. Wien 2008, S. 6
278
Ernest Ansermet (1965) S. 467
90
Erfahrungen bzw. Empfindungen beim Aufbau der Ausstellung Zweidimensionale (2004):
Gleichsam wie über eine fast mannshohe Mauer hinwegschauend, sah ich auf der anderen
Seite dieser Mauer eine Welt, zu der ich nicht gehörte. Und zu der ich nie gehören würde.
Selbst wenn ich es mit ganzem Herzen und Verstand wollen würde. Ich schaute in die Welt
einer Generation (vielleicht sogar der ersten), die vom ersten Augenschlag an über die
Medien auf die Welt blickt. Die erste digitale Generation. Ich aber gehörte zu den
Analogen. Und da man nicht wieder zur Jungfrau werden kann, würde ich meine analoge
Prägung nie austauschen können mit dieser digitalen Prägung, wie diese Generation wohl
nie unmittelbar erfahren wird, um welche Weltsicht es sich bei den Analogen handelt279.
1.4.8 Der Werkbegriff
Das romantische Ziel des Surrealismus bestand in einer unmittelbaren Subversion der
Codes (also z. B. der Sprache), welches Roland Barthes zwar als illusionäres Ziel
bezeichnete, da Codes nicht zerstört, sondern nur gespielt werden könnten, - trotzdem aber
waren die surrealistischen Strategien wie etwa das plötzliche Durchkreuzen der
Sinneswahrnehmungen (der surrealistische Stoß), die automatische Schreibweise und das
kollektive Schreiben dazu geeignet, das Bild des Autors zu entsakralisieren280. Roland
Barthes spricht vom Verschwinden des Autors, - von dessen Tod. An seine Stelle tritt der
Schreiber [scripteur], der im selben Moment geboren wird wie sein Text selbst, und keine
Existenz habe, die dem Text voranginge oder es übersteigen würde. Draus schließt
Barthes, dass Schreiben nicht länger eine Tätigkeit des Registrierens, Konstatierens, des
Repräsentierens ist, sondern ein Performativ, in dem die Äußerung keinen anderen Inhalt
habe als den Akt, durch den sie sich hervorbringt. Die Abwesenheit des Autors mache es
überflüssig, einen Text zu entziffern [dechiffrer], diese hier postulierte vielfältige Schrift
könne vielmehr nur entwirrt, nicht entziffert werden. Sie bilde unentwegt Sinn, aber nur
um ihn wieder aufzulösen, - führe zu einer Befreiung von Sinn. Diese Schrift verweigere
dem Text und somit der Welt einen endgültigen Sinn und setze eine Art gegentheologische
und revolutionäre Tätigkeit frei. Denn eine Fixierung des Sinns zu verweigern heißt
279
Claus Baumann, Die Leipziger Schule. Blick in die Sammlung/6. Die Neue und die Alte?. Leipzig 2005,
zitiert nach Flora Miranda Seierl, Regressiv oder progressiv – realistische Malerei der Gegenwart. Versuch
einer Positionierung des gegenstandsbezogenen Darstellens im 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund
vergangener kunsthistorischer Entwicklungen. Salzburg 2009, S. 43. Flora Miranda Seierl spielt mit diesem
Zitat auf die Traditionsgebundenheit als einer speziellen Form der Kontextgebundenheit an, Mit dieser hier
zitierten selbst erkennenden Feststellung aber habe sich der Galerist von den Fesseln der Vergangenheit
befreit. (ebda S. 44)
280
Roland Barthes (2000) S. 188
91
letztlich, Gott und seine Hypostasen (die Vernunft, die Wissenschaft, das Gesetz)
abzuweisen. Als Beispiel erwähnt Barthes die Zweideutigkeit der Worte, aus denen die
griechische Tragödie gewoben ist und die die Voraussetzung für die ewigen
Missverständnisse sind, die die Grundlage des Tragischen ausmachen. Der, der jedes Wort
in dieser Zweideutigkeit verstehe, sei der Leser bzw. in diesem Fall der Hörer. Ein Text sei
heute aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die aus verschiedenen Kulturen kommen
und miteinander in Dialoge treten, auch einander infrage stellen. Der Ort, an dem diese
Vielfalt zusammentrifft, sei nicht der Autor, sondern der Leser. Die Geburt des Lesers ist
zu bezahlen mit dem Tod des Autors281.
Hans Belting sieht diese Subjektflucht des Künstlers als einen Verzicht auf die Bürde der
Autorenschaft. Die Stelle, die das persönliche Werk innehatte, nehmen heute CopyrightFragen ein. Kapital und Technologie seien die Kultobjekte unserer Zeit geworden282.
Diese Entwicklung ist in der aktuellen Musikpraxis abgebildet, besonders in der Kultur des
DJing, auf das im Kapitel 4.2 nochmals eingegangen wird. Der Werkbegriff ist von dem
des Autors (Komponisten, Urhebers usw.) nicht zu trennen. Dieses Verhältnis gründet
letzten Endes auf der Funktionalität der Codes, die unsere Kultur bestimmen. Das
Verhältnis von Werk und Autor ist als Teil der Wertschöpfungskette von Musik ein heute
vor allem an ökonomischen Zwängen gemessenes. Ein vorwiegend ökonomisches Problem
ist auch das der Vervielfältigung. Wir wissen, dass das willkürliche Nachdrucken von Geld
zu dessen Entwertung führt, - und aus der bildenden Kunst, dass der Wert von Druckgrafik
im Verhältnis zur Auflagenhöhe sinkt. Durch die Möglichkeit der Reproduzierbarkeit hat
die Vervielfältigung von musikalischen Werken seit der Digitalisierung musikalischer
Medien phantastische Maße angenommen. Im Kontext dieses globalen Überangebots
verschwindet das Werk hinter der Funktion des Konsumenten. Wenn diese Entwicklung
für viele Anlass zur Sorge darstellt, so ist sie doch grundsätzlich als Phänomen zu werten,
das überkommene bzw. veraltete Strukturen auf- bzw. ablöst.
Ein wesentlicher Aspekt, der sich in vielen Teilen dieser Untersuchung zeigt, ist die (neue)
aktive Rolle des Hörenden. Auch sie stellt den traditionellen Werkbegriff infrage.
Bereits um 1960 war vor allem in der bildenden Kunst von der Auflösung des
Werkbegriffs die Rede, auch vom Ende der Avantgarden und sogar vom Ende der Kunst
selbst. Der Pflicht der Abbildung und der Repräsentation der aktuellen Machthaber
281
282
Roland Barthes, Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis et al (Hsg.) (2000) S. 191 ff
Hans Belting (2005) S. 286
92
enthoben, wurde der Begriff des Werkes bald hinterfragt. Die Werkaura war als Theorie
der Romantik dazu da, die Utopie der Kunst auf physische Werke zu übertragen. Hans
Belting ist der Auffassung, dass es ein stabiles Werkideal der Moderne, von dem die
Generation um 1960 sich distanzierte, nie gegeben habe. Vielmehr sei dieses ein Produkt
von Konflikten gewesen, etwa von solchen zwischen Kunst und technischen
Alltagsmedien. Konzeptkunst, Fluxus, Happening und Body Art kündigten anschauliche
wie ästhetische Werkformen auf, sodass das Werk zu einem nicht mehr künstlerisch
legitimierten institutionellen Begriff schrumpfe. Dabei bildete die Verdinglichung der
Kunst im Werk ein Problem der Moderne von Anfang an. Aus der Sicht Duchamps etwa
waren Werke imaginäre Tauschwerte, die sich auf die Kunst als Idee ähnlich bezogen wie
Geldscheine auf eine Währung. Die Werkkrise sei nach dem ersten Weltkrieg zu einem
Hauptthema der Kunstwelt geworden. Die Folgen der Auflösung des Werk- bzw.
Kunstbegriffs waren einerseits der Primitivismus als Suche nach vergessenen Ritualen und
dem Ursprung der Kunst, andererseits das Theater (Malewitsch, Kandinsky), letzten Endes
aber auch die Traumwelt des bereits erwähnten Surrealismus283.
1.4.9
Zusammenfassung
Der Begriff prehension sowie das hier skizzierte Umfeld steht für mich für das
Wesentliche an der musikalischen Kommunikation. Der bei Ritwik Sanyal gegebene
Kontext der ästhetischen Aufmerksamkeit, Konzentration und Meditation weist auf die
spirituelle Qualität des Musizierens und Musikhörens. Prehension als aktives Mitgestalten
verlagert das Zentrum des musikalischen Geschehens einerseits vom Musiker oder
Produzierernden auf den Zuhörer oder Konsumierenden, - andererseits auf Kommunikation
und Austausch zwischen beiden. Diese Gedanken sind auch der westlichen Musiktheorie
nicht fremd und finden sich etwa auch in der Theorie der Postmoderne wieder, die
sinngemäß den Werkbegriff und damit die Autorenschaft radikal in Frage stellt. Im
Vergleich mit dem Begriff der Sammlung im Kontext christlicher Gebets- und
Mediationspraxis zeigt sich, dass die Entwicklung der christlichen Spiritualität und
Tendenzen in der Kunstmusik des 20. Jahrhunderts Parallelen aufweisen, die schließlich
auch die spirituelle Krise in diesem Jahrhundert abbilden. Die von christlichen Denkern
formulierten Aufrufe zur Sammlung, die in einer Welt der immer größer werdenden
Zerstreuung die einzige Möglichkeit des seelisch-geistigen Überlebens darstelle, entspricht
283
Vgl. Hans Belting, Szenen der Moderne. Kunst und ihre offenen Grenzen. Hamburg 2005, S. 65 - 80
93
meiner Meinung nach den Bestrebungen der Vertreter bzw. Verfechter der Neuen Musik,
die vor allem ein aufmerksames, aktives und gesammeltes Hören fordern. Da wie dort ist
es ein Versuch, den Menschen mittels meditativen Praktiken bzw. mittels Musik in die
Gegenwart zu zwingen, die – mit dem Hier und Jetzt der buddhistischen Lehre
vergleichbar – den Ort darstellt, an dem der Mensch mit seiner Energie verbunden ist.
Dieses Moment der Gegenwärtigkeit (Gegenwärtigung/Dessauer) hat politische wie
spirituelle Dimension, - der aktive und gestaltende Zugriff auf die Wirklichkeit ist der
einzige, der als eingreifend, d. h. verändernd verstanden werden kann. Der buddhistischen
Forderung nach stetiger Achtsamkeit, die auch in der Schule der Sammlung ihren
Widerhall findet, entspricht die konsequente und oft elitär anmutende Haltung der Neuen
Musik, die extreme An- und Herausforderungen an den Hörer stellt und diesen als aktiven,
mitgestaltenden, ja konstitutiven Teil des Musikgeschehens ernst nimmt.
Die genauere Untersuchung des Verhältnisses des Hörenden zur Musik öffnet das weite
Feld der Bedingungen von Kommunikation, die nach Flusser auf zu Codes geordneten
Symbolen beruht. Zugriff ist nur auf etwas möglich, das begreifbar ist, – und auch
musikalische Codes müssen dechiffriert werden, um als Musik verstanden werden zu
können. Die von Flusser prognostizierte Krise dieser Codes und damit der Kommunikation
an sich stellt auch das Problem des Musikverstehens als ein aktives Mitgestalten in ein
vollkommen neues Licht. Die neuen Codes, die Flusser Technobilder nennt, verändern
unsere Vorstellung und damit auch unser Erleben der Welt radikal. In die Musik übersetzt,
repräsentieren diese jede mittels technischer Apparate hergestellte Musik, mit denen wir
erst lernen müssen, umzugehen. Diese so entstehende Musik ist nicht Musik im
herkömmlichen Sinn, auch wenn sie dieser ähnlich zu sein scheint (z. B. recorded
music284), und wir deshalb der Meinung sind, sie verstehen und beurteilen zu können.
Je mehr also die Kommunikation auf dieser (musikalischen) Ebene in Gefahr ist, umso
mehr steigt auch die Chance, über die Auseinandersetzung mit aktueller Kunst bzw. Musik
zu einem neuen, kybernetischen Verständnis der Wirklichkeit zu gelangen.
284
Vgl. Bill Drummond, 17. London 2008, S. 5: ...all the recorded music that has ever meant anything to you
or me or anybody else is speeding its way to irrelevance. The whole canon of recorded music that has been
stockpiled over these past 110 years is going rotten, rapidly losing any meaning for anybodyexcept historians
and those who want to exploit our weakness for nostalgia.[...] The sheer availability and ubiquity of recorded
music will inspire forward-looking music-makers to explore different ways of creating music, away from
something that can be captured on a CD, downloaded from the internet, consumed on an MP3 player; and
the very making of recorded music will seem an entirely two-dimensional 20th-century aspiration to the
creative music-makers of the next few decades.
94
2
Energieströme
2.1 Okkulte Strömungen in Europa
Das Centre Pompidou in Paris zeigte vom 7. Mai bis 11. August 2008 eine von Jean de
Loisy und Angela Lampe kuratierte Ausstellung mit dem Titel Traces du Sacré (Spuren
des Geistigen oder eigentlich des Heiligen). Diese Ausstellung wurde unter dem Titel
Spuren des Geistigen/Traces du Sacré vom Has der Kunst in München übernommen
(19. September 2008 bis 11. Jänner 2009). Im Grußwort zum Katalog zur Münchener
Ausstellung schreiben Alain Seban, Präsident des Centre Pompidou, und Alfred
Paquement, Direktor des Musée national d’art moderne, dass man mit dieser Ausstellung
in einer Zeit der Entzauberung der Welt die alte Frage, ob es jenseits der Trivialität dieser
Welt etwas anderes geben könnte, wieder aufgreifen und die Geschichte eines zerrissenen
Bandes, das einmal zwischen Menschen und Göttern, dem Absoluten und seinen
unvermeidlichen Illusionen bestanden hat, verfolgen wollte285. Der Direktor am Haus der
Kunst, Chris Dercon, spricht in seinem Grußwort sogar vom Boom des Religiösen in der
Kunst. Zahlreiche zeitgenössische Künstler treten mit religiösen Sujets oder an religiösen
Orten vor ihr Publikum286. Mit dem Aufkommen der Moderne und des modernen
Künstlertums vor 150 Jahren wich die religiöse Kunst einer neuen geistigen Epoche, die
zunächst von Kandinsky eingefordert wurde. Die Künstler um die Wende zum
20. Jahrhundert bezogen ihre Inspirationen aus okkulter und philosophischer Literatur, von
den Entdeckungen außereuropäischer Kulturen, von alten Mythen und ostasiatischen
Religionen. Dabei spielte die Erweiterung des Bewusstseins durch Trance und
Halluzination eine nicht unwesentliche Rolle. Dercon zitiert den griechischen Künstler
Jannis Kounnellis, der diese neu entwickelte bzw. sich entwickelnde Haltung der
Kunstschaffenden auf den Punkt gebracht hat: ..., dass die Fähigkeit, eine Erscheinung des
Göttlichen herbeizuführen, ohne Sentimentalität, nämlich eines Säkular-Göttlichen, das in
die Geschichte eingebettet ist, vorzüglich zum Beruf des Künstlers gehört. Aber vor allem
sei es das Feld des Publikums, dem die religiöse Erfahrung angehöre287. Und dieser Zusatz
ist sehr wichtig, denn er dokumentiert eine radikale Änderung der Sichtweise: Es geht gar
285
Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst,
München 19. September 2008 bis 11. Jänner 2009. München 2008, S. 5
286
ebda S. 7
287
ebda
95
nicht mehr sosehr bzw. allein um die Haltung und Intention des Künstlers288, sondern
gleichermaßen um die des Rezipienten, in diesem Fall um dessen religiöse oder spirituelle
Erfahrung und Bedürfnisse.
Wassily Kandinskys Schrift Das Geistige in der Kunst (1911), auf die der Titel dieser
Ausstellung rekurriert, wurde sofort nach Erscheinen zum Kultbuch, weil es offensichtlich
aktuelle Tendenzen und Bedürfnisse abbildete. Erst nach dem 2. Weltkrieg beschäftigten
sich Kunsthistoriker mit den geistigen und vor allem mystischen Wurzeln von Künstlern
der Avantgarde wie Kandinsky und Mondrian. 1995 zeigte die Schirn Kunsthalle Frankfurt
mit der von Veit Loer kuratierten Ausstellung Okkultismus und Avantgarde. Von Munch
bis Mondrian, 1900 – 1915, wie zu Beginn des Jahrhunderts Künstler aller Disziplinen
Inspiration in okkulten, spirituellen Themen fanden. Weitere Ausstelllungen vor allem in
Deutschland versuchten, religiösen Tendenzen der bildenden Kunst dieser Zeit und später
nachzuspüren. In jedem Fall befreiten sich die Künstler von christlich-religiösen Themen,
um neue und eigene Antworten auf die metaphysischen Fragen nach dem Unendlichen und
Kosmischen zu finden289. Jean de Loisy verweist auf die entscheidende Rolle der
spirituellen Krisen, die die westliche Welt ästhetisch geprägt haben290. Die Entzauberung
der Welt291 ist eine Entwicklung, die mit der protestantischen Aufklärung, der
französischen Revolution und mit dem Fortschritt der Wissenschaften einhergeht und zu
sozialen wie politischen Umbrüchen führt. Das Gott ist tot ist eine Umwertung der
traditionellen Werte, - der eine, alles ordnende Wert zerbricht in viele Werte. Was im
Begriff ist, aus der okzidentalen Welt zu verschwinden, ist das Absolute292. Trotzdem trägt
die modere Kunst immer noch die Spuren des Sakralen - heute Spiritualität genannt – und
bekennt sich zu der Aufgabe, die metaphysischen Geheimnisse zu durchdringen293.
288
Die deutsche Künstlerin Daniela Leiter stellt etwa die Frage: Ist ein Kunstwerk religiös, wenn der
Künstler religiöse Intentionen hat? In: Chris Dercon, Grußwort. In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré.
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München 19. September 2008 bis 11. Jänner
2009. München 2008, S. 7
289
Angela Lampe, Auf den Spuren des Geistigen. In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Katalog zur
gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München, 19. September 2008 bis 11. Jänner 2009.
München 2008, S. 9 ff
290
Jean de Loisy, Im Angesicht dessen, was sich entzieht. In: In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré.
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München 19. September 2008 bis 11. Jänner
2009. München 2008, S. 13 ff
291
Marcel Gauchet, La Désenchantement du monde. Paris 1985
292
André Malraux, Les Voix du silence. In: ders. Œuvres complète. Paris 1989 – 2004, Bd. IV, S. 722
293
Barnett Newman, The Plasmic Image. In: Bonn/Sally, L’Expérience éclairante sur Barnett Newman.
Brüssel 2005, S. 78, zitiert nach Loisy (2008) S. 14
96
Ein Brief Egon Schieles an Hermann Engel aus dem Jahr 1911, der eine Interpretation
seines Bildes Die Offenbarung enthält, ist ein weiteres Dokument für das um die
Jahrhundertwende herrschende Interesse an theosophischem Gedankengut und
Okkultismus294, speziell in Wien295. Schiele schreibt vom eigenen Licht der Körper, von
astralischem, farbigem Licht und von der Vereinigung positiver und negativer Elektrizität,
- Begriffe, die auf spiritistische, theosophische Quellen schließen lassen296. Dass Schiele
kein Einzelfall war, belegen Zeugnisse vom Interesse zahlreicher Künstler um die
Jahrhundertwende. Es war die Wiederentdeckung eines durch die Aufklärung verdrängten
Kulturguts, - in Alchemie, Kabbala und neuplatonischen Spekulationen fand man die
geheimen Entsprechungen des Innen und Außen sowie des Oben und Unten wieder. Aber
bereits der europaweit erfolgreiche Mesmerismus markierte den Beginn der
wissenschaftlichen Erforschung okkulter Phänomene.
2.1.1 Mesmerismus und Theosophie
Schon Mitte des 18. Jahrhunderts begannen die Naturwissenschaften sich für die
Elektrizität zu interessieren. In ihr fanden die Frühromantiker die Bestätigung dafür, dass
der Pulsschlag des Menschen der Rhythmus des Universums sei und umgekehrt297. Aber
schon 1641 bezeichnet Athanasius Kircher den Magnetismus als universelle Kraft, die alles
294
Okkultismus leitet sich von lat. occultus (dunkel, verborgen) ab. Okkultismus wird heute vorwiegend
pejorativ, also abwertend verwendet. Als okkult galten Handlungen und Ereignisse, die dem Wissensstand
entsprechend nicht erklärbar waren oder diesem widersprachen. Vgl. Astrid Kury, Heiligenscheine eines
elektrischen Jahrhundertendes sehen anders aus... Okkultismus und die Kunst der Wiener Moderne. Wien
2000, S. 17 f
295
Egon Schiele, Brief an Dr. Hermann Engel. Wien 1911. Schwarz-braune Tusche auf Papier, 22,5 x 14,4
cm, Leopold Museum, Wien – Inv. Nr. 4497. Vgl. auch: Astrid Kury, Heiligenscheine eines elektrischen
Jahrhundertendes sehen anders aus... Okkultismus und die Kunst der Wiener Moderne. Wien 2000. Band 9
der Studien zur Moderne, Spezialforschungsbereich Moderne, Universität Graz. Hrsg. Karl Acham, Moritz
Csáky, Rudolf Flotzinger, Dietmar Goltschnigg, Rudolf Haller, Helmut Konrad, Götz Pochat).
296
Vgl. Rudolf Steiner, Vor dem Tore der Theosophie. Dornach 1991, S. 16: Es ist so, dass, wenn man
physischen Leib und Ätherleib absuggeriert, alles ausgefüllt ist von einer feinen Lichtwolke mit innerer
Beweglichkeit. In dieser Wolke, in dieser Aura sieht der eingeweihte jede Begierde, jeden Trieb und so weiter
als Farbe und Gestalt des Astralleibes; so sieht er zum Beispiel heftige Leidenschaft als blitzartige Strahlen
aus dem Astralleib hervorschießen. Der Terminus astralisches Licht geht auf Paracelsus zurück und gehört
zum elementaren Vokabular der Thesosophen. Das Leuchten der Körper lässt an die Forschungen des
Freiherrn Karl von Reichenbach über das Od-Licht denken, der dieses Eigenleuchten von Körpern als Folge
chemischer Prozesse erklärte. Darauf wieder bezog sich Schieles Briefpassage. Vgl. Astrid Kury,
Heiligenscheine eines elektrischen Jahrhundertendes sehen anders aus... Okkultismus und die Kunst der
Wiener Moderne. Wien 2000, S. 201 f. Auch der Mesmerismus interpretierte das alte Konzept des Ätherbzw. Astralleibes. So war auch der Begriff des Lichtkörpers im seinem Vokabular. Vgl. Karl Baier (2009)
S. 188
297
Siegfried Zielinsky (2002) S. 189 und 197 sowie Walter D. Wetzels, Johann Wilhelm Ritter: Physik im
Wirkungsfeld der deutschen Romantik. Berlin 1973, S. 1
97
in der Natur und alle Wissensgebiete miteinander verbinde298. Experimente mit
Magnetismus bei der Heilung psychisch Kranker brachten Franz Anton Mesmer ( 1734 –
1815) zu der Ansicht, dass die Natur von einer unsichtbaren Kraft, einem magnetischen
„Fluidum“ erfüllt sein müsse, das sowohl Ursache als auch Heilquelle der Krankheit
sei299. Der Magnetismus fand in der Folge breite Beachtung, - das romantische Schrifttum
beweist die intensive Auseinandersetzung mit ihm. Von besonderem Interesse war die im
magnetischen Zustand gegebene Erweiterung seelischer und sinnlicher Fähigkeiten,
welche als Verfeinerung der Sinne auch für die moderne Kunst von Bedeutung war. Der
Magnetismus schien die Einlösung der das gesamte 19. und beginnende 20. Jahrhundert
bestimmenden Sehnsucht nach einer neuen Synthese von Religion und Wissenschaft, einer
Vereinigung von wissenschaftlichem Rationalismus und intuitiver Erkenntnis zu bieten und
bildete die Basis des modernen Okkultismus. Das Ziel des Okkultismus um 1900 war die
Untersuchung und experimentelle Erforschung der unsichtbaren Kräfte in der Natur und im
Menschen300. Der Theologe Karl Baier schenkt in seiner umfassenden Studie über die
Meditationspraxis moderner Spiritualität301 dem Mesmerismus besondere
Aufmerksamkeit. Experimente mit Trance und Ekstase erzeugenden Methoden sowie ein
therapeutischer Ansatz, der den Mesmerismus als Vorform heutiger Psychotherapie
erkennen lässt, stecken diese Entwicklung ab. Der therapeutische Bezug und die
Beachtung des Leibes als Ausdruck der bis dahin zu kurz gekommenen Leiberfahrung sind
Aspekte, die noch heute in spirituellen Praktiken eine Rolle spielen302. Viele
alternativreligiöse Richtungen erlagen der Faszination, dass die Grand Unified Theory des
Mesmerismus auch eine kontemplative Seite hatte, verbunden mit dem Anspruch, tiefe
Versenkungszustände, Visionen, religiöse Ekstase und paranormale Fähigkeiten
hervorrufen zu können. Für die Religionswissenschaft gilt der Mesmerismus als
Vorbereiter der modernen Esoterik303.
Zudem öffnete sich der Mesmerismus außereuropäischen, vor allem indischen
Meditationsformen und anderen magisch-mystischen Traditionen. So nahm etwa der
298
Athanasius Kircher, Magnes sive de arte magnetica. 1641, zitiert nach Siegfried Zielinsky (2002) S. 203
Astrid Kury (2000) S. 19
300
Astrid Kury (2000) S. 19 ff. Okkultistische Systeme sind meist atheistisch, nicht-christlich und pseudobzw. parawissenschaftlich, das Gottesbild weicht vitalistischen Konzepten bzw. schöpferischen
Schwingungen. Ein weiteres Kennzeichen für Okkultismus sind umfassende Welterklärungs- und
Evolutionsmodelle sowie Systeme, die ihre Inhalte aus den heiligen Texten verschiedenster Kulturkreise
beziehen.
301
Karl Baier, Meditation und Moderne. Würzburg 2009
302
Karl Baier (2009) S. 23 f
303
Karl Baier (2009) S. 180 f
299
98
weltweit verbreitete neo-hinduistische Yoga mesmeristische Einflüsse auf. Das Interesse
galt asiatischen Religionen, chinesischen Heilmethoden, sibirischem Schamanismus und
magischen Traditionen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich aus
mesmeristisch-magischen einerseits und den daraus hervorgegangenen amerikanischspiritistischen Strömungen andererseits der Okkultismus. Die führende okkultistische
Vereinigung war die Theosophische Gesellschaft, die mit der Vermittlung indischer
Mediationspraxis nach Europa und Amerika Pionierarbeit leistete. So wurde der
Kundalini-Yoga und die Lehre von den cakras entdeckt und mesmeristisch interpretiert.
Die daraus resultierende Cakra-Meditation trug zur Popularität dieses Themas im
20. Jahrhundert wesentlich bei304.
Neben dem Indienbezug, den Baier umfassend darstellt305, hatte der Mesmerismus wie
Mesmer selbst Verbindungen zu Geheimgesellschaften, - er war Feimaurer und
Zirkelmeister der Gold- und Rosenkreuzer306.
Die Theosophie (göttliche Weisheit) ist ursprünglich ein Sammelbegriff mystisch religiöser
und spekulativ-naturphilosophischer Geistesströmungen, zu denen etwa Neuplatonismus,
Gnosis, Alchemie und Kabbala gehören. Theosophen in diesem Sinn waren Paracelsus,
Jakob Böhme, Emmanuel Swedenborg und andere. Die Theosophische Gesellschaft
okkupierte den Begriff der Theosophie, der eigentlich aus der europäischen Tradition kam,
und füllte ihn mit Inhalten spiritistischer, buddhistisch-propagandistischer Natur307. Ziele
dieser neuen Theosophie sind das Streben nach Erkenntnis der einen Wahrheit, die
Entdeckung unbekannter Naturkräfte und die Entwicklung latenter geistiger Kräfte im
Menschen.
Die Russin Helena Petrovna Blavatsky308, die gemeinsam mit Henry Steele Olcott 1875 in
New York die Theosophischen Gesellschaft gegründet hatte, beeinflusste mit der von ihr
und ihrer Gesellschaft vertretenen, an der Indischen Philosophie orientierten Geheimlehre
304
Karl Baier (2009) S. 23 f und 182
Karl Baier (2009) S. 200 f
306
Karl Baier (2009) S. 192
307
Astrid Kury (2000) S. 23
308
Helena Petrovna Blavatsky (1831 – 1891) erwarb sich einen Ruf als spiritistisches Medium, bevor sie
1977 ihr erstes Buch Isis Unveiled veröffentlichte und 1879 zum Buddhismus konvertierte. 1881/82 verlegte
sie das Hauptquartier der Theosophischen Gesellschaft nach Madras/Indien, wo diese bis heute hohes
Ansehen genießt. Heute wird der Wert und die Originalität der Schriften Blavatskys angezweifelt. Aus:
Astrid Kury (2000) S. 23 f
305
99
die Begründer der abstrakten Malerei, allen voran Wassily Kandinsky309. Der Maler und
Philosoph Leander Kaiser weist in diesem Zusammenhang auf eine Entwicklung in der
Ästhetik hin, die fast einhundert Jahre vor Kandinsky eingesetzt hatte. Der deutsche
Pädagoge und Philosoph Johann Friedrich Herbart (1776 – 1841) erklärte die Musik zur
einzigen Kunstlehre, die der Lehre Kants vom interesselosen Wohlgefallen310 entspreche.
Auch für Kandinsky sei das Schöne das von Begierde und Interesse Reine und Freie, - das
Geistige.
Für Kandinsky ist die Musik das Vorbild als eine Kunst, die ihre Mittel nicht zum
Darstellen der Erscheinungen der Natur brauchte, sondern als Ausdrucksmittel des
seelischen Lebens des Künstlers und zum Schaffen eines eigenartigen Lebens der
musikalischen Töne311. Kandinskys Begriff des inneren Klanges lässt auch den Einfluss der
Theosophie Rudolf Steiners vermuten, der in einem 1909 in Berlin gehaltenen Vortrag Das
Wesen der Künste von dem Inneren der Farbe312 sprach.
Im Werk und Denken Kandinskys wird ein grundsätzlicher Aspekt deutlich, der eine
Tendenz im Denken der Zeit illustriert. Es ist die Höherentwicklung und Verfeinerung des
Menschen im Gegensatz zum Materialismus, - in Kandinskys Worten der Gegensatz
zwischen dem weißen fruchtbaren Strahl und der schwarzen todbringenden Hand. Der
Begriff des Neuen wird so mit der Idee des sich von der Materie befreienden Geistes
verknüpft313.
Astrid Kury interpretiert eine solche Tendenz zum Blick nach innen in der Wiener
Moderne als Ausdruck eines Abstraktionsbedürfnisses. Das Weltgefühl der Abstraktion
verbindet sie mit einem Gegenweltbedarf. Die Künstler entwarfen aufgrund der immer
309
Leander Kaiser, Kandinsky, die Musik und Madame Blavatsky. In: Zwischenwelt, Jg. 19, Nr. 1, Wien
2002, S. 13 ff
310
Die Ästhetik als Wissenschaft von dem, was als schön gefällt, und zwar ohne Grund, willenlos, hat dies
zuerst von dem Begehrten, das ein Unvollendetes, und dem Angenehmen, das sich nur auf einen subjektiven
Zustand bezieht, zu sondern und dann in seine einfachsten Elemente zu zerlegen, d. h. da nur Verhältnisse
gefallen, die einfachsten Verhältnisse aufzustellen, die ein begierdeloses Wohlgefallen hervorrufen. Nur in
einer Anwendung der Ästhetik oder einer Kunstlehre ist dies geschehen, in der Musik. Zitiert nach: Johann
Eduard Erdmann, Philosophie der Neuzeit. Der deutsche Idealismus. Geschichte der Philosophie VII.
Hamburg 1971, S. 21, vgl. auch: Michael Ley/Leander Kaiser (Hsg.), Von der Romantik zur ästhetischen
Religion. München 2004, S. 103 f
311
Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst. Bern 1965, S. 54
312
Zitiert nach Leander Kaiser (2002), S. 13 ff. In der Einleitung zu Punkt und Linie zu Fläche spricht
Kandinsky vom inneren Pulsieren des Werkes. (Wassily Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche. München
1926, S. 14)
313
ebda. Ein damit in Zusammenhang stehender Aspekt ist die Verfeinerung der Seele, die Kandinsky zum
Ziel der Kunst erklärt (Wassily Kandinsky, Essays über Kunst und Künstler. Bern 1973, S. 49). Kaiser
erwähnt August Endell und Wilhelm Worringer, die schon vor Kandinsky systematisch daran arbeiteten, mit
Formen ohne mimetischen Bezug Seelenbewegungen im Betrachter auszulösen, Vgl. Kaiser (2002), S. 13 ff
100
verwirrender werdenden Außenwelt bzw. gesellschaftlichen Realität künstlerische
Gegenwelten oder bezogen sich auf die transzendenten Aspekte des Menschen (etwa wie
Kokoschka und Schiele), die oft auch im katholischen Kontext gesucht wurden.
Technische, soziale und ökonomische Veränderungen ließen die Realität zunehmend
flüchtig, also nicht fassbar erscheinen314. Der Okkultismus war für viele ein Ausweg aus
dieser Krise, - in der einschlägigen Literatur war von höheren Wirklichkeiten und höheren
Existenzformen des Menschen die Rede. Die Kunst war so – mit den Worten von Ludwig
Hevesi - ein Tauchen in tiefere Tiefen, ein Aufschwingen in höhere Höhen. Die Künstler
hatten offensichtlich auch den Eindruck, dass die okkulten Weltanschauungen dem
aktuellen Stand der Wissenschaften vorauseilten und in diesem Sinn avantgardistisch bzw.
fortschrittlich waren. Auf jeden Fall befriedigte die Beschäftigung mit dem Okkultismus
das Bedürfnis nach einem umfassenden Welterklärungsmodell. Mit der Rückkehr zu dem,
was hinter den Dingen liegt (Max Messer), beschworen die Künstler das Ende des
materialistischen Zeitalters und verkündeten das Herannahen einer neuen Kulturepoche
der Menschheit, einer neuen Erleuchtung und Vertiefung der menschlichen Seele (Max
Messer)315. Ludwig Hevesi spricht überhaupt von der Wiederentdeckung der Seele als Tat
der modernen Kunst316. Diese Konzeption einer Kunstreligion verweist nach Kury auf eine
Kunstwelt, die sich strikt von der sozialen Wirklichkeit fernhält. Denn die metaphysische
Verunsicherung des Ich wurde in den Jahren um 1910 durch die Rezeption des
Okkultismus aufgefangen und fand durch die Konzentration auf die psychischen und
esoterischen Innenwelten eine innovative künstlerische Umsetzung317. Anders ausgedrückt,
wurde aus dem gesellschaftlichen Krisenbewusstsein ein spirituelles Sendungsbewusstsein
und die Forderung nach einer geistigen Wende abgeleitet318.
Auch Arnold Schönberg bewegte sich in diesem geistigen Umfeld, vor allem vor und
während dem 2. Weltkrieg. Die Idee der Moderne war mit dem gnostischirrationalistischen Denken verknüpft, das sich als das Denken der Zukunft begriff. Das
314
Vgl. die von Flusser beschriebene Situation, in der aufgrund des Paradigmenwechsels oder der Krise
überkommener Codes (Vereinbarungen) Unsicherheiten entstehen. (vgl Kapitel 2.3)
315
Astrid Kury (2000) S. 340 ff
316
Ludwig Hevesi, Jan Toorop. In: Ders., Acht Jahre Sezession. S. 375, ziziert nach Astrid Kury (2000)
S. 342
317
Ludwig Hevesi (2000) S. 343
318
Astrid Kury (2000) S. 344
101
Neue im Sinne des Höhersteigens der Seele legitimierte die künstlerische Avantgarde319.
Die Festschrift zum 50. Geburtstag des Komponisten enthielt u. a. einen Beitrag des
Theosophen Walter Klein, der sich vor allem auf den Text von Schönbergs Oratorium Die
Jakobsleiter bezieht320. Clytus Gottwald weist in Zusammenhang mit Schönbergs Die
Jakobsleiter auf den damals herrschenden Synkretismus, den Schönberg zu überwinden
bestrebt war. Schönberg war von der Theosophie und im Besonderen von Helena
Blavatsky (Helen Petrowna Blavatskaja) begeistert und fühlte sich – zumindest nach
Meinung Gottwalds – zur Theosophie hingezogen321. Leander Kaiser kennt zwar keine
direkten Äußerungen Schönbergs zur Theosophie, Anthroposophie und Gnosis, doch findet
er in einem Aufsatz Schönbergs entsprechende indirekte Hinweise zu einer solchen
Verbindung322. Schönberg bezieht dort die Inspiration des Komponisten auf die Gabe des
reinen Schauens, die nur wenigen reinen und hoch stehenden Menschen gegeben sei. Dies
seien die gnostischen Geistesmenschen, die im Unterschied zu den der Materie verhafteten
Menschen zur Schau der geistigen Wesenheiten fähig sind, womit auch gezeigt ist, wie
sich die um Anerkennung kämpfende künstlerische Avantgarde positionierte323. Das elitärmissionarische Moment der bildenden Kunst um 1900, das von okkultem Gedankengut
zumindest unterstützt wurde324, lässt sich also auch in der Musik feststellen. Astrid Kury
bringt Schönbergs Entwicklung der Atonalität mit seinem Interesse für Mystik und
Okkultismus in Zusammenhang. Auch Schönbergs Schüler, Alban Berg und Anton
319
Leander Kaiser: Eine ästhetische Religion? Schönberg und der moderne Irrationalismus. In: Arnold
Schönberg und sein Gott. Arnold Schönberg-Center, Wien 2003, zitiert nach
http://www.leanderkaiser.com/texte/downloads/t_01.pdf S. 2 f (10. 04. 2009)
320
Walter Klein, Das theosophische Element in Schönbergs Weltanschauung. In: Arnold Schönberg zum
fünfzigsten Geburtstag. S. 273 Vgl. auch Astrid Kury, die in Die Jakobsleiter Elemente der Reinkarnationsund Korrespondenzlehre der Theosophie erkennt. (Astrid Kury, Heiligenscheine eines elektrischen
Jahrhundertendes sehen anders aus... Okkultismus und die Kunst der Wiener Moderne. Wien 2000, S. 120)
321
Clytus Gottwald, Neue Musik als spekulative Theologie. Religion und Avantgarde im 20. Jahrhundert.
Stuttgart 2003, S. 32
322
Der im Blauen Reiter abgedruckte Aufsatz Das Verhältnis zum Text. (Arnold Schönberg, The Relationship
to the Text. In: Ders., Style and Idea. Selected writings. London 1984, S. 141 ff)
323
Leander Kaiser (2003), S. 6, vgl. auch Astrid Kury (2000) S. 344: Kury spricht hier von der
außergewöhnlichen Sensibilität, die sich die Künstler selbst zugeschrieben haben, - Schiele etwa schreibt in
einem Brief von 1911, dass er wissend geworden sei, die Fähigkeit habe, zu schauen, und die astralischen
Schwingungen, die die Körper emittieren, wahrnehme. Eine weitere interessante Tatsache ist, dass Schieles
einzige Buchillustrationen für das 1917 erschienene Buch Wesen der Menschheit von Eduard Hanslik
entstanden sind. Dabei handelt es sich um Zeichnungen von menschlichen Schädelformen, die Hansliks
Auffassung vom Zusammmenhang der Physiognomie des Menschen mit dessen geistigen Eigenschaften
illustrieren. Hansliks nationalistische sowie der Gnosis nahe stehende Gesinnung, in der der Kampf zwischen
Gesunden und Schwachen, der Dualismus einer materialistischen und idealistischen Menschheit und der Ruf
nach einer neuen Menschheit zum Ausdruck kommt, enthält sich allerdings jeder wertenden Beurteilung der
Rassen. Schiele hatte sich offensichtlich von dieser gnostischen Geiteshaltung begeistern lassen. In: Franz
Smola, Vom „Menschenbewusstsein“ zum neuen Menschenbild – Egon Schiele und der Anthropograph
Erwin Hanslik. In:Leander Kaiser/Michael Ley (Hsg.) (2008) S. 128 ff
324
Astrid Kury (2000) S. 344
102
Webern, beteiligten sich an dieser Auseinandersetzung, sei es durch die Lektüre von
Balsacs mystischen Novellen Seraphita und Louis Lambert oder Strindbergs Inferno.
Strindberg wurde von Schönberg und seinem Kreis vor allem wegen der Beschreibungen
okkulter Erlebnisse geschätzt. Die Beschäftigung mit Mystik und Theosophie hinterließ
aber auch in der Malerei Schönbergs ihre Spuren325.
Während Egon Schiele von der Kunst als einer gläubig scheinenden Religion spricht326,
entlarvt Oswald Spengler den Synkretismus dieser Zeit als Zerfallsprodukt der Religion:
Dem entspricht in der heutigen europäisch-amerikanischen Welt der okkulte und
theosophische Schwindel, die amerikanische Christian Science, der verlogene
Salonbuddhismus, das religiöse Kunstgewerbe327.
Es soll in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, dass der Nationalsozialismus
sich ideologisch stark an theosophischen Ideen orientierte. Das mag einer der Gründe dafür
sein, dass die Tatsache der großen Relevanz der Theosophie und verwandter esoterischer
bzw. okkulter Lehren für die damalige Kunst heute nur wenig bis gar nicht bekannt ist. In
gewissem Sinn kann die Theosophie sogar als die Vorläuferideologie
des Nationalsozialismus gesehen werden328. In der Anfangsphase der Naziherrschaft
zeigten etwa Künstler des Bauhauses gegenüber dem Nationalsozialismus eine gewisse
Offenheit329. Eine nicht unumstrittene zeitgenössische Publikation330 zu diesem Thema
versucht zu zeigen, dass die Denkweise des Nationalsozialismus nicht nur mit der des
Buddhismus und Hinduismus kompatibel sei, sondern dass dieser bewusst aus der "indoarischen" Tradition schöpfte.
In diesem Zusammenhang sind die religiös spirituellen Auffassungen Adolf Hitlers und
Joseph Goebbels aufschlussreich. Arfst Wagner betont in seiner diesbezüglichen Studie,
dass durch den nationalsozialistischen Begriffsmissbrauch der Zugang zur geistigen Welt
erschwert wurde. Die in dieser Zeit durch die nationalsozialistische Ideologie geschaffenen
geistigen Tatsachen seien heute geistige Hindernisse. Wagner sieht darin die tiefere
325
Astrid Kury (2000) S. 120 f
Egon Schiele in einem Brief an Reichel (1911), zitiert nach Astrid Kury (2000) S. 344
327
Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. München 1999, S. 941
328
Vgl. Leander Kaiser (2001) S. 5
329
Kandinsky soll sich in einem Brief vom 23. April 1933 an den Maler Willy Baumeister sogar dafür
eingesetzt haben, daß die modernen Künstler in den „Kampfbund für Deutsche Kultur“, der von Alfred
Rosenberg geleitet wurde, eintreten sollten. (Vgl. Jean Clair: Die Verantwortung des Künstlers. Avantgarde
zwischen Terror und Vernunft. Aus dem Französischen von Ronald Vouillé. Köln
1998, S. 52ff. In. Leander Kaiser (2001) S. 9
330
Victor und Victoria Trimondi, Hitler, Buddha, Krishna. Eine unheilige Allianz vom Dritten Reich bis
heute. Wien 2002
326
103
Ursache der heutigen Renaissance nationalsozialistischen Gedankenguts331.
2.1.2 Joachim-Ernst Berendt
1983 veröffentlichte Joachim-Ernst Berendt, u. a. Autor des Bestsellers Das Jazzbuch,
Festivalleiter und Musikproduzent, das Buch Nada Brahma332, das – auf Grundlage einer
Serie erfolgreicher Radiosendungen im Südwestfunk entstanden – zum Kultbuch
avancierte. Der Erfolg dieses eher popularwissenschaftlichen Werkes liegt in der Thematik
begründet, die in den 80er Jahren in der Luft lag und die in ihrer Nähe zu Esoterik und
New Age einen Nerv und ein Bedürfnis der Zeit getroffen hat. Es ist nicht von ungefähr,
dass dieser Impuls von einem Jazzmusiker kommt. Der Jazz ist als vorwiegend
improvisierte und ursprünglich auch nicht aufgeschriebene Musik dem Indischen
Musikdenken näher als der Europäischen Musiktradition. In seinem Nachwort nennt
Berendt seine wesentliche Motivation beim Namen: nach seiner ersten Asienreise begann
er zu meditieren und legte kurz darauf die Leitung der Berliner Jazztage zurück, weil er es
als unmöglich empfand, im Mafia-Dschungel des Jazz-Business zu arbeiten und
gleichzeitig Meditierender zu sein333. 1975 erschien ein erster spiritueller Text (Der Jazz
und die neue Religiosität), den Berendt ein Jahr später an den Anfang seines Buches Ein
Fenster zum Jazz stellte.
1981 veröffentlichte er Mein Lesebuch, in welchem er Texte vereinte, die im Prinzip nur
zwei Themenkreisen angehörten, - dem der Unterdrückung und dem der Spiritualität.
Dabei betrachtet Berendt die Spiritualität als eine Jazzerfahrung seit John Coltrane, bezieht
sich aber auch auf die alten schwarzen geistlichen Gesänge (Spiritual, Gospel, white gospel
etc.). War sein Engagement für den Jazz nicht nur musikalisch, sondern auch politisch,
gesellschaftlich, aufklärerisch und antifaschistisch orientiert, so bezeichnet Berendt sein
Interesse für Spiritualität als dialektisch zu seiner Ausgangshaltung und den
Paradigmenwechsel vom Sehen zum Hören als Ausweg für die katastrophale Situation der
westlichen Welt334. Das große, für Berendt, den Jazzautor unerwartet große Echo macht
dieses Buch, das wie der Autor selbst schreibt, zunächst ein persönliches Bekenntnis sein
sollte, auch zu einem Zeitdokument.
331
Vgl. Arfst Wagner, Nationalokkultismus. Aus: http://www.lohengrinverlag.de/artikel/nationalokkultismus%202.htm, nach Auskunft von Arfst Wagner finden sich die beiden
Teile dieses Ausatzes in den Flensburger Heften Nr. 40 und 41
332
Joachim-Ernst Berendt, Nada Brahma. Die Welt ist Klang. Frankfurt am Main 1986. Nada Brahma bzw.
Nada Brahman ist ein Begriff aus der altindischen Musikphilosophie und bedeutet heiliger Klang.
333
Joachim-Ernst Berendt (1986) S. 270
334
Joachim-Ernst Berendt (1986) S. 10
104
Diesen von Berendt mehr geforderten als festgestellten Übergang von einer visuellen zu
einer auditiven Kultur greift Wolfgang Welsch zehn Jahre später wieder auf. Er spricht
bereits vom Verdacht, dass unsere vom Sehen dominierte Kultur im Begriff sei, zu einer
Kultur des Hörens zu werden und bezeichnet dies als wünschenswert und notwendig. Nicht
nur die bereits zweitausendjährige Vorherrschaft des Sehens und der Bilder spreche für die
Emanzipation des Hörens bzw. einen Herrschaftswechsel, sondern der hörende Mensch sei
auch der bessere Mensch335. Das begründet er damit, dass der hörende Mensch fähig sei,
sich auf Anderes einzulassen und es zu achten, statt es bloß zu beherrschen. Wie Berendt
vertritt er die Auffassung, dass der Mensch nur dann fortbestehen könne, wenn unserer
Kultur in der Zukunft das Hören zu Grunde gelegt werde. Die Dominanz des Sehens in der
von der Technik dominierten Moderne würde uns einer Katastrophe zutreiben, die nur das
rezeptiv-kommunikativ-symbiotische Verhältnis zur Welt, wie es das Hören darstellt,
verhindert werden könne. Schon vor Berendt hätten der Philosoph Martin Heidegger und
der Soziologe Eugen Rosenstock-Huessy für diesen Paradigmenwechsel vom Sehen zum
Hören plädiert. Auch Peter Sloterdijk und Dietmar Kamper sprächen vom Ende des
optischen Zeitalters und einer geheimen Prävalenz des Hörens336. Marshall McLuhan sehe
den Übergang von der visuellen zur auditiven Kultur bereits als gegeben337. Schließlich
schlägt der Neurowissenschaftler Gerold Baier eine entsprechende Berücksichtigung des
Hörens etwa im Bereich der medizinischen Diagnostik vor, die heute fast ausschließlich
von Bild gebenden Methoden Gebrauch macht338. In seinem Vortrag, aus dem ich hier
zitiere, untersucht Wolfgang Welsch das traditionelle Visualprimat und die typologischen
Unterschiede zwischen Sehen und Hören, um zu Überlegungen zu einer künftigen
akustischen Kultur zu gelangen. Ursprünglich – so Welsch – war die abendländische
Kultur eine Kultur des Hörens. Die griechische Gesellschaft des Altertums etwa sei vom
Hören bestimmt gewesen. Aus diesem Grund konnte Friedrich Nietzsche die griechische
Tragödie aus dem Geist der Musik ableiten. Das Primat des Sehens entwickelte sich erst
um die Wende zum fünften Jahrhundert vor Christus, vor allem in den Bereichen
Philosophie, Wissenschaft und Kunst.
335
Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart 1996, S. 231
Dietmar Kamper, Vom Hörensagen. Kleines Plädoyer für eine Sozio-Akustik. In: Ders./Christoph Wulf
(Hsg.), Das Schwinden der Sinne. Frankfurt am Main 1984, S. 112 ff, Peter Sloterdijk, Kopernikanische
Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung. Ästhetischer Versuch. Frankfurt am Main 1987, S. 95. Auch
Sloterdijk bezieht sich hier auf Berendt (S. 85 ff). Zitiert nach Wolfgang Welsch (1996) S. 232
337
Marshall McLuhan und Bruce R. Powers, The Global Village. Transformations in World Life and Mediain
the 21st Century. New York 1989, S. 15. Zitiert nach Wolfgang Welsch (1996) ebda.
338
Vgl. Kapitel 2.3
336
105
Heraklit, der erklärte, dass die Augen genauere Zeugen als die Ohren seien, nannte
Pythagoras, den Theoretiker der Sphärenharmonie, den Ahnherrn der Schwindler339. Seit
Platon setzte sich die Vorherrschaft des Sehens dann vollends durch. Der Weg des
Menschen ist fortan – durch die Schau der Ideen – visuell bestimmt. Die Wahrheit des
Kosmos wurde nunmehr in der Grammatik des Sehens und nicht mehr in den Strukturen
des Hörens gesucht. Wissen ist etymologisch gleich bedeutend mit gesehen haben340.
Dieses Visualprimat werde nach Ansicht Welschs aufgrund des weichenden Vertrauens in
die manipulierten Bilderwelten hochgradig immaterieller Technologien bereits seit
Jahrzehnten in Frage gestellt. Diese Feststellung korreliert mit der Annahme Vilém
Flussers, dass die aktuelle Krise unserer Codes bereits um die Wende vom 19. zum 20.
Jahrhundert eingesetzt habe341. Welsch merkt an, dass sich bereits die Romantik der Nacht
und dem Hören zugewandt hat, was meine Vermutung stützt, dass die Vorboten des in
dieser Arbeit thematisierten Wertewandels in der Romantik zu finden sind. Wie oben
erwähnt, hat Heidegger (wie übrigens auch Wittgenstein) Momente des Hörens gegenüber
der Orientierung am Sehen zur Geltung gebracht, – mehr noch – Heidegger bezeichnete
Platons Haltung bezüglich des Sehens als den Sündenfall der abendländischen Geschichte.
Durch Platon und die Wende zum Sehen sei das Seiende zu einem Objekt geworden,
womit die abendländische Rationalisierung begründet war342. Heidegger trat für einen
Wandel zum Hören hin, - für den Wandel zum sorgenden Umgang mit den Dingen ein343.
Ludwig Wittgenstein schließlich formulierte in seiner Gebrauchstheorie der Bedeutung,
dass der Sinn unserer Ausdrücke in ihrem Gebrauch liege und dieser von sozialen
Kommunikationsformen und somit vom Hören nicht zu trennen sei344. Welsch sieht im
Übergang von der Bewusstseinsphilosophie zum Paradigma der Kommunikation den
Übergang von der Favorisierung des Sehens zu einer neuen Aufwertung des Hörens.
Von der Tödlichkeit des Sehens, einer Metapher, die auch auf die Katastrophe weist, von
der in diesem Zusammenhang die Rede ist, zeuge auch der Mythos von Narziss und Echo.
Narziss starb aufgrund der Liebe zu seinem Spiegelbild, doch das erst, nachdem er die
339
Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Berlin 1974, S. 169, zitiert nach Wolfgang Welsch
(1996) S. 237
340
Wolfgang Welsch (1996) S. 239
341
Vgl. Kapitel 2.3
342
Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den „Humanismus“. Bern 1954,
zitiert nach Wolfgang Welsch (1996) S. 242
343
Wolfgang Welsch (1996) S. 242, vgl. auch Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959, S.
176 ff, wo Heidegger das Hören als die eigentliche Gebärde des jetzt nötigen Denkens bezeichnet
344
Ludwig Wittgenstein, Philososphische Untersuchungen. In: Ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt am
Main 1984, S. 225 - 580
106
Nymphe Echo – die Inkarnation des reinen Tons – verschmäht hatte. Dieses frühe
Dokument zeigt die tödlichen Folgen des Sehprivilegs bei gleichzeitiger Hörverachtung
und warnt somit vor einem Sehen, das das Hören verweigert345.
Auch in diesem Kontext erscheint die jüdische Kultur als von der griechischen
verschieden346. Die jüdische Kultur könne als eine Kultur des Hörens identifiziert
werden347. Vilém Flusser sieht darin keinen Widerspruch, sondern eine Komplementarität,
- und erklärt die Unfähigkeit des Westens, seine jüdischen und griechischen Wurzeln zu
vereinen, mit der Kommunikationstheorie. Diese zeige, dass der vom Judentum analysierte
Aspekt des Dialogs in den bisher verfügbaren Medien nicht zum Ausdruck komme. Der
Dialog als Anerkennung des anderen sei nur in ganz engen bi-valenten Strukturen wie
Liebe und Freundschaft realisierbar. Die jüdische Analyse des politischen Lebens konnte
deshalb nicht einbezogen werden, weil – obgleich die Medien für utopische Dialoge
existieren – jene für messianische Dialoge fehlen. Flusser fragt, ob nicht in Zukunft die
Medien Post und Telefon der messianisierenden Politik dienen könnten. Man geht auf den
Markt, um etwas zu tauschen, aber man telefoniert, um mit jemandem zu sprechen348.
Die Feststellung Welschs, dass sich das Sehen primär auf räumliche, das Hören auf
zeitliche Phänomene beziehe, ist insofern zu hinterfragen, als diese Zuordnung ja wieder
nur durch die entsprechende Codierung unserer Wahrnehmung bestimmt ist. Richtig ist,
dass – zumindest auf der uns zugänglichen Bewusstseinsebene – das Sichtbare in der Zeit
verharrt, also dauerhaft Seiendes betrifft, das Hörbare aber in der Zeit vergeht. Er zitiert
Hegels spekulative Interpretation des Hörens als im Vergleich zum Sehen weitaus
geistigeren Sinn. Der Ton beinhalte nach Hegel eine doppelte Negation der Äußerlichkeit
und stelle den Anfang des Übergangs in die Innerlichkeit, in die Subjektivität dar. In der
akustischen Sphäre geschehe ein Übergang vom Materiellen zum Geistigen349. Das Hören
habe es mit Flüchtigem, Ereignishaften zu tun und verlange das akute Aufmerken auf den
345
Wolfgang Welsch (1996) S. 245
Vgl. die Unterscheidung in: Vilém Flusser, Kommunikologie. Frankfurt am Main 2000, S. 286 ff. Die
griechische Analyse hat ein visuelles Modell des Dialogs, und die jüdische ein auditives: Für die Griechen ist
der Dialog die Methode, eine Idee sichtbar zu machen. Für die Juden ist er die Methode, auf die Stimme des
anderen antworten zu können. (S. 269)
347
Vgl. Thorleif Bohmann, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen. Göttingen 1968, S. 9
und S. 181 (Weil die Griechen überwiegend visuell, die Hebräer überwiegend auditiv veranlagt waren,
gestaltete sich allmählich die Wirklichkeitsauffassung der beiden Völker so verschieden)
348
Vilém Flusser (2000) S. 297
349
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, Bd. 2. Frankfurt am Main o. J., S.260, zitiert nach Wolfgang
Welsch (1996) S. 247 f. Hier zitiert Welsch auch Theodor Adorno, der das Sehen als ein Medium der
Herrschaft, das Hören als eines der Freiheit bezeichnet. Musik sei von jeder Bindung an die
Gegenständlichkeit frei. (Theodor W. Adorno, Zum Verhältnis von Malerei und Musik heute. In: Ders.,
Gesammmelte Schriften, Bd. 18. Frankfurt am Main 1984, S. 145)
346
107
Moment, das Gewahren des Einmaligen und die Offenheit für das Ereignis.
Dementsprechend habe das Hören eine Affinität zu Glaube und Religion, während das
Sehen eine Affinität zu Erkenntnis und Wissenschaft habe. Ist das Sehen der Distanz
bildende, objektivierende Sinn schlechthin, bringt das Hören die Welt nicht auf Distanz,
sondern lässt sie ein, ist ein Sinn der Verbundenheit und deswegen auch einer von
extremer Passibilität, - von Verletzlichkeit und des Ausgesetztseins. Zudem betont Welsch
den Unterschied zwischen dem Sehsinn als einem Sinn der Individualität und dem Hörsinn
bezüglich seiner Dienstfunktion für die Sprache als einem Sinn der Sozietät. Dass die
lautlichen Elemente als solche gar nichts bedeuten, ist geradezu eine Bedingung ihrer
Übermittlungsfunktion350.
2.1.3 Peter D. Ouspensky
Joachim Ernst Berendt zitiert in seinem Buch Nada Brahma aus dem Werk des russischen
Philosophen Peter D. Ouspensky351 und betritt damit auch die Welt des Okkulten.
Ouspensky wurde 1878 in Moskau geboren. Von seinem Vater, einem Kirchenmaler,
übernahm er das Interesse für die vierte Dimension und war von den wissenschaftlichen
Zugängen zu diesem Thema enttäuscht. Er studierte Biologie, Mathematik und
Psychologie, arbeitete als Journalist und bereiste Russland, den Orient und Europa. 1907
entdeckte er die theosophische Literatur, die damals in Russland verboten war. Von ihr
bekam er neue Impulse zum Studium der höheren Dimensionen. 1908 verließ er Moskau
und studierte okkulte Literatur, machte anhand yogischer und magischer Methoden
psychologische Experimente, hielt öffentliche Vorträge über Tarot, Yoga und den
Übermenschen und veröffentlichte mehrere Bücher. 1913 und 1914 unternahm er Reisen
nach Ägypten, Ceylon (Sri Lanka) und Indien, die er mit einer Suche nach dem
Wunderbaren verband. Den sich damals abzeichnenden Weg der westlichen Welt als
Sackgasse erkennend, ist diese Suche nach dem Wunderbaren für ihn eine Suche nach
einem Weg zur Verwirklichung des Höheren, den er glaubte, im Osten finden zu können.
1915 lernte er in Moskau G. I. Gurdijeff kennen, der eine philosophische Schule leitete und
dessen Ideen ihn stark beeindruckten. Die darauf folgende jahrelange Zusammenarbeit mit
Gurdijeff beendete er 1924. In den psychologischen Gruppen, die Ouspensky danach
350
Wolfgang Welsch (1996) S. 248 ff
Joachim-Ernst Berendt (1986) S. 120 f. Berendt zitiert P. D. Ouspensky, Tertium Organum.der dritte
Kanon des Denkens. Ein Schlüssel zu den Rätseln der Welt. Bern/München 1988
351
108
leitete, gehörte u. a. Aldous Huxley, der übrigens auch die psychodelische Bewegung
mitbegründete (vgl. S. 135) zu seinen Mitarbeitern352. Ouspensky starb 1947 in London.
In seinem Werk ist die Frage nach Zeit und Raum zentral. Nach der Auseinandersetzung
mit dem Werk Immanuel Kants stellte Ouspensky sich die Frage, warum die zu seiner Zeit
aktuelle Philosophie, das damals herrschende Denken den seiner Meinung nach
unwiderlegbaren Beweisführungen Kants nicht Rechnung tragen konnte oder wollte. Kant
bewies, dass Zeit und Raum sowie Kausalität nur in unserem Denken bestehen, nicht aber
in der objektiven Welt. Ouspensky sah in dem Unbehagen, das die Erkenntnis Kants im
westlichen Denken hinterlassen hatte, die Möglichkeit zum Weitergehen, zum
Weitertreiben eines zum Stillstand gekommenen Denkens. Durch Analogieschlüsse
versucht er, zu einer anschaulichen Vorstellung der vierten Dimension zu kommen, in der
die Zeit aufhören würde, die Kategorie der Bewegung abzubilden. Jedes Wesen fühle das
als Raum, was es über seinen Raumsinn erfassen bzw. sich mithilfe des Raumsinnes in
einer Form außerhalb von sich vorstellen könne. Das mit diesem Sinn nicht Erfassbare
ordnet es der Zeit zu: das unvollkommen Gefühlte wird der Zeit zugewiesen. ... d. h. als in
ewiger Bewegung, unbeständig, unstetig, dass man es sich unmöglich im Sinn einer Form
vorstellen kann353.
Der Inhalt der komplexeren Empfindungen und höheren Gefühle unseres Bewusstseins,
wie die moralischen, ästhetischen, religiösen und emotionalen, könne niemals korrekt bzw.
genau in Wörtern ausgedrückt werden. Die Interpretation oder der Ausdruck emotionaler
Gefühle und emotionalen Verständnisses sei das Problem bzw. die Aufgabe der Kunst. In
Verbindung von Wörtern, in ihrer Bedeutung, ihrem Rhythmus und ihrer Musik; in
Klängen, Farben, Linien, Formen – erschaffen die Menschen eine neue Welt und
versuchen, darin das auszudrücken und zu übermitteln, was sie fühlen, was sie jedoch nicht
einfach in Worten, d. h. in Begriffen ausdrücken und übermitteln können. Die emotionalen
Töne des Lebens, d. h. die „Gefühle“ werden am besten durch Musik übermittelt, aber sie
kann keine Begriffe, d. h. Gedanken ausdrücken. Die Poesie bemüht sich, sowohl Musik als
auch Gedanken zusammen auszudrücken. Die Verbindung von Gefühl und Gedanken von
hoher Intensität führt zu einer höheren Form des psychischen Lebens. Somit haben wir in
352
François Grunwald, Einführung in das Werk P. D. Ouspenskys. In: P. D. Ouspensky, Tertium
Organum.Der dritte Kanon des Denkens. Ein Schlüssel zu den Rätseln der Welt. Bern/München 1988,
S. 303 ff
353
P. D. Ouspensky (1988) S. 100
109
der Kunst schon die ersten Experimente mit einer Sprache der Zukunft. Die Kunst greift
der psychischen Evolution voraus und erahnt ihre zukünftigen Formen.
Entlang der Ideen Kants, wonach der Raum eine Eigenschaft unseres Bewusstseins ist und
nicht der Außenwelt, müsse die Dreidimensionalität der Welt von der Beschaffenheit
unseres psychischen Apparats abhängen. Seine Veränderung würde eine Veränderung der
Welt um uns herum bedeuten354. Diese Veränderung bzw. die Erweiterung des
Bewusstseins sei das Ziel aller religiös-philosophischen Bewegungen, der Mystik, des
Okkultismus sowie des östlichen Yoga355. In der von Ouspensky vertretenen Theorie der
Zeit berühren Ereignisse, die bezüglich der Zeit weit entfernt voneinander sind, einander in
der vierten Dimension und wären gleichzeitig Ursache und Wirkung, - Ouspensky spricht
von einer inneren Wechselbeziehung. Die sichtbare phänomenale Welt stelle den
Querschnitt einer anderen, wesentlich komplexeren Welt dar, die sich in gegebenen
Augenblicken in der ersteren offenbare356. Diese Ansichtsweise findet sich übrigens schon
in der Romantik, etwa bei Novalis, der den Glauben als die hienieden wahrgenommene
Wirksamkeit und Sensation in einer anderen Welt, - als einen vernommenen
transmundanen Aktus bezeichnet. Der echte Glaube beziehe sich ausschließlich auf Dinge
einer anderen Welt, - sei Empfindung des Erwachens und Wirkens und Sinnens in einer
anderen Welt357.
2.1.4 Zusammenfassung
Der Boom des Religiösen in den Künsten, von dem heute gesprochen wird, entspringt dem
Bedürfnis nach einem Säkulär Göttlichen (Kounnellis), das vor allem durch die Kunst
sichtbar wird. Jedoch bereits um 1900 fanden viele Künstler ihre Inspiration in okkulten
und spirituellen Themen. Einer der Gründe dafür war die spirituelle Krise der westlichen
Welt, in der der Begriff des Absoluten weich geworden war. Die durch die Aufklärung
verdrängten Kulturgüter wie Alchemie und Kabbala wurdenn damals wiederentdeckt.
Hinter dem breiten Interesse für Mesmerismus und Theosophie stand die Sehnsucht nach
einer Synthese von Religion und Wissenschaft. Die von Helena Blavatsky 1975 gegründete
Theosophische Gesellschaft hatte großen Einfluss auch auf die Künstler dieser Zeit. Für
die bildenden Künstler wie etwa für Kandinsky war die Musik als das Geistige und Reine
354
P. D. Ouspensky (1988) S. 74 f
P. D. Ouspensky (1988) S. 77
356
P. D. Ouspensky (1988) S. 135 f
357
Novalis, Der enzyklopädistische Entwurf (1798-1799), zitiert nach Jean-Louis Poitevin (2006) S. 187
355
110
vorbildhaft. Es war das Neue, das die Kunst vom Materiellen befreien konnte. Die
Abstraktion in den Künsten war der Ausdruck eines Gegenweltbedarfs, die Künstler
verkündeten das Ende des Materialismus und den Beginn einer neuen Kulturepoche.
Damit verbunden war eine Höherbewertung des Hörens und seiner Affinität zu Glauben
und Religion. Ob Kandinsky, Schönberg oder Schiele, - die führenden Künstler der
Moderne waren wesentlich von okkulten Lehren beeinflusst. Theosophisches Gedankengut
war nicht nur für viele Künstler Richtung weisend, sondern wurde auch zu einer der
Grundlagen der nationalsozialistischen Ideologie. Das könnte erklären, warum die
Bedeutung des Okkulten für die Kunst um 1900 und in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts heute nur wenig bekannt ist.
2.2
Spirituelle Tendenzen in der europäischen Kunst bzw. Musik
Die spirituellen Grundlagen der Musik werden zwar in den verschiedenen musikalischen
Epochen unterschiedlich wahrgenommen bzw. bewertet, man kann aber davon ausgehen,
dass die ursprüngliche musikalische Betätigung des Menschen religiösen bzw. kultischen
Charakters ist358.
In der Diskussion spiritueller Grundlagen bzw. Tendenzen in der Musik des 20. und
21. Jahrhunderts ist eine Berücksichtigung des 19.Jahrhunderts bzw. der Romantik
unabdingbar. Schon im frühen 19. Jahrhundert bekommt Kunst eine quasi religiöse
Funktion. Das Kunstwerk wird, so bezeugt es der Sprachgebrauch der Romantik,
Gegenstand von Weihe, Andacht, Pietät und Verehrung359.
Thomas Nipperdey erörtert in seinem Essay Wie das Bürgertum die Moderne fand360 den
Zusammenhang zwischen esoterischer Moderne und sich demokratisierender Bürgerkultur.
Die Autonomie der Kunst gehe mit ihrer Verbürgerlichung einher. Im Zuge der
Kunstrevolution lösen sich die Künste aus den traditionellen Dienstbarkeiten, Bindungen
und Verbindungen. Sie geben sich selbst Ziel und Gesetz. Als weiteren Aspekt nennt
Nipperdey die schwächer werdende Rolle der Religion. Während für Hegel noch
358
Karl H. Wörner, Geschichte der Musik, Göttingen 1972, S. 25 Die Anfänge der Musik wurden im
Altertum und im Mittelalter durch Mythen erklärt. Man glaubte, der Ursprung der Natur sei göttlicher Natur.
vgl. dazu auch die von Rüdiger Schumacher 1986 herausgegebene, übersetzte und kommentierte balische
Lehrschrift Aji Gurnita (die heilige Schrift vom Klang), die noch auf präkoloniale Zeit zurückgreift. In dieser
Schrift wird insbesondere der kosmologische Hintergrund balischer Musik zur Sprache gebracht, die
Klangwelt in ein metaphysisch-mystisches Bezugssystem eingeordnet und auf den göttlichen Ursprung der
Musik verwiesen. Aus: Hans Oesch, Außereuropäische Musik, Bd. 2, in: Carl Dahlhaus (Hsg.), Neues
Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 9. Regensburg 1987, S. 81 f
359
Thomas Nipperdey, Wie das Bürgertum die Moderne fand. Stuttgart 1988, S. 22
360
Thomas Nipperdey (1988) S. 29
111
Philosophie und Wissenschaft der moderne und wichtigste Zugang zum Sein der Welt
waren, ist es für Schopenhauer und Nietzsche die Kunst, und unter den Künsten ist es die
sprachlose Musik361. Dieses Moment ist die Grundlage für die spirituellen Tendenzen in
den neuen Künsten.
Die ästhetische Gnosis362 der Moderne richtet sich nach Leander Kaiser gegen eine
Verweltlichung, die das Christentum nicht verhindern konnte. Vielmehr habe dieses die
Verweltlichung noch befördert, was Kaiser an der Geschichte der Bilder zeigt. Eindeutig
erkennt er die abstrakte Kunst der klassischen Moderne363 als spirituelle Gegenbewegung
zu Materialismus und Kapitalismus. Die Revolution der modernen Kunst364 leite sich aus
gnostisch manichäischen Ideen der Spätantike, aus Pseudowissenschaft, Okkultismus,
Theosophie und Anthroposophie ab. Ziel dieser Bewegung sei die Vergeistigung, - die
Überwindung des Menschen durch eine neue, feinstoffliche Gattung des Übermenschen.
Die Werke fungieren als Wege in eine rein geistige, übersinnliche Welt. Im
Zusammenhang dieser Moderne sind Ausdrücke wie Revolution, Rebellion, Subversion,
Reaktion, Avantgarde, Frontline usw., die offensichtlich der militärischen Sprache
entnommen sind, gebräuchlich und weisen – so Kaiser – auf die gemeinsamen
weltanschaulichen Wurzeln der totalitären Vernichtungsapparate und der Kunst der
Avantgarde hin365.
Das Thema der Höherentwicklung, Verfeinerung, Vergeistigung, auch das der Reinheit
und schließlich das der Überwindung des Menschen in der Metapher des Übermenschen
durchzieht die menschliche Kulturgeschichte wie kein anderes Paradigma. Die von Ritwik
Sanyal in seiner Philosophie der Musik erwähnte und seinem Ansatz der Definition von
Musik zugrunde liegende Systematik366 bezieht sich auf alte indische Musiksysteme, die
kosmologisch und soteriologisch aufgebaut sind. Entsprechend den sieben
361
Thomas Nipperdey (1988) S. 28
Die Gnosis geht von einer im Grunde negativen Weltsicht aus. Die Materie sei Teil des Bösen, nur die
Seele könne an der göttlichen Erkenntnis teilhaben. Zentrale Forderung der Gnostiker ist, dass der kosmische
Dualismus zwischen Materie und Geist die Menschheit von der Materie befreien und und zum übersinnlichen
Geist führe. Aus: Franz Smola, Vom „Menschenbewusstsein“ zum neuen Menschenbild – Egon Schiele und
der Anthropogeograph Erwin Hanslik. In: Leander Kayser/Michael Ley (Hsg.) (2008) S. 140
363
Vgl. dazu das weiter unten behandelte Interesse Karlheinz Stockhausens für die abstrakte Kunst eines Paul
Klee, Piet Mondrian oder Kasimir Malewitsch.
364
Anspieleung Kaisers auf den Titel des umstrittenen Buches von Hans Sedlmayr Die Revolution der
modernen Kunst (Hans Sedlmayr, Die Revolution der modernen Kunst. Hamburg 1955). In diesem Werk
bezeichnet Sedlmayr das schwarze Viereck von Malewitsch und das verrückte Ding von Duchamp als die
zwei letzten Möglichkeiten der modernen Kunst, - beide lägen jenseits der Kunst und hätten mit Kunst nichts
zu tun. (S. 113)
365
Leander Kaiser, Moses und Perseus – Bildverbot und Bildlist als Voraussetzung der europäischen
Malerei. In: Leander Kaiser/Michael Ley (Hsg.), Die ästhetische Gnosis der Moderne. Wien 2008, S. 59 f
366
Vgl. Kapitel 1.3
362
112
Entwicklungsstufen des Menschen, - frühe Kindheit (ÏaiÏava), Kindheit (bÁlya), Jugend
(kaisora, tÁruÆya), Mannesalter (yauvane), reifes Mannesalter (prau±hatva), Alter
(vÁrdhakya)und Greisenalter (sthaviratÁ), nennt Sanyal sieben Sphären des Klanges
(Áhata nÁda), die von transzendentem Klang (anÁhata nÁda) umgeben sind. Diese sind
1. die Sphäre der körperlichen Empfindungen (bodily sensation), 2. die Sphäre der
Sinneswahrnehmung (sense perception), 3. die Sphäre der Vorstellung (perceptual
conception), 4. die Sphäre der Vernunft (conceptual reasoning), 5. die Sphäre des Urteilens
(reasoned judgement), 6. die Sphäre der bewussten Handlung (judged action) und 7. die
Sphäre der Verwirklichung (acted realization). Sie können in zwei Hemisphären eingeteilt
werden, die den sieben Welten oder Himmeln (saptaloka) und den sieben Unterwelten
oder Höllen (saptatala) entsprechen (die Himmel: bhÚrloka, bhuvarloka, svarloka,
maharloka, janaloka, tapoloka, satyaloka, die Höllen: atala, vitala, sutala,
mahÁtala, talÁtala, rasÁtala, pÁtÁla). Auf die Musik bezogen bezeichnet Sanyal diese
sieben Bereiche als 1. prelogical natural music, 2. commonsense music, 3. scientific music,
4. formal logical music, 5. philosophical music, 6. religious music und 7. mystical music.
Diese Klassifikation beschreibt eine aufsteigende Entwicklung der Verfeinerung, die auf
der letzten Stufe zur höchsten Verwirklichung oder Erleuchtung führt.
Der indische Musiktheoretiker SãrÉgadeva (13. Jhdt.) bringt die sieben Töne der Tonleiter
mit sieben verschiedenen Punkten im menschlichen Körper in Verbindung. Diese
entsprechen etwa den psychophysischen Zentren oder Chakren. Schon damals wurde
musikalischer Klang (Áhata nada) mit der yogischen Erfahrung des anÁhata nada in
Verbindung gebracht. Der uranfängliche Klang werde im Inneren des Kopfes gehört, wenn
man ihm mit unbelastetem Geist folgt. Dieser Klang werde ohne jede physische Berührung
erzeugt, also z. B. ohne den Anschlag einer Saite, und wird deshalb anÁhata (ungeprägt)
genannt367. Auch MataÉga Muni (8. Jhdt.) erwähnt die sieben svaras (Töne) als abhängig
von den sieben cakras oder sieben dvipas. Die Siebenzahl der svaras ist von der
Siebenzahl der Minerale (dhÁtus) abgeleitet368. Die sieben Chakren369 sind nach
SÁrÉgadeva:
367
R. K. Shringy/Prem Lata Sharma, SaÉgÍtaratnakÁra of SÁrÉgadeva, Vol. I. New Delhi 1991, S. 102 ff
Prem Lata Sharma (Hsg.), Bhraddesi of Sri Mtanga Muni, Vol I. New Delhi 1992, S. 45. Die Theosophie
bzw. später die Anthroposophie Rudolf Steiners übernimmt die Chakrenlehre, die auf das Yoga-Sutra des
Pataújali zurückgeht. Vgl. Rudolf Steiner; Über einige Wirkungen der Einweihung. In: Ders., Wie erlangt
man Erkenntnisse der höheren Welten? Berlin 1909 bzw. http://www.dilloo.de/wie.htm (01. 06. 2009). In
einem anderen Zusammenhang gibt Rudolf Steiner die Stufen der Entwicklung an:
1. Yama, 2. Niyama, 3. Asanam, 4. Pranayama, 5. Pratyahara, 6. Dharana, 7. Dhyanam, 8. Samadhi, in:
Rudolf Steiner, Vor dem Tore der Theosophie. Dornach 1991, S. 123 ff. In diesem Zusammenhang schreibt
368
113
ÀdhÁra (zwischen Anus und Genitalien)
SvÁdhiÒthÁna (Wurzel der Genitalien)
MaÆipüra (Umgebung des Nabels)
AnÁhata (Herz)
ViÏhuddhi (Hals)
ÀjúÁ (zwischen den beiden Augen)
SahasrÁra (Öffnung des Gehirns)
SãrÉgadeva bringt interessanterweise die Produktion von Musik nur mit den Chakren
ÀdhÁra, ViÏhuddhi und lalanÁ (Halsrücken) in Beziehung370.
Peter D. Ouspensky, der den Menschen als Maschine bezeichnet, benennt ebenfalls sieben
Funktionen dieser menschlichen Maschine:
1. Das Denken (oder den Intellekt)
2. Das Gefühl (oder die Emotionen)
3. Die instinktive Funktion (die ganze innere Arbeit des Organismus)
4. Die Bewegungsfunktion (oder motorische Funktion, die ganz äußere Arbeit des
Organismus, der Bewegung im Raum usw.)
5. Die Geschelchtsfunktion (die Funktion der beiden Prinzipien des Männlichen und
Weiblichen in allen ihren Manifestationen)
Für die zwei restlichen Funktionen gebe es in der gewöhnlichen Sprache keine Begriffe, sie können ausschließlich auf den höheren Bewusstseinsstufen in Erschienung treten und
sind mit den Begriffen Samadhi, Ekstase, Erleuchtung oder kosmisches Bewusstsein
kongruent:
6. Die höhere Gefühlsfunktion (die im Zusatnd des Bewusstseins seiner selbst
erscheint)
7. Die höhere Denkfunktion (die im Zustand des objektiven Bewusstseins erscheint)
Die einzelnen Stadien sind durch die jeweils vorhergehenden bestimmt, bilden also auch
eine Entwicklung ab.
Auch die Theosophie Rudolf Steiners unterscheidet sieben Grundteile des menschlichen
Körpers bzw. der menschlichen Wesenheit: 1. physischer Leib, 2. Ätherleib, 3. Astralleib,
Steiner auch über die Form, aus der jede Kultur herausgeboren werden müsse. Die moderne Kultur habe die
Formen verloren und müsse sie wieder gewinnen. Sie müsse wieder lernen, auch äußerlich auszudrücken,
was im Inneren der Seele lebt. (S. 127)
369
normalerweise spricht man von sechs, acht oder zehn Chakren, vgl. Prem Lata Sharma (1992) S. 175
370
Prem Lata Sharma (1992) S. 175
114
4. Ich, 5. Manas, 6. Budhi und 7. Atma. Die ersten vier habe jeder Mensch ausgebildet, den
fünften nur teilweise, die übrigen seien angelegt. Durch sie habe der Mensch an drei
Welten Anteil: an der physischen Welt, an der astralischen Welt, und an der Devachanoder Geisteswelt371.
Ebenso teilt Ouspensky den Menschen in sieben Kategorien ein. Mensch Nr. 1 sei der
Körpermensch oder physische Mensch, Mensch Nr. 2 der Gefühlsmensch oder der
Emotionale, und Mensch Nr. 3 der intellektuelle Mensch. Die Kategorien vier bis sechs
seien nur durch gezielte Schulung erreichbar : Mensch Nr. 4 besitze einen dauernden
Schwerpunkt, Mensch Nr. 5 habe die Einheit und das Bewusstsein seiner selbst erlangt,
Mensch Nr. 6 das objektive Bewusstsein, und Mensch Nr. 7 sei der, der alles erreicht hat,
was ein Mensch erlangen kann, ein dauerndes Ich und einen freien Willen. In den Grenzen
des Sonnensystems sei dieser Mensch unsterblich372.
2.2.1 Einspruch
Eine weitere Fragestellung, die ich diesem Kapitel erörtern will, ist die bezüglich des
Moments des Einspruchs in der Musik bzw. in der Neuen Musik.
Den Begriff des Einspruchs verwende ich hier in dem Sinn, in dem ihn der Theologe KarlHeinz Steinmetz eingeführt hat373.
In diesem Sinne wird es darum gehen, Aspekte des Einspruchs, wie sie sich in der
Geschichte der Spiritualität bzw. der Theologie finden, in der Musik – im Speziellen in der
Neuen Musik des 20. und 21. Jahrhunderts - aufzuzeigen.
Die Geschichte der Moderne wie die der Neuen Musik im Speziellen ist auf den ersten
Blick eine revolutionäre. Sie wird vor allem als die eines radikalen Bruchs mit der
Tradition interpretiert. Vor allem die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts macht
diesen Bruch zu ihrem Programm. Der aktuelle, zeitgenössische Kunstbegriff bewahrt
dieses emanzipatorische Erbe der avantgardistischen Revolution noch immer, ohne sich
jedoch inhaltlich oder formal festlegen zu müssen. Der Philosoph Christian Demand
371
Rudolf Steiner (1991) S. 18
Peter D. Ouspensky (20086) S. 55 ff
373
Steinmetz meint mit Spiritualität des Einspruchs die Haltung bzw. Aktivität von Einzelpersonen und
Gruppen, die sich aufgrund ihres Glaubens aktiv oder passiv gegen „falsche“ gesellschaftliche oder politische
Systeme auflehnen. Beispiele dafür sind der historische Jesus, die Märtyrer, Bettelorden, die Reformation,
die Befreiungstheologie und neue politische Theologie. Methodisch ist der Begriff Einspruch
anthropologisch-dialogisch (Nein - sagen), rhetorisch-naturwissenschaftlich-medienwissenschaftlich,
sozialwissenschaftlich-systemisch und theologisch-eschatologisch gegliedert. Der Begriff Einspruch ist
religionswissenschaftlich nicht etabliert. Aus einem persönlichen Gespräch mit Karl-Heinz Steinmetz am
15. 04. 2009
372
115
vermisst in diesem Zusammenhang aber das Heilsversprechen, das die Avantgarde mit
dem Versprechen des Neuen als emphatischem Ereignis gegeben hat, - von dem heute aber
nur mehr wenig wahrzunehmen ist. Demand schlägt vor, die politische Deutungsfigur der
Revolution durch die theologische der Reformation zu ersetzen bzw. zu ergänzen, um mit
diesem Kunstgriff einerseits die Begriffe Avantgarde und Innovation zu relativieren und
andererseits den Blick auf eine Kontinuität wieder herstellen zu können. Re-formatio als
konservatives Konzept sei der Versuch der Rückführung der Glaubenspraxis zur Reinheit
der ursprünglichen Idee. Sie will also nicht die radikale Umwertung aller Werte, sondern
im Grunde lediglich eine Kurskorrektur durch die bewusste Rückbesinnung auf eine
ursprüngliche Wahrheit. Es gebe zwar Beispiele in der Geschichte der christlichen
Reformation, die zeigen, dass auch revolutionäre Mittel eingesetzt werden können, - wenn
evangelische Verkündigung und kirchliche Realität nicht wieder zur Deckung gebracht
werden können, weil der Kurs der Ecclesia heillos von der Ideallinie abweicht, kann auch
ein Reformator sich gezwungen sehen, den radikalen Bruch zu suchen – der Prozess sei
trotzdem kein revolutionärer.
Die Parallelität künstlerischer Revolution und christlicher Reformation werde über dieses
Heilsversprechen hinaus auch durch die religiöse Terminologie in den frühesten
Diskussionen der modernen Kunst deutlich. Demand erkennt im Pathos der künstlerischen
Erneuerungsbewegungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts den eindeutig
reformatorischen Anspruch, eine universale Wahrheit zu verteidigen. So sei das typische
Künstlerbild seit dieser Anfangszeit der Moderne – offensichtlich religiösen Mustern
folgend - von Sendungsbewusstsein, einer Haltung des Unbedingten und persönlichem
Opferwillen geprägt. Das lässt sich, wie später gezeigt werden wird, auch noch im späten
20. Jahrhundert anhand von Biografien wie der von Karlheinz Stockhausen eindeutig
nachweisen. Für beide, für die religiösen Häretiker wie für die ästhetischen Revolutionäre,
gelte das Misstrauen gegen die herrschenden Institutionen, - für beide sei die Überzeugung
typisch, die religiöse wie ästhetische Amtskirche sei bis ins Mark moralisch verdorben und
habe ihre Prinzipien verraten, - ihre Würdenträger hätten sich an die Welt verkauft374. Den
Eindruck des Bruches, den die Tabula-rasa-Rhetorik375 der Avantgarde vermittelt,
beschreibt Demand mit der Rechtfertigung des soeben beschriebenen Anspruchs, in dem
374
Hier liegt eine der Wurzeln für die Unterscheidung ernster von unterhaltender, leichter bzw.
kommerzieller Musik.
375
Vgl. dazu Stockhausens Ausspruch von der Chance der Künstler nach dem Krieg, bei Null anfangen zu
können. Vgl. Christoph von Blumröder (1993) S. 143 ff
116
jeder Verdacht ausgeräumt werden müsse, das Neue könnte eine Kontinuität zum Alten
haben.
Der soteriologisch missionarische Ansatz im Sieg der Moderne über das Reaktionäre trage,
vermittelt über das Bild von einer Entscheidungsschlacht des Reiches des Bösen gegen ein
Reich des Lichts, eindeutig gnostische Züge. Die Kunst begnüge sich nicht damit, ein
Subsystem unter vielen zu sein, vielmehr will sie das wesentliche Medium sein, das den
Kontakt zum Dasein in seiner ganzen möglichen Fülle erst ermöglicht376.
Die Bildung und Bedeutung des Begriffs Neue Musik wird vor dem Hintergrund des
Paradigmenwechsels und der Neuorientierung in allen Künsten um 1900 verständlich377.
Die Konnotation dieser Neuorientierung mit einer Spiritualität als Einspruch ist zunächst
nicht offensichtlich. Hier empfiehlt es sich, den Blick auf die Zeit vor 1900 zu lenken.
Enthielt bereits der Begriff der Moderne die Absicht der Abwendung von der Romantik, so
stand das Wort neu für die Überwindung derselben378. Dieser gesellschaftlich wie
künstlerisch relevante Einspruch gegen die überkommenen Werte des 19. Jahrhunderts war
bereits in der Romantik vorgezeichnet und einerseits von den Gedanken der Aufklärung
und den Bahn brechenden technischen Entwicklungen getragen, andererseits aber einer
Spiritualität verpflichtet, die aus heutiger Sicht von eher rational bestimmten technischen
Themen verstellt ist. Unser Bewusstsein blendet aus, filtert das heraus, was sich in den
aktuellen Kontext des Denk- oder Geschichtsmodells fügt.
376
Christian Demand (2008) S. 38 - 41
Christoph von Blumröder, Der Begriff „neue Musik“ im 20. Jahrhundert. München, Salzburg 1981, S. 23
378
Diese grobe und standardisierte Kategorisierung der genannten Epochen hält einer genaueren Betrachtung
schon nicht ganz stand. Denn die Moderne scheint vielmehr in der Romantik zu wurzeln. Der deutsche
Dichter Novalis 1772 – 1801 (eigentlich Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg) drückt etwa in
der Wahl seines Pseudonym, das er von dem Geschlechternamen von Roden, dem er entstammt, ableitet
(latinisiert und interpretiert als "einer, der Neuland bestellt" http://www.whoswho.de/templ/te_
bio.php?PID=687&RID=1, 24. 5. 08) eine Haltung aus, die in seinem Werk Abbildung findet und durchaus
Aspekte der Moderne vorwegnimmt: Alte und neue Welt sind im Kampf begriffen, die Mangelhaftigkeit und
Bedürftigkeit der bisherigen Staatseinrichtungen sind in furchtbaren Phänomenen offenbar geworden.
(Novalis, Die Christenheit und Europa. In: Novalis, Fragmente und Studien. Die Christenheit und Europa.
Stuttgart 2006, S. 85)
Vgl. dazu auch Ritwik Sanyal, Philosophy of Music. New Delhi 1987, S. 52 f: Non-communist new music is
characrterised by novelty, i. e., newness in form or in content; romanticism (of the recent past) is
characterised by the supremacy of the artist over art-work, listeners, and other elements of the art situation.
The meeting ground of the two is freedom: freedom of creativity. There is a continuity of the ideological and
historical line between romanticism and avantgardism. Classicists (mostly naturalists) attack the avantgarde
as an extreme case of the disease of romanticism. Favourable critics, however, feel that romanticism not only
survived decadence and symbolism but remained one of the major factors in avant-garde art-music and
culture.
377
117
Die Wurzeln der Moderne und eine für sie durchaus symptomatische Spiritualität sind aber
bereits in der Romantik angelegt. Das Geschichtsbild der Aufklärung war etwa bei
Schiller, Lessing und Novalis verbreitet. Es kennt drei Phasen des historischen Prozesses,
das goldene Zeitalter (bei Novalis nicht die mythische Vorzeit, sondern das europäische
Mittelalter, eine Epoche echtkatholischer oder christlicher Zeiten), die Zeit der realen
Geschichte, die durch Konflikte und Entfremdung (Herrschaft des Nutzens und des
Verstandes) gekennzeichnet ist, und schließlich ein neues, visionäres Reich des Friedens,
des Glaubens und der Liebe, das goldene Zeitalter. Das zweite Zeitalter ist von einer
materialistischen und antireligiösen Haltung geprägt und durch den Verfall kirchlicher
Autorität und revolutionäre Bewegungen gekennzeichnet379. Novalis erkennt auch in
diesen antagonistischen Prozessen Keime für die Wiederbelebung des religiösen Sinnes,
vor allem in Zusammenhang mit dem Wirken des Jesuitenordens und der Aufklärung in
Deutschland und Frankreich380. Die Aktualität der Philosophie Novalis’ für die Moderne
bezüglich ästhetisch-poetologischer wie geschichtlich-systematischer Themen, in denen
die Ursprünge und Krisen des modernen Bewusstseins deutlich werden, wurde mehrfach
nachgewiesen381. Eines der Grundthemen bei Novalis ist die geistig-religiöse Erneuerung
des Menschen durch die Wiederbelebung des so genannten heiligen Sinns, eines Sinnes des
Unsichtbaren, mit dessen Vertrocknung auch der Kunstsinn zurückgegangen war382. Wie
eine Voraussicht auf die von Flusser konstatierte Krise des alphabetischen Codes stellt
Novalis die Frage, ob Buchstaben Buchstaben Platz machen383.
Alte Welt und neue Welt sieht er als im Kampf begriffen, und nur die Religion könne
Europa wieder aufwecken384. Insgesamt stellt sich die Romantik als eine Vision dar, die
die Werte nachhaltig geprägt hat, - die den Versuch unternommen hat, den spirituellen
Inhalt des Christentums zu verwirklichen, - ihn der faktischen Wirklichkeit einzuverleiben.
Die Romantik ist in diesem Sinn nicht Stil, sondern Utopie, nicht ästhetisches Konzept,
379
Novalis zählt zu den Maßnahmen, die vor zu schleuniger Auflösung bewahren sollten, auch die
Abschaffung der Priester-Ehe, also das Zölibat, das heute ganz aktuell wieder thematisiert und in Frage
gestellt wird. Aus: Novalis (Friedrich von Hardenberg), Die Christenheit oder Europa. In: Carl Paschek
(Hsg.), Novalis (Friedrich von Hardenberg), Fragmente und Studien. Die Christenheit oder Europa. Stuttgart
2006, S. 71 f
380
Carl Paschek, Nachwort. In: Ders. (Hsg.) (1996) S. 150 f
381
Z. B. von Theodor Haering, Hugo Kuhn, vgl. auch Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik. Von
der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Reinbeck/Hamburg 1968, S. 27 – 30
382
Novalis (2006) S. 74 ff (...und machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen
Klappern einer ungeheuren Mühle, die vom Strom de Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle
an sich, ohne Baumeister und Müller und eigentlich ein echtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende
Mühle sei. S. 77)
383
Novalis (2006) S. 81
384
Novalis (2006) S. 87
118
sondern Gesellschaftsprojekt, worin die Kunst ein Werkzeug zur spirituellen Läuterung der
Welt darstellt. Sie spricht vom neuen Menschen, der durch eine radikale Erneuerung der
individuellen Werte in der Lage sein soll, die Krise des europäischen Menschen zu
überwinden. Nicht nur Nietzsches Kritik an den überkommenen Moralvorstellungen
gehöre hier her, sondern ein Großteil der Avantgarde in Europa, für deren Vertreter das
angestrebte Neue nur spiritueller Natur sein konnte. Jean de Loisy sieht hier die Kunst zu
Beginn des 20. Jahrhunderts an diesen Zielen ausgerichtet, - und einen Großteil der Kunst
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Folge des Scheiterns dieser Utopien385. Er
erkennt William Blakes Satz über die Pforten der Wahrnehmung, die, würden sie geläutert
sein, dem Menschen jedes Ding erscheinen ließen, wie es ist, nämlich unendlich386, als
Programm vieler Künstler noch des späten 20. Jahrhunderts. Das Grund legende Manifest
dieser Erweiterung der Welt erkennt er in John Cages 4’33’’ (1952), das, beeinflusst vom
Zen-Buddhismus und Rauschenbergs White Paintings, auch das Manifest einer möglichen
Versöhnung des Menschen mit der Welt darstellt und somit starkes spirituelles Potenzial in
sich trägt.
2.2.1.1 Spiritualität als Einspruch
Weltweit ist das Christentum die einzige Religion, die begriffen hat, dass einem
allmächtigen Gott etwas fehlt. Nur das Christentum hat begriffen, dass Gott, um ganz und
gar Gott zu sein, nicht nur König, sondern auch Rebell sein muss387.
Rebellion388 überzeichnet den Begriff des Einspruchs389, ordnet sich aber doch der hier
angesprochenen Thematik unter, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des
385
Jean de Loisy, Im Angesicht dessen, was sich entzieht. In: In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré.
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München 19. September 2008 bis 11. Jänner
2009. München 2008, S. 15
386
Vgl. Fußnote 382
387
G. K. Chesterton, Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen. Frankfurt am Main 2000, S. 258
388
Ein Aufstand ist eine gewaltsame Auflehnung mit dem Ziel, eine Änderung der sozialen oder/und
politischen Zustände durchzusetzen bzw. eine Regierung zu stürzen. Nach österreichischem Recht ist ein
Aufstand die Zusammenrottung mehrerer Personen um der Obrigkeit mit Gewalt Widerstand zu leisten. Die
Absicht, in der die Zusammenrottung erfolgt, ist für den Tatbestand gleichgültig. Aus: Meyers
enzyklopädisches Lexikon, Band 3. Mannheim 1971, S. 45
Rebellion bezeichnet (1) den Kampf um das Umarrangement der politischen Positionen, sodass es zu einer
Änderung der bestehenden politischen Herrschaftsordnung kommen soll, (2) das Auflehnen gegen die
bestehende politische, ökonomische und soziale Ordnung mit dem Ziel, diese zu beseitigen, ohne dass eine
bestimmte neue Ordnung angestrebt und mit Gewalt durchgesetzt werden soll, (3) eine misslungene
Revolution (4) und nach R. K. Merton eine Art der abweichenden Reaktion auf Stress, der durch die
Dissoziation kultureller Werte und institutionalisierter Mittel ausgelöst wird. Aus: Werner Fuchs, Rolf
Klima, Rüdiger Lautmann, Otthein Rammstedt, Hans Wienold (Hsg.), Lexikon zur Soziologie. Opladen 1978,
S. 626
119
Alten und Neuen Testaments bzw. die des Christentums zieht. Dabei reicht die Bandbreite
vom passiven Widerstand bis zum aktiven Aufstand. Die erste Symbolfigur christlichen
Einspruchs ist Jesus selbst. Die Beispiele für Personen und Gruppen, die ihm in dieser
Haltung nachgefolgt, aber auch schon ihm vorausgegangen sind, sind zahlreich. Unter
anderem sind es Moses, die Märtyrer, Bettelorden, Reformation, Befreiungstheologie und
die Neue Politische Theologie.
Prinzipiell lassen sich die genannten Positionen des Einspruchs in zwei Gruppen
unterteilen. In eine, die – religiös motivierten - Einspruch gegen Zustände oder
Entwicklungen außerhalb der Religion, also im politisch – gesellschaftlichen und
kulturellen Bereich einlegen390, und in solche, die gegen Zustände oder Entwicklungen
innerhalb der eigenen Religion bzw. der Kirche Einspruch erheben391. Immer ist es aber
die Verteidigung eines Inneren gegen ein Äußeres, eines Gesetzes, das als innen
empfunden wird gegen eines, das von außen aufgezwungen wird. Während Inneres und
Äußeres z. B. im Buddhismus392 zusammenzufallen scheinen, gehört die Differenz dieser
beiden zu den Grundmomenten christlicher Haltung als die eines kontinuierlichen
Einspruchs einer inneren christlichen Haltung gegen alles dieser Widerstehende393.
2.2.1.2 Revolutionäre und evolutive Systeme
Die Begriffe revolutionärer und evolutiver Monotheismus stammen von Raffaele
Pettazzoni394 und Henri de Lubac395. Dieses Konzept gilt allerdings als stark euro- bzw.
christozentrisch; der entsprechende asiatische Entwurf sieht den revolutionären
Monotheismus als „stecken gebliebene Mystik“396. Revolutionäre Religionen bringen
Religion als Religion gegen die Kultur in Anschlag. Evolutive Religionen kennen das
Moment des Einspruchs nicht. Während Evolution die langsame und kontinuierliche
389
Einspruch, Rechtsbehelf eigener Art, der ähnlich dem Widerspruch und im Unterschied zu einem
Rechtsmittel grundsätzlich nicht zur Nachprüfung der Entscheidung oder Maßnahme durch eine
übergeordnete Instanz führt. Der E. ist gegeben: 1. im Verfassungsrecht (Einspruchsgesetze) 2. im
Zivilprozess (Versäumnisurteile und Vollstreckungsbefehle). Aus: Meyers enzyklopädisches Lexikon, Band 7.
Mannheim 1973, S. 539
390
Als Beispiel für die christliche Haltung gegenüber totalitären Regimes wie dem Nationalsozialismus ist
der passive Widerstand Franz Jägerstätters, der 1943 wegen Kriegsdienstverweigerung aus
Gewissensgründen hingerichtet wurde
391
Hier ist als Beispiel die Reformation (16. Jahrhundert) zu nennen,
392
Auch im Buddhismus sind Momente des Einspruchs in einem Grund legenden Sinn als quasi atomisierte
Aspekt spiritueller Haltung auszumachen, etwa in der Lehre vom Anhaften, die im weitesten Sinn Einspruch
gegen Funktionsweisen des körperlichen und geistigen Systems des Menschen bedeutet.
393
etwa auch des geistigen gegen das Körperliche, wie es auch in der Gnosis der Fall ist.
394
Raffaele Pettazzoni, Der allwissende Gott, Frankfurt 1957, hier besonders S. 109–118
395
Henri de Lubac, Der Ursprung der Religionen, Graz 1956, S. 313–346
396
Auskunft Dr. Karl-Heinz Steinmetz am 31. 03. 2008
120
Veränderung der vererbbaren Merkmale von Lebewesen über Generationen meint397, ist
Revolution398 ein Begriff für plötzliche, oft mit Mitteln der Gewalt herbeigeführte
Veränderungen sozialer, wissenschaftlicher, gesellschaftlich-politischer und kultureller
Strukturen. Ein Bespiel für ein evolutives System ist der Buddhismus (der übrigens auch
für Gewaltfreiheit steht), eines für ein revolutionäres ist das Christentum. Evolutive
Religionssysteme können als Teil einer universellen Kosmologie verstanden werden, ihnen zuzurechnen wären auch die heidnischen Religionen. Dort wo bzw. solange die
Regeln für Zusammenleben und Denken von einer kosmologischen Gesamtschau
abgeleitet sind, gibt es die oben genannte Unterscheidung zwischen innen und außen nicht.
Erst die Formulierung eines so genannten zweiten Gesetzes erzeugt den Konflikt zwischen
Anschauungen, die jeweils innen und außen sind. Das von Jan Assmann geprägte
Begriffspaar „primäre und sekundäre Religionen“399 meint meiner Meinung nach genau
diese Unterscheidung.
Slavoj Žižek hingegen nennt den Gegensatz zwischen dem „äußeren“ gesellschaftlichen
Gesetz (Rechtsvorschriften, bloße Legalität) und dem höheren „inneren“ moralischen
397
aus: Werner Fuchs, Rolf Klima, Rüdiger Lautmann, Otthein Rammstedt, Hans Wienold (Hsg.), Lexikon
zur Soziologie. Opladen 1978, S. 213. Evolution, (1) Bezeichnung für allmählich fortschreitende
Veränderungen in Struktur und Verhalten der Lebewesen, sodass die Nachfahren andersartig als die
Vorfahren werden aufgrund von Variation, Selektion und Stabilisierung innerhalb der Organismen.
(2) Bezeichnung für allmählich fortschreitende Veränderungen in der Gesellschaft, die in Hinblick auf ein
sozial festgelegtes Ziel geplant sind.
(2) Bezeichnung für den Entwicklungsprozess der Gesellschaft, der unabhängig vom sozialen Handeln einem
bestimmten, objektiven Ziel zutreibt.
398
Der Revolutionsbegriff (Revolution von lat. revolutio, -onis, f, Umdrehung) ist neuzeitlich. Seit dem
späten Mittelalter kommt das Wort in den politischen Sprachgebrauch, zunächst in Italien, dann in den
westlichen Sprachen. Der Begriff, wie er heute verstanden und verwendet wird, ist streng genommen erst seit
der französischen Revolution üblich geworden. Seitdem sind bestimmte Erfahrungen und bestimmte
Erwartungen von einem Grundbegriff zusammengefasst worden, die einzeln auch schon vorher unter
'Revolution' begriffen, aber in ihrer Vielfalt und Komplexität erst seit 1789 gebündelt wurden.
Analytisch gesprochen deckt der moderne Revolutionsbegriff mindestens zwei Erfahrungsbereiche ab, die
nicht notwendigerweise zusammen gehören. Einmal meint der Begriff die mit Gewalt verbundenen Unruhen
eines Aufstandes, der sich zum Bürgerkrieg steigern kann, jedenfalls einem Wechsel der Verfassung
herbeiführt. Zum anderen indiziert der Begriff auch einen langfristigen Strukturwandel, der aus der
Vergangenheit in die Zukunft reicht. Dann nähert sich der Begriff, etwa über 'permanente Revolution',
'Prozess' oder 'Entwicklung' an. Dann erstreckt sich der Begriff - über den engeren, mit Gewalt verbundenen,
politischen Sinn hinaus - auf die ganze Gesellschaft und kann hier zahlreiche Sektoren erfassen, von der
Industrie über die Wissenschaft bis zur Kultur. Es handelt sich also um einen komplexen Begriff, der eine
primär politische Stoßkraft hat, aber ebenso einen weiteren, sozialen Kontext umgreift, der sowohl einen
kurzfristigen gewaltsamen Umschlag bezeichnet als auch einen länger währenden geschichtlichen Prozess.
Beide Bedeutungen können einzeln abgerufen werden, aber seit der Französichen Revolution ist es üblich,
dass sie sich in ein und demselben Revolutionsbegriff gegenseitig bedingen. Der geschichtliche Aspekt
erläutert den politischen Zweck, und umgekehrt wird durch die politische Zielsetzung die geschichtliche
Dimension erschlossen. Der Begriff ist zugleich erkenntnisleitend wie handlungsanweisend. Darin liegt seine
Modernität beschlossen. Aus: Otto Brunner (Hsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur
politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Band 5. Stuttgart 1984, S. 653 f
399
Jan Assman, Die Mosaische Unterscheidung. München 2003, vgl. auch dazu seinen Begriff der
Gegenreligion
121
Gesetz eine Falle, die es zu vermeiden gelte, wobei uns das externe gesellschaftliche
Gesetz als kontingent und irrational erscheinen mag, während das innere Gesetz
vollständig als das „eigene“ angenommen wird. Es gilt, sich grundsätzlich von der Idee zu
verabschieden, äußere gesellschaftliche Institutionen verrieten die authentische innere
Erfahrung der wahren Transzendenz der Andersheit (etwa in Gestalt des Gegensatzes
zwischen der authentischen „inneren“ Erfahrung des Göttlichen und ihrer „äußeren“
Vergegenständlichung in einer religiösen Institution, in der die eigentliche religiöse
Erfahrung zu einer Ideologie verkommt, die bestimmte Machtverhältnisse rechtfertigt400.
2.2.1.3 Sinnkultur und Präsenzkultur
Der Literaturwissenschafter Hans Ulrich Gumbrecht unterscheidet in einem Aufsatz401
zwischen Sinnkultur und Präsenzkultur, zwei Modellen unterschiedlicher Tendenzen in
kulturellen Epochen, die nie ganz rein vorkommen, sondern jeweils mit dem anderen mehr
oder weniger vermischt.
In der Sinnkultur versteht sich der Mensch vornehmlich als Bewußtsein, (cartesianisch: als
res cogitans, als Subjekt), in der Präsenzkultur als Körper (res extensa). Als Subjekt ist der
Mensch der Sinnkultur exzentrisch gegenüber der Welt der Dinge (er ist ihr
„Beobachter“), während auf der anderen Seite der Körper (nichtexzentrischer) Teil jener
kosmologischen Ordnung ist, als welche die Präsenzkultur die Welt der Dinge auffaßt.
Das Subjekt „interpretiert“ die Welt der Dinge, indem es ihre materiellen Oberflächen
durchdringt und unter diesen Oberflächen Nichtmaterialles, nämlich Bedeutungen
identifiziert. Dem Körper als Selbstreferenz der Präsenzkulturen hingegen kommt es zu,
sich in die Rhythmen und Gesetzmäßigkeiten der Welt als kosmologische Ordnung
einzuschreiben. Wissen von der Welt ist in der Sinnkultur immer vom Menschen durch
Akte der Interpretation gewonnenens Wissen, während Wissen in der Präsenzkultur nur als
transzendental offenbartes Wissen zu haben ist (...). In der Sinnkultur hat der Mensch das
Recht – und manchmal die verpflichtende Aufgabe – die Welt durch sein Handeln
beständig umzuformen. ... In der Präsenzkultur kann sich der Mensch zwar gewisse (...)
Gesetze der Welt-Kosmologie zunutze machen (...), aber er kann nicht hoffen, den Lauf des
Kosmos je zu verändern. Weil man Zeit benötigt, um Intentionen zu verwirklichen, ist Zeit
400
Slavoj Žižek, Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion. Frankfurt
am Main 2003, S. 122 f
401
Hans Ulrich Gumbrecht, Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. Über Musik, Libretto und
Inszenierung. In: Josef Früchl, Jörg Zimmermann (Hsg.), Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt am Main
2001, S. 66 f
122
die dominante Dimension der Sinnkultur. Präsenzkultur dagegen wird dominiert von der
Dimension des Raums, denn Räume konstituieren sich um Körper – also um die zentrale
menschliche Selbstreferenz der Präsenzkultur. Die (dominierende) Zeitlichkeit der
Sinnkultur ist irreversible Zeit, die Zeit einer unvermeidlich verändert werdenden Welt,
eine Zeit, in der das vergangene nie wiederkehren kann, weshalb es einzig für die
Erinnerung zugänglich bleibt. Umkehrbar ist hingegen die Zeit der Präsenzkultur – und
eben deshalb sind in ihr Magie und Re-Präsentation (Wieder-Gegenwärtigmachen)
möglich. Präsenzkultur konstituiert sich um Ritual des Wieder-Gegenwärtigmachens, der
Re-Inkarnation. Gumbrecht erwähnt in diesem Zusammenhang die Eucharistie nach
katholisch-theologischem Verständnis als Beispiel für ein solches Ritual.
Im Zusammenhang mit den in Kapitel 2.2.1.2 untersuchten Unterscheidungen steht die
Präsenzkultur für evolutive Systeme, die Sinnkultur für revolutionäre (In der Sinnkultur
hat der Mensch das Recht – und manchmal die verpflichtende Aufgabe – die Welt durch
sein Handeln beständig umzuformen). Die Tatsache, dass die Merkmale von Sinn- und
Präsenzkultur immer nur tendenziell vorherrschen, lässt den Schluss zu, dass sie durchaus
auch äquivalent sein können. Das ist meiner Meinung nach in der Moderne bzw. der Neuen
Musik des 20. (und 21.) Jahrhunderts der Fall. Beide Tendenzen, die des exzentrischen
Subjekts und des rationalen Bewusstseins einerseits, und die des nichtexzentrischen
Körpers als Teil einer kosmologischen Ordnung andererseits sind in den Künsten dieser
Epoche wirksam.
In welchem Verhältnis und welcher Ausprägung wir diese wahrnehmen, hängt auch von
unserer eigenen Disposition als Betrachter und Interpreten kulturgeschichtlicher Prozesse
ab. Wird die Neue Musik heute noch immer mit den der Sinnkultur zugehörigen Begriffen
wie Experiment, Avantgarde, Provokation, Konstruktion, Zeitstruktur etc. in Verbindung
gebracht402 und damit die Schwierigkeiten in ihrer Vermittelbarkeit erklärt, sind ihr
gleichermaßen auch Begriffe aus dem Bereich der Präsenzkultur zuzuordnen: das Ritual,
das Zyklische, der Raum, Transzendenz und Spiritualität. Der Aspekt des Einspruchs in
der Neuen Musik im Sinne des Bruches mit Traditionen hätte neben der rationalen
politischen Ebene, die im Kontext einer Zeit des allgemeinen Aufbruchs und technischen
Aufschwungs mehr Aufmerksamkeit hatte, eine im gleichen Ausmaß spirituelle.
402
Vgl. auch Clytus Gottwald, Neue Musik als spekulative Theologie. Religion und Avantgarde im 20.
Jahrhundert. Stuttgart 2003, S. 5
123
2.2.1.4 Spirituelle Tendenzen in der Musik
Eines der wichtigsten Einspruchszenarien in der Musikgeschichte fand bereits im
14. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Ars nova statt, die in der Ars antiqua (13. Jhdt.)
ihren Gegenpart hatte. Diese Übergangszeit zwischen Notre-Dame-Schule und Ars nova
war durch die Entstehung der Motette und die damit in Zusammenhang stehende
Entwicklung der Mensuraltheorie bzw. -notation gekennzeichnet. Der Beleg für die
Konflikthaftigkeit dieses Paradigmenwechsels am Beginn des 14. Jahrhunderts ist die
Bulle Docta sanctorum patrum des Papstes Johann XXII. in Avignon (1324 – 1325), in der
dieser gegen die Musik der Ars nova Stellung bezog und unter Androhung von
Kirchenstrafen die Rückkehr zur alten Kunst (Ars antiqua, Notre-Dame-Schule) forderte.
Die bedeutendsten Neuerungen hatten künstlerische wie gesellschaftliche Aspekte: die
neue Art der Mensuralnotation, das Übergewicht der weltlichen über die geistliche Musik,
die fast ausschließliche Geltung der mehrstimmigen Musik, die Unabhängigkeit der Musik
als autonomes, von den bisher bestimmenden außermusikalischen Kräften unabhängiges
Kunstwerk, und die Autonomie des Komponisten403. Es handelt sich hier also um eine eher
der Sinnkultur nahe stehende Thematik.
Dieser Konflikt zeigt ein Thema in der Entwicklung der Musik deutlich. Das Misstrauen
der Theologen, Musik wolle für sich eine eigene Form religiöser Verkündigung, eine
zweite Kanzel reklamieren404. Die Komponisten und Theoretiker dieser Zeit wollten die
Musik aus dem engen Korsett der Kirche befreien, die bis dahin sozusagen die Musik
verwaltet hatte. Die Ablehnung der außermusikalischen Aspekte, zu denen die Kirche
bislang verpflichtete, war einerseits als Drang des Komponisten zur Autonomie (Subjekt)
zu verstehen, andererseits ist diese aber auch als Ausstieg aus einem System zu werten, das
die Entwicklung der Kunst behinderte und somit auch die ihr innewohnenden spirituellen
Kräfte, die mit der in der Kirche herrschenden formalistischen Strenge nicht vereinbar
war405.
In der neueren Musikgeschichte sind dementsprechend vielfältige Aspekte eines Bezugs
zur Religion, Kirche und Spiritualität zu finden, obwohl es die Musik der Moderne
verschmähte, auf ihren himmlischen Ursprung zu verweisen. Vielmehr hat sie den
403
Clytus Gottwald (2003) S. 130
Clytus Gottwald (2003) S. 1
405
Die Idee einer Musik, die religiös ist, ohne liturgisch zu sein, war eines der zentralen Motive, die das
ästhetische Denken der Epoche bestimmten. Aus: Carl Dahlhaus, Zur Problematik der musikalischen
Gattungen im 19. Jahrhundert. Bern 1973, S. 884
404
124
Vorurteilen, die Musik sei nur warme Nebelerfüllung (Hegel), weil sie nicht in Begriffen
spreche, dadurch entgegengearbeitet, dass sie die Rationalität ihrer Konstruktion steigerte,
worin sich das reflexive Moment, das – auch kritisch – auf sich selbst Gerichtetsein
sedimentierte406. Mit dem Rückzug auf den Palästrinastil verlor die Kirche den Kontakt zur
zeitgenössischen Musik vollständig407.
Clytus Gottwald unterscheidet zwischen liturgischer Musik, geistlichen Werken mit
narrativen und explikatorischen Formgebungen (kirchliche Gebrauchsmusik) und Neuer
Musik, die nach einer neuen Bestimmung des Geistlichen jenseits des Narrativen und
Explikatorischen sucht408. Die im Folgenden genannten Werkbeispiele sind, dem Thema
des Einspruchs folgend, nach einem anderen Modus ausgewählt. Zunächst sind es Werke,
die Themen des (christlichen) Einspruchs aufgreifen und diese narrativ oder explikatorisch
bearbeiten, was die Zugehörigkeit zur Neuen Musik aber nicht ausschließen soll.
Schließlich sind es Werke oder Haltungen, die dem Thema des Einspruchs in der primären
Struktur des Werkes folgen.
2.2.1.5 Aspekte des Einspruchs in der Musik
Schon die emanzipierte Kunstmusik des 19. Jahrhundert hat eine große Zahl an religiösen
Werken hervorgebracht, die die strenge Bindung an liturgische Vorgaben aufgekündigt
haben. Unter diesen sind als Beispiele für Einspruch-Themen Franz Liszts Oratorium
Christus und Gioachino Rossinis Oper Moses in Ägypten zu nennen.
Im 20. Jahrhundert haben sich diese Themen nicht grundsätzlich geändert und sind u. a. bei
Arnold Schönberg (Moses und Aaron), Francis Poulenc (Le Dialoque des Carmélites),
Olivier Messien (St. François d’Assise) und Andrew Lloyd-Webber (Jesus Christ
Superstar) zu finden.
Sind diese eben genannten Werke narrativen Charakters, so ist eine der die Neue Musik
bestimmende Haltung bis zur Jetztzeit eine, die das Narrative ausspart und primär auf
Strukturen zielt, die das Spirituelle bzw. Sublime erlebbar machen. Eine diesbezügliche
406
Clytus Gottwald (2003) S. 1
Clytus Gottwald (2003) S. 6
408
Clytus Gottwald (2003) S. 2 In seinem Vorwort beschreibt Gottwald das Verhältnis von Religion zu
Religiosität als eines des Allgemeinen (Kirche) zum Besonderen (wenig tolerierte Abweichungen). Die
Häretisierung des Abweichenden führte unausweichlich zur Säkularisierung. Weil die heutigen Kirchen diese
Abweichungen als besondere Spiritualität zu dulden gelernt haben, wird die subjektive Religiosität als
Privatsache marginalisiert.
407
125
Symbolfigur ist Anton Webern409, der selbst alle Züge eines Heiligen besaß und nicht nur
den Märtyrer-Tod von Hand eines nervösen GI starb, sondern trotz offenkundiger
Misserfolge in einer tauben Welt unbeirrt seine Diamanten weiter geschliffen hat410. So
schreibt Adorno über ihn: Hat Webern viele geistliche Texte komponiert, so ist sein Œuvre
geistlich insgesamt wie kaum eines seit Bach, aber zugleich die unbestechliche Absage an
etablierte Bindung, ...411. Diese Absage an die etablierte Bindung ist einer der
Grundaspekte der Neuen Musik. Anton Webern drückte diese Haltung in einem Brief an
Alban Berg so aus: Ich will keine Symbole: ich möchte die Dinge selber. Die ‚Realität’
eines Kunstwerks ist kein Symbol, keine Nachahmung der äußeren noch der inneren
Natur...es ist etwas Eigenes412. Dieses Eigene ist das Reale, das Körperhafte, das die Musik
als spirituelle dialogische Anwesenheit in den Raum stellt. Clément Rosset beschreibt die
Wirkung der Musik als eine Wirkung des Realen: ... Und Vladimir Jankélévitch beharrt
heute darauf: das Hören von Musik, das mit der philosophischen Aufmerksamkeit
konkurriert, ist wesentlich Kontakt mit dem Realen, mit der so direkt wie möglich erfassten
Realität, mit der Wahrheit , „als ob ihr wärt“413. Die Welt ist übervoll von Bildern,
Verweisen, Bezügen und Abbildern: ihr Realitätsgehalt wird unaufhörlich durch Einwände
und unterschiedliche Sichtweisen verdünnt. Während die Musik in die Enge treibt und
plötzlich ein Reales schafft, ohne dass es Einwände oder Einsprüche geben könnte....Daher
ist die Wirkung der Musik vor allem eine „Wirkung des Realen“, und deshalb ist das Reale
die einzige Sache auf der Welt, an die man sich nie so richtig gewöhnen kann414. Dieser
Gedanke weist auf die Merkmale der oben erwähnten Präsenzkultur, die eine Kultur des
Wieder-Gegenwärtigmachens, des Rituals ist, - auch eine Kultur, in der das Subjekt des
Autors zugunsten einer aktiven, kreativen und dialogischen Auseinandersetzung mit der
Kunst aufgehoben ist415. Ein Blick auf traditionelle Kulturen in nicht industrialisierten
Ländern zeigt übrigens, dass dort das Moment des aktiven Mitgestaltens fest eingebettet ist
409
Anton Webern steht hier für eine Reihe von Komponisten, die Clytus Gottwald in seinem Buch Neue
Musik als spekulative Theologie. Religion und Avantgarde im 20. Jahrhundert als Vertreter der hier
skizzierten Haltung sieht. Es sind neben Webern Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Arnold Mendelssohn,
Mauricio Kagel, Dieter Schnebel, Heinz Holliger, Klaus Huber, Bernd Alois Zimmermann, Krzysztof
Penderecki, Karlheinz Stockhausen, (der weiter untern weitere Erwähnung findet), Luigi Nono und Olivier
Messiaen. Clytus Gottwald (2003)
410
Clytus Gottwald (2003) S. 36
411
Theodor W. Adorno, Klangfiguren. Frankfurt am Main 1959, S. 180
412
Barbara Zuber, Gesetz und Gestalt, München 1995, S. 26
413
Clément Rosset, Das Reale in seiner Einzigartigkeit. Berlin 2000, S. 96 Das Zitat von Jankélévitch
stammt aus Vladimir Jankélévitch, Debussy et le mystère de l’instant. Pars 1989, S. 197
414
Clément Rosset (1989) S. 96 f
415
Roland Barthes, Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis et al (Hsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft.
Stuttgart 2000, S. 192
126
und nur in unserer Kultur einem kommerzialisierten Musikleben und einem
Konsumentenverhältnis zwischen Musiker und Hörer gewichen ist416.
Die Postmoderne kritisiert die kommerzialisierten Verhältnisse im Bereich der Kultur in
den hoch entwickelten Industrieländern, die etwa Musiker und Hörer in
Konsumentenverhältnisse zwingen und von spirituellen Werten ablenken. Hier wird für die
Position des Hörenden oder Lesenden Aktivität und Kreativität gefordert417. Die stetige
Absage an etablierte Bindung allein ermöglicht lebendige Kommunikation im Hier und
Jetzt. Sie ist einer der wesentlichen Aspekte des Unangepassten im Allgemeinen, der
Neuen Musik im Speziellen und der Spiritualität im Besonderen.
2.2.1.6 Musik als Phänomen – Gegenargumente
Die Frage, ob Musik bzw. die Neue Musik die Qualität des Einspruchs und damit
grundsätzlich spirituelle Dimension für sich in Anspruch nehmen könne, relativiert sich in
der Sichtweise, die Musik als solche als ein akustisches Phänomen sieht, das wir jeweils
mit Funktionen und Inhalten verknüpfen, diese aber dem Phänomen zunächst nicht von
vornherein innewohnen. Jede Interpretation, jede Annahme eines Überbaues lässt sich als
Spekulation bezeichnen, denn jede Beweisführung würde an der Vieldeutigkeit und
Unfassbarkeit musikalischer Phänomene scheitern. Ist nicht vielmehr allein die Haltung
der Autoren und Reflektierenden entscheidend für die Definition von Konnotationen,
Werten und Funktionen? Die Musik selbst wird immer nur die eine neutrale Sprache
sprechen können. Markus Popp418 etwa stellte im August 1999 die Musik als „sentimentale
Kategorie“ infrage und den bestehenden Musikbegriff zur Disposition. Unsere jeweilige
Sichtweise lässt sich in jedem Fall als ‚Erkenntnis leitend’ bezeichnen, - unsere
Vorstellungen, was Musik sei, sind in diesem Sinn wieder nur dem Phänomen Musik
angedichtete oder übergestülpte Denkmuster.
416
Artur Simon, Kategorien des Musiklebens in traditionellen Kulturen Afrikas, Asiens und Ozeaniens. In:
Ekkehard Jost, Musik zwischen E und U. Mainz 1984, S.39
417
Vilém Flusser unterscheidet in den modernen Kommunikationsstrukturen Diskurse von Dialogen. Nie
zuvor in der Geschichte hat die Kommunikation so gut, so intensiv und so extensiv funktioniert wie heute.
Was die Leute meinen, ist die Schwierigkeit, echte Dialoge herzustellen, das heißt, Informationen im Hinblick
auf neue zu tauschen. Nach Meinung Flussers müssen müssen sich Dialog und Diskurs das Gleichgewicht
halten. (Vilém Flusser, Kommuniklologie. Frankfurt am Main 1998, S. 17)
418
Zitiert nach: Peter Rantaša/Christian Scheib, Nur keine Angst vor der Unübersichtlichkeit. In: Marion
Diederichs-Lafite (Hsg), Österreichische Musikzeitschrift. Jg55/7. Wien 2000, S. 18 f
127
2.2.2 Musik und Theologie
Die Trennung der Musik von der Kirche um 1800 war der Endpunkt einer Entwicklung,
die schon im 15. Jahrhundert durch das Streben der Komponisten nach Distanz zur
Theologie gekennzeichnet war. Der damalige Vorwurf, Musik wolle für sich eine eigene
Form religiöser Verkündigung, eine zweite Kanzel reklamieren, sollte sich später insofern
als berechtigt herausstellen, als die Kunst nach 1800 sich von der Kirche emanzipiert und
die religiöse Thematik erneuert und aus sich selbst hervor gebracht hat419. Die Neue Musik
ist im Dilemma, dass zwar Geistliches wie Musik auf Befreiung hinaus will, als
verbreitende weltliche Emanation des Geistes, als Emanzipation vom theologischen
Ursprung420. Wir haben es hier offensichtlich mit zwei Bewegungen zu tun, die einander
bedingen, die aber in unterschiedliche Richtungen weisen: Die Befreiung der Musik von
der Last der Vergangenheit, der Fremdbestimmtheit, des geistigen Überbaues ist einerseits
eine Entfernung von primären spirituellen Inhalten, andererseits bedeutet gerade diese
Befreiung, der Einspruch gegen das Festigende, Festhaltende eine Öffnung für Spiritualität
in einem viel weiteren Sinn. Musik, die diesen Überbau pflegt, sucht, zelebriert, ist in
Gefahr, sich von der Spiritualität in diesem weiter gefassten Sinn zu entfernen.
Für die Kunst hat das Jean Dubuffet schon 1949 erkannt. In einem Manifest anlässlich der
ersten Art brut Ausstellung in der Pariser Galerie Drouin schreibt er: Die wahre Kunst ist
immer da, wo man sie nicht erwartet. Da, wo niemand an sie denkt noch ihren Namen
nennt. Die Kunst, die hasst es, erkannt und mit Namen begrüßt zu werden.(...) Die falsche
Kunst sieht ganz so aus, als sei sie die richtige, und die richtige gar nicht.(...) Die Kunst
legt sich nicht in die Betten, die man für sie vorbereitet hat; sie flüchtet, sobald man ihren
Namen nennt421.
419
Clytus Gottwald (2003) S. 6
Dieter Schnebel, Denkbare Musik. Köln 1972, S. 424
421
Jean Dubuffet, L’art brut préféré aux arts culturels. Paris 1949
Parallelen dazu finden sich in der negativen Theologie:
Hier zeigt sich das eigentümliche Paradox jeglicher negativen Theologie, dass sich das Absolute
menschlichem Denken und menschlicher Erfahrung so unverzichtbar wie unerreichbar zugleich präsentiert
und daher in bleibender Spannung steht sowohl zur Sache des Glaubens als auch zur Sache des Denkens.
Dennoch bleibt sie, und darin unterscheidet sie sich von der ihr sehr verwandten mystischen Theologie, eine
das Denken beanspruchende Prinzipientheorie. Als solche setzt sie allen existentiellen Zugriffen auf die
Wirklichkeit Gottes ein Stoppschild in den Weg. (...) Es sollte sich deshalb von selbst verstehen, dass es für
die Vernunft nicht um eine Erfassung des Unendlichen gehen kann (wie könnte das auch möglich sein?),
sondern vielmehr um die konkrete Beziehung, die Denken und Fühlen, Sein und Werden auf die letzte
Wirklichkeit hin gestalten. In dieser kommunikativen Funktion, dass sie gleichsam die Gottesfrage offen hält,
sich vorschnellen Antworten und Zuschreibungen verweigert und das eigene Sein im Lichte dieser Beziehung
zu verstehen sucht, liegt der Kairos gegenwärtiger negativer Theologie.
420
128
2.2.2.1 Karlheinz Stockhausen
Die religiöse Grundlegung in der Musik von Karlheinz Stockhausen ist unbestritten, sein
Bezug zu Spiritualität und Mystik – obwohl unterschiedlich beurteilt – ist evident und soll
hier beispielhaft besondere Beachtung finden.
Christoph von Blumröder hat in seiner Arbeit über die Grundlegung der Musik Karlheinz
Stockhausens422 diese religiöse Ausrichtung freigelegt und zu beweisen versucht, dass die
Entwicklung der Arbeit Stockhausens in Bezug auf Religiosität, Spiritualität und im
Besonderen auf Intuition seit den Anfängen kontinuierlich verlaufen ist. David Paul sieht
in Stockhausens Arbeit ein unermüdliches Streben, die äußersten Grenzen der profanen
Welt des Menschen zu durchbrechen423. In einem Gespräch mit diesem spricht
Stockhausen von seiner Arbeit als einem bescheidenen Versuch, die übergeordneten
Prinzipien und Gesetze der Welt, das, was wir entdecken und studieren können, zu
übertragen. Er spricht auch von der Wichtigkeit Neuer Musik, weil sie das Spektrum
unserer Gedanken und Gefühle erweitere.
Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre öffnete Stockhausen sich einer Vielzahl
religiöser Strömungen, die seitdem Eingang in sein Werk gefunden haben. Zu nennen sind
hier insbesondere das in den dreißiger Jahren auf dem Weg des Channeling entstandene
„Urantia“-Buch, dessen Aussagen vor allem in seinem Werkzyklus LICHT eine große
Rolle spielen, aber auch die Neuoffenbarung Jakob Lorbers, die Esoterik, Gnosis und
Theosophie, - auch der indische Guru Sri Aurobindo sowie der Sufi-Meister Hazrat Inayat
Khan haben Stockhausen stark beeinflusst.
In bewundernswerter Unbeirrbarkeit steht er nach wie vor zum Anspruch, dass seine
„astronische Musik“ als ein „schnelles Flugschiff zum Göttlichen“ den Zugang zur
„fremden Schönheit“ in „transrealen“ Welten ermögliche, ja sogar ermöglichen muss.
Denn Stockhausen ist der festen Überzeugung, dass eine fremde Schönheit zur Erhaltung
der Hoffnung der Menschen unbedingt notwendig ist. (…) Eine Gesellschaft, die das
vergessen hat, die ist wirklich krank. Und man muss diese Gesellschaft aufwecken und ihr
Aus: Alois Halbmayr, Zur Renaissance der negativen Theologie. In: Salzburger Theologische Zeitschrift, Jg.
7, Heft 1. Salzburg 2003, S. 69 f
422
Christoph von Blumröder, Die Grundlegung der Musik Karlheinz Stockhausens. Stuttgart 1993. Vgl. auch
Wolfgang Gratzer, Komponistenkommentare. Beiträge zu einer Geschichte der Eigeninterpretation.
Wien/Köln/Weimar 2003, S. 310: Wie Schönberg machte Stockhausen, seit er um 1950 als Komponist in
Erscheinung trat, kein Hehl aus seinem Gottglauben. ...Die frühesten Gedichte, Chöre und Lieder sind
Zeugnisse dieses Glaubens.
423
David Paul, Karlheinz Stockhausen. Seconds#44 1997. Zitiert nach Berno Odo Polzer, Wien Modern
2008. Saarbrücken 2008, S. 67
129
sagen: ´Bitte orientiert euch wieder an den fremden Schönheiten.´ Wo ist unsere Fremde?
Die Fremde ist in den Sternen heute, ist im Kosmos. Und: Wenn unser Verstand sich
extrem anstrengt und an die Grenze dessen kommt, was analysierbar und beschreibbar ist,
beginnt die Mystik. Dort ist für mich als Musiker meine Heimat. Da will ich hin. Claus
Spahn hat unlängst in der „Zeit“ völlig zu Recht festgestellt, dass Stockhausen damit
„heiligen Ernst mit dem alten Anspruch des Vorausseins der Avantgarde“ mache, von
einem wie immer gearteten Verrat kann also wohl keine Rede sein. Wenn Stockhausen von
der „fremden Schönheit zur Erhaltung der Hoffnung der Menschen“ spricht, wird jedoch
deutlich, dass er seine Musik, und insbesondere LICHT, im Grunde als ein
Erlösungsmedium versteht – und gerade das macht ihn verdächtig in einer Zeit, die
Erlösungs- und Heilsversprechen (oft aus gutem Grund) skeptisch gegenübersteht. Doch
wie sieht diese Erlösung konkret aus? Stockhausen geht es ganz eindeutig um eine
Vervollkommnung des Menschen, und in diesem Punkt ist sehr deutlich der Einfluss Sri
Aurobindos spürbar, den Stockhausen 1968 für sich entdeckte. In den siebziger Jahren
erklärte der Komponist: „Wird solch eine neue Musik gemacht, so kündigt das einen neuen
Menschen an. Dieser neue Mensch ist ein Geist, der immer weniger mit dem Tierkörper
identisch ist, den er auf diesem Planeten für eine gewisse Zeit angenommen hat; ein Geist,
der sich nicht mehr mit seinem Körper und dessen Möglichkeiten identifiziert, sondern der
beliebige Möglichkeiten, die ihm einfallen, akzeptiert.“ So ist es nur konsequent, dass im
ersten Akt des MONTAGs der Frauenchor „um ein neues Paradies zur Vervollkommnung
des Menschen“ bittet. Ob man dem Komponisten auf diesem Weg folgen will, bleibt der
individuellen Entscheidung überlassen. Doch egal wie diese ausfällt – sie ändert nichts
daran, dass Stockhausens Opus magnum einen der wenigen aktuellen Versuche darstellt,
eine Utopie konkret werden zu lassen. Es wird sich weisen müssen, ob er damit seiner Zeit
hoffnungslos hinterherhinkt oder ihr vielmehr um Lichtjahre voraus ist. Mag sein, dass
Stockhausen, wie es das Magazin „Wired“ einmal formulierte, „lost in the stars“ ist –
doch sind nicht gerade jene, die ihrer Zeit weit voraus sind, ziemlich einsame und noch
dazu unverstandene Geister?424.
1974 wurde Stockhausens Inori – Anbetungen für ein oder zwei Solisten und Orchester
(1973/74) in Donaueschingen uraufgeführt. In Inori steigert Stockhausen das Ritual zur
424
Christian Ruch, Ein „Sphärentraum in ewgen Galaxien“ – zur Vollendung von Karlheinz Stockhausens
Opernzyklus LICHT. Zürich 2002, aus: http://www.kath.ch/infosekten/text_detail.php?nemeid=33763
(28. 05. 2009)
130
sakralen Aktion425. Die Partie des/der Solisten ist die Aneinanderreihung seriell gestufter
Gebetsgesten aus unterschiedlichen Kulturkreisen, die Stockhausen als chromatische Skala
von Gesten streng komponiert hat (Betmelodie) und die mit den musikalischen Parametern
der Partitur übereinstimmen. Die optische und die musikalische Ebene verschmelzen zu
einer Einheit. Das eingestrichene g ist im ersten Teil des Werkes omnipräsent, - sie steht
bei Stockhausen für die Mitte und als sinnliches Symbol für das höchste Wesen. Häusler
beschreibt Inori deswegen als geistliche oder kultische Musik, die sich jeder Festlegung
auf eine bestimmte Religion entzieht. Einflüsse sieht Häusler von indisch-buddhistischer
Geisteshaltung, von visionären, mystischen und okkulten Quellen und Geheimlehren und
von der Lehre des Sufismus mit deren System der stufenmäßigen Herbeiführung der
Ekstase, die zur mystischen Vereinigung mit Gott hinleitet. Häusler vermutet, dass Inori
nur verstanden und bewertet werden könne, wenn über Erfahrungen mit Meditation verfügt
würde, womit er das an anderer Stelle thematisierte Problem der Kontextgebundenheit
anspricht. Stockhausen selbst zu Inori: Dieses Werk lässt keine Wahl zwischen einer
säkularisierten Ästhetik und einer religiösen Funktion, denn es ist ein Gebet, in dem jedes
musikalische Intervall eine Gebetsgeste ist und als solche auch empfunden werden muss426.
Zu den zum Teil massiven Einwänden seitens der Kritik meint Stockhausen: Ich wusste ja,
was Donaueschingen damals für ein rotes Loch war, ein antireligiöses Loch, wie man es
sich kaum vorstellen kann427, und grundsätzlich zum Wandel des Hörens:
„Man kann an dem Wesen der jüngsten Musik erkennen, dass sich eine Umorientierung
vom Wunsch-Hören zum meditativen Hören vollziehen wird, einbezogen in die allgemeine
geistige Wandlung vom überspitzt Individualistischen zum Persönlich-Kollektiven.“428
Stockhausens Interesse an der zeitgenössischen bildenden Kunst lässt sich bis in seine
Studentenzeit zurückverfolgen. Vor allem die das Irdische transzendierenden Momente im
Werk von Paul Klee, Kasimir Malewitsch und Piet Mondrian faszinieren ihn. Christoph
von Blumröder erkennt Analogien zwischen Stockhausens Klavierstück III und den
Gedanken Paul Klees in Bezug auf Abstraktion, die beide Künstler angestrebt haben. Er
stellt fest, dass die Ideen, die Klee in abstrakter Kunst sichtbar gemacht wissen will, und
425
Josef Häusler, Spiegel der Neuen Musik: Donaueschingen. Chronik – Tendenzen – Werkbesprechungen.
Kassel 1996, S. 304 f
426
Josef Häusler (1996) S. 306
427
Stockhausen zu seinem Biographen Michael Kurtz, Josef Häusler (1996) S. 307
428
Karlheinz Stockhausen, Situation des Handwerks (Kriterien der punktuellen Musik). Manuskript, 1952, in:
Texte I, S. 17 – 23, zitiert nach Wolfgang Gratzer (2003) S. 325
131
der Gehalt, den Stockhausens abstrakte ‚Musik als Tonordnung’ in sich birgt, nahezu
kongruent sind. Stockhausen strebe seit 1952 ein Gleichnis zum Werke Gottes an, das dem
Hörer absichtslose religiöse Versenkung abverlange429. Auch im schwarzen Quadrat von
Kasimir Malewitsch, dem Sinnbild des Suprematismus, der einen Zustand der Kunst auf
einem Nullpunkt kennzeichnet, sieht Blumröder eine Parallele zur Situation Stockhausens
Anfang der 50er Jahre. Die Nachkriegszeit bot – so Stockhausen – die seltene Chance
eines Neuanfangs. Ziel des Suprematismus war die Errichtung einer neuen, im Erfassen
des Absoluten ‚wahrhaftigen’ Weltordnung und Weltanschauung430.
Schließlich sind auch Parallelen zwischen der Theorie des Neoplastizismus Piet
Mondrians, dessen Abstraktion das Absolute als Realität ins Werk setzen will, und den
kompositorischen Auffassungen Karlheinz Stockhausens Anfang der 50er Jahre gegeben.
In den Kunsttendenzen dieser Zeit sieht Blumröder den Versuch der Überwindung der
chaotischen Zustände nach dem Krieg und darin eine mystisch-spirituelle, die Hoffnung
auf einen neuen Menschen artikulierende, fast missionarisch anmutende Komponente. Die
Abstraktion in diesem Zusammenhang ziele auf eine Wiederannäherung an Gott, den man
selbst als abstrakt begreift431.
2.2.2.2 Musik als Religion
Der französische Maler Henri Valensi stellte 1913 das so genannte Dominanzgesetz vor,
nach dem es in jeder großen Kulturperiode eine dominierende Kunst gebe, deren
Entwicklung durch die Verwendung immer leichterer Materialien charakterisiert sei.
Dieses Leichterwerden gehe mit der geistig-sinnlichen Entwicklung des Menschen einher
und bewirke in den übrigen Künsten ebenfalls ein proportional zu dieser dominierenden
Kunst sich entwickelndes Leichterwerden. Henri Valensi vertritt die Meinung, dass im
20. Jahrhundert das Reich der Musik anbreche und damit eine Musikalisierung aller
anderen Künste einsetze432. Dem zugrunde liegt die Annahme, dass sich die Menschheit
429
Christoph von Blumröder (1993) S. 143 ff
Christoph von Blumröder (1993) S. 146 f. Vgl. dazu Bill Drummond, der bezüglich seines Projektes The
17 (vgl. Kap. 3.2.3.5) ebenfalls von einem Nullpunkt, - einem erfrischenden Neuanfang spricht, den er u. a.
so beschreibt: The 17 struggle with the dark and respond to the light. Bill Drummond (2008) S. 30
431
Chrsitoph von Blumröder (1993) S. 150 f. Blumröder erwähnt hier die bis heute nicht genügend
gewürdigte Grundtendez einer universalen Geistigkeit im 20. Jahrhunderts, die der real vorherrschenden
Barbarei entgegengehalten wird. Bezüglich der Abstraktion sieht Blumröder hier nicht nur Parallelen zum
alttestamentarischen Abbildverbot, sondern auch zur islamischen Tradition der Ausschmückung der
Moscheen nicht durch Bilder, sondern durch geometrische Muster.
432
Auch hier gibt es eine Parallele in der Frühromantik: Johann Wilhelm Ritter (1776 – 1810) vertrat die
Ansicht, dass die drei sich an das Auge wendenden Künste Architektur, Skulptur und Malerei Künste der
430
132
zur zerebralen Abstraktion, d. h. zum Leichterwerden der Materie entwickle. 1932 wurde
diese Auffassung im Manifest der Musikalisten bestätigt. Die Ideen des seit 1901 in Paris
lebenden Italieners Ricciotto Canudo prägten einen Teil der damaligen Avantgarde. 1911
veröffentlichte dieser L’Essai sur la musique comme religion de l’avenir (Versuch über die
Musik als Religion der Zukunft)433. Die in dieser und anderen Veröffentlichungen
vertretenen Theorien basieren auf Canudos Begeisterung für Theosphie und Mystik. Für
ihn ist die Kunst das Streben des Menschen nach dem Göttlichen, sie nehme bis zum
Auftreten des Films die oberste Stelle in der Hierarchie der Künste ein. Musik hätte die
Fähigkeit, eine Art Astralkörper jedes geschaffenen oder erdachten Dinges zum Klingen zu
bringen. Abstraktion und Idealismus waren offensichtlich die Kennzeichen der Musik, die
Canudo an die Musikalität aller Künste glauben ließ und auch die Anziehungskraft der
Musik auf die Avantgarde ausmachte434. Die Abstraktion war eine an der Musik orientierte
radikale Behauptung der Autonomie der Malerei gegenüber Sujet und äußerer Realität, die
jedoch unterschiedliche Auffassungen widerspiegelte, - neben der der Wissenschaft und
Technik auch jene der Theosophie.
Alexander Skrjabin war bereits vom Übermenschen-Anspruch Nietzsches und der Idee
Vladimir Solov’evs, dass das Schöpferische ein der göttlichen Offenbarung vergleichbarer
Zustand mystischer Ekstase sei, vertraut, als er mit theosophischem und
anthroposophischem Gedankengut in Berührung kam. 1908 traf er Rudolf Steiner, - die
Schriften Helena Blavatskys waren ihm vertraut. Seine Philosophie, die seit 1904 auch
Einfluss auf sein kompositorisches Schaffen hatte, weist Verwandtschaft zu den Lehren
des Hinduismus auf. Skrjabin glaubte an den Gott-Menschen, für den er sich auch selbst
gehalten hat. In der Symphonie Prométhée schließlich verbinden sich Musik, Farben,
Erinnerung seien und ihr Zweck in der Vergegenwärtigung des Abwesenden liege. Mit der Musik verändere
sich die Geschichte, denn diese beziehe den Zuhörer mit ein, - in ihm sei die so genannte Tat gegenwärtig. In:
Siegfried Zielinsky (2002) S. 204
433
In diesem Werk legt Canudo seine Vorstellungen über die Musik dar:
Abstraktion: die Musik löst sich von der Wirklichkeit (den Geräuschen), um reine Konstruktion des Geistes
zu werden (Komposition-Ton). Bewegung: Die Musik versöhnt den Rhythmus von Zeit und Raum
miteinander. Sie ist Äußerung einer kosmischen Energie im Sinne Nietzsches, eines Vitalismus im Sinne
Bergsons, des Zeit-Raums im Sinne Einsteins. Gemeinschaft: durch die Vermittlung der Sinnlichkeit
offenbart die Musik nicht nur den Geist des Künstlers, sondern auch den der Zeit und der Völker. Die Musik
wird der große Schmelztiegel aller individuellen Rhythmen sein: in ihr wird die Menschheit wieder mit dem
Unbestimmten kommunizieren, im Unendlichen aufgehen. Und wie früher im Tanz und wie früher im Gebet
wird die Menschheit in der Musik die zahllosen Bewegungen ihrer Gemütsbewegungen verschmelzen und
damit ihr neues synthetisches Bewusstsein, ihre neue Gottheit finden. In: Gladys C. Fabre, Vom Orphismus
zum Musikalismus. In: Karin von Maur (Hsg.), Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20.
Jahrhunderts. München 1985, S. 360
434
Gladys C. Fabre, Vom Orphismus zum Musikalismus. In: Karin von Maur (Hsg.), Vom Klang der Bilder.
Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts. München 1985, S. 360 f
133
Worte und Philosophie zu einer Art Gesamtkunstwerk. Der den Farben zugeordnete Inhalt
entstammt der Farbenlehre Rudolf Steiners, die auch Kandinsky und Schönberg beeinflusst
hat435.
Auch die frühe amerikanische abstrakte bildende Kunst des 20. Jahrhunderts orientierte
sich an der Musik. Wesentliche Anregungen dazu kamen von Arthur Wesley Dow, der,
vom Mythischen fasziniert, einer religiösen Sekte angehörte, in der u. a. Helena Blavatsky
als Meisterin verehrt wurde. 1917 proklamierte er die Nachahmung als Kriterium der
Malerei aufzugeben und statt dessen die bildende Kunst an der Musik zu messen als eine
der wichtigsten Aufgaben seiner Zeit436.
Dazu gab es auch Gegenstimmen, etwa von Helmuth Plessner (1892 – 1985), der der
ungegenständlichen Malerei, speziell aber dem Kubismus den Versuch einer
Musikalisierung der Kunst vor vorwarf. Diese erkämpfe dem Auge jene Freiheit, welche
das Ohr in der Musik genieße. Eben diese Anschauung Plessners geht jedoch an der
entscheidenden Funktion der gegenständlichen Gerichtetheit des Sehrvorgangs vorbei437.
Schließlich soll eine der wesentlichen Persönlichkeiten der bildenden Kunst des
20. Jahrhunderts, dessen Arbeit und Ausstrahlungskraft weit über die Grenzen dieses
Genres reichen, nicht unerwähnt bleiben: Joseph Beuys, dessen Gedankengut Nähe zur
Anthroposophie Rudolf Steiners zeigt, hat in vielen seiner Aktionen neben plastischen und
szenischen Elementen auch akustische miteinbezogen. Für ihn waren die Aktionen zum
Teil bewegte Skulpturen oder Symphonien im Sinn eines Konzertierens unterschiedlicher
Elemente. Er bezeichnete den nach innen gerichteten Klang, um den es ihm ging, als
Seelenton. Innere Bewegung und Inneres Hören schließen sich bei Beuys zu einem
inwendigen Kreis und sind die Basis für ein organisches Bilden von innen. Bewegung steht
bei ihm für Transformation, – nur über Bewegungsimpulse ließe sich die Erneuerung des
Menschen einleiten. Dieser Idee von Transformation liegt die Spiegelung jeweils äußerer
und innerer Bewegung im Menschen zugrunde. Beuys erweiterter Begriff der Plastik
beinhaltet seine Bewertung des Ohrs als das sensible Wahrnehmungsorgan für diese. Bei
435
Dorothee Eberlein, Ciurlionis, Skrjabin und der osteuropäische Symbolismus. In: Karin von Maur (Hsg.),
Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts. München 1985, S. 340 ff
436
Gail Levin, Die Musik in der frühen amerikanischen Abstraktion. In: Karin von Maur (Hsg.), Vom Klang
der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts. München 1985, S. 368
437
Martin Asiáin, Sinn als Ausdruck des Lebendigen. Medialität des Subjekts – Richard Hönigswald,
Maurice Merleau Ponty und Helmuth Plessner. Bonn 2004, S. 256
134
dem, der die Plastik aufnimmt, bohrt sie sich in das Ohr, dem plastischen Rezeptionsorgan,
ein438.
2.2.2.3 Jugendbewegungen
Neben der in der Einleitung erwähnten Punk-Kultur gibt es weitere und frühere Beispiele
von Jugend- bzw. Subkulturen im 20. Jahrhundert, die im Einspruch zu herrschenden
Gesellschaftsnormen neue Lebensformen und –haltungen proklamierten. Angeführt sei
hier die Hippie-Bewegung, die in Bezug auf sowohl kulturelle als auch spirituelle Werte
weltweit Beachtung fand. Die Hippie Bewegung geht zum Teil auf die deutsche
Lebensreform- und Jugendbewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Von
deutschen Migranten in die USA gebracht, ließ sie sich in Kalifornien nieder, wo die
klimatischen Bedingungen die Umsetzung einer naturnahen Lebensweise möglich
machten. In dieser internationalen spirituellen Subkultur spielte auch Meditation eine
große Rolle439.
Das legendäre Musik-Festival Woodstock im August 1969 war ein Höhepunkt der HippieBewegung. Viele der dort präsentierten Künstler gehören noch heute zu den Ikonen der
Rock- bzw. Popmusik und repräsentieren – zwar in kommerzialisiertem Gewand – die
musikalischen Reste dieser im Grunde gescheiterten Utopie. Mit Hippie-Bewegung und
Woodstock sind nicht nur Erinnerungen an sehr nachhaltige musikalische Ereignisse
verbunden, sondern auch solche an exzessiven Drogenkonsum.
Die Einnahme so genannter halluzinogener Wirkstoffe wie Meskalin und LSD spielt in der
psychedelischen Bewegung, die nicht auf die Jugendkultur der 1960er und 1970er Jahre
beschränkt ist, eine wesentliche Rolle. Begründet wurde diese durch zunehmende
Popularisierung gekennzeichnete Mystik von einem Kreis um Aldous Huxley, auf den
auch der Begriff psychedelisch zurückgeht. Huxley, der drei für die psychedelische Kultur
Grund legende Bücher verfasste, gehörte übrigens auch zu den Mitarbeitern
Ouspenskys440. Der britische Psychiater Humphrey Osmond begleitete 1957 das erste
Meskalin-Experiment Huxleys. Er war der Meinung, dass die psychedelischen Drogen zu
religiösen Erfahrungen verhelfen würden. Huxley sah in Meskalin einen Wirkstoff, der die
Filter der menschlichen Begriffssysteme und der nach Nützlichkeitsgesichtpunkten
438
Mario Kramer, Klang & Skulptur. Der musiklische Aspekt im Werk von Joseph Beuys. Darmstadt 1995,
S. 15, zitiert nach Helmi Vent ( 2005) S. 153 f
439
Karl Baier (2009) S. 912
440
Vgl. Kapitel 2.1
135
selektierten Wahrnehmung zu überwinden hilft, um in einer beseligenden Schau das reine
Sein zu erfahren. Dieses reine Sein ist für Huxley das in allem Vergänglichen
gegenwärtige ewige Leben. Diese Schau könne aber auch durch Formen religiöser Praxis
erreicht werden und sogar spontan auftreten. Huxleys Gruppe war durchaus elitär, sollte
doch die Erforschung des mystischen Potenzials der Drogen zunächst nur
experimentierenden Künstlern und Intellektuellen möglich sein. Populär wurde die
Psychedelische Kultur erst über eine Gruppe von Psychologen unter der Leitung von
Timothy Leary. Im Lebensstil der Beat Generation hatten Drogenexperimente bereits ihren
festen Platz. Diese war es auch, die Leary in seiner Überzeugung von der revolutionären
religiösen und sozialen Bedeutsamkeit seiner experimentellen Mystik stärkte. Die
psychedelische Erfahrung wurde als Reise zu neuen, grenzenlosen Bereichen des
Bewusstseins definiert. Ihre charakteristische Eigenschaft sei das Transzendieren
sprachlicher Konzepte, raumzeitlicher Dimensionen und der Identität. Diese Erfahrungen
seien u. a. über Yoga, Meditation, religiöse oder ästhetische Ekstasen oder auf spontane
Weise möglich, aber auch durch die Einnahme von psychedelischen Drogen für jeden
zugänglich441.
2.2.3 Zusammenfassung
Die spirituelle Qualität der Musik liegt in ihrer Eigenschaft als in der Zeit stattfindende
Kunst, die die Zeit durch ihre Präsenz aufhebt, die die Zuhörer durch ihre stetige Absage
an etablierte Bindungen in den Augenblick zwingt, - in einen Zustand der Sammlung.
Hier lassen sich Parallelen zum Buddhismus erkennen, der das Anhaften als das Grundübel
der menschlichen Existenz bezeichnet. Das Geistliche in der Musik wird nicht nur durch
die Texte definiert, die jene transportiert, sondern ist wesentliches Moment der Musik
selbst. Das Anerkennen des Moments des Einspruchs in der Musik bzw. speziell in der
Neuen Musik hängt jedoch von der jeweiligen Haltung der Hörenden ab. Erst im Dialog
des Hörenden mit der Musik tritt die spirituelle Dimension zutage, wird Musik als
Einspruch gegen das Etablierte wirksam.
Bereits in der Romantik war die Kunstausübung und Kunstrezeption mit den Begriffen
Weihe, Andacht, Pietät und Verehrung verknüpft. Der Beginn der esoterischen Moderne
steht in engem Zusammenhang mit der sich demokratisierenden Kultur des Bürgertums
sowie mit der schwächer werdenden Position der Kirche. Die ästhetische Gnosis der
441
Vgl. Karl Baier (2009) S. 912 ff
136
Moderne (Leander Kaiser) richtete sich gegen Verweltlichungstendenzen, denen
gegenüber Kirche und Christentum machtlos war. In diesem Zusammenhang sind Themen
wie Höherentwicklung, Verfeinerung und Vergeistigung essentiell für die Kunst der
Moderne, die schließlich den Status einer Kunstreligion erreichte.
Während diese Themen ein eher elitäres Denken widerspiegelt, ist ein anderes mir
wesentlich erscheinendes Moment in der Kunst und im Speziellen in der Kunst des
20. Jahrhunderts der radikale Bruch mit der Tradition in Form von Revolution bzw. aus
einer anderen Sicht der Reformationsgedanke, die Funktion des Einspruchs. Die Kunstund Musikgeschichte ist reich an Einspruchszenarien, - die so genannte Neue Musik
scheint die Funktion eines permanenten Einspruchs bereits in ihrer Grundkonzeption
angelegt zu haben, welche in gewissem Sinn mit der buddhistischen Achtsamkeit
vergleichbar ist, die den Menschen vor der Anhaftung bewahren soll. Andererseits ist der
Einspruch gegen das Etablierte, - das Establishment eine der Jugend und den großen
Jugendbewegungen innewohnende Funktion. Karlheinz Stockhausens Bezug zu
Spiritualität und Mystik ist beispielhaft für beides: die künstlerische Position des
Unangepasstseins und des stetigen Suchens, sowie der des Verfeinerns und Strebens nach
Höherem.
2.3.
Verwandte wissenschaftliche Bereiche
2.3.1 Medizin und Gehirnforschung
Bis vor wenigen Jahren wurde die Musik von den Kognitions- und Neurowissenschaften
noch vernachlässigt442. Mit der Sprache hingegen beschäftigte sich die Hirnforschung
schon seit der Endeckung des Sprachzentrums durch Paul Broca im Jahr 1861. Der Grund
für die im Vergleich dazu relativ spät einsetzende Forschung bezüglich des musikalischen
Bereichs ist, dass Hirnuntersuchungen zu Musikthemen wesentlich schwieriger zu
bewerkstelligen sind. Beim Wahrnehmen bzw. Verarbeiten von Musik werden nicht nur
isolierte Teile des Gehirns, sondern das gesamte Gehirn (etwa die Zentren für
442
Trotzdem gibt es Beispiele früher Forschungen auf diesem Gebiet: Vladimir Bechterev leitete das
Staatliche Institut für Reflexologie und Gehirnforschung an der Technischen Universität in Petersburg, wo er
Experimenten mit musikalischen Strukturen besonderen Stellenwert einräumte. Dabei ging es sowohl um die
heilende Kraft harmonischer Musik als auch um den Einfluss von Dur- und Moll-Tonkombinationen auf
Erregung und Hemmung der Gehirnrinde des Menschen. 1926 schrieb er in einem Aufsatz über den Einfluss
von Beethovens Mondscheinsonate und Gounods Oper Faust auf die geistige Tätigkeit. Diese
neurophysiologischen Experimente waren damals eine wichtige Waffe im Kampf gegen radikale
künstlerische Experimente. Vgl. Siegfried Zielinsky (2002) S. 288 ff
137
Höreindrücke, Sprache, Gefühl, Rationalität, Bewegung usw.) aktiviert. Ein Musikzentrum
als solches gibt es nicht443.
2.3.1.1 Musik und Sprache
Die Kognitions- und Neurowissenschaftler Stefan Koelsch und Tom Fritz erkennen in der
Musik einen Bereich, dessen Erforschung wesentliche Erkenntnisse zu menschlicher
Kognition und den zugrunde liegenden Hirnmechanismen liefern kann. Musik ist einer der
ältesten und grundlegendsten sozial-kognitiven Bereiche des Menschen. Es ist plausibel,
dass die menschlichen musikalischen Fähigkeiten eine phylogenetische Schlüsselrolle für
die Evolution von Sprache hatten und dass gemeinschaftliches Musikzieren wichtige
evolutionäre Funktionen wie Gruppenkoordination und sozialen Zusammenhalt hatte bzw.
hat444. Bei diesem gemeinschaftlichen Musizieren seien alle uns bekannten kognitiven
Prozesse wie Wahrnehmen, Handeln, soziale Kognition, Emotion, Lernen, Gedächtnis
usw. beteiligt. Aus diesem Grund sei die Musik der ideale Bereich zur Erforschung des
Gehirns. In ihrer hier zitierten Studie beschäftigen sich Koelsch und Fritz vor allem mit
den Zusammenhängen zwischen Musik und Sprache sowie zwischen Musik und Emotion.
Ein Ergebnis ihrer Arbeit ist, dass die Fähigkeit, ein sehr genaues implizites Wissen über
musikalische Regularitäten zu erweben, und die Fähigkeit, musikalische Information
schnell und genau entsprechend diesem Wissen zu verarbeiten. eine allgemeine Fähigkeit
des menschlichen Gehirns ist. Diese auch für Nichtmusiker geltende allgemeine
Musikalität verdeutlicht die biologische Relevanz von Musik445. Eine weitere Erkenntnis
ist, dass Musik schnell und genau im Gehirn verarbeitet wird, auch wenn wir uns nicht auf
das Musikhören konzentrieren bzw. auch dann, wenn wir musiksyntaktische Information
gar nicht wahrnehmen wollen.
So wie Sprache vermittelt auch Musik semantische Informationen. Für Koelsch/Fritz ist
die Musik in erster Linie ein Mittel zur Kommunikation, - sie unterscheiden folgende
Aspekte musikalischer Semantik:
443
Christoph Drössler, Dossier. In : Falter 42/08 S. 5, Beilage 42 a/Wien Modern 08
Gerold Baier schreibt über die Popularität des Themas Musik und Gehirn erst in neuerer Zeit und erwähnt
Buchtitel wie The Musical Mind und Das wohltemperierte Gehirn. Diese Bücher suggerieren, dass
neurophysiologische und musikalische Prozesse einander entsprechen. Vgl. Gerold Baier, Rhythmus, Tanz im
Körper und Gehirn. Hamburg 2001, S. 186
444
Stefan Koelsch/Tom Fritz, Musik verstehen – Eine neurowissenschaftliche Perspektive. In Alexander
Becker/Alexander Vogel (Hsg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik. Frankfurt am
Main 2007, S. 237
445
Stefan Koelsch/Tom Fritz (2007) S. 241
138
(1) Musikalische Bedeutung, die durch Informationen übermittelt wird, die an Objekte
erinnern, oder durch Informationen, die Eigenschaften bezeichnen. (2) Musikalische
Bedeutung, die durch Entstehen bzw. das Erkennen einer Stimmung vermittelt wird.
(3) Bedeutung durch extramusikalische Assoziationen. (4) Bedeutung, die durch das
Arrangement formaler Strukturen entsteht. Die Forschungen ergaben, dass Musik nicht nur
emotionale Informationen, sondern sowohl abstrakte als auch konkrete semantische
Informationen vermitteln und systematische Repräsentationen semantischer Konzepte
aktivieren könne. Musik und Sprache werden vom menschlichen Gehirn zum Teil mit
denselben kognitiven Prozessen und denselben Gehirnstrukturen verarbeitet. Auch sind
diese Ergebnisse mit denen anderer Studien kompatibel, welche nahe legen, dass die
musikalischen Fähigkeiten des Menschen Voraussetzung für Spracherwerb und
Sprachverarbeitung sind446.
Eine genaue Wahrnehmung der Tonhöhenrelationen sei auch für Verständnis und Sprechen
von Sprachen wichtig, in denen die Semantik eines Wortes auch durch die Sprechmelodie
vermittelt wird. Ein wichtiges Ergebnis der Studie von Koelsch und Fritz ist, dass das
menschliche Gehirn Musik und Sprache zum großen Teil mit denselben kognitiven
Prozessen (mit zum großen Teil denselben zerebralen Strukturen) verarbeite. Musik und
Sprache seien im Gehirn eng miteinander verknüpft. – dieses mache oft keinen
wesentlichen Unterschied zwischen beiden. W. A. Siebel vermutet in diesem
Zusammenhang, dass das menschliche Gehirn (zumindest im Kindesalter) Musik und
Sprache nicht als getrennt voneinander verstehe, sondern Sprache als einen Sonderfall von
Musik447.
In Bezug auf Emotion fanden Koelsch und Fritz heraus, dass emotionale Aktivität zur
Handlung motiviere und dass diese Motivation Bedeutung für das Musik hörende
Individuum habe. Musikrezeption – so wurde mittlerweile gezeigt – kann mit
Handlungsplanung interferieren. Handlungsinduktion durch Musikrezeption (Mitklatschen,
Mittanzen, Mitsingen) habe wahrscheinlich auch soziale Funktionen. Emotionale Aktivität
beim Hören von Musik habe immer aber auch Effekte auf das vegetative Nervensystem
und somit einen Vitalisierungseffekt und Einfluss auf das Immunsystem. Überhaupt sei
unser Organismus so gestaltet, dass auf Gemeinschaft hin orientierte soziale Aktivität sich
446
447
Stefan Koelsch/Tom Fritz (2007) S. 250
zitiert nach Stefan Koelsch/Tom Fritz (2007) S. 251
139
regenerativ auf das Immunsystem auswirke. Dazu gehört gemeinschaftliches
Musikmachen als interaktive, fein fühlende kooperative Aktivität448.
2.3.1.2 Musik, Gehirn, Plastizität
Das Festival Wien Modern 2008 (26. Oktober bis 16. November 2008 in Wien) widmete
sich in einem breit angelegten Programmbereich dem Thema Musik&Gehirn. Allein diese
Themenstellung im Rahmen dieses größten Österreichischen Festivals für Musik der
Gegenwart zeigt die Aktualität der Gehirnforschung und das Interesse der Musikwelt an
dieser. Mit dem Schwerpunkt Musik&Gehirn begab sich das Festival bewusst in ein
Neuland zwischen aktueller Neurowissenschaft und zeitgenössischer Musik449. In
Verbindung mit Vorträgen namhafter Wissenschaftler450 wurden Konzerte programmiert,
in denen dieses Neuland zu definieren versucht wurde. In ihrem Buch Was tun mit unserem
Gehirn?451, dessen Einleitungskapitel im Programmbuch zu Wien Modern 2008
abgedruckt ist, schlägt Cathérine Malabou die Konstitution eines neuen Genres vor,
nämlich das Bewusstsein des Gehirns. Sie stellt fest, dass die Menschen sich die
revolutionären Entdeckungen, die seit 50 Jahren auf dem Gebiet der Neurowissenschaften
gemacht wurden, noch nicht angeeignet haben. In diesem Sinn bleiben wir uns selbst fremd
und verharren an der Schwelle dieser „neuen Welt, von der wir keine Vorstellung haben,
obwohl sie unser Inneres selbst bildet. Ein zentraler Begriff in der aktuellen
Neurowissenschaft ist der der Plastizität. Diese beschreibt das Gehirn in seiner Dynamik,
Organisation und Struktur, - in seiner Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit sowie
seinem Entwicklungsvermögen. Malabou spricht in diesem Zusammenhang von zwei
polaren Faktoren der Plastizität des Gehirns: der des Formschöpfers und –empfängers
sowie der des Ungehorsams gegenüber jeder geschaffenen Form – der Ablehnung, einem
Modell unterworfen zu werden. Dazu gehören einerseits die Möglichkeit der Gestaltung
durch die Erinnerung und die Fähigkeit, eine Geschichte zu formen, andererseits die – wie
mit Sicherheit festgestellt wurde – lebenslange Fähigkeit zu lernen. Unser Gehirn wird
448
Stefan Koelsch/Tom Fritz (2007) S. 258 f
Berno Odo Polzer, Vorwort. In: Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008, Saarbrücken 2008, S. 5.
Berno Odo Polzer ist künstlerische Leiter des Festivals Wien Modern
450
Lutz Jäncke (Universität Zürich), Gerold Baier (Universität Manchester), Thomas Herrmann (Universität
Bielefeld), Stefan Koelsch (Universität Sussex), Eckart Altenmüller (Hochschule für Musik und Theater
Hannover/Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin), Vittorio Gallese (Universität Parma). In
einem zweitägigen Symposium zum Thema Neue Musik im Spannungsfeld von Introspektion, Meditation und
Motorik am 3. und 4. November 2008 referierten zusätzlich u. a. Hans-Ullrich Baltzer (Wien/Berlin), Alfred
Lohninger (Wien) und Klaus Felix Laczika (Wien).
451
Cathérine Malabou, Was tun mit unserem Gehirn? Zürich-Bern 2006, S. 7 ff
449
140
ständig von unseren individuellen Erfahrungen modelliert452, - im Gegensatz zu dem, was
man bislang glaubte, sei das Gehirn nicht „fertig“, - Erziehung, Erfahrung und Schulung
machen aus jedem Gehirn ein Werk, das, sobald wir Bewusstsein darüber entwickeln
können, uns einen Freiraum, ein genetisch freies Feld eröffnet. Malabou definiert diesen
Freiraum als schwindelerregende Wechselwirkung der Formannahme, der Formgebung
und der Aufhebung der Form, die das von ihr gemeinte neue Bewusstsein charakterisiert.
Das neuronale Funktionieren sei als Ereignis in der Lage, selbst Ereignisse zu schaffen, das
Programm in ein Ereignis zu verwandeln und es auf diese Weise zu entprogrammieren.
Das allgemein fehlende Bewusstsein der Plastizität erklärt Malabou paradoxerweise durch
die Vertrautheit, die diese eben zur Form unserer Welt macht. Bezüglich dieses
Naturalisierungseffektes will sie nicht nur eine gewisse Freiheit des Gehirns aufzeigen,
sondern diese Freiheit selbst befreien, - vor allem von ideologischen Vorurteilen. Ihre
These ist, dass Plastizität in ihrer wahren Dimension heute verdunkelt bzw. mit dem in der
heutigen Gesellschaft wichtigen Begriff der Flexibilität verwechselt wird. Während
Elastizität und Anpassungsfähigkeit (auch im Sinne der Formannahme, des Gefügigseins)
beiden Begriffen zugeordnet werden können, fehlt dem Begriff der Flexibilität das
gestalterische Element, die Ressource der Formgebung, das Vermögen, etwas schaffen
oder erfinden zu können. Es gehe nicht darum, was das Gehirn erdulden, sondern darum,
was es tun könne im Sinne der Gestaltung der eigenen Geschichte im schon genannten
Freiraum. Der neuronale Mensch sei eben nicht nur eine neuronale Gegebenheit, sondern
auch eine politische und ideologische Konstruktion.
Das Wissen um die Ergebnisse neuronaler Forschung sowie das Bewusstsein der Plastizität
des Gehirns bedeute nicht zuletzt neue Verantwortung.
Bereits 1984 erschien die Untersuchung Der Baum der Erkenntnis der beiden Biologen
und Erkenntnistheorethiker Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela453. Diese
Arbeit stieß damals auch in der Musik- bzw. Kunstwelt auf großes Interesse, weil in ihr die
konventionelle Sicht der Realität bzw. der Welt ähnlich wie heute durch die Ergebnisse der
Hirnforschung (und in der Studie von Cathérine Malabou explitit gefordert) deutlich
korrigiert wurde. Ihre Kernaussage ist, dass die Welt, in der wir leben, eine Welt ist, die
452
Die Theorie der synaptischen Effizienz ermöglicht es, die zunehmende Modellierung eines Gehirns unter
dem Einfluss der Erfahrung des Individuums zu erklären. (ebda)
453
Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Bern, München 1987,
S. 260 ff
141
wir im Prozess des Erkennens gemeinsam erschaffen. Unsere Erfahrung ist mit der uns
umgebenden Welt gekoppelt, deren Regelmäßigkeiten das Ergebnis unserer biologischen
und sozialen Geschichte sind. Wenn irgendeine Interaktion uns aus dem Lot bringt – wenn
wir zum Beispiel plötzlich in eine andere kulturelle Umgebung versetzt werden – und wir
darüber reflektieren, dann bringen wir neue Konstellationen von Relationen hervor und
erklären damit, dass wir „ihrer vorher nicht bewußt gewesen“ seien oder sie für
„selbstverständlich“ gehalten hätten. ... Tradition ist nicht nur eine Weise zu sehen und zu
handeln, sondern auch eine Weise zu verbergen.
In ihrer Zusammenfassung betonen die Autoren, dass die Erkenntnis der Erkenntnis
verpflichte. Sie verpflichte uns zu einer Haltung ständiger Wachsamkeit gegenüber der
Versuchung der Gewissheit. Sie verpflichte uns, einzusehen, dass unsere Gewissheiten
keine Beweise der Wahrheit seien, dass die Welt, die jeder sieht, nicht die Welt sei,
sondern eine Welt, die wir mit anderen hervorbringen.
In den Yoga-Upanisads aus dem 8. Jahrhundert nach Christus, von denen man aber
annimmt, dass ihr Inhalt bereits zehn Jahrhunderte früher formuliert wurde, befindet sich
das wahrscheinlich älteste Dokument eines Yoga des Klanges. Das ist eine Form des Yoga,
in der die Konzentration auf den Klang im Mittelpunkt steht. Dabei handelt es sich um
Klänge, die der Übende im Inneren seines Körpers wahr nimmt bzw. um auditive
Phänomene, die gewisse Yoga Übungen begleiten. Im Nadabindu-Upanisad wird dieser
Prozess als ein Hören von elf verschiedenen, jeweils graduell immer feiner werdenden
inneren Klängen beschrieben454. In der Arbeit des Neurowissenschaftlers Gerold Baier gibt
es dazu eine Parallele.
2.3.1.3 Hören, Rhythmus
Er schlägt vor, ergänzend zu den Bild gebenden Methoden der Veranschaulichung, die in
der Naturwissenschaft zurzeit dominieren, die Dimension des Hörens in den
Naturwissenschaften wiederzubeleben, speziell in den Wissenschaften von den
Erkrankungen des menschlichen Körpers. Untersuchungsmethoden, die das Hören
miteinbeziehen, hat es durchaus gegeben, etwa das von Leopold Auenbrugger (1722-1809)
entwickelte Beklopfen der menschlichen Brust bzw. das Hören des so erzeugten Klanges,
454
Guy L. Beck (1995) S. 92 f (beschrieben als Klänge wie: Meer, Wolke, Trommel, Wasserfall, kleine
Trommel, große Glocke, Militärtrommel, kleine Glocke, Bambusflöte, Harfe, Biene)
142
oder die von René Théophile Hyacinthe Laënnec (1781-1826) entwickelten Methoden des
Abhörens körpereigener Geräusche mittels seines Ohrs bzw. eines Papier- oder
Holzzylinders. Seit der Entwicklung des Stethoskops war das wissenschaftliche Hören
integraler Bestandteil der Medizin. Eine Schwierigkeit war (und ist es noch heute) die
nachvollziehbare Beschreibung des Gehörten. Es gab keine gemeinsame akzeptierte
Sprache dafür. Seit pathologische Anatomie und Radiologie visuelle Dokumente lieferten,
wurde das Hören nach und nach durch das Sehen abgelöst455. In seiner Studie Rhythmus456
untersucht Gerold Baier die rhythmisch-musikalische Qualität vieler Vorgänge im
menschlichen Körper457. Hinter dem Entstehen von einfachen und komplexen Rhythmen
im Körper bzw. in der Natur vermutet er universelle Gesetzmäßigkeit. Er stellt
rhythmische Phänomene nicht nur im Herzschlag fest, sondern auch in den
Funktionsabläufen der Hormone und der Nervenzellen sowie in der Arbeit des Gehirns.
Von einer klanganimierten Physiologie, einem hörbaren Stoffwechsel bzw. einer
musikalischen Erfahrung von bisher klanglosen oder ungehörten Vorgängen im
menschlichen Körper erwartet Baier medizinischen Nutzen458, doch ist sein Ansatz des
hörenden und nach musikalischen Kriterien ausgerichteten Untersuchens eine
grundsätzliche Interpretation des menschlichen Körpers459.
Das elementare Ereignis der Verarbeitung von Information im Gehirn ist das Feuern einer
Nervenzelle. Die Verarbeitung ist die Wiederholung dieses Feuerns. Diese Ereignisse
gleichen einander insofern, als alle Spikes460 einer Nervenzelle dieselbe Form und nicht
mehr als ein Bit Information haben können. Deshalb nimmt Baier an, dass die zeitliche
Struktur der Spikes der Schlüssel zur Arbeit des Gehirns sein müsse. So antwortet die Zelle
455
Gerold Baier, Der Naturforscher als Hörer. In: Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008,
Saarbrücken 2008, S. 19 ff
456
Gerold Baier, Rhythmus. Tanz in Körper und Gerhirn. Hamburg 2001. bereits Ludwig Klages weist auf
die Wirksamkeit eines Pulses bis hinauf in die Höhenschichten des menschlichen Geistes als Grund der
gestalteten Offenbarung des Lebens hin. Ludwig Klages (1968) S. 219. An anderer Stelle schreibt er: Das
gesamte erscheinende Weltall ist ein rhythmischer Sachverhalt. Die Naturwissenschaft hat richtig
herausgefunden, wenn auch schwerlich schon recht verstanden, die rhythmische Natur von Schall, Wärme,
Elektrizität und Licht. Ebda S. 158
457
Bereits Mitte des 19.Jahrhunderts waren die Mikro-Schwingungen des menschlichen Körpers bevorzugtes
Untersuchungsfeld der Physiologen und Physiker. Vgl. Siegfried Zielinsky (2002) S. 237
458
Entsprechend dem Aphorismus von Friedrich von Hardenberg (Novalis), wonach jede Krankheit ein
musicalisches Problem sei, sieht Baier in der Berücksichtigung bzw. Korrektur der physiologischen
Rhythmen Möglichkeiten der Diagnose und der Therapie. In: Gerold Baier (2001) S. 252 f
459
Karlheinz Stockhausen erkennt ebenfalls in den Rhythmen des menschlichen Körpers (Muskeln, Herz,
Atmung) die Basis zumindest der Musik der Vergangenheit. Er selbst verlasse aber bewusst die Rhythmen
seines Körpers. Die Pulse in Teilen seiner Werke bewegen sich im Bereich der Alpha-Wellen, - für ihn eine
Art Grauzone zwischen zwei Wahrnehmungsbereichen, zwischen Rhythmus und Tonhöhe. (Aus einem
Gespräch David Pauls mit Karlheinz Stockhausen 1997. In: Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008.
Saarbrücken 2008, S. 72)
460
markante Spitzen
143
auf unregelmäßigen Input mit einem zuverlässigen und reproduzierbaren Rhythmus.
Offenbar verschlüsseln Nerven im Gehirn nur einen simplen Input (den konstanten Strom)
in eine mittlere Feuerrate. Wenn fast keine Information zu übertragen ist, brauchen auch
keine komplexen Rhythmen bemüht zu werden. Einen komplizierteren (und potenziell
informationsreichen) Input dagegen verarbeiten sie zu einer im Detail exakt
wiederholbaren Folge von Spikes461. In diesem Zusammenhang liefert Baier auch
Interpretationsmodelle für unregelmäßige und komplexe rhythmische Vorgänge, wobei er
die Gesetzmäßigkeit vor allem dort, wo man Zufall vermuten würde, unterstreicht.
Nicht nur die körperinternen Prozesse haben nach Baiers Ansicht rhythmisch-musikalische
Dimension, auch an den Schnittstellen zur Außenwelt gibt es diese Bezüge. Das Ohr ist das
Sinnesorgan, das am stärksten auf die Wahrnehmung zeitlicher Vorgänge spezialisiert ist.
Dabei ist die eigentliche Schnittstelle, an der die Schwingungen der Luft in für das Gehirn
interpretierbare Informationen umgewandelt werden, das Innenohr. Das Trommelfell folgt
den Luftdruckschwankungen zunächst passiv, seine Schwingungen werden in wandernde
Wellen verwandelt462, welche elektrische Signale auslösen, durch die schließlich die
Nervenzellen zum Feuern gereizt werden. Nicht geklärt ist, warum viele Nervenzellen der
beiden Gehörnervenbündel auch ohne akustische Reizung des Ohrs feuern. Die weitere
Tatsache, dass nicht nur Nerven vom Innenohr wegführen, sondern auch Nerven vom
Gehirn ins Innenohr führen, legt die Vermutung nahe, dass das Innenohr nicht nur den
Schall originalgetreu in Signale für das Gehirn überträgt, sondern aktiv am Hörvorgang
teilnimmt. Damit sei die technische Voraussetzung für eine Vorbereitung auf Frequenzen
bzw. eine Vorauswahl gegeben, - eine Möglichkeit für das Gehirn, nicht nur zu hören,
sondern gleichzeitig mitzubestimmen, was es hören will - und was nicht463.
Für die Spracherkennung, die das Gehirn leistet, sind die rhythmischen Elemente unserer
Sprachen wesentlich. Es wird vermutet, dass der natürliche Verlauf der Sprache einer
rhythmischen Logik folgt. Baier sieht in der Sprache den vorläufigen Höhepunkt
kommunikativer rhythmischer Komplexität. Sprache als Kombination von
Schallerzeugung und der Aktivität des Gehirns zu einem einzigartigen Kreislauf von
Rhythmen im Dienste der Verständigung wäre ohne das Gehör nicht möglich464.
461
Gerold Baier (2001) S. 188 ff
Diese Verwandlung von Frequenzen in lokalisierbare Bewegungen der so genannten Basilarmembran
wurde in den Vierziger Jahren durch Georg von Békésy entdeckt. Vgl. Gerold Baier (2001) S. 150
463
Gerold Baier (2001) S. 153 f
464
Gerold Baier (2001) S. 163
462
144
Grundsätzlich betont Baier die Verbindung des Rhythmus mit Bewegung schlechthin und
vermutet, dass Rhythmen in der Evolution zuerst mit dem Gleichgewichtsorgan
wahrgenommen wurden. Der Gehörsinn, der sich aus dem schallempfindlichen
Gleichgewichtsorgan entwickelt haben soll, hat ebenso mit Bewegung zu tun, wie auch alle
anderen rhythmisch interpretierbaren Vorgänge im menschlichen Körper.
2.3.1.4 Neuroplastizität
Der Neurowissenschaftler Eckart Altenmüller, der auch ausgebildeter Musiker ist,
beschäftigt sich mit der schon erwähnten Plastizität im Zusammenhang mit dem
Musizieren, im Speziellen im bezüglich seiner Erfahrungen als Musiker mit der Musik des
britischen Komponisten Brian Ferneyhoughs. Er beschreibt das Musikzieren als eine der
anspruchsvollsten Leistungen des menschlichen Zentralnervensystems. Die neuronalen
Grundlagen dieses komplexen Vorganges465 sind zwar erst ansatzweise erforscht, klar sei
aber bereits, dass während dem Musizieren fast alle Gehirnareale beansprucht und
miteinander vernetzt werden. Voraussetzung für derart vielschichtige
Informationsverarbeitungsprozesse ist das Üben, durch das die sensomotorischen,
auditiven und visuell integrativen Fertigkeiten erworben werden. Zusätzlich werden
Gedächtnissysteme angelegt und strukturell analytisches wie expressiv emotionales
Musizieren geübt. Das intensive Erarbeiten neuer Spieltechniken stelle einen starken
Anreiz für plastische Veränderungen des Zentralnervensystems dar. Der Begriff
Neuroplastizität bezeichnet die funktionelle und strukturelle Anpassung des
Nervensystems an Spezialanforderungen. Plastische Anpassungen466 treten dann auf, wenn
relevante und komplexe Reize über einen längeren Zeitraum womöglich unter Zeitdruck
verarbeitet werden müssen und wenn der verarbeitende Organismus hoch motiviert ist
(was mit der Ausschüttung von Glückshormonen einhergehen kann). Diese Anpassungen
465
dazu gehören die koordinierte Aktivierung zahlreicher Muskelgruppen mit höchster zeitlicher und
räumlicher Präzision sowie mit hoher Geschwindigkeit, die ständige Kontrolle durch das Gehör, durch den
Gesichtssinn und durch die Körpereigenwahrnehmung. Die an die Muskulatur vermittelte Kraftdosierung
muss bis in die kleinste Nuance berechnet werden, - dabei handelt es sich um sehr große Mengen an
Information von Millionen Sinneszellen der Haut, der Gelenke, Sehnen und Muskelspindeln, der Augen und
des Gehörs, die ausgewertet und in die Planung der neuen Bewegungen miteinbezogen werden. Dazu kommt,
dass das Ziel nicht nur eine mathematisch präzise Wiedergabe ist, sondern ein durch Affekt modulierter
„sprechender“ Vortrag. Aus: Eckart Altenmüller, Brian’s Brain: Zur Neurophysiologie der hyperkomplexen
Musik von Brian Ferneyhough. In: Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008, Saarbrücken 2008, S. 45
466
Dabei handelt es sich um rasche Veränderungen der Signalübertragung an den Nervenendköpfchen
(Synapsen), im Wachstum von Synapsen und Nervenzellfortsätzen (Dendriten), eine verstärkte Bemarkung
der Nervenzellfortsätze mit Beschleunigung der neuronalen Signalübertragung, die Vergrößerung der großen
Faserverbindung zwischen den beiden Gehirnhälften, die Ausweitung sensomotorischer Regionen usw. Vgl.
Eckart Altenmüller (2008) S. 46
145
sind in jedem Lebensalter möglich und begleiten kurz- und langfristige Lernvorgänge. Das
Musizieren formt also das Gehirn, und das bei Musikern oft schon seit frühem Kindesalter.
Diese plastischen Anpassungsprozesse im Zentralnervensystem betreffen aber nicht nur
Spitzenmusiker. Auch nach kurzer Übezeit eines Anfängers lassen sich zusätzliche mentale
Repräsentationen nachweisen.
Altenmüller zeigt, dass auch die Wahrnehmung von Musik - das Hören – durch Anpassung
und Übung veränderbar ist, - die Plastizität der Musikwahrnehmung sei schon nach
wenigen Stunden nachweisbar.
Der Hörvorgang ist in seiner Komplexität in Bezug auf neuronale Prozesse heute sehr
genau beschreibbar467. Altenmüller betont, dass der Hörvorgang kein passives Empfangen
von Sinneseindrücken ist, sondern dass die Hirnrinde und untergeordnete Zentren aktiv
Einfluss auf eingehende Informationen nehmen. Das Gehirn erst ordnet die (chaotische)
Fülle an akustischer Information, versucht Gestalten zu erkennen und Strukturen zu bilden
(Top-down-Prozessing). Ungewohnte, neue Klänge, kann das Gehirn zunächst nicht
einordnen, - es braucht Zeit, bis es genügend Anhaltspunkte für eine entsprechende
Kategorisierung gesammelt hat. Jedes Hören ist also auch Gehörbildung468.
Wohl in Zusammenhang mit den von Altenmüller beschriebenen komplizierten
Analysevorgängen hat der Hörsinn im Vergleich zu allen anderen Sinnen die größte
Plastizität. Ein weiterer Punkt, den Altenmüller erwähnt, weist auf Sonderstellung des
Hörens in Bezug auf unsere aktive Wahrnehmung der Welt hin: Das Ohr ist das
Sinnesorgan mit den wenigsten Sinneszellen. Den insgesamt etwa 7000 inneren Haarzellen
stehen 100 Milliarden zentraler Neurone im zentralen Nervensystem zur Verfügung, das
sind pro Sinneszelle etwa 14 Millionen Nervenzellen. Das menschliche Gehirn muss einen
ungeheuren Aufwand treiben, um aus der extrem spärlichen Information, die vom Innenohr
kommt, all die ungeheuren Details der auditorischen Wahrnehmung zu erzeugen, die etwa
beim Sprachverstehen oder bei der Musikwahrnehmung vorliegen. Je ‚dürftiger’ aber ein
von der Peripherie kommendes Signal ist, desto mehr Aufwand müssen die Gehirnzellen
treiben, um diesen Signalen eine eindeutige Bedeutung zuzuweisen. Diese
467
Vgl. Eckart Altenmüller (2008) S. 47 (Altenmüller beschreibt hier sehr genau die Hörbahn durch die
verschiedenen Umschaltstationen, - u. a. auch den Gating-Effekt bekannten Mechanismus, der die Auswahl
bzw. Unterdrückung von Informationen ermöglicht, sowie auch von der so genannten hierarchischen
Verarbeitungsweise, die Form der aufeinander aufbauenden zunehmend komplexeren Analyse akustischer
Muster.)
468
Eckart Altenmüller (2008) S. 48
146
Bedeutungszuweisung ist dann hochgradig erfahrungsabhängig469. Das Hören ist also ein
aktiver, strukturierender, Bedeutung erzeugender Prozess, an dem Ohr und Gehirn in
Wechselwirkung die Hörempfindung hervorbringen. Unsere Hörwelt ist eine auf der Basis
unserer Erfahrung konstruierte.
In Bezug auf das Hören neuer, komplexer Musik zitiert Altenmüller einen Satz Brian
Ferneyhoughs aus dessen Collected Writings: It is up to each listener to unravel the
numerous „clues“ offered and, via a process of archaeological speculation to reconstruct
the work in his or her image470.
Es ist die quasi verschwenderische Fülle eines Angebotes and den Hörer, die diesen zu
einer archäologischen Suchbewegung verführt und mit der aktiven Auseinandersetzung
spekuliert. Das beobachtende Wahrnehmen wird im Gehirn der Zuhörer dieselben
neuronalen Netzwerke anwerfen, die beim Interpreten in wilder Aktion sind. Durch diese
Aktivierung des Spiegelneuron471-Netzwerks werden die Zuhörenden zu empathischen
Mitschöpfern472.
Spiegelneuronen sind an entscheidenden Aspekten der Intersubjektivität wie etwa am
Verständnis der Basisintentionen eines Gegenübers beteiligt. Bei der Beobachtung von
Verhaltensweisen anderer kann der intentionale Gehalt direkt verstanden werden. Diese
Art innerlicher motorischer Simulation erlaubt es quasi, in die Welt des anderen
vorzudringen, - ist eine direkte Verbindung zwischen Handelndem und Beobachter, Verstehen bedeutet Simulieren. Je empathischer wir sind, desto größer ist die unbewusste
Resonanz unserer Muskeln mit denen einer Person, die mit ihrer eigenen Mimik eine
gegebene Emotion ausdrückt (verkörperte Simulation). Die Emotion des anderen wird vom
Beobachter erfahren und verstanden durch einen verkörperten Simulationsmechanismus,
der im Beobachter einen viszero-motorischen und somato-muskulären Zustand erzeugt,
469
Gerhard Roth, Das Gehrin und seine Wirklichkeit. Frankfurt am Main 1995, S. 111 f, zitiert nach Eckart
Altenmüller (2008) S. 48
470
Brian Ferneyhough, Collected Writings. Taylor and Francis 1997, zitiert nach Eckart Altenmüller (2008)
S. 48. Auch die übrigen von Altenmüller in diesem Zusammenhang angeführten Zitate Brian Ferneyhoughs
sind erwähnenswert:
Performers are no longer expected to function solely as optimally efficient reproducers of imaged sounds;
they were also themselves ‚resonators’ in and though which the initial impetus provides by the score is
amplified and modulated in the most varied ways imaginable. (Collected Writings. Taylor and Francis 1997,
S. 100)
...the layerwise accretional means of composition I employ allow for an „archaeological“ approach to
listening, and encourage the speculative ear to create its own categories of perception. (Collected Writings.
Taylor and Francis 1997, S. 133)
471
Spiegelneuronen sind Nervenzellen, die im Gehirn während der Betrachtung eines Vorgangs die gleichen
Potenziale auslösen, wie sie entstünden, wenn dieser Vorgang nicht nur passiv betrachtet, sondern aktiv
gestaltet würde. (Vgl. Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008, Saarbrücken 2008, S. 63
472
Eckart Altenmüller (2008) S. 48
147
den er mit dem Darsteller dieses Ausdrucks gemeinsam hat. Es ist eben diese Anteilnahme
an derselben körperlichen Verfassung von Beobachter und Beobachtetem, der diese Form
des Verständnisses gestattet, die wir als „Empathie“ definieren könnten. ... Unsere
Fähigkeit, die handelnden Körper als „Selbst wie wir (Selbst)“ wahrzunehmen, hängt von
der Bildung eines bedeutsamen und miteinander geteilten „wir“-bezogenen Raumes ab.
...ein spezifischer Mechanismus, mit dem unser Körper-Geist-System seine Interaktion mit
der Welt modelliert473.
2.3.1.5 Chronomedizin
Klaus-Felix Laczika bezieht sich auf den Satz von Novalis, nachdem jede Krankheit ein
musikalisches Problem, jede Heilung ihre musikalische Auflösung sei474, wenn er von den
chronobiologischen Rhythmen im menschlichen Körper schreibt: Gesundheit bedeutet ein
harmonisches Verhältnis sämtlicher biologischer Rhythmen vom Millisekundenbereich der
Hirnstromschwingungen über Herzfrequenz und Atmung bis zu reproduktiven Monatsrhythmen. Diese chronobiologischen Rhythmen schwingen im Idealfall in ganzzahligen
Verhältnissen zueinander, vergleichbar dem musikalischen Obertonspektrum oder auch
Planeten-Umlaufbahnen. Entlang dieser medizinischen Erkenntnisse stellt er fest, dass
jedes Krankheitsbild mit einer Desynchronisation dieser Verhältnisse im Sinne einer
Dissonanz der vegetativen Harmonien einhergeht475.
2007 wurde an der Universität Wien – basierend auf diesen Überlegungen – die Initiative
Musikmedizin/Musiktherapie“ gegründet. Die in Zusammenarbeit mit den Wiener Philharmonikern und der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien eingerichtete
interdisziplinäre Plattform bemüht sich unter anderem um Einsichten in die Wirkung von
Musik mittels interdisziplinärer universitärer Grundlagenforschung. Im Rahmen dieser
Forschung wurden auch Mitglieder der Wiener Philharmoniker während Konzerten
vermessen. Diese Messungen ergaben eindeutige Effekte von Musik auf menschliche
Befindlichkeit und Biorhythmen. Das Ziel ist, Musik als effektive Therapie in die Medizin
473
Vittoria Gallese, Mimesis und Neurowissenschaften: Der Körper des Theaters. In: Berno Odo Polzer
(Hsg.), Wien Modern 2008, Saarbrücken 2008, S. 51 ff
474
Novalis/Friedrich von Hardenberg, Fragmente I. 1957, S. 149. Vgl. auch die Auffassung Franz Anton
Mesmers, dass jede Krankheit auf einer Störung im Fluss dieses Lebensfeuers durch den Organismus beruht,
die durch Magnetisieren behoben werden kann. Vgl. Karl Baier (2009) S. 187
475
Klaus-Felix Laczika/Alfred Lohninger, Musikmedizinische Forschung an der Medizinischen Universität
Wien. Aus: http://www.meduniwien.ac.at/innere-med-1/_images/philharmonikerprojekt.pdf (16. 03. 2009), Vortrag beim 2. Internationalen Kongress der interdisziplinären Musikforschung Mozart&Science. Wien,
November 2008, S. 2
148
zu integrieren. Diese ersten Schritte wurden vom Chronomediziner Alfred Lohninger
begleitet, der die ersten Ergebnisse im Rahmen des Festivals Wien Modern 2008476
präsentierte. Lohninger arbeitete mit der so genannten Herzratenvariabilität (HRV). Diese
meint die fein abgestimmten Variationen der Herzschlagfolge, womit das gesunde Herz auf
alle äußeren wie inneren Signale unmittelbar und ununterbrochen reagiert. Mit der HRV
wird also die Fähigkeit des Herzens, den zeitlichen Abstand von einem Herzschlag zum
nächsten stetig zu verändern, beschrieben und ist damit ein Maß für die allgemeine
Anpassungsfähigkeit eines Organismus. Das Autonome Nervensystem steuert das
Beschleunigen und Entschleunigen durch Aktivieren des Sympathikus und des
Parasymphatikus. Während eines Konzerts wurde die Herzratenvariabilität der Musiker
sowie einiger Zuhörer mittels eines mobilen EKG-Gerätes gemessen. Die Auswertung der
Diagramme ergab eindeutige Synchronisationen, Ordnung und Kohärenz während des
Konzerts. Die Faszination liegt in der Tatsache, dass Puls und Atem aller Beteiligten exakt
demjenigen des musikalischen Energieablaufs unterliegen, welcher von Mozart in KV 449
im Jahre 1784 erschaffen wurde477.
Das in den letzten Jahren steigende Angebot an alternativen Heilmethoden mit musikalischen Mitteln dürfte ein Ausdruck dieser genannten Auffassung und Entwicklung sein.
2.3.1.6 Musik-Kinesiologie und Klangtherapie
Erwähnen will ich hier die so genannte Musik-Kinesiologie sowie die Klangtherapie oder
Klangmassage. Die Musik-Kinesiologie wurde von Rosina Sonnenschmidt und Harald
Knauss Anfang der 90er Jahre begründet. Ihr zugrunde liegt die Kinesiologie (Lehre von
der Bewegung), eine inzwischen etablierte alternativmedizinische bioenergetische
Diagnose- und Therapieform, die den Menschen als Einheit von Körper, Geist und Seele
sieht. Sie nutzt die Kenntnisse der Gehirn- und Stressforschung sowie die der
Traditionellen Chinesischen Medizin bezüglich der feinstofflichen Energiemeridiane mit
dem Ziel, die mentale, emotionale und körperliche Ebene des Menschen in Balance zu
bringen478.
476
Alfred Lohninger, Befindlichkeitsdiagnostik und Resonanzphänomene in der Interaktion zwischen
Musikern und Publikum. Vortrag, gehalten am 04. 11. 2008 im Rahmen des Symposiums Neue Musik im
Spannungsfeld von Introspektion, Meditation und Motorik (Universität für Musik und darstellende Kunst in
Wien in Zusammenarbeit mit Wien Modern).
477
Klaus-Felix Laczika/Alfred Lohninger (2008) S. 7
478
Vgl. http://www.musikkinesiologie-berlin.com/kinesiologie_1.html (28. 05. 2009)
149
Die Musik-Kinesiologie, deren Begründer übrigens beide auch Berufsmusiker sind,
beschäftigt sich einerseits mit Problemen von Profimusikern bzw. Künstlern (wie etwa
Stresssituatonen und Lampenfieber479) und versucht, das kreative Potential sowie Inspiration und Ausstrahlung zu stärken. Andererseits nützt sie die heilsame Wirkung von
Musik (Klänge von Musikinstrumenten, Stimme usw.). Sie versteht sich als Mittlerin zwischen dem Musiker und seiner Spiritualität. Nach Meinung der Musik-Kinesiologen seien
die professionellen Musiker heute so stark mit den technischen Aspekten der Musik, mit
Karriere und Management beschäftigt, dass ihnen dieser spirituelle und heilende Aspekt
ihres Berufes nicht bewusst wird. Dies gelte auch für Musikpädagogen, die mit einer Realität konfroniert sind, in der Musik zum Hochleistungssport und zur Massenware geworden
sei. Hauptanliegen sei es also, die verlorene Verbindung zwischen Musik, Emotion und
Individuum wieder herzustellen. Das Konzept der Musik-Kinesiologie beinhalte vor allem
die Arbeit mit der energetischen Wirkung der Musik auf den Menschen in Hinblick auf
persönliche Entwicklung und Heilung. In der traditionellen Ausbildung gehe es vor allem
um Leistung, welche Druck – kinesiologisch ausgedrückt Blockaden erzeuge. Blockaden
wiederum behindern den freien Fluss der Lebensenergie. Im Zusammenhang der ganzheitlichen Betrachtung des Menschen gehe es gleichermaßen darum, auch eine ganzheitliche
Auffassung von der Musik zurückzugewinnen, wobei die Aktivierung der rechten Gehirnhälfte und die Auflösung von zentralen negativen Glaubenssätzen eine wichtige Rolle
spielen. Seit dem Jahr 2000 gibt es eine Musik-Kinesiologie-Ausbildung in Österreich480.
Die so genannte Klangtherapie arbeitet mit Klangschalen, deren Ursprung das HimalayaGebiet ist, wo sie seit mehr als 5000 Jahren kultischen Zwecken dienen. Nach der Vorstellung der Klangtherapie bewegen die Vibrationen dieser aus Metall hergestellten
Schalen unterschiedlicher Größe und unterschiedlichen Klangvolumens das Wasser im
Körper. Auf den Körper aufgesetzt und angeschlagen, bewirken die Klangschalen das
Mitschwingen der Körperzellen, welche so den Fluss der Energie gewährleisten. Zudem
rege der obertonreiche Klang den feinstofflichen Energiekörper, die Aura an, - schließlich
zeitige er auch einen bewusstseinserweiternden Effekt. Das Wissen von der heilenden,
energetisierenden Wirkung obertonreicher Klänge sei uralt. Die Klangtherapie beruft sich
479
In der Musik-Kinesiologie bedeutet Lampenfieber nichts anderes, als dass der Künstler auf der Bühne
nicht 100% Energie zur Verfügung, hat für den künstlerischen Ausdruck. Er ist blockiert und braucht
Energie, um sich energetisch im Gleichgewicht zu halten
480
http://www.musikkinesiologie.at/content/view/30/52/lang,de/ (28. 05. 2009), vgl. auch Rosina
Sonnenschmidt/Harald Knauss, Musik-Kinesiologie – Kreativität ohne Stress im Musikerberuf.
Kirchzarten 1994
150
u. a. auf die Forschungen des französischen Arztes Alfred Tomatis481 Tomatis arbeitete auf
dem Gebiet der Audiologie, Phonologie und Psychologie. Sein 1957-1960 in Paris publizierter Tomatis-Effekt bezieht sich auf die kybernetischen Mechanismen zwischen Stimme
und Ohr482.
2.3.2 Kommunikologie
Kommunikologie nannte der Kommunikationswissenschaftler, Philosoph und
Medientheoretiker Vilém Flusser483 seine im Zentrum seines Denkens stehende Theorie
der menschlichen Kommunikation. Kommt man überein, die Musik als Teil der
menschlichen Kommunikation, in jedem Fall aber der menschlichen Kultur zu sehen, sind
die Thesen Vilém Flussers auch für den Bereich der Musik relevant. Es sind dies Modelle,
die auch das heutige Kommunikations- bzw. Konsumverhalten im Bereich der Musik
abbilden können.
Sein Denkgebäude entwickelt er aus der Grundthese, dass die menschliche
Kommunikation bzw. die menschliche Kultur ein Kunstgriff sei, dessen Absicht es ist, dem
von Natur aus einsamen Menschen die brutale Sinnlosigkeit eines zum Tode verurteilten
Lebens vergessen zu lassen. Diese webe einen Schleier der kodifizierten Welt, einen
Schleier aus Kunst und Wissenschaft, Philosophie und Religion um uns und webt ihn
immer dichter, damit wir unsere eigene Einsamkeit und unseren Tod, und auch den Tod
derer, die wir lieben, vergessen484. An anderer Stelle spricht er von einer aus Codes
gewobenen Hülle, mit der sich der Mensch umgibt. Diese seine Kultur sei dem Wesen
nach dialektisch, weil sie zwischen Welt und Mensch vermittle und ihn gleichzeitig
abschirme485. Ein wesentlicher Aspekt der Kommunikation sei nicht nur die absichtliche
Herstellung von Codes, sondern auch die Übertragung von erworbener Information von
481
http://www.ein-klang-sein.at/le_klang.htm (28. 05. 2009) und
http://www.klangschale.at/klangmassage.php (28. 05. 2009)
482
Vgl. http://www.tomatis-institut.at/app.html (29. 05. 2009)
483
Vilém Flusser, geboren 1920 in Prag, 1939 Emigration über London nach São Paulo, 1959 Dozent für
Wissenschaftsphilosophie, 1963 Professor für Kommunikationsphilosophie an der Universität São Paulo,
gestorben 1991. Aus: Vilém Flusser, Kommunikologie. Frankfurt am Main 1998, S. 2
484
Vilém Flusser (1996) S. 10. der Künstler Damien Hirst beschreibt diesen Umsand verblüffend ähnlich: Ich
glaube, die zeitgenössische Kunst ist ein Mythos. Es ist wie in der Mode, es hat in der Kunst immer nur eine
einzige Idee gegeben, und alle großen Künste nehmen sie sich vor, und man muss über die Mode
hinausschauen, um das zu erkennen...- Die Frage nach der Existenz des Todes? – Ganz genau, Gauguins alte
Frage. Aus: Damien Hirst in Conversation with Hilario Galguera, in: Damien Hirst/Hilario Galguera,
Damien Hirst. The Death of God. Towards a better Understanding of Life Without God Aboard the Ship of
Fools. Ausstellungskatalog, London 2006, S. 11
485
Vilém Flusser (1996) S. 74. Dieses Bild der Hülle lässt an die Porentheorie des Empedokles denken. Vgl
Kapitel 4.1
151
Generation zu Generation sowie das Speichern dieser. Kommunikation scheint Flusser als
der Versuch, die Natur – auch die des Menschen selbst - zu leugnen486. In de Folge
unterscheidet Flusser zwischen dialogischer und diskursiver Kommunikationsstruktur. In
Dialogen werden bestehende Informationen ausgetauscht, um aus diesem Austausch neue
Information zu gewinnen. In Diskursen werden bestehende Informationen verteilt, um
diese unverändert zu bewahren. Das Verhältnis zwischen Dialogen und Diskursen sollte,
um das genannte Ziel der Kommunikation zu erreichen, ausgewogen sein. Sollte - wie es
heute geschieht – der Diskurs vorherrschen, fühlen sich die Menschen trotz ständiger
Verbindung zu den Informationsquellen einsam. Aus dieser Unterscheidung ergeben sich
auch unterschiedliche Geschichtsperspektiven von dialogischen (revolutionären) und
diskursiven (imperialistischen) Perioden.
Innerhalb der genannten Kommunikationsformen unterscheidet Flusser Theaterdiskurse,
Pyramidendiskurse, Baumdiskurse und Amphitheaterdiskurse, sowie Kreis- und
Netzdialoge. Für unsere Zeit sind die Amphitheaterdiskurse symptomatisch, die die so
genannten Massenmedien wie Presse, Fernsehen, Plakatwerbung usw. repräsentieren. Die
Empfänger sind die strukturlosen Gedächtnisse einer Masse, die von den empfangenen
Informationen programmiert werden. Die Sender sind Gebilde aus Menschen und
kybernetischen Gedächtnissen wie Diskotheken, Videotheken, Bibliotheken und Rechnern,
die die Empfänger in Informationskonserven verwandeln487.
Dialoge hingegen betreffen das Problem des Neuen, des schöpferischen Aktes, auch der
Synthese und Dialektik. Dialoge seien deswegen schwierige Kommunikationsformen, weil
sie im Unterschied zu den Diskursen auf Konflikten beruhen, seien aber gerade aus diesem
Grund wertvoll. Der so genannte Kreisdialog ist für Flusser überhaupt eine der höchsten
Kommunikationsformen, zu denen der Mensch fähig ist. Die Situation am Ende des
20. Jahrhunderts beschreibt Flusser in Hinblick auf die genannten Strukturen die
Krisenhaftigkeit der Theater- und Kreisdialoge, die – in den musikalischen Bereich
übertragen – für Konzert und Ensemblespiel stehen können. Charakteristisch ist die
Synchronisation von hoch entwickelten Amphitheaterdiskursen (Massenmedien) mit
immer besser bearbeitbaren, jedoch archaisch gebliebenen Netzdialogen (die Basis aller
Kommunikation in Form von Gerede, Plauderei usw.) – in diesem Sinn Entpolitisierung
mit totalitärem Charakter. Die bürgerliche Familie (Theaterdiskurs), in der ein
486
487
Vilém Flusser (1996) S. 13
Vilém Flusser (1996) S. 28
152
verantwortliches Weitertragen von Werten noch garantiert war, habe den Einbruch der
Massenmedien nicht überlebt488.
Historisch betrachtet erkennt Flusser Parallelen zwischen der gegenwärtigen Situation und
der Zeit der Erfindung des Buchdrucks, der die gesprochenen Sprachen durch die nun
mögliche Verbreitung des alphabetischen Codes problematisch werden ließ. Die Folge war
die Schaffung von leicht erlernbaren künstlichen Sprachen, die im Zuge der Verbreitung
der gedruckten Texte zu gesprochenen Sprachen und sogar Umgangssprachen wurden. Das
hatte zur Folge, dass seit der Erfindung des Buchdrucks und deutlicher seit der Einführung
der allgemeinen Schulpflicht, die Menschen eine Schriftsprache erlernten, um sprechen zu
können, dass sie eigentlich nicht mehr im ursprünglichen Sinn sprachen, sondern
unsichtbare Texte vorlasen. Die Menschen wurden linear und alphabetisch programmiert
und gewannen so erst ein historisches Bewusstsein, das bisher der alphabetisierten Elite
vorbehalten war489 und das sie gegen das magische Bewusstsein eintauschten. Heute
erleben, erkennen und werten wir die Welt hauptsächlich durch die Kategorien der
alphabetischen Codes, welche samt den Werten der alphabetisch verschlüsselten Texte
allmählich ihre Gültigkeit verlieren. Flusser datiert den Beginn dieser Entwicklung bereits
mit der Mitte des 19. Jahrhunderts490. Seitdem werden die Erzählungen und Erklärungen,
Auseinandersetzungen und Auseinanderfaltungen der die Menschen umgebende Texte für
diese immer unvorstellbarer. Je komplexer diese Texte werden, umso weniger ist es
möglich, daraus ein Bild der Welt zu generieren. Ursprünglich als ein Code entworfen, der
Bilder erzählt und erklärt, ist das Alphabet in einem Stadium, in dem es diese Bilder
verstellt und die Welt dadurch immer unvorstellbarer wird, je mehr sie erklärt wird.
Parallel zu dieser Entwicklung wurden Bilder erfunden, welche es ermöglichen, Texte
vorstellbar zu machen, - die so genannten Technobilder, die mit den voralphabetischen
Bildern nichts gemeinsam haben. Während der Mensch mit diesen versuchte, sich ein Bild
von der Welt zu machen, wird mit den Technobildern versucht, sich ein Bild von den
Begriffen zu machen, - diese bedeuten also nicht mehr die Welt, sondern Texte. Für
Flusser ist die Erfindung der Fotografie das umwälzende Ereignis dieser Epoche, die er mit
der Erfindung des Buchdrucks vergleicht. Obwohl die Texte dichter als je zuvor sind, sind
sie für die kodifizierte Welt nicht länger charakteristisch, - die Fotos, Fernsehschirme und
488
Vilém Flusser (1996) S. 41
Vilém Flusser (1996). S. 54 ff
490
Ganz im Sinne Flussers Theorie weist Helga de la Motte-Haber auf die Veränderung der inzwischen
fließend gewordenen Begriffe Raum und Zeit schon seit der Erfindung der Eisenbahn. In: Helga de la MotteHaber, Konzeptionen von Klangkunst. Berlin 2002
489
153
Videoscreens sind die Anzeichen einer neuen Art, dem Leben Bedeutung zu geben. Da die
Bewusstseinsebene, die diesen Codes entspricht, noch nicht erreicht ist bzw. wir noch nicht
gelernt haben, diese Codes zu lesen, seien sie so außerordentlich gefährlich, weil sie uns
programmieren und uns als undurchsichtige Wände bedrohen, anstatt uns als sichtbare
Brücken mit der Wirklichkeit zu verbinden491. Dieser programmierten und standardisierten
Welt sei nicht durch Maschinensturm beizukommen, sondern dadurch, die
Handlungsgesetze über- oder unterzulaufen492.
2.3.3 Wirklichkeitsbegriffe: Quantenphysik und Buddhismus
Geistige Strömungen haben sich in der Geschichte immer wieder gleichzeitig bzw. parallel
in verschiedenen Bereichen abgebildet. Entwicklungen in Kunst, Wissenschaft, Religion
und Gesellschaft laufen nicht selten synchron und weisen auf einen den einzelnen Sparten
übergeordneten Zeitgeist hin, der sozusagen in der Luft liegt. Als ein Beispiel dafür kann
die annähernde Gleichzeitigkeit der Entwicklungen in der Physik und den Entwicklungen
in der Kunst um die Wende zum 20. Jahrhundert gesehen werden. Arnold Schönberg hatte
mit seinem Zwölftonsystem und der damit verbundenen Abschaffung des Grundtones bzw.
Erweiterung des Harmonieverständnisses ebenso die Grundlage für ein neues Denken
geschaffen, wie Albert Einstein dies nur kurze Zeit davor mit der speziellen und
allgemeinen Relativitätstheorie getan hat. Die Relativitätstheorie öffnete radikal neue
Einsichten etwa in das Verhältnis von Raum und Zeit, dem sich auch Schönberg und
andere Künstler dieser Zeit intensiv gewidmet haben. Dabei galten die genannten
Bestrebungen letzten Endes der Formulierung eines der Zeit adäquaten Wirklichkeitsbegriffes.
Eine ähnliche Verwandtschaft von Systemen, die die jeweils herrschenden
Wirklichkeitsbegriffe infrage stellen, jedoch verblüffender Weise in großem zeitlichen
Abstand voneinander formuliert wurden, konnte Christian Thomas Kohl für die
Quantenphysik einerseits und die Philosophie Nagarjunas, einem bedeutenden
buddhistischen Philosophen Indiens des 3. Jahrhunderts nach Christus andererseits
nachweisen493. Interessant daran ist die Aktualität dieser beiden Wirklichkeitskonzeptionen
für die dieser Arbeit zugrunde liegende Fragestellung. Die Ergebnisse der Quantenphysik
491
Vilém Flusser (1996) S. 105
Siegfried Zielinsky (2002) S. 299
493
Christian Thomas Kohl, Buddhismus und Quantenphysik. Aitrang 2005
492
154
sowie auch das wesentlich früher formulierte Denkmodell Nagarjunas bilden
Konzeptionen ab, die auch die Kunst der letzten Jahre charakterisieren können. Die
Aktualität der Quantenphysik lässt Parallelitäten anderer kultureller Entwicklungen
plausibel erscheinen, - die Ähnlichkeit aktueller Konzepte mit altem Indischem
Gedankengut lässt zumindest an die intensive Auseinandersetzung der künstlerischen
Moderne mit Indischer Philosophie, Yoga und Buddhismus im Rahmen theosophischer
Thematik denken, wie sie im Kapitel 2 dargestellt ist.
Der quantenphysikalische Wirklichkeitsbegriff wird vor allem über die Begriffe
Komplementarität, Wechselwirkungen und Verschränkungen definiert. Schon in den der
Quantenphysik vorhergehenden Atommodellen wurden die alltäglichen Dinge als
oberflächlich, wechselhaft, schwankend, vielfältig, vage, konfus, nicht dauerhaft, subjektiv
und nicht wirklich beschrieben. Die dem zugrunde liegenden Atome seien unteilbar,
eindeutig, stabil, objektiv und wirklich, - die Wechselhaftigkeit erkläre sich aus Trennung,
Verbindung und Bewegung dieser.
Den Begriff der Komplementarität führte Nils Bohr bereits 1927 ein, um damit
auszudrücken, dass es in der Welt der Quanten nicht möglich sei, von selbständigen,
unabhängigen und objektiven Quantenobjekten zu sprechen, weil diese untereinander
sowie auch mit dem Messgerät in einer Wechselwirkung stehen würden, Wechselwirkungen aber seien untrennbare Bestandteile der Objekte selbst sowie ein
Energieaustausch zwischen diesen. Die Grundelemente bestehen bei Bohr nicht mehr aus
einzelnen, festen Bausteinen, sondern aus ganzen Systemen, die durch Wechselwirkungen
sowohl ihrer Bestandteile als auch durch Wechselwirkungen mit der Umwelt ein
übergeordnetes System bilden. Die Vorstellung von unveränderlichen Atomen musste
damit aufgegeben werden. Von Verschränkung494, dem von Erwin Schrödinger
eingeführten Begriff ist die Rede, wenn zwei Teilchen so stark miteinander verbunden
sind, dass eine Messung an dem einen die Eigenschaften des anderen mitbestimmt. Dieses
Phänomen, das von Einstein noch geisterhafteFernwirkung genannt wurde, wird heute als
Nichtlokalität bezeichnet. Es tritt auch bei sehr großen Entfernungen zwischen den beiden
Teilchen auf495. Roger Penrose bezeichnet diese nichtlokale Verschränkung als eine
sonderbare Angelegenheit. Es handle sich um einen Mischzustand, der in der klassischen
494
495
Vgl. Anton Zeilinger, Einsteins Schleier. Die neue Welt der Quantenphysik. München 2005, S. 65 f
Christian Thomas Kohl (2005) S. 147 ff
155
Physik keine Entsprechung habe, denn die Objekte seien weder richtig getrennt noch
richtig miteinander verbunden496.
Der neue physikalische Wirklichkeitsbegriff, der sich daraus ableiten lässt besage, dass
Quantenobjekte nicht durch einen festen Kern, sondern durch Wechselwirkungen zwischen
ihren Komponenten und mit dem Messgerät selbst definiert seien, - die Wirklichkeit
bestünde also aus Systemen, deren Bestandteile weder identisch sind, noch
auseinanderfallen. Die Komponenten existieren nicht unabhängig voneinander, ihnen kann
kein eigener Zustand zugeschrieben werden497. Kohl stellt fest, dass das Phänomen der
Wechselwirkungen nicht durch eine reduktionistische, subjektivistische, holistische und
instrumentalistische Metaphysik, der Grundlage unseres traditionellen
Wirklichkeitskonzeptes, erklärbar sei. Vielmehr liege der Welt, in der wir leben, eine
Wirklichkeit zugrunde, die selbst wieder eine komplexe, abhängige und wechselwirkende
Wirklichkeit, - eine so genannte Wolke – darstelle. Es sei unmöglich, aus diesem
unbeständigen, wechselnden und komplexen Ereignisgeflecht Welt herauszukommen.
Im Vergleich der Erkenntnisse der theoretischen Physik mit der Philosophie Nagarjunas
geht es Kohl um die Analogie der metaphysischen Denkweisen, die beiden zugrunde
liegen. In der buddhistischen Philosophie Nagarjunas gehe es um eine geistige
Vorbereitung auf eine neue Art von Wahrnehmung des abhängigen Entstehens der Dinge.
Dieser in diesem Kontext religiöse Aspekt setze dem intellektuellen Verstehen der
Argumente Nagarjunas Grenzen. Er ist vor allem durch yogische Wahrnehmung und
Erfahrung getragen, ohne die nicht alle Argumentationsebenen überprüft werden können.
Nagarjunas Philosophie fungiert deshalb vielmehr als eine geistige Vorwegnahme
yogischer Erfahrung.
Der interkulturelle Ansatz Kohls besteht darin, die Philosophie Nagarjunas zu aktualisieren
und mit grundlegenden Konzepten unserer Gegenwart in Beziehung zu setzen. Nagarjuna
richtete sich mit seinem Gedankengebäude gegen die dogmatischen Auffassungen des
Abhidharma, der frühen buddhistischen Philosophie, die in substantiellen Ansätzen
sozusagen gefangen war. Das Zentrum seiner Philosophie ist die Auseinandersetzung mit
den alltäglichen extremen Denkweisen, mit dem alltäglichen Erleben der Welt. Dieses
unser Alltagserleben einer Welt, die – für uns - aus realen und unabhängigen Dingen
besteht und die wir mit einem ebenso realen wie unabhängigen Selbst erleben, sei
496
Roger Penrose, Das Große, das Kleine und der menschliche Geist. Heidelberg/Berlin 2002, S. 89, zitiert
nach Christian Thomas Kohl (2005) S. 159
497
Christian Thomas Kohl (2005) S. 161 f
156
verfestigt und verabsolutiert. Nagarjunas stellt seinen Wirklichkeitsbegriff über die
systematische Auseinandersetzung mit extremen metaphsysischen Ansätzen, die eine
Flucht vor der Wirklichkeit darstellen und die es nicht gestatten, die Wirklichkeit als
solche wahrzunehmen, dar. DieZurückweisung dieser metaphysischen Ansätze lässt sich
auf folgende Formel reduzieren: Es ist widerlegbar, dass ein dharma [Objekt] 1. existiert,
oder 2. nicht existiert oder 3. sowohl existiert als auch nicht existiert, oder 4. weder
existiert noch nicht existiert, was so viel heißt wie: Nirgendwo finden sich jemals
unvergängliche Dinge, seien sie aus sich selbst oder aus anderem oder aus beidem oder
ohne eine Ursache entstanden. Diese vier metaphysischen Ansätze bezieht Kohl auf die
substantiellen, subjektivistischen, holistischen und instrumentalistischen Denkweisen
unserer modernen Welt. Unabhängige Substanz und eigenes Sein sind nach dem
Verständnis der europäischen Weltanschauung die Grundlagen der Welt.
Subjektivistisches Denken meint die Hinwendung zum Subjekt, für das das Bewusstsein
das primär gegebene ist. Der Holismus versucht die beiden Ansätze Substanz und Subjekt
zu vereinen. Hier wird das Ganze zu einem selbständigen Gesamtobjekt verabsolutiert.
Instrumentalismus schließlich meint die Zurückweisung von Subjekt und Objekt. Für ihn
sind Theorien Instrumente zur systematischen Ordnung und Erklärung von Beobachtung
und zur Prognose von Tatsachen. Für Nagarjuna besteht die Wirklichkeit nicht aus
unabhängigen Dingen, sondern aus einem Zusammenwirken von Systemen, deren Teile
weder identisch sind, noch auseinanderfallen. Die Dinge selbst sind substanz- oder kernlos
in dem Sinn, als sie keine göttliche, ewige Subsatnz, kein eigenes Sein haben. Die
Wirklichkeit wird nicht mehr als etwas Fixes, Statisches, sondern als komplexes
Zusammenspiel von Dingen, die von anderen Dingen und von ihren eigenen Bestandteilen
selbst abhängig sind. Das Ziel dieses Ansatzes ist ein konzeptfreies Erleben der
Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit aber lasse sich nicht durch dualistisches Denken in den
Griff bekommen. Nagarjuna macht das in einem Zwei-Komponenten-System deutlich, in
dem er etwa Geher und begangene Strecke, Feuer und Brennstoff, Tat und Täter als von
einender abhängige Komponenten darstellt, die nicht selbständig existieren.
Kohl sieht auch in der traditionellen europäischen Metaphysik und der modernen
mathematischen Physik substantielle, dualistische und reduktionistische
Wirklichkeitsbegriffe als deren Grundlage. Substanz sei von Platon bis Kant als etwas
Dauerhaftes und Unveränderliches definiert worden, das von nichts anderem abhängig und
durch sich selbst existierend ist. Platons Höhlengleichnis stelle mit der Darstellung der
Gegensätze Licht und Schatten exemplarisch die dualistische Denkfigur der
157
abendländischen Metaphysik dar. Mit Reduktionismus meint er die Annahme, man könne
die Vielseitigkeit der unmittelbaren Realität erklären, indem man sie in ihre elementaren
und unabhängigen Bestandteile zerlegt bzw. auf mathematische Gesetzmäßigkeiten
reduziert. Die Quantenphysik des 20. und 21. Jahrhunderts bestätige diese
Wirklichkeitsbegriffe aber nicht mehr. Auch das Modell der Quantenphysik lässt sich als
ein Zwei-Komponenten-System darstellen, in dem für die einzelen Komponenten nicht die
Möglichkeit bestehe, unabhängig zu existieren. Wie oben erwähnt, sind die
Wechselwirkungen Bestandteile der Elementarteilchen selbst. Mit diesen Erkenntnissen
hat die Quantenphysik die vier genannten metaphysischen Ansätze überwunden und einen
neuen Wirklichkeitsbegriff begründet498.
Anton Zeilinger sieht im irreduziblen, objektiven Zufall499, in der Komplementarität und
der quantenphysikalischen Verschränkung die neuen Grundprinzipien unserer Welt. Die
quantenphysikalischen Aussagen seien mit dem so genannten gesunden
Menschenverstand nicht mehr zu vereinbaren. Sie stellen unsere Vorstelllung von
Wirklichkeit in Frage, zu der wir gemäß den Erkenntnissen der Quantenphysik lediglich
indirekten Zugang haben. Das, was als eigentlich Substantielles übrig bleibt, sind die
Beobachtungsergebnisse, also Information. Information ist der Ausgangspunkt für das, was
wir Wirklichkeit nennen, ist sozusagen der Urstoff des Universums, - die Welt ist der
Repräsentant unserer Aussagen. Der radikale Vorschlag Zeilingers in diesem Kontext ist
die Gleichsetzung von Wirklichkeit und Information bzw. die Aufhebung der Trennung
zwischen diesen beiden Begriffen. Daraus folge, dass es unmöglich sei, auf den so
genannten Kern der Dinge zu stoßen, vielmehr ergebe sich daraus der Zweifel, ob ein
solcher Kern der Dinge unabhängig von Information tatsächlich existiere500.
Der russische Philosoph Peter D. Ouspensky (1878 - 1947), der der Theosophie nahe
stand, bezieht sich in seinem Buch Tertium Organum zunächst auf die Logik Aristoteles,
die von dessen Schülern als Organon veröffentlicht wurde und besagt, dass A A sei, A
nicht Nicht-A sei und alles entweder A oder Nicht-A sei. Francis Bacon hat entlang der
Bedürfnisse einer experimentellen Wissenschaft ein Novum Organum formuliert, das
Ouspensky auf folgende einfache Formel bringt: Das, was A war, wird A sein. Das, was
498
Christian Thomas Kohl (2005) S. 52 – 73, auch S. 121 f und 138
Zeilinger sieht den Zufall als Folge der Beschränktheit der Informationen, die ein Quantensystem tragen
kann. Verborgene Variable könne es jedenfalls nicht geben. Vgl. Anton Zeilinger (2005) S. 224
500
Anton Zeilinger (2005) S. 213 ff
499
158
Nicht-A war, wird Nicht-A sein. Alles war und wird entweder A oder Nicht-A sein. Diese
Axiome entsprechen denen der Mathematik von Identität und Differenz: Jede Größe ist
sich selbst gleich. Der Teil ist weniger als das Ganze. Zwei Größen, von denen jede einer
dritten gleich ist, sind untereinander gleich, usw. Sie entsprechen unserem Aufnahme- und
Denkvermögen. Erst die andere Mathematik der unendlichen und veränderlichen Größen
stelle die Welt dar, wie sie wirklich sei. Die Axiome dieser neuen Mathematik erscheinen
uns als Absurditäten: Eine Größe kann mit sich selbst ungleich sein. Ein Teil kann dem
Ganzen gleich sein, oder er kann größer als das Ganze sein. Eine von zwei gleichen
Größen kann unendlich größer sein als eine andere. Alle UNTERSCHIEDLICHEN Größen
sind untereinander gleich. Wie es in der Natur keine endlichen konstanten Größen geben
könne, gebe es auch keine Begriffe. Beides seien bedingte Abstraktionen und sozusagen
nur Querschnitte der Wirklichkeit. Unser Zeitsinn entspringe der Unvollkommenheit
unseres Raumsinnes, unsere dreidimensionale Welt existiere in Wirklichkeit nicht. Alle
Größen, die wir in ihr betrachten, wie auch unsere Gegenwart, hätten keine reale Existenz.
Ein dementsprechenden Versuch, die Axiome einer höheren Logik in unserer Sprache
auszudrücken, würde ebenfalls absurd erscheinen: A ist sowohl Nicht-A, oder: Jedwedes
Ding ist sowohl A als auch Nicht-A, oder: Jedwedes Ding ist alles. Grundsätzlich seien
diese Axiome in unserer Sprache aber nicht formulierbar.
Das von Ouspenskys postulierte Tertium Organum meint eine höhere Logik bzw. die
Logik eines höheren Bewusstseins. In diesem Bewusstsein sei die Zeit ein Merkmal eines
höheren Raumes, der sich mit unserer Sprache bzw. der gebräuchlichen Logik nicht
beschreiben oder ausdrücken lässt. Was man ausdrücken kann, kann nicht wahr sein. Er
weist darauf hin, dass die Formeln für diese höhere Logik bereits in den alten HinduSchriften gegeben wurden501. Im Sinne dieser Logik bzw. der damit verbundenen
Vorstellung einer höheren (vierten) Dimension spricht Ouspensky von Materie nicht mehr
als Substanz, sondern als Existenzbedingung der dreidimensionalen Welt. Er weist drauf
hin, dass das objektive Wissen nicht Tatsachen studiere, sondern nur die Wahrnehmung
von Tatsachen. Erst die Veränderung dieser Bedingungen ermögliche die Überschreitung
der Grenzen des dreidimensionalen Bereichs.
In diesem Zusammenhang erwähnt Ouspensky den alexandrinischen Philosophen Plotin
501
Peter D. Ouspensky, Tertium Organum. Der dritte Kanon des Denkens. Ein Schlüssel zu den Rätseln der
Welt. Bern, München 19883, S. 83, S. 104 f , S. 108, S. 220 ff und 231 f
159
(3. Jhdt. nach Christus), der der Meinung war, dass für vollkommenes Wissen Subjekt und
Objekt vereint sein müssten und damit wie Nagarjuna die Auflösung des Hauptidols des
westlichen Menschen, des Dualismus vertrat502.
Die Wiedererlangung der verlorenen Weisheit der Alten Welt, um die es in Colin Wilsons
Buch From Atlantis To the Sphinx geht, thematisiert Slavoj Žižek, indem er die von Wilson
verglichenen zwei Arten von Wissen, das „vormoderne“ intuitive, umfassende Wissen,
durch das wir den Rhythmus der Wirklichkeit unmittelbar erfahren (das Bewusstsein der
rechten Gehirnhälfte), und das moderne Wissen, das mit dem Selbstbewusstsein und der
rationalen Wirklichkeit einhergeht (das Bewusstsein der linken Gehirnhälfte), untersucht.
Die Schlussfolgerung Wilsons ist, diese beiden Hälften wieder miteinander zu vereinen
und die verlorene Welt zurückgewinnen, indem sie mit den Errungenschaften der Moderne
verknüpft werden sollen. Dabei handle es sich um die bekannte These, die moderne
Wissenschaft deute mit ihren radikalen Errungenschaften wie etwa der Quantenphysik auf
die Selbstaufhebung des mechanistischen Weltbildes hin und damit auf ein ganzheitliches
Universum. Die nächste Stufe der Überwindung der Begrenzung der westlichen
rationalistischen/individualistischen Haltung müsse aber aus dem Inneren dieser westlichen
Haltung erfolgen. Unsere Aufgabe bestehe nicht darin, zu einer früheren höheren Existenz
zurückzukehren, sondern unser Leben in dieser Welt zu verändern503.
Mit dem Wirklichkeitsbegriff, den Žižek an anderer Stelle formuliert, folgt er durchaus den
erwähnten radikalen Errungenschaften: Und um es nochmals zu sagen: Die Wahrheit ist
nicht der "reale" Zustand der Dinge, das heißt die "direkte" Sicht des Gegenstands ohne
perspektivische Verzerrung, sondern genau das Reale des Antagonismus, der die
perspektivische Verzerrung verursacht. Der Ort der Wahrheit ist nicht die Art und Weise,
"wie die Dinge an sich sind", jenseits ihrer perspektivischen Verzerrung, sondern genau
die Lücke, der Übergang, der die eine von der anderen Perspektive trennt, die Lücke (in
diesem Fall: der gesellschaftliche Antagonismus), der die beiden Perspektiven radikal
inkommensurabel macht. Das "Reale als Unmögliches" ist die Ursache der Unmöglichkeit,
jemals zu einer "neutralen" nicht-perspektivischen Ansicht des Objekts zu gelangen. Es
gibt eine Wahrheit der perspektivischen Verzerrung als solcher, nicht die Wahrheit, die
durch die Teilansicht aus einer einseitigen Perspektive verzerrt wird504.
502
Peter D. Ouspensky (1988) S. 211 und S. 234 f
Slavoj Žižek ( 2003) S. 84 ff
504
Slavoj Žižek ( 2003) S. 78 f
503
160
2.3.4 Zusammenfassung
Die Tendenzen in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts stehen in Zusammenhang mit
allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen sowie Entwicklungen in den verschiedenen
Wissenschaftsdisziplinen und der Technik. Der Wertewandel in der Musik seit 1980 geht
nicht nur mit den technischen Errungenschaften und Entwicklung der Medien einher,
sondern steht gewissermaßen in Wechselwirkung mit aktuellen wissenschaftlichen Themen
und Forschungsbereichen. Die aktuellen Ergebnisse der Kognitons- und
Neurowissenschaften geben nicht nur neue Aufschlüsse etwa über Musikwahrnehmung
und Musikrezeption, sondern bestätigen radikale Realitätsbegriffe, die die Kunst des
20. Jahrhunderts formuliert bzw. postuliert hat. Dem Klang bzw. dem Hören als Zugang zu
spiritueller Erfahrung, wie schon in den Yoga-Upanisads (8. Jhdt.) beschrieben, wird heute
etwa in der Gehirnforschung vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Aufmerksamkeit
gilt auch den heilenden Aspekten von Musik. Vor allem ein Aspekt aber ist in Zusammenhang mit dem in dieser Arbeit ins Zentrum gestellte Begriff prehension wesentlich, der
ebenfalls von der Gehirnforschung bestätigt wird: die Aktivität des Hörenden, der an der
Entstehung dessen, was wir als Musik bezeichnen, wesentlichen schöpferischen Anteil hat.
Aus den kommunikologischen Erkenntnissen Vilém Flussers lassen sich durchaus auch die
Funktionen musikalischer Kommunikation ableiten. Flussers Analyse bezieht die
Entwicklung der Medien mit ein, die uns bezüglich der Codierung und Weitergabe von
Information vor neue Herausforderungen stellt. Sie zeigt, wie sich unsere Vorstellung von
der Welt mit dem Wechsel der uns programmierenden Codes verändert.
Die Quantenphysik beschreibt eine Welt, die sich einerseits unserer Logik und unserem
Wirklichkeitsbegriff zu entziehen scheint, die aber andererseits eindeutig Parallelen zum
Wirklichkeitsbegriff der buddhistischen Denktradition aufweist. Auch in der okkulten
Literatur des 20. Jahrhunderts finden sich Ansätze, die durch die Ergebnisse der
Quantenphysik Bestätigung finden. Beide, die buddhistische und die quantenphysikalische
Lehre, stellen die Logik des westlichen Denkens und damit das mechanistische Weltbild in
Frage. Die in diesem Kontext formulierten Wirklichkeitsbegriffe sind zu den in dieser
Arbeit beschriebenen postmodernen Konzepten durchaus kongruent.
161
3
Fallbeispiele Eigeninitiativen
3.1
Historischer Hintergrund
Künstlerinitiativen haben die Entwicklungen im Bereich der Neuen Musik von Anfang an
abgebildet, wenn nicht sogar geprägt. Sie dokumentieren die Themen, Bedürfnisse,
Gesinnungen und Entwicklungen, die auf Künstlerseite bzw. im kulturellen Leben wirksam
waren. Als Beispiele für historische Initiativen zur Förderung der Neuen Musik möchte ich
einige wesentliche repräsentative Beispiele bringen. In diesen Beispielen waren es immer
die Künstler selbst, die initiativ wurden und versuchten, Strukturen zur Verbreitung und
Vermittlung ihrer Arbeit zu schaffen. Die Grundlagen dafür wurden schon weit früher, in
der Zeit, in der die Kunst aus der Einbindung in die höfische, kirchliche und ständische
Strukturen herausgetreten ist - im späten 18. Jahrhundert - geschaffen. In einer Zeit, in der
Kunst Teil der bürgerlichen Öffentlichkeit wurde, der Musikbetrieb mit öffentlichem
Konzertwesen und Institutionen wie Musikvereine und Singakademien erst entstand und
Musik Teil der allgemeinen Bildung geworden ist505. Noch weiter in die Vergangenheit
zurückgehend, zeigen Beispiele, dass die Kunst immer wieder aus Bindungen und
Funktionszusammenhängen ausgebrochen ist. Eines der berühmtesten diesbezüglichen
Szenarien in der Musikgeschichte fand bereits im 14. Jahrhundert mit dem Aufkommen
der Ars nova statt, die in der Ars antiqua (13. Jhdt.) ihren Gegenpart hatte. Diese
Übergangszeit zwischen Notre-Dame-Schule und Ars nova war durch die Entstehung der
Motette und die damit in Zusammenhang stehende Entwicklung der Mensuraltheorie bzw.
-notation gekennzeichnet. Der Beleg für die Konflikthaftigkeit dieses Paradigmenwechsels
am Beginn des 14. Jahrhunderts ist die Bulle Docta sanctorum patrum des Papstes Johann
XXII. in Avignon (1324 – 1325), in der dieser gegen die Musik der Ars nova Stellung
bezog und unter Androhung von Kirchenstrafen die Rückkehr zur alten Kunst (Ars
antiqua, Notre-Dame-Schule) forderte. Die bedeutendsten Neuerungen hatten künstlerische
wie gesellschaftliche Aspekte: die neue Art der Mensuralnotation, das Übergewicht der
weltlichen über die geistliche Musik, die fast ausschließliche Geltung der mehrstimmigen
Musik, die Unabhängigkeit der Musik als autonomes, von den bisher bestimmenden
außermusikalischen Kräften unabhängiges Kunstwerk, und die Autonomie des
505
Thomas Nipperdey, Wie das Bürgertum die Moderne fand. Stuttgart 1998, S. 10 ff
162
Komponisten506. Ulrich Dibelius nennt als Gründe für das Entstehen von Künstler
getriebenen initiativen den gesellschaftlichen Trägheitswiderstand, der bremst und
verhindert, aber auch abdrängt und Enklaven mit Ausnahmerecht schafft. Die der Neuen
Musik verpflichteten Initiativen und Zentren standen zwischen Abschirmung und Kontakt,
Separatrechten und Besonderheitswirkung507.
3.1.1 Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik (IGNM)
An der Geschichte der IGNM, die auch heute noch existiert, ist deutlich abzulesen,
welchen Konflikten und Veränderungen die internationale Neue Musik-Szene ausgesetzt
war und ist. Allein die Uneinigkeit in der Namensgebung ist ein Dokument für die
unterschiedlichen Auffassungen über die zu fördernde Musik im internationalen Kontext.
Während die englisch- und französischsprachigen Mitglieder das neutralere Wort
zeitgenössische Musik verwenden, ist im deutschsprachigen Raum der Begriff Neue
Musik im Titel (International Society for Contemporary Music/Societé Internationale pour
la Musique Contemporaine - Internatonale Gesellschaft für Neue Musik).
Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik wurde am 11. August 1922 in Salzburg
gegründet. Auslöser dafür waren das 1. Donaueschinger Kammermusikfest 1921 und die
Internationalen Kammermusikaufführungen Salzburg, einem von Rudolf Réti, Egon
Wellesz, Paul Stefan und einigen jungen Wiener Komponisten organisierten Festival für
moderne Kammermusik im Rahmen der Salzburger Festspiele 1922. Über 20
Komponisten waren damals anwesend, darunter Webern, Hindemith, Bartók, Kodály,
Honegger und Milhaud. Dieses erste internationale Musikfest nach dem ersten Weltkrieg
war auch das erste einer regelmäßigen Reihe von IGNM-Musikfesten, die es den
zeitgenössischen Komponisten ermöglichen sollte, die in Salzburg aufgenommenen
Kontakte zu pflegen und alljährlich zusammenzukommen, um sich über die Essenz der
musikalischen Produktion (Egon Wellesz) eines Jahres zu informieren. In ihrer Gründung
betonte die IGNM die Absicht, die zeitgenössische Musik ohne Rücksicht auf ästhetische
Tendenzen, Staatsangehörigkeit, Rasse, Religion oder politische Ansicht des Komponisten
zu fördern und propagieren zu wollen. Die Aktivitäten der Gesellschaft wurden durch
autonome nationale Sektionen unterstützt. 1923 waren es 14, heute sind es 49. Hauptsitz
506
507
Thomas Nipperdey (1998) S. 130
Ulrich Dibelius, Moderne Musik nach 1945. München 1998 (1966), S. 237 f
163
der Gesellschaft war London, wo die erste Verfassung 1923 abgefasst wurde. Präsident
war damals Edward J. Dent. Von Beginn an gab es Diskussionen über die Ziele und
Aktivitäten der Gesellschaft, - einen Grund legenden Konflikt aber zwischen den Ländern,
die meinten, die IGNM sollte Avantgarde- Musik unterstützen (vor allem Deutschland vor
1933 und Österreich und die Tschechoslowakei vor 1938), und jenen, die jede
zeitgenössische Musik als wert erachteten, von der IGNM wahr genommen zu werden (vor
allem Frankreich, England und die USA). Dieser zeigt die Problematik internationaler
einheitlicher Werte und die des Anspruchs des Begriffs Neue Musik im Kontext
internationaler Haltungen. Wegen der internen Schwäche der Gesellschaft waren die
Festivals vor dem 2. Weltkrieg eigentlich im Wesentlichen Foren für führende
zeitgenössische Komponisten, die Möglichkeit für wichtige Uraufführungen boten (etwa
Bergs Violinkonzert 1936 in Barcelona und Weberns Das Augenlicht op. 26. 1938 in
London, sowie Aufführungen von Hindemith, Schönberg, Stravinsky und anderen. Das
Nazi Deutschland hat die IGNM als kulturbolschewistisch und Teil einer antideutschen
Verschwörung betrachtet und die deutsche Sektion, die Sektionen in den besetzten Ländern
sowie die in Italien und Japan 1938 verboten. 1934 gründete das Nazi-Regime eine
Gegenorganisation, deren Präsident Richard Strauss war. Nach dem 2. Weltkrieg wurde die
IGNM wieder aktiv. Unter den wichtigsten Uraufführungen dieser Zeit waren Weberns 2
Kantate op. 31 (1950 in Brüssel) und Boulez’ Le marteau sans maître (1955 in BadenBaden). 1949 wurde ein Journal publiziert, das jedoch nur ein einziges Mal erschienen ist
(Music Today). Die Arbeit der IGNM wurde durch die neuen Möglichkeiten der
Produktion und Reproduktion von Musik erheblich eingeschränkt und weit gehend durch
die Internationalen Sommerkurse in Darmstadt, durch Spezialensembles für Neue Musik
und durch den Rundfunk ersetzt. So konnten sich neue Trends wie z. B. die Serialität in
vielen Ländern außerhalb der und eigentlich in Opposition zur IGNM entwickeln508.
1971 wurden die Statuten der Gesellschaft überarbeitet, um ihr die Fortsetzung ihrer
früheren Aufgaben zu ermöglichen und Nutzen aus ihrer Unabhängigkeit von
wirtschaftlichen und politischen Faktoren und ihrer Internationalität zu ziehen, von der
zum Beispiel die Entwicklung der Neuen Musik in Schweden, Niederlande, der Schweiz,
Norwegen und Finnland profitierten. 1975 wurde das Festivalprogramm um populäre
Genres erweitert. 1992 wurden die Statuten erneut geändert, um weiteren Ländern die
Mitgliedschaft zu ermöglichen, 1997 wurden die Regeln so geändert, dass die Organisation
508
Ulrich Dibelius (1998) S. 256
164
von Festivals ohne internationale Jury möglich wurde.509 Heute ist Richard Tsang
Präsident der IGNM, - die Gesellschaft hat weltweit 49 Mitgliedssektionen. Seit 1991
erscheint das World New Music Magazine, im Juli 2006 erschien das 16. Heft. Auf der
Internetseite der ISCM wird in einem Text über die ISCM betont, dass am Beginn des
21. Jahrhunderts die Menge an Musik, zu der wir dank des enormen technischen
Fortschritts im 20. Jahrhundert heute Zugang haben, größer ist als je zuvor. Die Definition
zeitgenössischer Musik ist schwieriger, seit Komponisten von mehr Klängen –
musikalischen und nichtmusikalischen – beeinflusst sind als je zuvor. Ausführende
präsentieren zeitgenössische Kunst in vielen unterschiedlichen Umgebungen, um ihr
Publikum zu erreichen. Eine kontinuierliche Neudefinition der Verhältnisse zwischen
Komponisten, Ausführenden und dem Publikum ist im Gang. ... Heute, in Zeiten
unglaublicher Vielfalt, die im musikalischen Ausdruck weltweit herrscht, wird das Ideal
der Gesellschaft (Aufmerksamkeit gegenüber ästhetischer und stilistischer Vielfalt) von
den Mitgliedern nach wie vor unterstützt510. Auf dieser Seite ist auch der Bericht Orlando
Jacinto Garcias über die ISCM World New Music Days in Stuttgart 2006 nachzulesen. Er
trägt den viel sagenden Titel Die ISCM starb vergangene Woche mit 90 (nun 95) – und
dann begann sie sich langsam aus ihrer Asche zu erheben511, welchen der Autor auf die
schwierigen vorangehenden Jahre und seine Hoffnung auf Neubeginn bezog. Die ISCM,
die einmal erste Instanz für Neue Musik war, habe an Bedeutung verloren. Es scheint
unmöglich gewesen zu sein, sich von der älteren europäischen Ästhetik zu trennen.
Aufgrund dieses Prestigeverlustes versuchte das ausführende Komitee die Gesellschaft zu
reformieren, um ein breiteres ästhetisches Spektrum, bessere Darstellung der Musik
weltweit und wieder mehr Relevanz zu erreichen512.
3.1.2 Die Donaueschinger Musiktage für zeitgenössische Tonkunst
Die Gründung der Donaueschinger Musiktage 1950 war eigentlich ein Wiederbeginn, - die
Reaktivierung der Kammermusikfeste zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst, welche
1921 zum ersten Mal stattfanden. Die Geschichte der Donaueschinger Musiktage steht
beispielhaft für das, was Thomas Nipperdey als die Verbürgerlichung der Künste
509
Stanley Sadie (Hsg.), The New Grove Dictionary of Music and Musicians, Bd. 12. London 2001,
S. 496 und Ulrich Dibelius, Moderne Musik nach 1945. München 1998 (1966), S. 255 ff
510
aus: http://www.iscm.org/about.php, 10. 8. 2008
511
The ISCM died last week at 90 (actually 95) - and then began to slowly rise from its ashes
512
Aus: http://www.iscm.org/WMD2006reportorlando.php 10. 8. 2008
165
bezeichnet513. Sie dokumentiert, wie die kulturellen Initiativen, die bis ins 19. Jahrhundert
aristokratisches Privileg waren, nun vom Bürgertum ausgehen und stützt die Theorie, dass
die Autonomie der Kunst und ihre Verbürgerlichung gleichzeitig geschehen514. Der frühere
aristokratische Auftraggeber ist nunmehr bestenfalls Geldgeber. Mäzen dieser
Veranstaltung, die als ältestes Festival für zeitgenössische Musik weltweit gilt515, war Fürst
Max Egon II zu Fürstenberg, Veranstalterin die schon vor dem ersten Weltkrieg
gegründete Gesellschaft der Musikfreunde, einer Vereinigung aller Musizierfreudigen516.
Im Herbst 1950 begannen die Donaueschinger Musiktage im Sinne einer geistigen
Wiederbelebung, veranstaltet von der Gesellschaft der Musikfreunde und dem
Südwestfunk Baden-Baden517 - und erneut unter dem Protektorat des Fürstenhauses
Fürstenberg. Die jeweils am dritten Oktoberwochenende stattfindenden Musiktage
versammelten und versammeln noch heute die wesentlichen Vertreter der Neuen Musik
aller Generationen. Eine der auch heute formulierten wesentlichen Aufgaben ist die
Einbindung junger Komponisten und der öffentliche Diskurs. Die Donaueschinger
Musiktage waren so an wichtigen Entscheidungen aktiv beteiligt518.
Ein wesentliches Anliegen, das für das Ansehen, das Donaueschingen von Anfang an
zuteil wurde, verantwortlich war, war die hohe Qualität der Aufführungen, das technische
wie künstlerische Niveau der Interpretation519.
3.1.3 Die Internationalen Ferienkurse in Darmstadt
Die Initiative zur Gründung der Darmstädter Ferienkurse kam vom Theater- und
Musikkritiker Wolfgang Steinecke, der 1945 das Amt des Kulturreferenten und die Leitung
513
Thomas Nipperdey (1998) S. 10 ff
Thomas Nipperdey (1998) S. 29
515
Stefan Fricke (Hsg.), World New Music Magazine Nr. 16, Juli 2006. Saarbrücken 2006, S. 1
516
Ulrich Dibelius (1998) S. 248 ff. Heinrich Burkard, Fürstlich Fürstenbergischer Musikdirektor in
Donaueschingen, gründete die Gesellschaft der Musikfreunde 1913. Der Direktor der Mannheimer
Musikhochschule äußerte 1920 die Idee eines Musikfestes, das der Aufführung von Werken noch
unbekannter bzw. umstrittener Komponisten gewidmet sein sollte. Für die Umsetzung dieser Idee wurde
Burkard bestellt. In dem von ihm berufenen Arbeitsausschuss wirkten Joseph Haas, Eduard Erdmann, ab
1924 Paul Hindemith und Burkard selbst. In: Josef Häusler, Spiegel der Neuen Musik: Donaueschingen.
Chronik – Tendenzen – Werkbesprechungen. Kassel 1996, S. 11
517
Die künstlerische Leitung und Organisation lag seit 1950 in den Händen der Musikabteiling des
Südwestfunks Baden-Baden. Der deutsche Musikwissenschaftler Heinrich Strobel, damaliger Leiter der
Musikabteilung des Südwestfunk Baden-Baden, übernahm die Leitung. (aus: Die Musik in Geschichte und
Gegenwart (MGG), Personenteil 16. Stuttgart 2006, S.183 f und Häusler S. 133 f )
518
Ulrich Dibelius (1998) S. 248 ff und Josef Häusler, Spiegel der Neuen Musik: Donaueschingen. Chronik –
Tendenzen – Werkbesprechungen. Kassel 1996
519
Josef Häusler (1996) S. 23
514
166
des Kulturamtes der Stadt Darmstadt übernahm520. Seine Idee war ursprünglich eine
spezialisierte pädagogische Zusatzleistung zur Ausbildung junger Musiker. Kurz nach dem
2. Weltkrieg, in einem völlig zerstörten Darmstadt, erkannte er den Mangel an Wissen über
Neue Musik und die Tatsache, dass die Aufführung neuer Werke nur dann sinnvoll sein
könne, wenn diese gut und kompetent gespielt werden würden. Ihm schwebte eine
Akademie vor, die sich einerseits aus einem Konzert- und andererseits aus einem
pädagogischen Programm zusammensetzen sollte521. Ein weiteres Ziel aber war, nach der
kulturell stagnierenden Zeit die reaktionären Strukturen abzuschütteln und die verpassten
internationalen Entwicklungen aufzuholen522.
Im Spätsommer 1946 (25. August – 20. September) fanden die ersten Internationalen
Ferienkurse für Neue Musik im Jagdschloss Kranichstein statt. Als deutsche Initiative
begonnen, entwickelten sich aber bald internationale Perspektiven, - namhafte Lehrer wie
Messiaen, Varèse oder Krenek zogen immer mehr auch Komponisten an, sodass sich der
Schwerpunkt von der Interpretation zur Komposition verlagerte. Einmalig war die
Gelegenheit, Lehre, Diskussion und Konzert zusammenzuführen und –zu denken, - die
Interessen der Komponisten, Interpreten und Hörer gleichermaßen zu befriedigen und in
einen größeren Kontext zu stellen. Die Impulse, die seit Beginn von Darmstadt
ausgegangen sind, waren entscheidend und Richtung gebend für die Entwicklung der
Neuen Musik in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. 1949 wurden die Ferienkurse mit den
Tagen für Neue Musik des Hessischen Rundfunks in Frankfurt gekoppelt, was sich vor
allem bezüglich einer europäischen Dimension durchaus befruchtend ausgewirkt hat. Aber
auch damals schon führte die von Kritikern festgestellte sterile Einheitsklanglichkeit in
eine Krise, die den Ferienkursen später immer wieder attestiert wurde. Die
Auseinandersetzung mit Anton Webern (1953) und die Teilnahme John Cages (1958)
markierten Wendepunkte in der Geschichte der Ferienkurse. Ab 1958 erschien die
Schriftenreihe Darmstädter Beiträge zur neuen Musik, - 1961 wurde das Internationale
Kammerensemble Darmstadt gegründet. Nicht nur die Beachtung junger und geographisch
520
http://www.uni-marburg.de/musik-in-hessen/themen/darmstadt/steinecke, 11. 08. 2008
Zusammen mit namhaften Lehrkräften aus allen Bereichen (Komponisten, Theaterfachleute,
Musikkritiker, Musikwissenschaftler) und der Unterstützung von Musikverlagen und Rundfunkanstalten
entwickelten die „Darmstädter Ferienkurse“ ein Profil, das in dieser Form einmalig war und wie ein Exot
aus der konventionellen musikkulturellen Landschaft hervorstach.
Dass Steinecke mit diesem Konzept nicht auf taube Ohren stieß, veranschaulichen die Teilnehmerzahlen.
Bereits im ersten Jahr bewarben sich mehr Interessenten als aufgenommen werden konnten. Außerdem nahm
die Internationalität der Ferienkurse um ein Vielfaches zu, so dass in den 60er Jahren der Anteil
ausländischer Teilnehmer sogar überwog. Aus: http://www.uni-marburg.de/musik-inhessen/themen/darmstadt/ferienkursevergangenheitgegenwart (11. 08. 2008)
522
ebda
521
167
entlegener weltweiter Strömungen Neuer Musik wurde nachgespürt, sondern auch den
wissenschaftlichen Grundlagen. Bereits 1948 wurde das Internationale Musikinstitut
Darmstadt als Forschungseinrichtung und Trägerorganisation der Ferienkurse gegründet.
Niemand geringerer als Theodor W. Adorno hat seit den ersten Jahren als Referent den
Denkstil der Ferienkurse mitbestimmt. 1961 etwa formulierte er diesen so: Das Unbehagen
der emanzipierten Musik daran, dass man alles dürfen darf, erbt sich fort wie die
gewalttätige Ordnung der Welt; alle musikalische Konstruktion. alles strukturelle
Komponieren bis heute verharrte unter seinem Schatten. Vom kompositorischen Subjekt
her wäre informelle Musik eine, welche die Angst los wird, indem sie sie reflektiert und
ausstrahlt. Sie wüsste zu unterscheiden zwischen dem Chaotischen. mit dem es nie so weit
her war, und dem schlechten Gewissen der Freiheit, in dem Unfreiheit am Leben sich
erhält523.
In einem Brief an seinen Lehrer, den Komponisten Karl Schiske, berichtet der damals
31 jährige Wiener Pianist und Komponist Otto M. Zykan 1966 aus Darmstadt und
beschreibt damit eine für Darmstadt symptomatische Situation, in der sich die Dynamik,
aber auch die Problematik des Darmstädter Denkstils spiegelt:
...Die aufgeführten Werke repräsentierten mehr denn je den Abfall in die totale Epigonie.
Aperiodische Periodizität, tonale Atonalität, Farbeffekte, die die Struktur ersetzen sollen.
Jeder betreibt ein Spiel außerhalb irgendwelcher Grenzen. Das hier sooft proklamierte
Motto: Freiheit determiniert sich am Widerstand, den man ihr entgegensetzt, wird mit
Füßen getreten. Aber, und das erscheint mir neu, alle sind angefressen davon. Das
Resultat: weit eifrigere Diskussionen als sonst (man hat so reichlich Gelegenheit, seinen
Standpunkt zu überprüfen – und wundert sich über die Verwundbarkeit) und Kagel bietet
tollen Zündstoff. Ligeti wird von einer immer größeren Anzahl von Teilnehmern
durchschaut und entlarvt. Mit einem Wort, es ist was los, und ich bin einmal mehr froh,
dass ich mich aufgerafft habe, wieder herauszukommen...524. Ein weiteres Stimmungsbild
gibt schließlich Franz Willnauer in seinem Artikel über die 17. Darmstädter Ferienkurse
über die Funktion der damals (1962) heutigen Musik: ... Denn es ist kein Zweifel – und die
Darmstädter Konzerte von 1961, aber auch die ersten diesjährigen beweisen es -, dass die
Entwicklung dieser „Darmstädter Schule“ nun auf einem Punkt der Stagnation angelangt
ist. Die Kompositionen haben sich stilistisch konsolidiert, die Komponisten selbst sind
523
Ulrich Dibelius (1998). S. 238 ff
Markus Grassl/Reinhard Kapp (Hsg.), Darmstadt-Gespräche. Die Internationalen Ferienkurse für Neue
Musik in Wien. Wien, Köln, Weimar 1996, S. 206
524
168
arriviert, der Impuls des Suchens und Neuformens ist abgestumpft und hat dem Willen zu
bloßer Verfeinerung und Artistik Platz gemacht. (...) Die Zeichen der „absoluten Musik“
sind, nach dem Willen ihrer Avantgarde, vorüber. Die Musik im siebenten Jahrzehnt
unseres Jahrhunderts soll im Zeichen des „Austausches der Disziplinen“ stehen, sie soll in
den Dienst anderer künstlerischer Medien und Ziele treten...525
3.1.4 Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen
Der Verein für musikalische Privataufführungen wurde kurz nach Ende des
1. Weltkrieges am 23. November 1918 von Arnold Schönberg mit dem Ziel gegründet,
Künstlern und Kunstinteressierten eine wirklich genaue Kenntnis moderner Musik zu
verschaffen526. Für Schönberg und seinen Kreis war das Kriegsende der Auslöser für die
Wiederaufnahme ihrer Aktivitäten. Wien, zwar schon lange Weltzentrum der Musik, war
fortschrittlichen Ideen nur wenig aufgeschlossen. Schönbergs Verein proklamierte die
systematische Pflege zeitgenössischer Musik, im Besonderen der seit Beginn des
20. Jahrhunderts entstandenen Werke527. Das als problematisch eingeschätzte Verhältnis
des Publikums zur modernen Musik sollte mit dieser Initiative geklärt und verbessert
werden. Im Prospekt des Vereins wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es kein
Verein für Komponisten sei, sondern einer für das Publikum. Die Förderung von Werken
und Autoren sei lediglich Nebenresultat. Die Grundsätze des Vereins waren an dieser
Grundhaltung orientiert:
Bei der Auswahl der Werke sollte keine Stilart bevorzugt werden, die gesamte moderne
Musik mit entweder Namen oder Physiognomie und Charakter528 sollte gespielt werden
können. Auch Orchesterwerke sollten vorgestellt werden können, diese allerdings nur in
Arrangements für Klavier.
Die Einstudierung sollte mit einer im damaligen Konzertleben unüblichen Sorgfalt und
Gründlichkeit geschehen, um die größtmögliche Deutlichkeit zu erzielen und die
Intentionen des Komponisten zu erfüllen.
525
Markus Grassl/Reinhard Kapp (Hsg.) (1996) S. 236
Rosmary Hilmar, Alban Berg, Leben und Wirken bis zu seinen ersten Erfolgen als Komponist. Wien 1978,
S. 184 (aus dem Prospekt des Vereins, verfasst von Alban Berg 1919)
527
Hans und Rosaleen Moldenhauer, Anton Webern. Chronik seines Lebens und Werkes. Zürich 1980,
S. 204 f
528
Rosmary Hilmar (1978)
526
169
Die Aufführungen sollten an den wöchentlich stattfindenden Vereinsabenden (jeden
Freitag Abend im Kleinen Konzerthaus Saal529) erfolgen.
Die Werke sollten öfters (2 – 4 Mal) in verschiedenen Konzerten wiederholt werden, um
das Verständnis zu erleichtern, was durch einführende Besprechungen fallweise außerhalb
der Konzertabende verstärkt werden sollte.
Die Aufführungen sollten unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, die Mitglieder
nicht zur Beurteilung angeregt werden, sondern diese sollten vielmehr das Gebotene zur
Kenntnis nehmen. Besprechungen und Werbung sollten unzulässig sein, ebenso Beifall,
Missfallens- und Dankesbezeugungen. Unter den Ausführenden, die sich dem Verein aus
Interesse an der Sache zur Verfügung stellen, sollte jedes Virtuosentum, dem das
auszuführende Werk nicht Selbstzweck ist, ausgeschaltet werden. Das Programm der
jeweiligen Konzerte sollte vorher nicht bekannt gegeben werden.
Dieses Programm wurde erfolgreich umgesetzt, - innerhalb der ersten 6 Monate wurden
45 Werke in 26 Konzerten, davon viele zum ersten Mal, aufgeführt530. Von 1918 bis 1922
wurden allein in Wien 118 Konzerte veranstaltet, in Prag weitere 24, zur Gründung des
Prager Vereins kam es 1922. Der Erfolg beim Publikum dürfte groß gewesen sein, - Anton
Webern schrieb im Juni 1919 an Alban Berg: Die Abende hatten einen steigenden Erfolg.
der letzte war überbesucht. Viele mussten fortgehen. Es war kein Platz mehr im Saal.
Vollständig ausverkauft...531
529
heute Schubertsaal. Die ersten Veranstaltungen des Vereins fanden im Festsaal des Kaufmännischen
Vereins statt, der große Zuspruch ermöglichte es aber bald, in die kleinen Säle des Musikvereins und des
Konzerthauses umzuziehen. Aus: Hans und Rosaleen Moldenhauer, Anton Webern. Chronik seines Lebens
und Werkes. Zürich 1980, S. 205 und Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hsg.) (1984) S. 101
530
Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hsg.), Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen. In:
Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hsg.), Musik-Konzepte, Heft 36, München 1984, S. 4 ff
531
Hans und Rosaleen Moldenhauer (1980). S. 208, bei dem Saal handelte es sich um den Schubertsaal im
Wiener Konzerthaus
170
Abb. 4: Plakat mit Ankündigung der 4 Propaganda-Abende des Vereins
für musikalische Privataufführungen 1919532
532
Aus: Hans und Rosaleen Moldenhauer (1980) S. 207
171
3.1.5 Das Ensemble die reihe
Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen hatte zwar das Ziel, Künstlern und
Kunstinteressierten moderne Musik näherzubringen, doch war die Motivation zur
Formulierung dieses Ziels doch auch Eigeninteresse Schönbergs und seines Kreises.
Schönberg gab damals der schlechten Qualität der Aufführungen neuerer Musik die Schuld
am Unverständnis, das diese Aufführungen hervorgerufen hatten. Die Gründung des
Vereins war also auch eine Art Selbsthilfe. Trotz des enormen Aufwands, des positiven
Echos und der Fülle an Konzerten hat sich die Situation in Wien seit 1920 nicht wesentlich
geändert. In Wien bewegte sich das das kulturelle Leben nach Ende des 2. Weltkrieges
aufgrund des Strebens nach Stabilisierung und der Politik des kalten Krieges um 1950 auf
einen Konservativismus zu, der besonders in der Kunst spürbar war. Wie auch in anderen
vom Krieg betroffenen und internationalen Entwicklungen abgeschnittenen Ländern
herrschte im Wiener Musikleben der Neoklassizismus vor, neben dem die Wiener Schule
um Arnold Schönberg und die Aktivitäten der IGNM relativ unbeachtet blieben.
Unzufriedenheit herrschte besonders bei jenen Komponisten, die – vermittelt durch den
rührigen Kompositionslehrer an der Wiener Musikakademie Karl Schiske – 1956 zum
ersten Mal bei den Darmstädter Ferienkursen die internationale junge Avantgarde kennen
lernen konnten. Das war der Grund für weitere Selbsthilfe, zu der die beiden Wiener
Komponisten Friedrich Cerha (*1926) und Kurt Schwertsik (*1935) griffen. Auf der
Rückreise von den Darmstädter Ferienkursen 1958 beschlossen sie die Gründung eines
Ensembles533, das – ähnlich wie Boulez’ Domaine musicale in Paris – im konservativen
Wien zu einer Plattform zur Präsentation und Diskussion von Neuem sein sollte534. Sie
zielten damit erneut vor allem auf die Qualität der Interpretation und die Vorstellung der
Bahn brechenden Werke der Moderne sowie der für das gegenwärtige musikalische
Denken charakteristischen Werke der jungen Generation. Im März 1959535 begannen sie
mit öffentlichen Konzerten und konnten damit eine Entwicklung in Gang setzen, die in
anderen Ländern bereits längst eingesetzt hatte. Unterstützt von der Jeunesse Musicale und
der Wiener Konzerthausgesellschaft wurden in breit gestreuten Programmen die
Ausgangspositionen der Neuen Musik abgesteckt und bezüglich der jeweiligen Gegenwart
vieles der Diskussion würdige vorgestellt. Friedrich Cerha hat neben der organisatorischen
533
das Ensemble die reihe, der Titel wurde von György Ligeti erfunden. Vgl. Gertraud Cerha (1999)
Gertraud Cerha, Vierzig Jahre „die reihe“, Wien 1999
535
22. März 1959 im Schubertsaal des Wiener Konzerthauses (ebda)
534
172
Arbeit auch als Dirigent des Ensembles gewirkt536. Die Aufführung von John Cage’s
Klavierkonzert am 19. November 1959 entfesselte den wildesten Konzertskandal der
Nachkriegszeit537, der zu einer abermaligen Schärfung der Absichten des Ensembles führte,
die charakteristischen Erscheinungsformen der Neuen Musik noch nachdrücklicher ins
Bewusstsein des Publikums zu bringen. Im Rahmen des Weltmusikfestes der IGNM 1961
in Wien hatte die reihe den ersten großen Erfolg, der ihr viele Einladungen ins Ausland
brachte538.539
Die Aufbruchstimmung zur Zeit der Gründung der reihe zeitigte auch in anderen
Bereichen der Kunst Künstlerinitiativen zur Selbsthilfe. Der Bildhauer Karl Prantl
organisierte in St. Margarethen im Burgenland ein Bildhauersymposium, in Graz wurde
das Forum Stadtpark gegründet, das die Grundlage für die Grazer Autorenversammlung
und den Steirischen Herbst war540.
3.1.6 Domain musical und IRCAM
Die Funktion Pierre Boulez’ als musikalischer Direktor der Compagnie Madeleine Renaud
– Jean-Louis Barrault war die Grundlage für die am 13. Jänner 1954 von Boulez
programmierte und von den beiden Schauspielern unterstützte Konzertreihe Domaine
musical in Paris. Sie war eine Herausforderung für das konservativen Paris, die Boulez in
dreifacher Hinsicht provozierte: in der Programmierung von Werken vergangener
Epochen, auf deren Aktualität er hinweisen wollte (etwa von Bach, Dufay, Monteverdi und
Gesualdo), in der Berücksichtigung von Werken aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts,
die für die weitere Entwicklung der Musik bedeutend oder überhaupt noch unentdeckt
waren (etwa von Debussy, Ravel, Stravinsky, Bartók und der Wiener Schule), und
schließlich die Präsentation der Werke der jungen Generation bzw. des zeitgemäßen
musikalischen Denkens (z. B. von Nono und Stockhausen). So groß die
Orientierungslosigkeit war, der Boulez mit seinen Programmen begegnete, so groß waren
doch auch die ersten Erfolge, die die Konzertreihe und das mit ihr verbundene Anliegen
bald zu einem festen Begriff machten. Die Fünf Orchesterstücke op. 10 von Anton Webern
etwa, in der ersten Saison aufgeführt, wurden wegen des großen Beifalls sogar wiederholt.
536
Ulrich Dibelius (1998) S. 266 f
Gertraud Cerha (1999)
538
Gertraud Cerha (1999)
539
Martin Sierek, Die Geschichte des Ensembles „die reihe“, Wien 1995
540
Gertraud Cerha (1999)
537
173
Boulez war aber nicht nur mit einem Publikum konfrontiert, das wenig Erfahrung mit der
neueren Musik hatte, sondern auch mit dem Problem, dass das auch für die Musikerinnen
und Musiker galt. Wie Schönberg oder auch in einer Parallele zu Schwertsik und Cerha
erkannte er, dass die gelungene Vermittlung von Musik von der Qualität der Interpretation
abhängt. Das veranlasste ihn zur Gründung eines Ensembles, das diesen Anforderungen
gewachsen war541.
In dem Sinn, in dem die Möglichkeiten der Elektronik und des Computers seit den
fünfziger Jahren den Zugriff auf Mikrobereiche und Strukturen des Einzeltons ermöglichte
und der Idee des Seriellen weitere Dimensionen erschlossen hat, war die Initiative der
Gründung des IRCAM 1977 durch Pierre Boulez eine, die mehr im Zeichen der Kunst und
seines persönlichen Schaffens als im Zeichen der Vermittlung, wie das bei der Domaine
musicale der Fall war, stand. Boulez drückte seine Vision so aus: Die beiden Klangwelten
in multidimensionalen Konstruktionen [mit] einander zu konfrontieren, ein Vorhaben, das
uns ohne Zweifel faszinieren und zu höchster Anstrengung anspornen könnte542. Diese
Vorstellung einer Verbindung von analog instrumentalen und synthetisch elektronischen
Klängen mündete in der Gründung des Institut de Recherche et de Coordination
Acoustique/Musique (IRCAM) in Paris. In fünf Abteilungen wurde und wird noch heute
die Erforschung und Erprobung neuer Klangmöglichkeiten in den Bereich Computer und
Elektroakustik, Instrumente und Stimme, interdisziplinäre Koordination und Pädagogik
realisiert543.
3.1.7 Das Festival Wien Modern
Das Festival Wien Modern wurde 1988 vom damaligen Generalmusikdirektor der Stadt
Wien, dem Dirigenten Claudio Abado, gegründet. Als Veranstalterin dieses größten und
wichtigsten Festivals für Musik der Gegenwart in Österreich trat und tritt noch heute die
Stadt Wien auf. Anfangs von Claudio Abado und dem Dramaturgen Lothar Knessl
künstlerisch betreut, übernahm im Laufe der 90er-Jahre das Wiener Konzerthaus die
Programmierung. Im Jahr 2000 wurden Berno Odo Polzer und Thomas Schäfer als eigene
Dramaturgen verpflichtet. Seit 2006 ist Berno Odo Polzer künstlerischer Leiter von Wien
Modern. Gab es in den ersten Jahren von Wien Modern den Aspekt des Nachholens von
541
Ulrich Dibelius (1998) S. 262 ff
Ulrich Dibelius (1998) S. 582
543
Ulrich Dibelius (1998) S. 582
542
174
Versäumten, so sieht der heutige künstlerische Leiter keine pädagogische Intention in der
Programmierung des Festivals544.
1984 wurde Claudio Abado zum Musikdirektor der Wiener Staatsoper nominiert. Die
Bedeutung der 2. Wiener Schule bedenkend, versuchte er bald darauf, Veranstalter in Wien
(allen voran Wiener Konzerthaus und Wiener Musikverein) zur Aufführung Neuer Musik
zu motivieren und die Stadt Wien von der Idee eines Festivals für Musik des
20. Jahrhunderts zu überzeugen. Das „modern“ im Titel stand zumindest damals nicht nur
für das Aktuelle, sondern auch für das Innovative im historischen Zusammenhang. Claudio
Abado sah Wien damals als bedeutende Kulturmetropole, doch was die moderne Musik
betraf, war Wien trotz der hier stattgefunden habenden Revolutionen bezüglich der neuen
Musik relativ unbedeutend. Das erste Festival 1988 war ein großer Erfolg, weitere Erfolge
folgten. Es galt zunächst, einen Nachholbedarf in Wien zu befriedigen, denn die wichtigen,
großen Werke der Neuen Musik waren den meisten unbekannt. Ein weiteres
Festivalkonzept war das Zusammenwirken mehrerer Veranstalter verschiedener
Kunstsparten sowie Komponisten einzuladen545. Im 20. Jahr des Bestehens sieht der
derzeitige künstlerische Leiter von Wien Modern den Auftrag des Festivals in der
Programmierung eigenständiger, reflektierter, radikaler musikalischer Positionen, die in
ihrer Gesamtheit ein vielfältiges Bild abgeben, was Musik heute ist oder sein kann. Wien
Modern ist ein international ausgerichtetes Festival, das gleichzeitig eine wichtige
Präsentationsplattform der Österreichischen Musikszene darstellt. Daneben sei es auch
wichtig, Werke der Vergangenheit zu berücksichtigen. Schließlich ist das Agieren jenseits
der Trennung der Kunstsparten wichtig, - das Überwinden musikästhetischer Barrieren,
hinter denen sich oft soziale oder politische Ursachen verbergen. Wien Modern veranstaltet
inzwischen an 20 verschiedenen Orten, was deren Bedeutung als Symbolträger sozialer
Zugehörigkeit Rechnung tragen soll. Es sei wichtig, über diese Segmentierung
hinauszugehen546.
544
Carsten Fastner, Das Projekt Avantgarde ist Geschichte. In: Falter 42a/08, Beilage Wien Modern zum
Falter 42/08. Wien 2008, S. 20 f
545
„...immer weiter, und offen...“ - Claudio Abado im Gespräch mit Lothar Knessl. In: Berno Odo Polzer
(Hsg.), Wien Modern 2008. Saarbrücken 2008, S. 7 ff
546
Carsten Fastner (2008) S. 21
175
3.1.8 Zusammenfassung
Die hier angeführten historischen Beispiele für Initiativen im 20. Jahrhundert, die sich um
die Etablierung und Verbreitung des Neuen in der Musik Verdienste erworben haben,
gelten heute als Pionierleistungen, ohne die die Kategorie der Neuen Musik nicht diesen
Stellenwert hätte, den sie heute noch hat. Zum Teil noch heute existent und aktiv, sind sie
Dokument dafür, dass die Durchsetzung des Neuen das spezielle Engagement Einzelner, in der Mehrzahl der Fälle einzelner Künstler erfordert, die – zum Teil trotz breiten
Widerspruchs - ihre Bedürfnisse und Visionen artikulieren. Die an anderer Stelle
erwähnten revolutionären bzw. reformatorischen Strategien der Moderne stehen und fallen
mit der Aktivität oft nur Einzelner oder kleiner Gruppen. Vor allem die beiden Weltkriege
im vorigen Jahrhundert erzeugten ein kulturelles Vakuum, in dem der Fluss der Geschichte
und kulturellen Entwicklung unterbrochen schienen. Schon an diesen historischen Fällen
lässt sich ein roter Faden des Kunstwollens und Kunstschaffens im 20. Jahrhundert
ablesen. Viele dieser Initiativen waren Verbreitungs- und Vermittlungskonzepte, die vor
allem dem Publikum die Möglichkeit geben wollten, an der neuen Kunst aktiv teilzuhaben.
Aber auch pluralistische und interkulturelle Konzepte fanden Verwirklichung und wirkten
gegen gesellschaftliche Trägheit und Konservatismus. In ihnen wurde der jeweilige
Zeitgeist sichtbar, der die Entwicklung der Kunstmusik nachhaltig geprägt hat.
Donaueschingen und Darmstadt stehen auch heute noch für eine radikal orientierte
ästhetische Linie. Das Festival Wien modern, das 2008 zum 20. Mal stattgefunden hat,
bemüht sich, den elitären Status der Neuen Musik und damit ästhetische Barrieren zu
überwinden, hinter denen oft soziale und politische Ursachen stehen.
3.2.
Fallbeispiele, Positionen, Eigeninitiativen
Mit den in diesem Kapitel behandelten Fallbeispielen will ich die Annahme eines
Paradigmenwechsel in der Musik nach 1980 nicht nur illustrieren, sondern ihn anhand
dieser real existierenden Initiativen darstellen und diskutieren. Wie im vorhergehenden
Kapitel gezeigt wurde, haben von Künstlern initiierte Projekte schon am Beginn (z. B.
Schönbergs Verein für Privataufführungen) und in der Mitte des vorigen Jahrhunderts
(z. B. das Ensemble die reihe) auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert und das
kulturelle Leben mit ihren Initiativen nachhaltig mitbestimmt, wenn nicht geprägt. Ich
habe versucht, Projekte aus verschiedenen Teilen Europas aufzuzeigen, die die
176
verschiedenen Aspekte der von mir wahrgenommenen Neuorientierung abbilden. Die
Auswahl erfolgte nach den Kriterien Motivation und Intention, Entwicklung und
Realisierung, sowie Rezeption und Nachhaltigkeit:
1. Das Projekt/die Initiative sollte künstlerisch (und nicht etwa wirtschaftlich) getrieben
sein und auf neue, aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen reagieren bzw. innovative
Strategien entwickeln.
2. Die Initiativen sollten die Ideen über mehrere Jahre hinweg realisiert haben und so auch
allgemein gesellschaftliche wie kulturelle Entwicklungen abbilden bzw. beeinflusst haben
können.
3. Rezeption und Akzeptanz spiegeln Bedürfnisse wider, die besonders im Falle positiven
Echos in den gezeigten Beispielen abgebildet sind. Auch die Nachhaltigkeit ist ein Beweis
bestehender Bedürfnisse nach z. B. neuen Strukturen, Strategien usw., sei es auf Seiten der
Produzierenden, Reproduzierenden oder Konsumierenden.
Dabei geht es um die Frage, welche (neuen) Bedürfnisse abgebildet werden, welcher
aktuelle Zustand verbessert werden soll bzw. welches aktuelle Thema aufgegriffen wird.
Die hier dargestellten Beispiele sind:
3.2.1 der Komponist Peter Ablinger (Österreich/Deutschland)
3.2.2 das KomponistInnenforum Mittersill/Wolfgang Seierl (Österreich)
3.2.3 das Projekt No Music Day/Bill Drummond (Großbritannien)
3.2.4 die Chameleon Group of Composers/Ludger Hofmann-Engl (Großbritannien)
3.2.5 das Festival Sajeta/Miha Kozorog (Slowenien)
3.2.6 das International Multimedial Art Festival (IMAF)/Nenad Bogdanovic (Serbien)
3.2.7 die Initiative Fair Music/Peter Rantaša (Österreich)
Die spezielle Fragestellung in Bezug auf die untersuchten Initiativen und deren Initiatoren
bzw. Kontaktpersonen beinhaltet folgende Punkte547:
547
dabei war der Fragen- bzw. Themenkatalog auf folgende Schwerpunkte ausgerichtet bzw. war im
Allgemeinen so formuliert und wurde im Speziellen sinnvoll an jeweiligen Gegebenheiten angepasst:
- Steht das Projekt/die Initiative/die Arbeit mit dem Paradigmenwechsel Digitalisierung in Zusammenhang?
Wenn ja, in welcher Art und Weise?
- Spielen im Projekt/in der Initiative/in der Arbeit spirituelle Aspekte eine Rolle oder sogar eine wesentliche
Rolle? Wenn ja, in welcher Art und Weise?
- Welche Position haben die Personen, die durch das Projekt/die Initiative/die Arbeit erreicht werden sollen, das Publikum, die Hörenden? Sind sie aktiv oder passiv eingebunden?
- Liegt der Schwerpunkt des Projekts/der Initiative/der Arbeit auf dem/den Autor/en, auf der Vermittlung
oder auf dem Publikum?
177
a) die Digitalisierung der Musik
b) die spirituellen Aspekte der Musik
c) die Position des Publikums
d) die Bedeutung von Werk, Prozess und Situation
e) das Verhältnis von Produktion, Vermittlung und Publikum
f) die Relevanz/Aktualität des Begriffs bzw. Paradigmas Neue Musik
g) die Arbeitsbedingungen, soziale und wirtschaftliche Aspekte
3.2.1 Peter Ablinger
Die erste künstlerische Position, die ich beleuchten will, ist die einer
Komponistenpersönlichkeit, deren Schaffen im Kontext der zeitgenössischen Musik
gleichsam Positionierung und Initiative ist. Werk und Haltung des Komponisten Peter
Ablinger lassen sich als im Zeichen des Wertewandels, den ich in dieser Arbeit zu
skizzieren versuche, stehend verstehen. Sein Werk thematisiert in erster Linie das Hören
selbst und in diesem Zusammenhang die durch Tradition aufgezwungenen kulturellen
Spielregeln und Hörgewohnheiten548.
Peter Ablinger wurde 1959 in Schwanenstadt/Österreich geboren. Er studierte 1974-76
zunächst Graphik in Linz, bevor er 1977 seine erste musikalische Ausbildung (er spielte
seit seinem 6. Lebensjahr Klavier) in Jazzklavier an der Musikhochschule in Graz begann.
1979 setzte er diese im Fach Komposition privat bei Gösta Neuwirth und an der Wiener
Musikhochschule bei Roman Haubenstock-Ramati fort. Seit 1982 lebt Peter Ablinger in
Berlin549.
Dort gründete Peter Ablinger 1988 das Ensemble Zwischentöne, 1990 war er Mitbegründer
der Klangwerkstatt Berlin, die er bis 1992 auch leitete. In den folgenden Jahren leitete
bzw. organisierte er zwei weitere Festivals – 1996 Zeit Geben und 1997 Insel Musik Berlin
- Ist das Projekt/die Initiative/die Arbeit Werk orientiert, Prozess orientiert oder Situation orientiert?
- Haben Begriffe wie Neue Musik, Zeitgenössische Musik, Experimentelle Musik, Avantgarde für das
Projekt/die Initiative/die Arbeit Relevanz? Wenn ja, welche?
- Ist das Projekt/die Initiative/die Arbeit gesellschaftlich etabliert oder nicht, wirtschaftlich orientiert oder
nicht? Wie sind die Arbeitsbedingungen? Wie ist die Raumsituation? In welchem sozialen Feld ist dieses
Projekt/diese Initiative/diese Arbeit angesiedelt?
- Wer sind die Organisatoren, Projektleiter, Initiatoren? Welche ist die Zielgruppe? Wer wird aus welchen
Motiven eingeladen?
548
Katja Blomberg, Vorwort. In: Katja Blomberg (Hsg.), Peter Ablinger/Hören hören/hearing listening.
Berlin 2008, S. 16
549
Blomberg S. 113 und Bernhard Günther (Hsg.), Lexikon zeitgenössischer Musik aus Österreich.
Komponisten und Komponistinnen des 20. Jahrhunderts. Wien 1997, S. 227 ff
178
– und 2001 die Konzertreihe des Ensembles Zwischentöne „Musik für Orte“ in Berlin.
2001 gründete er gemeinsam mit den Komponisten Klaus Lang, Bernhard Lang und Nader
Mashayekhi und dem Historiker Siegwald Ganglmair den Verlag Zeitvertrieb Wien Berlin.
Die kompositorischen Schwerpunkte bilden bis 1994 Werke für Soloinstrumente und
Werke der Kammermusik für bis zu 25 Instrumente. Die Komposition Der Regen, das
Glas, das Lachen aus dem Jahr 1994 für Orchester ist eine Art Summe der bis zu diesem
Zeitpunkt entstandenen Arbeit. In den darauf folgenden Jahren entstehen parallel mehrere
Werkzyklen, in denen sich Ablinger u. a. mit der Verbindung von Instrumenten und
Elektroakustik oder wie beispielsweise im Werk-Komplex Weiss/Weisslich, welcher
Instrumentalstücke, Installationen, Objekte, Aufnahmen, Hinweise und Prosa umfasst, mit
dem Rauschen beschäftigt. Seit 2001 entstehen vielteilige Serien-Kompositionen550 oder
mehrgliedrige Netzwerke, in denen unterschiedliche musikalische Gattungen, Topoi und
Besetzungen kombiniert sind551.
Die Aspekte in Peter Ablingers Biografie und Werk, die für meine Darstellung von
besonderer Bedeutung sind, sind folgende:
1
Radikalität, Unangepasstheit, Kompromisslosigkeit
2
Vollzug, Nachvollzug, Vermittlung
3
Engagement in der Schaffung neuer Strukturen
4
Spiritualität
3.2.1.1 Radikalität, Unangepasstheit, Kompromisslosigkeit
In einem E-Mail Interview mit dem Komponisten Trond Olav Reinholdtsen antwortet
Peter Ablinger auf die Frage nach seiner Beziehung zur klassischen Tradition:
Ich wollte nie, dass meine Musik klingt wie klassische Musik, auch nicht wie neue
klassische Musik oder klassische Avantgarde. Zuerst wollte ich Maler werden, dann
Jazzmusiker, und über die bildende Kunst und den Jazz habe ich erfahren, dass es
überhaupt so etwas gibt wie eine neue Kunst oder Musik....Ehrlich gesagt, ich denke nicht
viel nach über das Verhältnis meiner Arbeit zur Tradition. Meine Inspirationsquellen
550
z. B. Voices and Piano (1998 – 2007) für Soloinstrument(e) und Zuspielung
z. B. das dreiteilige Stück Altar (2002/03), dessen ersten Teil die Drei Hörsäulen im Stadtbereich bilden.
Teil 2 ist die Komplementäre Studie für Cello und Elektronik und Teil 3 die Drei Minuten für Orchester
(vgl. Volker Straebel, Programmhefttext Donaueschinger Musiktage 2003)
551
179
liegen woanders, sie entspringen vielmehr unserem jetzigen Leben, der Umwelt, dem
Tagtäglichen, oder, wenn es denn unbedingt Kunst sein soll, dann eher der bildenden
Kunst 552.
In diesem Sinne zelebriert Ablinger nicht die Desintegration, wie Max Paddison das etwa
bei Jean- François Lyotard feststellt553. In dessen Schriften konstatiert Paddison einen
Relativismus, in dem Werturteile nicht validiert, sondern nur innerhalb einer spezifischen
dominanten Erzählung legitimiert werden können, der sie sich darum anpassen müssen554.
In diesem Sinn sei der aus der Romantik stammende und in die frühe Moderne
hinübergerettete Begriff des subjektiven Ausdrucks zu sehen, dessen Legitimation durch
den Kapitalismus entzogen wurde und dessen Desintergation in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts zur Folge hatte, - die heroische Erzählung des Avantgarde-Subjekts
vermochte nicht mehr länger zu überzeugen. Die Zelebrierung der Desintegration meint
das in Lyotards Schriften paradoxerweise nahe gelegte Überleben der großen Erzählungen
heroischer Subjektivität, deren Untergang Lyotard ja eigentlich prognostiziert. Dem
Verlangen nach Realität, das heißt nach Einheit, nach Einfachem, nach Mitteilbarkeit
usw.555, steht zwar der Krieg dem Ganzen556 gegenüber, doch die von Lyotard formulierte
Aufgabe der Postmoderne, Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht
dargestellt werden kann557, die Vermeidung von Konsistenz und Form zugunsten
permanenter Instabilität, scheint für Paddison ein Mechanismus des Überlebens zu sein558.
Peter Ablingers Schaffen lässt sich deshalb nicht in diesem engeren Sinn als postmodern
begreifen. Was die in Kapitel 2.1 beschriebene postmoderne Haltung in einem weiter
gefassten Sinn betrifft, gibt es in Ablingers Persönlichkeit, Biografie und Schaffen aber
durchaus Hinweise auf eine entsprechende Grundhaltung.
Die Grundfrage, die Ablinger in und mit seinem Schaffen stellt, ist die nach unseren
Erkenntnismöglichkeiten: Was können wir überhaupt erkennen, wie sind wir positioniert?
552
Katja Blomberg (2008) S. 89, zuerst erschienen in: Musiktexte, Nr. 111. Köln 2006, auf Norwegisch
bereits in: Parergon, Oslo 2005
553
Max Paddison, Die vermittelte Unmittelbarkeit der Musik: Zum Vernittlungsbegriff in der Adornoschen
Musikästhetik. In: Alexander Becker/Matthias Vogel (Hsg.), Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer
Philosophie der Musik. Frankfurt am Main 2007, S. 181
554
Max Paddison (2007) S. 181
555
Jean-François Lyotard, Postmoderne für Kinder. Wien 1987, S. 19
556
Jean-François Lyotard (1987) S. 31
557
Jean-François Lyotard (1987) S. 30
558
Max Paddison (2007) S. 182. Frederic Jameson über Lyotard in bezug auf Deleuze und Guattari: Die
Schizophrene Ethik, die sie vorschlugen, war keineswegs revolutionär, sondern ein Weg des Überlebens im
Kapitalismus. In: Frederic Jameson, Foreword. In: J.-F. Lyotard, The Postmodern Condition. A Report on
Knowledge. Manchester 1984, S. vii - xxi
180
Was ist die Welt, wie viel Welt ist überhaupt da? Erzeugen wir das alles möglicherweise
selbst? Gibt es überhaupt ein Außen?559 Hier geht es nicht um den Krieg dem Ganzen,
sondern um die sehr persönliche Suche nach einem Zugang zur Welt und damit zu uns
selbst. Ablinger setzt Misstrauen einer Epoche gegen die vorhergehende, die überwunden
werden muss, nicht fort, sondern bezieht eine Position, die einem zyklischen, nicht
kriegerischen Denken entspringt.
Er glaubt nicht an das Neue, höchstens an Erneuerung im Sinn eines immer währenden
Prozesses und Gleichgewichts. Wir brauchen Erneuerung, damit es bleibt wie es ist. Damit
es weitergeht. Das ist wie Kinderkriegen: Ein neues Kind ist neu, weil es noch nie vorher
da war. Aber der ganze Vorgang ist so alt wie die Menschheit und hat nur den einen
Zweck, sie zu erhalten560. So steht er auch in seinem musikalischen Wollen eher im
Gegensatz zur Ästhetik der so genannten Neuen Musik, die sich unter anderem durch die
Emanzipation des Geräusches auszeichnet. Peter Ablinger interessieren Geräusche als
Erweiterung des musikalischen Materials überhaupt nicht. Das Rauschen, das in vielen
seiner Arbeiten einbezogen bzw. thematisiert ist, ist für ihn etwas ganz anderes. Rauschen
ist einer der ältesten Klänge derer sich Menschen bewusst wurden. Es wirkt wie ein
Spiegel, der das, was wir in ihn hineinlegen, zurückwirft. Im Erfahren von Rauschen
erfahren wir uns also selbst.
Was musikalische Form und Konsistenz betrifft, versucht Ablinger nicht, diese wie in
postmodernen Konzepten vorgesehen, zu vermeiden, sondern entwickelt Denk- und
Arbeitsprinzipien, die unabhängig vom traditionellen Formverständnis sind: Es gibt also
Stücke, in denen der „zeitlose“ Aspekt im Vordergrund steht und der Zuhörer dabei auf
sich selbst gestellt ist, sich einen Hörpfad durch das Stück zu bahnen, aber es gibt auch
solche Stücke, in denen der zeitliche Aspekt definierter ist und das Hören mehr gelenkt
wird. Und viele Stücke versuchen, genau die Balance dazwischen zu halten561. Sein
Interesse gilt der Durchdringung von zwei grundsätzlichen Hörweisen, die für ihn letztlich
Daseinsweisen sind, - zwei unterschiedliche Modi des Sich-in-der-Welt-Findens, für die er
auch die Begriffe Denken und Hören verwendet. Für dieses dynamische Formverständnis
gibt es für Ablinger einen starken Bezug zur Tradition, zwar nicht in der Musik, aber in
der Architektur562.
559
Aus einem persönlichen Gespräch des Verfassers mit Peter Ablinger am 31. Oktober 2008 in Wien
Katja Blomberg (2008) S. 89
561
Katja Blomberg (2008) S. 90
562
Katja Blomberg (2008) S. 90: Der Bezug zur Architektur ist etwa die spätbarocke Architektur in
Süddeutschland, in der versucht wurde, den uralten Konflikt zwischen Basilika und Zentralbau, zwischen
560
181
Der Vorgang des Hörens oder - weiter gefasst - die Funktion unserer Sinne, hat in Peter
Ablingers Werk zentrale Bedeutung. Das Hören steht für ihn für jede Art von
Wahrnehmung, für die Art und Weise, wie wir die Welt erkennen und auf sie reagieren.
Diese Welt aber müssen wir jeweils erst erzeugen.
1984 erschien die bereits an anderer Stelle erwähnte Untersuchung Der Baum der
Erkenntnis der beiden Biologen und Erkenntnistheorethiker Humberto R. Maturana und
Francisco J. Varela563. Die Kernaussage des damals Bahn brechenden Werkes ist, dass die
Welt, in der wir leben, eine Welt ist, die wir im Prozess des Erkennens gemeinsam
erschaffen. Unsere Erfahrung ist mit der uns umgebenden Welt gekoppelt, deren
Regelmäßigkeiten das Ergebnis unserer biologischen und sozialen Geschichte sind. Hatte
die Neue Musik des frühen 20. Jahrhunderts noch auf weltweite Geltung im Sinne eines
Machtanspruchs gezielt, ist dieser Anspruch in der heutigen pluralistischen und
globalisierten Welt nicht mehr zu halten bzw. relativiert. Unsere jeweilige subjektive
Wahrnehmung bzw. Erkenntnis der Welt entscheidet über künftige Konzepte und
Strukturen mit. Mit seinem Fokus auf Wahrnehmung und Erkenntnis begibt Ablinger sich
auf den Konzentrations- bzw. Schnittpunkt von Musik und Welt: Das Hören ist also das
Mittel zur Wahrnehmung von Wahrnehmung564. Maturana/Varela beschreiben diesen
Vorgang, der sich auch als Modell des Umganges mit Kunst lesen lässt, so: Wenn
irgendeine Interaktion uns aus dem Lot bringt – wenn wir zum Beispiel plötzlich in eine
andere kulturelle Umgebung versetzt werden – und wir darüber reflektieren, dann bringen
wir neue Konstellationen von Relationen hervor und erklären damit, dass wir „ihrer
vorher nicht bewusst gewesen“ seien oder sie für „selbstverständlich“ gehalten hätten. ...
Tradition ist nicht nur eine Weise zu sehen und zu handeln, sondern auch eine Weise zu
verbergen565.
Auch das Verbergen bezieht Ablinger aktiv in seine Arbeit mit ein. Das Rauschen hat für
ihn – besonders in Kombination mit Instrumenten – verhüllende, verbergende Funktion.
Schon an einer Sprechstimme vor dem Hintergrund eines Rauschens bemerken wir, dass
die Konsonanten vom Rauschen verhüllt werden. Aus den noch wahrnehmbaren Vokalen
können wir das Gesprochene wieder rekonstruieren. Für Ablinger wird dabei sichtbar, wie
Scholastik und Mystik zu lösen. Peter Ablinger verallgemeinert ihn zu einem zwischen Weg und Ort,
zwischen Konzert und Installation, zwischen Teleologie und Anwesenheit, zwischen Denken und Hören.
563
Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Bern, München 1987
564
Katja Blomberg (2008) S. 93
565
Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela S. 260 ff
182
Wahrnehmung funktioniert, dass sie ständig (re)konstruiert und nicht einfach nur
aufzeichnet, was draußen in der Welt passiert. Das Wahrnehmen ist für ihn ein ständiges
Konstruieren der eigenen Welt.
Mit dem Hilfsmittel des Verhüllens eines Klanges (etwa durch Rauschen) zielt er auf
erhöhte Konzentration beim Zuhörer, der so versucht, das vom Rauschen Verborgene zu
entdecken, freizulegen. Die Simulation von dem (was immer das auch sei mag) uns von
der Wahrnehmung gewisser Dinge fern Haltende, erzeugt Aufmerksamkeit und Sensibilität
für das, was sonst allzu leicht übersehen bzw. überhört wird.
In ihrer Zusammenfassung betonen die Autoren von Der Baum der Erkenntnis, dass die
Erkenntnis zur Erkenntnis verpflichte. Sie verpflichte uns zu einer Haltung ständiger
Wachsamkeit gegenüber der Versuchung der Gewissheit. Sie verpflichte uns, einzusehen,
dass unsere Gewissheiten keine Beweise der Wahrheit seien, dass die Welt, die jeder sieht,
nicht die Welt sei, sondern eine Welt, die wir mit anderen hervorbringen.
3.2.1.2 Vollzug, Nachvollzug, Vermittlung
Die Aktivität des Hörenden, der im beschriebenen Fall das Wesentliche nur bei erhöhter
Aufmerksamkeit hören können wird, ist eine Grundbedingung für Musik bzw.
Kunstrezeption schlechthin. Peter Ablinger arbeitet bewusst mit Elementen, die die
Hörenden zu aktivem, kreativem Hören und Mitgestalten animieren. So hat für ihn das
Rauschen die Tendenz, akustische Illusionen, - individuell erzeugte Projektionen
auszulösen. Seine Klänge gestaltet er so, dass solche Illusionen begünstigt werden und es
mitunter nicht klar ist, ob die Klänge real im Raum sind, oder nur in den Köpfen der
Zuhörenden566.
Ein anderes Beispiel sind die Hörtexte, in denen Ablinger aufschreibt, was er gerade hört, eine Art Notizbuch über Klänge, meist Umweltklänge und Reflexionen darauf.
Ursprünglich für privates Lesen gedacht, kam es doch zu einer öffentlichen Lesung dieser
Texte. Das Vorlesen dieser Geräuschprotokolle wurde dann selbst wieder zur Musik, - der
Zuhörer, der dem Text folgt, wird nämlich kaum umhin können, dass er sich die Klänge,
die da aufgezählt werden, teilweise vorstellt: ... Und wieder einmal entdecken wir uns
566
Katja Blomberg (2008) S. 90
183
selbst beim Erzeugen von etwas: Wirklichkeit? Musik? Ja, und wenn er nur der Stimme
zuhört, ist es ohnehin – von vornherein: Musik567.
Die Aktivität der Zuhörenden scheint auch Garant für Unmittelbarkeit zu sein. Kunst
funktioniert für Peter Ablinger wie eine Membran zwischen verschiedenen Zuständen des
Wahrnehmens568. Der Prozess der Vermittlung wird auf diese Art und Weise Teil des
Kunstwerkes.
Paddison erkennt in der Vermitteltheit des Kunstwerks, die im Prozess der Vermittlung
scheinbar ausradiert wird, um den Schein der Unmittelbarkeit zu erwecken, das zentrale
Problem in der Ästhetik Theodor Adornos, dessen Begriff der Vermittlung philosophisch
aufgefasst und vom Begriff der Kommunikation abgegrenzt werden muss569. Der im
heutigen Kulturbetrieb verwendete Begriff der Kunstvermittlung ist somit dem der
Kommunikation zuzuordnen. Vermittlung als Strategie, um höhere Besucherzahlen in
Konzerten mit zeitgenössischer Musik zu erreichen, ist für Peter Ablinger eher
kontraproduktiv. Die Forderung nach mehr Publikum muss nicht im Vordergrund stehen, bestimmte Dinge sollten vielmehr nur in kleinen Kreisen passieren. Nicht jede Musik muss
für jeden zugänglich sein. Auch in diesem Zusammenhang wäre die Überwindung einer
Schwelle, das Auf-sich-nehmen einer besonderen Anstrengung ein Gewinn für Diejenigen,
die sich darauf einlassen. Andererseits wäre diese Schwelle eine Art Filter, die Unbefugten
den Zugang erschweren würde570. So elitär diese Haltung scheinen mag, so sehr wehrt sie
sich gegen jeglichen Machtanspruch bzw. jegliche Quote.
3.2.1.3 Engagement in der Schaffung neuer Strukturen
Aus den oben genannten Initiativen Peter Ablingers möchte ich den Musikverlag
Zeitvertrieb Wien Berlin herausgreifen. 2001 von den Komponisten Peter Ablinger,
Bernhard Lang (Jg. 1957), Klaus Lang (Jg. 1971) und Nader Mashayekhi (Jg. 1958) sowie
dem Historiker und Musikliebhaber Siegwald Ganglmair gegründet, steht dieser Verlag für
die Abweichung von etablierten Normen des Ästhetischen, des Werkbegriffs, der
567
Katja Blomberg (2008) S. 93. Vgl. dazu auch die in Kapitel 1.3.2 erwähnten Texte Dantes, die reich an
Beschreibungen von Klängen sind.
568
Chico Mello, Zwischen Abbild und Selbstreferentialität: Mimesis und Rauschen bei Peter Ablinger. In:
Katja Blomberg (2008). S. 99
569
Max Paddison (2007) S. 189
570
Aus einem persönlichen Gespräch des Verfassers mit Peter Ablinger am 31. Oktober 2008 in Wien
184
Aufführungssituation, der Konzertkonventionen, der Notation, der
Instrumentenbehandlung, des Instrumentenbaus und der Wahrnehmung selbst571.
Die Motivation der vier annähernd einer Generation angehörenden und international
erfolgreichen Komponisten zur Verlagsgründung war zunächst der Ausstieg aus im
konventionellen Verlagswesen üblichen Abhängigkeiten, welche vor allem das Verhältnis
zwischen Komponist und Verlag als auch die ästhetische Entfaltung trüben. Die
notwendige Thematisierung der aktuellen Aufführungsbedingungen müsste auch zu einem
Umbau der veralteten Verlags- und Vertriebsstrukturen führen. Neben der Herstellung bzw.
Bereitstellung von Notenmaterial und Tonträgern sieht der Verlag deshalb seine Aufgaben
auch in der technischen wie organisatorischen Vermittlung und Abwicklung von
Klanginstallationen und Klangobjekten. An dieser Initiative lässt sich vor allem Kritik an
herkömmlichen, veralteten Strukturen erkennen. Während die künstlerische Ausrichtung
sehr offen ist, wird mit einer neuen Verlagsstruktur vor allem auf die Bedürfnisse der
Musikschaffenden, aber auch auf die von innovativen Musikveranstaltern eingegangen.
3.2.1.4 Spiritualität
Als weiteres Beispiel für Ablingers kompromisslose Haltung aber auch für den spirituellen
Aspekt in seinem Werk sei die Arbeit Exercitium 1 – 6 für Gitarre (1997) erwähnt, die in
einem für den Instrumentalunterricht konzipierten Sammelband zeitgenössischer Musik für
Gitarre572 erschienen ist. Das Stück geht auf die Performance Ins Nasse 2 (1989) zurück, in
der ebenfalls bzw. noch andere irreversible Vorgänge eine Rolle spielen. „Exercitium“
heißt es, weil es einem, in seinem insistierenden Verweis auf die Unvorhersehbarkeit und
auf das jederzeit mögliche Ende, recht jesuitisch vorkommen kann573. Die Partitur schreibt
die Skordatur aller Saiten auf den Ton cis vor. Beginnend mit der 6. Saite, werden alle
Saiten der Reihe nach ständig und unabhängig vom Rhythmus der Rechten Hand (der
übrigens genau notiert ist) mit der linken Hand am Wirbel höher gestimmt, bis jeweils die
Saite reißt.
Nicht nur der im Einführungstext gegebene Hinweis auf die Bedeutung des Titels legt
einen spirituellen Bezug nahe. Auch die Skordatur des Instrumentes auf den Ton cis ist ein
571
Aus: http://zeitvertrieb.mur.at (02. 01. 2009)
Christian Horvath/Gunther Schneider (Hsg.), Verwegene Wege. Neue Musik für Gitarre aus Österreich.
Wien 1999, S. 2 - 3
573
aus der Partitur, wo auch folgender Hinweis steht: Wer das Stück ablehnt, ist allein dadurch gerechtfertigt
– ganz im Gegensatz zu dem, der es gemacht hat. Das Einzige, was das Stück – und auch das nur teilweise –
entschuldigen könnte, wäre ein Gitarrenschüler, dem es Spaß machte, es zu spielen.
572
185
Hinweis darauf. Das cis ist der Ton des Indischen Mantras OM und wird dem Herzchakra
zugeordnet.
Weitere geistige Bezüge im Werk Peter Ablingers sind vordergründig ebenfalls schon an
den Werktiteln abzulesen: Verkündigung, Weiße Litanei, Gegrüßet seist Du Maria, Altar.
Peter Ablinger, der sich gerne in Klöster zurückzieht, sieht aber die spirituellen Aspekte in
seiner Arbeit eher auf einer anderen Ebene angesiedelt. Äußerer Katholizismus spielt für
ihn persönlich keine Rolle, - religiöse Fragestellungen aber sind für ihn dieselben wie die
künstlerischen bzw. werden von der Kunst übernommenen574. So etwa basiert das
Klangmaterial des Portraits meiner Eltern - Endlos Schleife für 2 Selbstspielklaviere aus
dem Installationszyklus Quadraturen III (eine Klanginstallation und monumentale
Skulptur zugleich) auf einer Tonaufnahme seiner Eltern beim täglichen, privaten
Rosenkranz Gebet. Dieses ist für ihn zunächst – unabhängig vom Gehalt des Textes – aber
nur Hilfsmittel, um in das Stück einzusteigen. Erst in der Übertragung des Klangmaterials
auf zwei Computer gesteuerte Flügel ergibt sich der tiefere geistige Bezug dieser
Komposition. In der Forderung an den Zuhörer, die Sprache aus den Klängen bzw.
Klavierkaskaden wieder herauszufiltern, und in der quasi maschinellen Endlos-Schleife,
die die Idee des Gebetes vollendet oder aber persifliert.
Ist schon das Grundthema Hören eine spirituelle Metapher, so ist das Rauschen, das ihn
auch schon jahrelang beschäftigt, eine Metapher für Alles, in einer anderen Terminologie
für Gott, verbunden mit der Frage, wie er sich diesem Alles nähern, es erfahren kann.
Ebenso verhält es sich mit dem Weiß575. Weisslich ist gewissermaßen auch die Antwort
darauf, wie das Alles, das Weiss zu erfahren ist: weisslich eben576.
Zum Werk Tuba und Rauschen (1999-2001) gibt es einen Notizbucheintrag von Peter
Ablinger: Um an dem Stück zu arbeiten fuhr ich von Berlin nach Graz. Wie üblich machte
ich Station bei meinen Eltern in Oberösterreich. Wie üblich unternahm mein sehr
katholischer Vater kleine Bekehrungsversuche indem er mir diesmal ein
Erbauungsheftchen auf den Tisch legte. Ich hab nicht einmal hineingesehen, und fuhr am
nächsten Tag nach Graz um im elektronischen Studio zu arbeiten. Der Komponist Klaus
Lang hat mir den Schlüssel zu seiner Wohnung überlassen. Aber was lag auf dem Tisch:
574
Aus einem persönlichen Gespräch des Verfassers mit Peter Ablinger am 31. Oktober 2008 in Wien
z. B. weißes Rauschen, weißes Licht, vgl. Zyklus Weiss/Weisslich (1980-1999)
576
Aus einer E-Mail von Peter Ablinger an mich vom 23. November 2008. Die Schreibweise von
weiss/weisslich entspricht der von Peter Ablinger verwendeten.
575
186
eben jenes gleiche Erbauungsbüchlein. Ein paar Tage lang versuchte ich, es zu ignorieren.
Bis ich mit dem Stück nicht mehr recht vorankam. Eigentlich hatte es eine klare Struktur,
aber ich zog sie ständig in Zweifel. Ich schlug das Erbauungsheftchen auf und las
folgenden Satz: "Bedenken Sie, daß Sie nach Hause kommen". Ich war augenblicklich
erlöst, und hatte nicht mehr das Gefühl irgendetwas an dem Stück ändern zu müssen.
Frohgemut führte ich es aus, so wie ich es geplant hatte. Tatsächlich beginnt das Stück wie
eine „suprematistische Geschichte“, aber dann kippt etwas und es ist zu einer
Formulierung über Figur und Hintergrund geworden. Am Anfang ist die Tuba Begleitung
für die „Rauschquadrate“, aber am Schluss, wenn der einzelne Tuba-Ton in der großen
Rauschfläche steht, das ist wie „Bedenken Sie, dass Sie nach Hause kommen“. Oder?577.
Das musikalisch-künstlerische Denken Peter Ablingers ist subtil prozesshaft. Es hinterfragt
die überkommenen wie noch bestehenden Strukturen des Musiklebens bzw. Musikmarktes
und definiert hinsichtlich dieser eine absolut Zukunft weisende, aber niemals verstiegene
Strategie, den Hörer zu erreichen, und zwar ohne jede dazwischen geschaltete Instanz.
Dieser angestrebten Unmittelbarkeit würde sogar schon die Kategorie Komponist
entgegenwirken. Damit einher geht der Wunsch, etwas zu machen, was nicht sofort Kunst
ist, nicht sofort in eine der bereitstehenden Schubladen abgelegt werden kann578. Daraus
spricht die Vorsicht vor Automatismus und Routine, von denen der herrschende
Musikbetrieb nach wie vor geprägt ist. Seine Überzeugung, dass Kunst nicht etwas
repräsentiert, etwas stellvertretend darstellt oder hinstellen muss, sondern dass sie sich als
ein schlicht Seiendes zeigen kann, als etwas, das Raum schafft, wie ein architektonischer
Eingriff, - diese Überzeugung spiegelt sich u. a. in den Installationen wieder, - etwa in der
Nummer 22 aus der Serie Weiss/Weisslich579, die Christian Scheib im Ausstellungskatalog
als Aussage zum Verhältnis eines darzustellenden „Alles“ zu einem dargestellten
Kondensat, - letztlich von Repräsentanz zu Präsenz bezeichnet580. In der Installation Das
Buch der Gesänge, in der auf sechs Tischen CD-Spieler mit Kopfhörern installiert sind, mit
Hilfe derer akustische Fragmente aus Alltagssituationen zu hören sind. Diese Fragmente
haben nichts Eindeutiges, nichts Abbildendes, - sobald die Klänge etwas abbilden und die
577
Peter Ablinger, März 2001, aus: http://ablinger.mur.at/i+r8_tb+r.html (19. 06.2009)
Katja Blomberg (2008) S. 92
579
In Weiss/Weisslich 22 werden Symphonien von Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Bruckner und
Mahler mit einem eigens dafür entwickelten Computerprogramm auf jeweils 40 Sekunden kondensiert, das
Ergebnis ist jeweils Rauschen, das in sich strukturiert, quasi gefärbt ist.
580
Christian Scheib, Ohne Titel. In: Blomberg S. 107
578
187
Uneindeutigkeit aufgeben würden, träte das Hören in den Hintergrund und das
Kategorisieren in den Vordergrund, wäre das Paradies zugunsten zugunsten der Erkenntnis
verlassen. Eindeutig assoziierbare, weil repräsentierende Information erweist sich als
Gegenpol zum Hören, zur Präsenz des Wahrnehmens581.
1994 schreibt Peter Ablinger Folgendes und positioniert seine Musik in ganz besonderer
Weise einerseits abseits der so genannten Neuen Musik, andererseits könnte diese Position
ebenso als ein ideales Grundprinzip dieser verstanden werden: Ich möchte dahin kommen,
nurmehr ein einziges Stück schreiben zu müssen, wie oft auch immer – ein einziges.
Früher habe ich mit dem Anspruch gearbeitet, mich so wenig wie möglich zu wiederholen,
und ich bin oft tief erschrocken, wenn ich feststellte, dass hinter allen vordergründigen
Neuerungen und Varianten ein Altes, immer Gleiches, von Anfang an Vorhandenes
hindurchscheint – und zwar gerade in Momenten, in denen ich mir sicher war, das
Vergangene überwunden zu haben -, dass ich, je mehr ich und je konsequenter ich das
Verschiedene suchte, nur das Gleiche fand.
In letzter Zeit bin ich gegenüber diesem Gleichen aufmerksam geworden, habe mich mit
der Wiederholung, der Serie beschäftigt, musste aber auch weiterhin bei jedem neuen
Ansatz neue Lösungen suchen, nur um das Gleiche wiederzufinden. Bei Meister Eckehart
gibt es das Motto: Es muss Neues sein, dass Altes wird. Das half mir. Aber mein
Hintergedanke, meine Abänderung des Mottos hieß eher: Es muss Neues sein, damit alles
gleich bleibt.
Ich weiß nicht, ob es möglich ist, dieses Neue wegzulassen – es wäre sehr uneuropäisch -,
aber mein Ziel ist in dieser Hinsicht eher die Ikone. Das Gleiche machen können, ohne
Umwege über das Neue, aber auch ohne Erstarrung.
Es in Gang halten (...TENET OPERA ROTAS582),- ohne Ablenkung583.
Hier verlässt Peter Ablinger bewusst das europäische bzw. das diskursive Denken unserer
Zeit und bietet damit Einblick in seine spirituelle Erfahrung und Haltung.
581
Christian Scheib (2008) S. 108. Vgl. dazu auch die Unterscheidung Sinnkultur – Präsenzkultur in: Hans
Ulrich Gumbrecht, Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. Über Musik, Libretto und Inszenierung.
In: Josef Früchl, Jörg Zimmermann (Hsg.), Ästhetik der Inszenierung. Frankfurt am Main 2001, S. 66 f.
Repräsentanz entspräche der Sinnkultur, Präsenz der Präsenzkultur im Sinne Gumbrechts.
582
aus dem lateinischen Palindrom SATOR AREPO TENET OPERA ROTAS (Der Sämann Arepo hält
durch seine Mühe die Räder), das schon Anton Webern inspiriert hat.
583
Bernhard Günther (1997) S. 227 f
188
3.2.2 Das KomponistInnenforum Mittersill
Das KomponistInnenforum Mittersill wurde von dem Wiener Musikwissenschafter
Christian Heindl und dem Verfasser - einerseits als lebendiges Denkmal für den in
Mittersill zu Tode gekommenen Komponisten Anton Webern, andererseits als
Kommunikationsplattform für Musikschaffende - 1996 gegründet. Die beiden
Gründungsmotive spannen einen Bogen von der zweiten Wiener Schule bis zur
Gegenwart, von geschichtlichem bis zu aktuellem Diskurs. Bildet der Bezug zu Anton
Webern auch die Nähe zu den Intentionen der Erneuerung, die die Musik von und um
Anton Webern geprägt hat, ab, so ist der Bezug auf die gegenwärtige Situation des
Musikschaffens vor allem durch das Interesse geprägt, Vielfalt und Innovation in
Bereichen bzw. Nischen zu berücksichtigen, die auf einem auf Mainstreams und
Hörerquoten ausgerichteten Markt unberücksichtigt bleiben.
3.2.2.1 Kommunikation
Wie auch Peter Ablinger wollte ich ursprünglich Maler werden und machte die Erfahrung,
dass Kommunikation und Austausch im Bereich bildender Künstler nicht nur aktiver
betrieben, sondern auch mehr unterstützt wurde als in dem der Musikschaffenden. Die
Teilnahme an mehreren Künstlersymposien als bildender Künstler584 erzeugte den
Wunsch, auch im Bereich der Musik mehr Austausch pflegen bzw. zu diesem anregen zu
können. Austausch in einem quasi geschützten Bereich, einer Ausnahmesituation, wie ich
sie als bildender Künstler bereits kennen gelernt hatte. In meinem damaligen Konzept
thematisierte ich aber nicht nur den Kontakt unter Kolleginnen und Kollegen, sondern aller
am Musikgeschehen Beteiligten. Mir war es wichtig, die wesentlichen Glieder der
Wertschöpfungskette Musik bzw. Kunst in einem quasi Experimentiermodus
zusammenzubringen und damit auch die Komplexität desselben zu thematisieren. Neben
den Komponisten, denen zumindest dem Titel des Forums nach die Hauptaufmerksamkeit
gilt, gehören dazu auch die MusikerInnen und InterpretInnen als Vermittelnde und nicht
zuletzt das Publikum. Diese drei Positionen verstand ich als Einheit, welchem
Kommunikationsmodell sie in ihrer funktionalen Beziehung zueinander auch immer
zuzuordnen waren. Im traditionellen Konzertleben entspricht diese Konstellation dem
Modell des Diskurses, in dem die Botschaft von einem Sender über ein Medium einem
584
u. A. Teilnahme am Malersymposium Werfen 1991, Teilnahme an der Künstlerbegegnung St. Lambrecht
1995, Teilnahme am Symposium Karlstein 2001
189
Empfänger übermittelt wird585. Viele experimentelle Ansätze in der neueren Neuen Musik
jedoch zielten meiner Meinung nach gerade darauf, den dialogischen Charakter der Musik
wieder in den Vordergrund zu stellen bzw. die traditionellen Konzert- bzw.
Kommunikationsstrukturen zu hinterfragen.
3.2.2.2 Publikum
Diese Überlegungen bestimmten die Grundstruktur von Anfang an: Komponisten,
Interpreten und Publikum sollten in engem Kontakt untereinander das Konzipieren,
Realisieren und Rezipieren von Musik in dialogischem Sinn erfahren bzw. erfahrbar
machen. In den ersten Jahren, waren es Musikeren aus der Region, mit denen die als Gäste
geladenen KomponistInnen eine Woche lang zusammenarbeiteten. Das regionale
Publikum bzw. die Öffentlichkeit war aufgefordert, diese Prozesse beobachtend und
fragend zu begleiten, sodass die Präsentation der in Mittersill entstandenen und mit den
Musikern erarbeiteten Kompositionen am Schluss – zwar in traditioneller Konzertform –
schließlich doch auch dialogische Qualität besaß.
Das KomponistInnenforum Mittersill hat sich seitdem als alljährlich im September um den
Todestag Anton Weberrns stattfindendes Künstlertreffen mit Festivalcharakter und
Plattform für innovative zeitgenössische Musik etabliert.
Das Ziel des Vereins ARGE Komponistenforum Mittersill (heute von mir und dem
Komponisten Hannes Raffaseder586 geleitet) ist, ausgehend von der Konzeption und
Organisation des Forums, der Aufbau eines dynamischen Netzwerkes für Austausch,
Information und Kommunikation rund um das aktuelle Musikgeschehen. Dazu gehören
Veranstaltungen u. a. in Salzburg (Gesprächsreihe „Wohin?“ in der Galerie 5020) und
Wien (ein klang_reviews), das Label ein_klang records, Newsletter, zwei Homepages
(http://www.kofomi.com /http://www.einklangrecords.com), eine monatliche Sendung in
der Radiofabrik Salzburg auf 107,5 MHz und ein Webportal (http://medienarchiv.fhstpoelten.ac.at).
3.2.2.3 Vermittlung und Öffentlichkeit
Die Ergebnisse eines inzwischen 10-tägigen Zusammenseins und –arbeitens inmitten der
Mittersiller Bergwelt werden nach wie vor in engem Kontakt zur Bevölkerung
585
Vgl. Vilém Flusser (2000) S. 17
Hannes Raffaseder, 1970 in Freistadt geboren, ist Musiker und Komponist, unterrichtet akustische
Gestaltung an der Fachhochschule St. Pölten, lebt in Wien
586
190
kommuniziert sowie in Konzerten, Publikationen, Radiosendungen und einer CDProduktion dokumentiert. Fünf bis sechs Komponisten „in Residence“, eine in einem
anderen Kunstbereich wirkende Persönlichkeit und ein nun auch von auswärts kommendes
Ensemble „in Residence“ bilden die heute aktuelle Teilnehmerstruktur.
Zudem finden im Rahmen des Komponistenforums Mittersill internationale Symposien
statt, in denen der Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst sowie das jeweilige
Hintergrundthema im Mittelpunkt stehen. Das erste dieser Symposien (Webern 21) war
Anton Webern gewidmet und fand 2002 in Mittersill statt. Namhafte WebernForscherInnen587 und Künstler referierten und diskutierten die Aktualität bzw. Bedeutung
Anton Weberns für das 21. Jahrhundert. In meinem Begrüßungsreferat588
thematisierte ich den Vermittlungsgedanken, der auch der Forumsidee zugrunde liegt.
Meine Überzeugung war und ist, dass Kunstschaffen, das Neuland betritt und somit neues
Vokabular generiert, nur dann eine Chance hat, wahr und ernst genommen zu werden,
wenn die entsprechenden Strukturen geschaffen würden, die dem Publikum die Aneignung
dieses neuen Vokabulars ermöglicht. Im Extremfall könnte es sogar zur Aufgabe der
Künstler gehören, an der Schaffung dieser Strukturen mitzuarbeiten, - auch die Einübung
in das Verstehen einer neuen Sprache zusätzlich zur schöpferischen Arbeit als Teil des
Werkes zu begreifen. In diesem Sinn ist die Vermittlungsidee des KomponistInnenforum
Mittersill eine zunächst künstlerische und weniger bis gar nicht pädagogische.
Das Label ein klang_records wurde 1998 zum Zweck der Dokumentation und Verbreitung
der Ergebnisse des KomponistInnenforums Mittersill gegründet. Auf zwei weiteren
Programmschienen wird heute experimentelle, vorwiegend zeitgenössische Musik
veröffentlicht, die auf dem Österreichischen Markt unterrepräsentiert ist. Die Struktur, die
gerade in diesem Nischenbereich fehlt, ist aber nicht die, die das Defizit bezüglich der
Rezeptionsmöglichkeiten eines neuen Vokabulars, um diesen Ausdruck nochmals zu
verwenden, auszugleichen, sondern schlichtweg die der Sichtbarkeit.
Die oben erwähnte Gesprächsreihe „Wohin?“, im deren Rahmen zweimal im Jahr aktuelle
Themen des Musiklebens diskutiert werden, zielt ebenso wie ein Teilaspekt der
587
u. a. Dominik Schweiger, Christian Ofenbauer, Allen Forte, Judith Fiehler, Nikolaus Urbanek, Catherine
Nolan, Julian Johnson, Eva Maria Hois, Neil Boynton, Manuel Sosa Federico Celestini, Monika Hennemann,
Jerry Cain, Gert Jonke, Manfred Angerer, Peter Hiekel, Reinhard Kapp
588
Wolfgang Seierl, Verstehen und verstanden werden - Musikvermittlung bei Webern und durch das
Komponistenforum Mittersill. In: Dominik Schweiger/Nikolaus Urbanek (Hsg.), Webern 21. Wien 2009,
S. 13 - 18
191
Forumsidee auf den Diskurs unter Künstlern sowie dieser im gesellschaftlichen Kontext.
Diese Aktivitäten sind nicht nur als Serviceleistung für Musikschaffende zu verstehen, wie
auch die Forumsidee grundsätzlich nicht als solche zu bewerten bzw. darauf zu
beschränken ist, sondern stellen den Versuch dar, das Musikleben zu dynamisieren,
Öffentlichkeit herzustellen, Dialoge und Diskurse zu provozieren bzw. zu ermöglichen und
somit schließlich politisches Bewusstsein unter Künstlern wie im Publikum. Der
Musikwissenschafter Heinz Rögl gibt seine Eindrücke, die die Dynamik des
KomponistInnenforum Mittersill beschreiben, so wieder: In erstaunlich kurzer Zeitspanne
entstehen dort nicht nur neue Kompositionen von den zehn Tage in einem Bauernhof mit
Pension hoch über Mittersill wohnenden Residenzkünstlern, die beim Schlusskonzert am
letzten Tag aufgeführt werden, sondern auch Partnerschaften, Netzwerke und neue
Freundschaften. Die Ernsthaftigkeit der Diskussionen, aber auch Spaß und Freude wie
auch das Miteinander in Kooperationen und Gemeinschaftsarbeiten der Künstler sind
außergewöhnlich589.
Die Nutzung des Salzburger freien Radios Radiofabrik für eine monatliche Sendung über
die Belange des KomponistInnenforum Mittersill bzw. des Labels ein klang_records steht
ebenfalls im Zeichen des Herstellens von Öffentlichkeit und damit von Sichtbarkeit für
künstlerisches Schaffen wie künstlerische Standpunkte, die im Alltag einer von den
Massenmedien kontrollierten Gesellschaft590 unterzugehen drohen.
Die Konzeption dieser beschriebenen Strukturen ist insofern ergebnisoffen, als auf sich im
Forum zeigende Tendenzen reagiert werden kann. So haben sich in den 13 Jahren des
Bestehens einige Themen als Kernpunkte unserer Aufmerksamkeit und Strategie
herauskristallisiert:
- Die traditionelle Unterscheidung zwischen Komponist und Musiker hat sich als obsolet
erwiesen. Die Abgrenzung, wo sie noch möglich scheint, ist unscharf und erweist sich als
kontraproduktiv in vieler Hinsicht.
- Die traditionelle Unterscheidung in Genres erweist sich ebenfalls als nicht mehr haltbar.
Vor allem die Abgrenzung der so genannten ernsten gegenüber einer so genannten
589
Heinz Rögl, Komponistenforum Mittersill. In: Gisela Nauck (Hsg.), Positionen. Texte zur aktuellen Musik.
Nr. 77/November 2008. Mühlenbeck/Berlin 2008, S. 62 f
590
bereits 1970 schrieb Jim Morrison in seinem Text An American Prayer: Do you know we are ruled by
T. V.?/weißt du, dass wir vom fernsehen beherrscht werden? In: Reinhard Fischer/Werner Reimann (Hsg.),
jim morrison, ein amerikanisches gebet. Berlin 1978, S. 14
192
unterhaltenden Musik ist im lebendigen Umgang mit Musik heute nicht mehr vorstellbar
bzw. gültig. Dieser Punkt betrifft auch die verschiedenen anderen ästhetischen oder
politischen Lager, die untereinander Grabenkämpfe austragen. Ein dem
KomponistInnenforum Mittersill von Künstlerseite immer wieder attestiertes Prädikat ist
das, Künstler zusammenzubringen, die im normalen künstlerischen Alltag aus oben
genannten Gründen einander ablehnend gegenüberstehen.
- Die Herstellung von Sichtbarkeit für Minderheiten bzw. unterbelichtetes Musikschaffen
gilt aufgrund der nach wie vor unveränderten Stellung der Frau in unserer Gesellschaft
schwerpunktmäßig weiblichen Musikschaffenden. Aus diesem Grund haben wir die
Schreibweise in eine gendergerechte Form gebracht591.
- Nicht nur dem Lustprinzip, sondern auch den Menschenrechten folgend, ist stilistische
wie ethnische Vielfalt in unseren Programmen ein wesentlicher Grundsatz geworden.
Vielfalt in diesem Sinn erweist sich nicht nur als Notwendigkeit im Kontext politischer
Korrektheit, sondern auch als Chance für künstlerische Neuorientierung und das
Aufbrechen festgefahrener und überkommener Strukturen.
- Das Einbeziehen von Kindern und Jugendlichen als einer Vermittlungs- bzw.
Bildungsaufgabe war von Anfang an ein Anliegen. Besonders deren kreative Aktivitäten,
auch bezüglich ihrer Rolle als potenzielles zukünftiges Publikum, sind für uns ein
wesentlicher Aspekt der Erprobung neuer Modelle gelingenden Vollzugs von Musik.
- Das den Intentionen des Forums zugrunde liegende Paradigma ist, das Eigeninteresse
hinter das allgemeine Interesse zu stellen. Dieser im Grunde soziale Aspekt ist einer, der
Strukturen schaffen will, die Verbesserungen für alle zeitigen und repräsentiert eine
Haltung, die dieses für andere oder auch für uns alle zum Ausdruck bringt.
3.2.2.4 Regionalität
Ein weiteres Ergebnis jahrelangen Agierens beschreibt Carsten Fastner im Wiener Falter
und nimmt damit Bezug auf die Tatsache, dass der Name Mittersill durch den tragischen
Tod Anton Weberns in die Musikgeschichte eingeschrieben ist: Bis vor zwölf Jahren hatte
Mittersill im Oberpinzgau keinen guten Namen in der Musikwelt - 1945 wurde dort Anton
Webern von einem US-Besatzungssoldaten versehentlich erschossen -, doch mittlerweile ist
das Bergdorf musikalisch rehabilitiert: als Heimstatt des von Wolfgang Seierl und Hannes
591
Vgl. Annegret Huber, Visionen – Symmetrien. Schlüsselstrategien zu paritätisch verteilten Kulturräumen.
In: Marion Diederichs-Lafite (Hsg.), Österreichische Musikzeitschrift Heft 11-12/2008, S. 17
193
Raffaseder veranstalteten Komponistenforum Mittersill. Jeden September treffen sich
junge Komponisten und Interpreten, um in öffentlicher Werkstattatmosphäre neue Stücke
zu erarbeiten und sich mit den Klassikern der Avantgarde auseinanderzusetzen - allen
voran mit Anton Webern. Die Doppel-CD ,,KoFoMi#12: Pole" (Einklang Records)
dokumentiert das letztjährige Abschlusskonzert mit dem formidablen Österreichischen
Ensemble für Neue Musik und dem vielseitigen Janus Ensemble, mit neuen Stücken und
improvisierten Paraphrasen u. a. von Eva Reiter, Hubert Ho, Judith Unterpertinger,
Burkhard Friedrich, Irena Popovic und Boris Hauf: ein ausgezeichneter Einblick in die
beeindrucken professionelle und vielfältige junge Komponistenszene, in der eigene CDProduktionen noch rar sind. Auf sehr spezielle Weise bestätigt diesen guten Eindruck auch
das Album Passagen (Einklang Records) von Robert Buschek592.
Carsten Fastner spricht hier etwas an, das sowohl das Komponistenforum Mittersill als
auch das Label ein klang_records betrifft: so punktuell eine Initiative wie diese auch nur
ansetzen kann, so generell ist die über die kontinuierliche Arbeit vermittelte Botschaft.
Einerseits die quasi Korrektur des ursprünglich unrühmlichen Grundes des Aufscheinens
Mittersills in der Musikgeschichte als Beispiel aktiven Reagierens auf und Umgehens mit
Geschichte, - andererseits die Korrektur einer ebenfalls im Grunde unrühmlichen Tatsache,
dass nämlich junge Musikschaffende wenig Chancen auf CD-Produktionen und damit
Zugang zu einer breiteren Öffentlichkeit haben.
3.2.3
Das Projekt No Music Day
Der schottische Autor, Musiker, Produzent, Kunstvermittler, Querulant und Saboteur593
oder auch Prankster594 Bill Drummond, wie ihn die englische Presse nennt, hat 2005 den
No Music Day erfunden. Es ist eines von zahlreichen Projekten des Künstlers, in denen er
den heutigen Umgang mit Musik sowie Musikbusiness und Musikindustrie kritisch
hinterfragt.
592
Falter Nr.21/2008 S. 67, auch
http://www.falter.at/web/shop/detail.php?id=26650&SESSID=366d70837879d761aebf640c0868fdc1 (28.
05. 2009)
593
Heinrich Deisl, Bill Drummond, der Pate für die wildesten Träume. In: Skug Journal für Musik. Wien,
August 2004, aus: http://www.skug.at/artikel.php?Art_ID=2750 (18. 01. 2009)
594
http://www.guardian.co.uk/music/2006/oct/15/9 (28. 05. 2009)
194
3.2.3.1 Bill Drummond
Bill Drummond wurde 1953 als Sohn Schottischer Eltern in Südafrika geboren, verbrachte
aber schon Kindheit und Jugend in Schottland und später in England. Nach einem
Kunststudium in Liverpool wandte er sich der Musik zu und begann 1977 seine Karriere
als Musiker mit der Liverpooler Gruppe Big in Japan. Er arbeitete auch als Produzent und
Manager, bevor er 1987 gemeinsam mit Jimmy Cauty die Gruppe The KLF (Kopyrite
Liberation Front) gründete. Die beiden Musiker traten auch als The Timelords, K
Foundation und The Justified Ancients of Mu Mu (The JAMMS) auf. 1987 handelten sie
sich eine Klage der schwedischen Gruppe ABBA ein, weil sie große Teile des ABBA-Hits
Dancing Queen gesamplet hatten595. 1993 gründeten Bill Drummond und Jimmy Cauty die
K-Foundation, um am 23. August 1994 das Stiftungskapital von einer Million britischer
Pfund auf der schottischen Insel Jura im Kamin eines Bootshauses zu verbrennen596. Zuvor
hatten sie das Geld in Form eines Kunstobjektes der Londoner Tate Galerie zu einem
Kaufpreis von 750 000 Pfund angeboten, doch das Museum lehnte ab. Die Summe des
dann verbrannten Geldes stand symbolisch für die Einnahmen von The KLF. Auch mit der
Veröffentlichung seines Buches „The Manual“erregten Drummond und Cauty kurz darauf
Aufsehen. „The Manual“ war die Anleitung, einen Nummer-Eins-Hit herzustellen597. 1988
hatten sich Drummond und Cauty in den Kopf gesetzt, einen #1-Hit zu landen. Als The
Timelords wurde »Doctorin’ The House« von S-Express gecovert und mit der »AmbientHouse«-Nummer »Doctorin’ The Tardis« hatten sie in den UK-National Charts die PolePosition. Das Buch »The Manual« ist eine Art Erlebnisbericht von diesem Track. Das
österreichische Projekt Edelweiss/ Bingo Boys arbeitete getreu dem »Manual« und hatte
ironischerweise ausgerechnet mit der Vermansche von ABBAs »S.O.S.« als »Bring Me
Edelweiss« beachtliche Hiterfolge. Das plunderphonische »What Time Is Love« wurde als
»pure Trance« einer der Blaupausen des ravenden »Summer of Love« 1988598.
Heinrich Deisl sieht in all diesen Aktivitäten Bill Drummonds dessen Interesse für
Strategien entlang dem Grat zwischen Information und Desinformation sowie den
Versuch, diese Verfahren wieder ihrer eigenen Absurdität zuzuführen. Jimmy Cauty und
595
http://o94.at/file-storage/view/radiomacherinnen/radio-territories%5C/drummond.pdf (28. 05. 2009)
30.01.2009
596
Martin Hossbach, Ich höre Stimmen in meinem Kopf. Aus: http://www.spex.de/512/artikel.html (01. 02.
2008)
597
Dirk Vongehlen, Wer ist eigentlich Bill Drummond. Aus:
http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/3657470 (18.02.2007)
598
Heinrich Deisl, Bill Drummond, der Pate für die wildesten Träume. Wien 2004. Aus:
http://www.skug.at/index.php?Art_ID=2750 (28. 05. 2009)
195
Bill Drummond sympathisierten nicht mit einem durch Drogen beeinflussten höheren
Bewusstsein, sondern nutzten nur die Strukturen derartig ausgerichteter Systeme. Ihre
Verwirrungstaktiken wie etwa ihre metatextuelle Transformation von ABBA’s Dancing
Queen hatte zwar, wie schon erwähnt, negative Folgen, doch wurde damit auch ein neues
diskursives Verfahren entwickelt, das nicht Raubbau an fremdem Material zugunsten des
eigenen Vorteils betreiben wollte, sondern auf die Destabilisierung und Hinterfragung von
bestehenden Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen zielte599. Der Kultur- und
Musiktheoretiker Andrew Goodwin beschrieb 1988 in seinem Text Sample and Hold das
Sampling als ein ästhetisches Programm, bei dem das Zusammenstellen von Ausschnitten
aus schon bestehenden Schallplatten den wesentlichen Teil der Bedeutungsstruktur eines
so genannten Metatexts ausmache. Drummond und Cauty nahmen vorweg, was im Techno
- unter anderen ästhetischen und politischen Vorzeichen freilich - zum Standard werden
sollte. Multiple Projekte, Schizo-Taktiken ... und Sabotierung des Künstlersubjekts als
„genialer Schaffender“600.
The KLF, The Timelords, The JAMM, The 2K waren insgesamt Projekte, die mithilfe der
neuen Sampling-Technologie die etablierte Popmusik angriffen. Mit diesen Aktionen,
Pamphleten und Konzerten besetzten bzw. eroberten sie vielmehr aber auch ein neues
Referenzfeld, nämlich das des interdisziplinären Raumes zwischen Dancefloor und
Galerie601. Jeremy J. Beadle beschreibt 1993 in seinem Buch Will Pop Eat Itself? das,
wogegen die Gruppe The KLF arbeitete, als das handwerklich gut gemachte Lied (the wellcrafted song)602.
3.2.3.2 No Music Day
In diesem Zusammenhang scheint das Projekt No Music Day ein stilles, weniger radikales
zu sein, obwohl es ebenso Unverständnis, Kritik hervorgerufen hat und als Provokation
aufgefasst wurde. No Music Day ist ein Projekt, das Bill Drummond zunächst auf einen
Zeitraum von fünf Jahren603 (2005 bis 2009) beschränkt hat. Die Idee entspringt zunächst
seiner ganz persönlichen Lebenssituation, die er so beschreibt: Auf der Suche nach etwas
Neuem in der Musik war er in den großen Plattengeschäften mit tausenden CDs, die jede
599
Heinrich Deisl (2004)
Heinrich Deisl (2004)
601
Heinrich Deisl (2004)
602
Heinrich Deisl (2004)
603
In einem Interview vergleicht er dies ironisch mit der stalinistischen Idee des Fünf Jahres Planes, aus:
How No Music Day struck a chord, in: http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/scotland/7104144.stm
(28. 05. 2009)
600
196
Form von Musik, die je existiert hat, repräsentieren mussten, konfrontiert. Das Neue,
Noch- Nie-Gehörte und Aufregende fand er weder hier noch im World Wide Web.
Nicht dass ihm die neuen Künstler zu schlecht gewesen wären, er schrieb es eher seinen
Ohren zu, er war auf der Suche nach einem Neubeginn seines Musikhörens. Obwohl er
aufgehört hatte, aktiv Musik zu machen, hatte er nie aufgehört, über Musik nachzudenken
und erfand verschiedene Strategien, um sich emotional wieder mit Musik zu verbinden.
2002 etwa beschloss er, nur Alben von Künstlern zu hören, die vorher noch nie
veröffentlicht hatten, und 2003 wollte er nur Alben mit Bands, Solisten oder Komponisten
hören, deren Namen mit B beginnen. Das Gefühl, dass etwas Wesentliches fehlte, blieb. Er
versuchte es sogar mit einer Woche ohne Musikhören, aber keine bleibende Veränderung
zeigte sich.
Schon 2004 begann er zu vermuten, dass sein Problem nicht sosehr mit der Musik selbst zu
tun hatte, sondern mit der Art und Weise, in der Musik verfügbar ist. Tatsache ist, dass
heute Musik überall ist, wir sie bei Amazon kaufen oder aus dem Internet herunterladen
können, wann immer wir wollen. Und wenn wir sie haben, können wir sie hören, wann und
wo wir immer auch wollen, ein Nonstop-Soundtrack für unser Leben.
Ob es sich dabei um traditionelle Musik aus Bali, Bachs Kantaten oder um R&B handelt,
ist nebensächlich. Der Unterschied zu den Walkmans der letzten zwanzig Jahre scheint
gering, doch damals war es befreiend, heute ist es einengend (constricting). Für die LiveMusik, die heute verfügbar ist, gilt im Prinzip das Selbe. Die Erfahrung ist sehr
eindimensional: You buy a ticket, you go to a place, you watch it performed on a stage;
you clap, or even scream, you enjoy yourself, you get your money’s worth, you go home.
But you weren’t part of the music; you were just consuming it in bite size chunks as defined
by those who have decreed how these things should be done. Musik sollte auch jenseits der
konsumierbaren Formate (wie Musikaufnahme und Konzertbühne) existieren können.
Drummond entschied, dass er einen Tag brauchte, an dem er nichts tat außer darüber
nachzudenken, was er von der Musik wollte, und Ideen zu entwickeln, wie das zu
erreichen wäre. Diesen Tag würde er No Music Day nennen, und er sollte am Tag vor dem
der heiligen Cäcilia, also am 21. November sein604. Womit er sich in den vergangenen
Jahren so intensiv beschäftigt hatte, sollte nun als nach außen gerichtete Einladung für alle,
die mitmachen wollen, fungieren. Die Hauptmedien für diese Einladung sind Plakate und
die Internetseite www.nomusicday.com. Das wie eine Partitur einer musikalischen
604
Ein quasi Fasttag vor dem Festtag, wie es im christlichen Kontext der Freitag vor dem Sonntag ist, - der
spirituelle Aspekt ist hier nahe liegend. Vgl. Bill Drummond, 17. London 2008, S. 241 f
197
Komposition gedachte und so angelegte Plakat enthält Anweisungen, wie sie schon die
musikalische Avantgarde (im Speziellen die Fluxus Bewegung) verwendet hat. Der Titel
der Komposition ist Entscheide (Decide):
On No Music Day:
No hymns will be sung.
No records will be played.
iPods will be left at home.
Rock bands will not rock.
Conductors will not take the podium.
Decks will not spin.
The needle will not drop.
The piano lid will not be lifted.
Films will have no soundtrack.
Jingles will not jangle.
Milkmen will not whistle.
Choirboys will shut their mouths.
Recording studios will not roll.
Mc’s will not pass the mic.
Brass band practice will be postponed.
The strings will not serenade.
Plectrums will not pluck.
Record shops will be closed all day.
And you will not take part in any sort of music whatsoever.
Then you will decide what you want from music.
To be performed on No Music Day; 21st of November, every year.
Visit nomusicday.com and register the fact that you will be performing this score.
3.2.3.3 Öffentlichkeit
Bill Drummond erwartete keine große Resonanz. Für ihn war es genug, dass die
Komposition notiert und veröffentlicht war, und dass Menschen aufgefordert waren, darauf
198
zu reagieren. Die Internetseite ist in erster Linie ein Ort, wo diese Menschen sich eintragen
können und dokumentieren, wie und warum sie der Idee folgen.
Zur selben Zeit war Drummond eingeladen, an einer Plakat-Ausstellung in Liverpool
teilzunehmen. Der Künstler Alan Dunn war der Kurator. Jedem der teilnehmenden
Künstler stand zwei Wochen lang eine Plakatwand als Leinwand zur Verfügung.
Drummons Plakatwand zeigte nur das Wort NOTICE in schwarzen, großen und dicken
Lettern. Darunter kleiner, aber noch immer schwarz und fett NOTICE, NO MUSIC DAY 21 NOVEMBER, und in noch kleinerer Schrift PB BILLBOARD ONE - 2005 und
NOMUSICDAY.COM.
So persönlich der Zugang zu dieser Fragestellung auch ist, zielt Bill Drummond mit der
beschriebenen Art und Weise der Veröffentlichung darauf, dass auch andere davon
Gebrauch machen und darüber reflektieren, wo sie im Leben stehen und welches
Verhältnis sie zur Musik haben, wohin immer das auch führen könnte605.
Das steigende Interesse der Medien und der Öffentlichkeit lässt Bill Drummond daran
zweifeln, dass es bei den projektierten fünf No Music Days bleiben wird. War 2006 die
Beteiligung des kleinen lokalen Londoner Radiosenders Resonance FM an der Aktion
schon ein großer Erfolg606, so wurde dieser durch die Beteiligung von BBC Schottland mit
vielen Millionen Hörern bereits ein Jahr darauf in den Schatten gestellt607. BBC sendete
nicht nur diesen Tag lang keinen Takt Musik (auch keine Jingles etc.), sondern schloss
auch sein Musikportal im Web (BBC Scotland music). Für den verantwortlichen
Produzenten bei BBC Scotland, David McGuinness, ist die Beteiligung am No Music Day
ein ernsthaftes Statement: „Wir wollen, dass den Menschen klar wird, wie allgegenwärtig
die Musik geworden ist, wie sie in ihr Leben eingreift in einer Art und Weise, derer sie
sich nicht bewusst sind. Wir wollen sie auffordern, innezuhalten und darüber
nachzudenken, was das bedeutet und zu schauen, wie sie über ihre Auswahlmöglichkeit
besser informiert werden könnten. Das sind wichtige Dinge.“608
605
Aus bzw. nach einem Text (Welcome to No Music Day), den Bill Drummond dem Verfasser in einer EMail am 18. 11. 2008 persönlich übermittelt hat. Vgl. auch Bill Drummond, 17. London 2008, S. 240 ff
606
wie ein Schneeballeffekt wirkte dieser musikfreie Sendetag, der Diskussionen über die Rolle der Musik in
unserer sich verändernden Gesellschaft brachte. Hunderte Anfragen für Interviews von Radiostationen aus
aller Welt waren die Folge. Aus: How No Music Day struck a chord. In:
http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/scotland/7104144.stm (28. 05. 2009)
607
ebda
608
Michael White, Who’ll Stop the Ring Tones? Aus:
http://www.nytimes.com/2007/11/18/arts/18whit.html?ex=1353128400&en=6a993bf5bd605935&ei=5124&
partner=digg&exprod=digg (18.11.2007) Übersetzung des Zitats durch den Verfasser
199
Das zunehmende Interesse hat Drummond zu weiteren Ideen und Strategien bei der
Abhaltung des No Music Day angeregt. So ist nach einem Schwerpunkt 2008 in Brasilien
das Epizentrum der Aktivitäten 2009 in der Europäischen Kulturhauptstadt Linz. Ein noch
nicht verwirklichtes Ziel ist es, die Schließung der Musikdownloadplattform iTunes am No
Music Day zu erreichen.
Abb. 5: Bill Drummond, Plakat zum No Music Day609
3.2.3.4 Linz 09 und Pipedown
Die oben erwähnte Kooperation mit der Kulturhauptstadt Linz ist übrigens auch auf
Künstlerinitiative zurückzuführen: Der Oberösterreichische Komponist und Journalist
Peter Androsch ist Leiter des Musikprogramms von Linz 2009. Das von ihm kuratierte
609
Aus: http://www.nomusicday.com/2005/index.php (17. 06. 2009)
200
Projekt „Hörstadt“ verfolgt das Ziel einer bewussten und menschenwürdigen Gestaltung
des akustischen Raums, also unserer hörbaren Lebensumgebung. Aus tiefer Überzeugung,
dass wir Menschen über das Gehör im Innersten berührt und beeinflusst werden,
versuchen wir, zu einem Mehr an akustischem Bewusstsein in den verschiedenen
Lebensbereichen beizutragen610. „Hörstadt“, eine weit über das Jahr 2009 gedachte
Initiative, besteht aus drei Teilen: Beschallungsfrei – die Kampagne gegen
Zwangsbeschallung versucht Betriebe und Organisationen dazu zu motivieren, ihre
öffentlich zugänglichen Räume nicht mit Hintergrundmusik zu beschallen.
Die Rote Karte gegen Zwangsbeschallung kann den Geschäftsführungen von Betrieben
gezeigt werden, in denen man sich durch Hintergrundmusik gestört fühlt, - und schließlich
wurde das ehemalige Centralkino in Linz in den so genannten Ruhepol Centralkino
verwandelt, um der Forderung nach mehr öffentlichen Ruhebereichen mit gutem Beispiel
voranzugehen. Zusätzlich wurde am 22. Jänner 2009 in der ersten Gemeinderatssitzung des
Linzer Stadtparlaments die ebenfalls von „Hörstadt“ initiierte Linzer Charta, mit der Linz
als erste Stadt weltweit Leitlinien für akustisches Handeln zur Grundlage der
Stadtgestaltung macht, einstimmig beschlossen611. Neben dem No Music Day ist auch der
Internationale Tag gegen Lärm (International Noise Awareness Day) am 24. April in das
Programm mit einbezogen. Am No Music Day 2009 verzichtet ein Netzwerk an Musikern,
Medien und Kulturhäusern in Linz auf jegliche Musik612. Wolfgang Welsch plädierte
übrigens bereits 1991 für die Reduktion der öffentlichen Lautmenge und Zonen der
Stille613.
In seinem Artikel in der New York Times über den No Music Day erwähnt Michael White
610
Aus einem Werbe-Brief von Peter Androsch im Dezember 2008 bzw. dem Folder Hörstadt Linz/Linz
2009 Kulturhauptstadt Europas
611
Aus einem Rundschreiben von Peter Androsch im März 2009. In diesem Brief wird weiters erwähnt, dass
die belgische Stadt Lüttich als erste Stadt einen Beitritt zur Linzer Charta erwägt. Von einer weiteren – aus
künstlerischer Sicht meiner Meinung nach problematisch zu beurteilenden Aktivität wird ebenfalls berichtet:
Am 20. Februar 2009 – 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Futuristischen Manifests von Filippo
Tommaso Marinetti - wurde dem Futurismus als Lärmanbeter, Kriegsverherrlicher und geistigem
Wegbereiter des Faschismus mit dem Akustischen Manifest geantwortet. Eine Replik wurde im französischen
Le Figaro platziert, wo Marinetti am 20. 2. 1909 das Futuristische Manifest publizierte. Helmuth Plessner
etwa urteilte ähnlich über die Akzeptanz von Klang und Krach
(R. Murray Schafer, Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens. Frankfurt am Main1988) der
musikalischen Avantgarde. Die musikalische Moderne schrecke vor dem ästhetischen Selbstmord nicht
zurück. Helmuth Plessner, Anthropologie der Sinne. In: Ders., Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main
1980, Bd. 3, S. 344, zitiert nach Wolfgang Welsch (1996) S. 255. Dort diskutiert Welsch diese Tendenzen in
der Musik der Avantgarde als verzweifelte Versuche, uns mit einer akustisch unerträglichen Welt noch
einmal zu versöhnen, sie uns erträglicher und umgekehrt uns in ihr lebensfähiger zu machen... (S. 255 f)
612
Aus dem Folder Hörstadt Linz/Linz 2009 Kulturhauptstadt Europas
613
Aus einem Vortrag am 29. November 1991 in München, Der Klang der Dinge: Akustik – eine Aufgabe
des Design. In: Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart 1996, S. 257 ff
201
auch Pipedown International, eine Bewegung, die seit mehr als 16 Jahren in England und
seit kurzer Zeit auch in den USA gegen piped music614, also gegen Lautsprechermusik,
Musik aus der Konserve, Hintergrundmusik und Muzak615. agiert. Gründer und Sekretär
dieser Bewegung ist Nigel Rodgers, prominente Unterstützer sind unter anderen der Pianist
Alfred Brendel, Komponist Peter Maxwell Davies, Dirigent Simon Rattle und der britische
Cellist Julian Lloyd Webber, der die Schädlichkeit von Hintergrundmusik mit der des
Zigarettenrauchs vergleicht616. Pipedown International wurde 1994 gegründet. Nigel
Rodgers fand heraus, dass die meisten Menschen in seiner Umgebung es ablehnten, Musik,
zu hören, die sie nicht selbst auswählen konnten – sei es Mozart oder Madonna, also
unabhängig von Genres. Das durch Musikberieselung beeinflussbare Kaufverhalten und
der damit in Zusammenhang stehend kommerzielle Erfolg ist nach Nigel Rodgers nur ein
Mythos. Pipedown-Mitglieder sind ähnlich wie die Linzer während des
Kulturhauptstadtjahres mit Karten ausgestattet, mithilfe derer sie den Besitzern von
Lokalen Unmut über Hintergrundmusik bzw. Freude über deren Abwesenheit signalisieren
können617. Organisationen, die ähnliche Ziele verfolgen, gibt es inzwischen in Deutschland
(Lautsprecher aus! e. v.), Holland (Stichtingbam), Kanada (Quiet) und den USA (Noise
Off)618.
Ein weiterer Aspekt, der im Projekt No Music Day thematisiert ist, ist die technische
Reproduzierbarkeit von Musik. Diese ist möglicherweise eine der grundsätzlichen Fragen
der Musikproduktion und -rezeption überhaupt, auf die ich später noch einmal eingehen
werde. Wesentliche Ansätze dazu finden sich aber in einem weiteren Projekt und Buch von
Bill Drummond, das meiner Meinung nach wie eine erste Antwort auf die mit dem No
614
etwa: Musik aus der Leitung, also Lautsprechermusik (muzac, acoustic wallpaper, elevator music or
canned music, piped music is made possible by systems which allow a constant supply throughout building
or other public place. (aus: www.pipedown.info 08.02.2009)
615
Muzak ist ein Kunstwort, zusammengesetzt aus Kodak und Music und der Inbegriff für Fahrstuhlmusik
und akustische Umweltverschmutzung, vgl.
http://www.musikmagieundmedizin.com/standard_seiten/muzak.html (28. 05. 2009)
616
Pipedown bezieht sich auf eine Umfrage aus dem Jahr 1998, nach der 34% der Bevölkerung
Hintergrundmusik ablehnen, 30% Hintergrundmusik mögen und der Rest dazu keine Meinung hat. (In: ZoneMagazine, Sommer 2006/ aus: http://www.pipedown.info/uploaded/dir/1.pdf, 10. 02. 2009)
617
http://www.nytimes.com/2007/11/18/arts/18whit.html?_r=2&pagewanted=1&ref=arts und
http://www.pipedown.info/uploaded/dir/1.pdf (10. 02. 2009)
Das Problem, das hier thematisiert wird, ist, dass die Menschen immer mehr von Musik umgeben sind, die
sie nicht selbst ausgewählt haben. Ebenfalls in diesem Artikel wird das Ergebnis einer diesbezüglichen
Umfrage veröffentlicht: Nachdem der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim dieses Thema in einem seiner
Vorträge aufgegriffen hatte, gab es eine BBC-Umfrage bezüglich der Haltung des Publikums. Die Zuhörer
wurden gebeten, Buch über jede Art von Musik (auch Vogelstimmen und Telefonklingeltöne) zu führen, die
sie während eines Tages hörten, gewollt oder ungewollt. Das Ergebnis waren durchschnittlich 2 Stunden 46
Minuten gewählte Musik und 1 Stunde 16 Minuten nicht gewählte. Die Meinungen zu der nicht gewählten
Musik waren 38 Prozent negativ, 28 Prozent positiv und 34 Prozent neutral.
618
vgl. www.pipedown.de (10. 02. 2009)
202
Music Day aufgeworfene Frage darstellt619.
3.2.3.5 The 17
Aufgrund der von ihm selbst beschriebenen Erfahrungen620 entwickelte Drummond eine
Theorie, der zufolge nach der Entwicklung der Tonaufnahmetechnologie im
20. Jahrhundert alle Musikformen von den Möglichkeiten, die dieses Technologie bot,
verführt wurden. Kompromisse und subtile Veränderungen in unserem Verhältnis zur
Musik mussten in Kauf genommen werden621, um den Bedürfnissen der neuen Technik
gerecht werden zu können. Für uns Zuhörer war das zunächst fast nicht bemerkbar. Was
wir zu haben glaubten, war nun die Möglichkeit, Musik aus der ganzen Welt und sogar
Musik aus der Zeit vor unserer Geburt zu hören. Während die Jahrzehnte vergingen,
bemerkten wir nicht, dass sich all diese aufgenommene Musik in ein übergeordnetes Genre
verwandelte, in das von aufgenommener Musik (recorded music). Am Beginn des
21. Jahrhunderts vollzog sich eine weitere Veränderung unseres Verhältnisses zur
aufgenommenen Musik: mit dem iPod622 können wir diese aufgenommene Musik nun
überall, zu jeder Zeit und während fast jeder Tätigkeit hören. Im Akzeptieren dieser
subtilen Veränderung haben wir den größten Teil der Musik aus dem Kontext von Zeit,
Raum und Gelegenheit herausgetrennt, aus allem also, das der Musik Bedeutung verleiht, wir haben sie sozusagen kastriert623.
Auch die in Konzerten live gespielte Musik sieht Drummond im Schatten der
619
Karlheinz Stockhausen hat sich übrigens bereits Jahre zuvor darüber Gedanken gemacht: Die Musik ist für
die meisten Menschen nur Hintergrunduntermalung und Entertainment. Sie kommen nicht einmal auf den
Gedanken, dass Musik auch eine geistige Nahrung sein könnte, weil sie so viele andere Probleme haben.
(Aus einem Gespräch David Pauls mit Karlheinz Stockhausen. In: Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern
2008. Saarbrücken 2008, S. 70)
620
siehe oben (S.198)
621
Vgl. die von Vilém Flusser erwähnten bei der Verwendung des Alphabets in Kauf genommenen Verluste.
Vilém Flusser (2000) S. 85
622
der iPod ist ein Abspielgerät für das digitale Komprimierungsformat mp3, das 1997 entwickelt wurde.
mp3-Player wurden inzwischen millionenfach verkauft und gehören heute - fast wie die Kleidung selbst –
sozusagen zur Grundausstattung
623
Nach Drummond ist die Bedeutung eines Kunstwerks – sei es Musik, bildende Kunst oder Literatur - in
Bezug auf die Situation, in der und von wem es gehört, gesehen oder gelesen wird, veränderlich. Außerhalb
dieser abhängigen Bedeutung hat Kunst keine Funktion. Kunst behält eine gewisse Bedeutung als
historisches Artefakt oder Teil eines Kanons. Für Drummond war es, als ob die Bedeutung der Musik, war
sie einmal aufgenommen, sich verflüchtigte. Auch der neueste Track klang altmodisch, wie aus dem
Museum. Aus: Time Out London, Bill Drummond on his new book ‚17’, in:
http://www.timeout.com/london/music/features/5318/Bill_Drummond_on_his_new_book-17-.html
(28. 05. 2009)
203
aufgenommenen Musik stehend, nämlich als Werbung für diese624.
Sich einer alten Idee erinnernd, startete er ein Chorprojekt, das er The 17 nannte und in
dem er mit den von ihm infrage gestellten Verhältnisse im Bereich musikalischen Erlebens
experimentierte: die Ergebnisse dieser musikalischen Arbeit mit bzw. in Chören sollten
niemals aufgenommen werden, - und um die 17 zu hören, musste man selbst Teil der 17
sein. Ob Sänger oder nicht, niemand sollte ausgeschlossen sein.
Die Partituren, von ihm selbst oder anderen geschrieben, waren verbale Anweisungen zur
Ausführung, aber auch zu Zeit, Ort und Gelegenheit. 2006 begann er mit der Realisierung
im Rahmen von Musik- und Peformance Art-Festivals in Europa. Jedes Mal wurden also
nur an 17 Personen Karten ausgegeben, mit denen dann jeweils eine Partitur realisiert
wurde. Wichtig war, dass The 17 jenseits der Musikindustrie stattfand und weder der
Jugend-, noch der Pop- und Hochkultur vorbehalten war.
2007 erschien Drummonds Buch 17 im Verlag Beautiful Books und Drummonds eigenem
Verlag Penkiln Burn625. Mittlerweile hat er die Idee der 17 zu groß angelegten
Stadtperformances erweitert, etwa in Form von 100 Gruppen zu je 17, in der jede einzelne
dieser Gruppen eine spezielle Berufs- oder soziale Schicht (Taxifahrer, Verkäufer usw.)
repräsentiert. Eine Serie von 10 Performances in London 2007 trägt den Titel ‘The
Meaning of Music’626, mit dem Drummond wohl auch seine über No Music Day und
The 17 neu gewonnene Haltung zum Ausdruck bringt.
3.2.4 Chameleon Group of Composers
Der in London lebende und wirkende Komponist Ludger Hofmann-Engl ist Initiator und
Gründungsmitglied der Chameleon Group of Composers, einer Vereinigung von im
Londoner Stadtteil Croydon lebenden Komponisten.
624
Ähnliche Argumente gegen die Musikaufnahme wurden von Benjamin Britten 1964 anlässlich der
Preisverleihung des Aspen Award. Einen Teil seiner Dankesrede widmete er der jederzeitigen Verfügbarkeit
technisch reproduzierter Musik und nannte in diesem Zusammenhang den Lautsprecher “the principal enemy
of music.” In: White, Michael, Who’ll Stop the Ring Tones? Aus:
http://www.nytimes.com/2007/11/18/arts/18whit.html?ex=1353128400&en=6a993bf5bd605935&ei=5124&
partner=digg&exprod=digg (18.11.2007)
625
Bill Drummond, 17. London 2008, vgl. auch Abb. 7, S. 268
626
Each performance is with 17 workers at a particular music-world establishment. They will be as follows:
1 A major entertainment retail store. 2 An independent record shop. 3 A national radio station. 4 A worldrenowned amplification manufacturer. 5 A leading classical music ensemble. 6 A successful record company.
7 A stadium band and crew. 8 An international music publisher. 9 A highly regarded music college.
10 A global entertainment corporation. Aus: Time Out London, Bill Drummond on his new book ‚17’, in:
http://www.timeout.com/london/music/features/5318/Bill_Drummond_on_his_new_book-17-.html
(28. 05. 2009)
204
3.2.4.1 Ludger Hofmann-Engl
Ludger Hofmann-Engl wurde 1964 in Bamberg/Deutschland geboren. Er studierte am
Konservatorium in Nürnberg Komposition, am Institut für Sakralmusik in Erlangen
Klavier, später an der Technischen Universität Berlin Musikwissenschaft, Philosophie und
theoretische Physik und erwarb 2003 das Doktorat in Psychologie an der Keele University.
Hofmann-Engl lebt seit 1992 in London, wo er als Pianist, Komponist, Wissenschaftler
und Sozialarbeiter wirkt. Sowohl in seiner musikalischen als auch in seiner
wissenschaftlichen Arbeit ist er in internationale Netzwerke eingebunden.
2000 bis 2005 war er der Vorsitzende der als Verein organisierten Chameleon Group of
Composers. Hauptinteresse dieser Selbsthilfegruppe von in Croydon (South London)
lebenden Komponisten war und ist es, die traditionellen Strukturen des Musikgeschäftes Musikverlage und Musikindustrie - zu umgehen bzw. zu unterlaufen, um unabhängig
arbeiten und agieren bzw. neue Strukturen aufbauen zu können. So organisierte die Gruppe
zahlreiche Festivals und Konzerte mit zeitgenössischer Musik mit mehr als 30
Uraufführungen. Das Wort Chameleon als Name der Gruppe wurde gewählt, um der
Vielfalt der Kompositionsstile unter den Mitgliedern Ausdruck zu verleihen, die trotz
dieser Unterschiedlichkeit das gemeinsame Ziel künstlerisch wertvoller Arbeit verfolgten.
Sosehr jeder Komponist seinen Stil seiner persönlichen Erfahrung angepasst haben mag,
wie auch das Chamäleon sich einer vorgegebenen Situation anpasst, sosehr bleibt die
Grundhaltung eine, wie auch das Chamäleon unabhängig von seiner Farbe immer sich
selbst bleibt. Seit 1999 betreibt Ludger Hofmann-Engl die Internetseite
(www.chameleongroup.org.uk), die zunächst als Information über die Aktivitäten der
Chameleon Group angelegt war, sich später aber zu einer Online-Plattform für Musik,
Musiktheorie und Musikpsychologie entwickelt hat. Der Kern der Gruppe besteht neben
Ludger Hofmann-Engl aus dem Co-Gründer und Henri Pousseur-Schüler Peter Anthony
Monk und den Komponisten Giles Easterbrook, Steven Erselius und Christopher Wood.
In der aktiven Zeit der Gruppe zwischen dem Gründungsjahr 1995 und 2000 gab es neben
lokaler journalistischer Aufmerksamkeit immerhin 30 Uraufführungen sowie
Kooperationen mit gleich gesinnten Gruppierungen in den USA.
Ab 1997 stieg das Interesse der Mitglieder an Projekten mit pädagogischem Hintergrund.
Das sollte sich kurze Zeit später auch als Trend der britischen Kulturpolitik herausstellen,
205
die auch heute noch künstlerisch pädagogischen Projekten im Kontext von Schul- oder
Bildungsprogrammen höhere Finanzierungschancen einräumt627.
3.2.4.2 Soziales Engagement und Vermittlung
Die Motivation für dieses pädagogisch-soziale Engagement war das Interesse, die
offensichtliche Kluft zwischen anspruchsvoller bzw. Neuer Musik und dem Publikum zu
überwinden. Die Idee dazu war die Arbeit nicht nur mit Kindern und Jugendlichen,
sondern mit ganzen Familien628.
Ziel des Mussorgsky Family Project war, diese Kluft zwischen klassischer Musik und der
breiten Bevölkerung überbrücken zu helfen, für die – zumindest für einen Großteil von ihr
– der Zugang zu klassischer Musik nicht gegeben ist. Diese Situation wurde unter
anderem aufgrund der Tatsache als prekär eingestuft, dass immer mehr Sendekanäle für
klassische Musik gezwungen waren, zu schließen, - man sprach vom Tod der klassischen
Musik, obwohl Institutionen wie das Royal Philharmonic Orchestra, die Royal Opera und
das Royal College of Music pädagogische Vermittlungsprogramme eingerichtet hatten. Die
Versuche, das Schulsystem durch Einführung der Methoden von Carl Orff und Zoltán
Kodály zu reformieren, scheiterten ebenfalls. Mit dem als Pilotprojekt gedachten
Mussorgsky Family Project versuchte die Chameleon Group, neue Wege zu beschreiten.
Während eines Zeitraums von sechs Monaten nahmen sieben Familien mit jeweils Kindern
unter fünf Jahren an diesem Projekt teil, in welchem zur Produktion musikalischer
Collagen und zu Partialimprovisationen auf Tasteninstrumenten, Glockenspielen und
Perkussionsinstrumenten angeregt wurde. Allen diesen musikalischen Aktivitäten wurde
Modest Mussorgskys Bilder einer Ausstellung zugrunde gelegt, ergänzt durch ein
Trommelworkshop, eine öffentliche Aufführung und den Besuch eines Konzerts in
London. Die Evaluation zeigte, dass auf der Basis des Familienlernens [family-learning]
verblüffende Ergebnisse erzielt werden können und dass sogar sehr kleine Kinder fähig
sind, sich am gemeinschaftlichen Musizieren zu beteiligen. Das Konzept dieses Projekts
bezieht sich auf Studien, die die Effektivität des Familienlernens belegen, sowie jene von
Maslow (1937) und Meineke (1997), die ebenfalls den Aspekt des Lernens im Kontext der
Familie betreffen. Maslow kam zum Schluss, dass Menschen grundsätzlich Bekanntes
bevorzugen würden, - Meineke zeigte, dass unbekannte Dinge besser angenommen werden
627
Das Britische Bildungsministerium nennt sich dementsprechend Department for Children, Schools and
Families.
628
aus einem persönlichen Telefongespräch mit Ludger Hofmann-Engl am 18. 01. 2009
206
können, wenn sie in Bekanntes eingebettet sind. Deshalb startete das Mussorgsky Family
Project mit Aktivitäten, die den Familien bereits vertraut waren. Hofmann-Engl, der bereits
mit Partialimprovisation experimentiert hatte, berücksichtigte diese Improvisationsform,
die quasi Bekanntes mit noch Unbekanntem verband, in seinem Projekt.
Partialimprovisation wurde u. a. von Alfred Schnittke (Serenade 1968) entwickelt und
meint die Improvisation im Kontext mit fixiertem musikalischem Material.
Die Croydon Family Groups, mit denen dieses Projekt realisiert wurde, bestanden aus
sieben Gruppen, die allen Familien mit Kindern unter fünf Jahren offen standen und
jeweils zweistündige Sitzungen absolvierten. Insgesamt nahmen 46 Familien daran teil629.
3.2.4.3 Menschenrecht und Künstlerbild
Die Haltung Ludger Hofmann-Engls als Künstler und Vertreter der Chameleon Group ist
durchaus von seiner Wahlheimat Großbritannien geprägt. Geht es ihm darum, das
Individuum und das Individuelle zu schützen und für die Rechte des Menschen auf ein
erfülltes Leben einzutreten, so ist er sich dessen bewusst, dass die Menschenrechte von
Britischen Rechtsgelehrten eingeführt wurden, um den Missbrauch von Autorität zu
verhindern. Auch seine und der Gruppe Grund legend Lebens bejahende Haltung sieht er
als eine vorwiegend in englischsprachigen Ländern angesiedelte Tugend. Sein Künstlerbild
entspricht nicht mehr dem traditionellen romantischen, das sich außerhalb der Gesellschaft
sieht und das Hofmann-Engl als ein narzisstisches bezeichnet, für das Neid und
Konkurrenzdenken typische Symptome sind. Vielmehr hat er eine starke soziale
Komponente entwickelt, die für ihn zu einer Grundlage seiner künstlerischen
Positionierung geworden ist. Soziales Engagement, das Unterstützen anderer und auch die
Fähigkeit, die Unterstützung durch andere annehmen zu können, ist das dynamische
Konzept, das den Aktivitäten der Chameleon Group im Allgemeinen zugrunde liegt und in
den Aktivitäten in den Croydon Family Groups630 im Speziellen zum Ausdruck kommt.
629
Ludger Hofmann-Engl, Mussorgsky family project. London 2009. Aus einer E-Mail von Ludger
Hofmann-Engl am 22. 05. 2009 an den Verfasser. Es handelt sich um das Konzept für einen Vortrag, den
Ludger Hofmann-Engl am 24. Juli in Bologna im Rahmen der Konfernez MERYC (European Network of
Music Educators and Researchers of Young Children) 2009. halten wird.
630
Einer der zentralen Grundsätze der Early Years Foundation Stage, einer 2005 gegründeten Plattform, die
sich der Entwicklung und Bildung von Kindern zwischen null und fünf Jahren widmet
(http://www.standards.dfes.gov.uk/eyfs/site/profile/index.htm, 16. 03. 2009), ist die Idee, dass Eltern die
ersten und besten Erzieher der Kinder sind, dass das, was Kinder zuhause lernen, von bleibendem Nutzen ist.
In diesem Sinn hat die britische Regierung etwa im Jahr 2007 entsprechende Familienprogramme mit
30 Millionen Pfund unterstützt. (In: Annie Simpson, Why Family Learning? In: Under Five. Magazine of the
Pre-school Learning Alliance. November/December 2008) Die Konzepte der Croydon Family Groups
207
Das Hauptanliegen ist Kommunikation, von der niemand ausgeschlossen werden soll. Hat
er als Komponist ein Oeuvre von etwa 60 Kompositionen vorzuweisen, so misst er diesen
abgeschlossenen Werken heute keine Bedeutung mehr bei. Für ihn sind Prozesse und
Entwicklungen wichtiger als Endprodukte. Unabhängig von der Programmatik Neuer
Musik versucht er, mit seinen Projekten Grenzen zu durchbrechen und Risikobereitschaft
zu zeigen. So schreibt etwa Christopher Wood im Mai 2002 über ihn: Ludger HofmannEngl hat mit der Gründung der Chameleon Group wahrscheinlich mehr für die lokalen
Komponisten getan, als je einer zuvor631.
Heute hat die Chameleon Group of Composers nur zwei aktive Mitglieder, - Ludger
Hofmann-Engl und Peter Anthony Monk. Die auf der Webseite veröffentlichten Artikel
bilden die humanistische Gesinnung der Gruppe ab. Zwei dieser Publikationen seien hier
exemplarisch erwähnt: The Role of the Composer in a Contemporary Society (2006)632 und
The Tristan Chord in Context (2008)633.
3.2.4.4 Die Rolle des Komponisten
In seinem 2006 in Argentinien gehaltenen Vortrag634 widmet sich Hofmann-Engl der Rolle
des Komponisten in unserer Gesellschaft und zeichnet damit nochmals ein Bild vom
Bedeutungswandel in dieser musikalischen Kategorie anhand der Darstellung einiger
markanter Wendepunkte in der Geschichte der Musik.
Als einen wesentlichen und radikalen Einschnitt sieht er die Einführung des fünflinigen
Notensystems durch Guido von Arezzo bzw. der Mensuralnotation im 13. Jahrhundert (ars
nova), die den Komponisten erstmals das Schreiben polyphoner Musik ermöglichten und
zur Säkularisierung der Musik im Sinne eines persönlichen Ausdrucks beigetragen haben.
Auch Johannes Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks, Leonardo da Vincis Anatomie
sowie Johannes Keplers Harmonia Mundi unterstützten diese Entwicklung. Ein weiterer
Einschnitt war für Hofmann-Engl die erste Aufführung eines Werkes eines verstorbenen
Komponisten knapp 100 Jahre nach dessen Tod. Gemeint ist die Aufführung des
Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach durch Felix Mendelssohn-Bartholdy im
basieren u. a. auf der Überlegung, dass klassische Musik, die noch immer für einen Großteil der Bevölkerung
unzugänglich ist, diese Musik über die Arbeit mit Kindern unter Miteinbeziehung der Eltern nachhaltiger
vermittelt werden könne. (persönliche Auskunft von Ludger Hofmann-Engl am 18. 01. 2009)
631
Christopher Wood, music matters. In: week ending, 03. 05. 2002
632
http://www.chameleongroup.org.uk/research/composer.pdf (17. 05. 2009)
633
http://www.chameleongroup.org.uk/research/The_Tristan_Chord_in_Context.pdf (17. 05. 2009)
634
Ludger Hofmann-Engl, The Role of the Composer in a Contemporary Society. Vortrag in
Rosario/Argentinien am23. 10. 2006, Salon de Actos de la Escuela de Musica de la UNR. London 2006
208
Jahr 1829. Diese Aufführung markiere den Beginn des Historismus in der Musik, der
schwer wiegende Konsequenzen für die klassische Musik des 20. Jahrhundert bringen
sollte: Die Zahl der Aufführungen historischer Musik übersteigt heute die Zahl der
Aufführungen zeitgenössischer Musik enorm. Aber Hofmann-Engl fragt mehr noch nach
den Gründen, die Mendelssohn-Bartholdy bewegt haben könnten, die Musik Bachs wieder
zu beleben. Er sucht die Antwort in der Zeitkonzeption der westlichen Religionen, die die
Gegenwart mit der Vergangenheit und sogar mit dem Ursprung der Welt verknüpfen, - im
Gesetz der Kausalität.
Mit der Geburt des Historismus wurde die Musik zu einem Phänomen des Kultes. Auch
hinter den großen sozio-ökonomischen und technischen Veränderungen im
20. Jahrhundert, nämlich der Entwicklung der Ton- und Aufnahmetechnik, der globalen
Kommerzialisierung und der Entwicklung der Popularmusik, sieht er mit der Religion
vergleichbare Kult-Phänomene.
Auch heute ist für Hofmann-Engl die Rolle des Komponisten eine seit der Renaissance
ausgeübte politische, in der dieser für Freiheit und Unabhängigkeit eintritt. Dabei betont er
die Intersubjektivität jeglichen kompositorischen Ausdrucks und erkennt schließlich in der
Ähnlichkeit eines der wichtigsten Konzepte unserer Zeit635.
3.2.4.5 Copyright
Im Aufsatz Tristan Chord in Context untersucht Ludger Hofman-Engl die
Entwicklungsgeschichte des berühmten Tristan-Akkordes aus Richard Wagners Oper
Tristan und Isolde.
Obwohl die Ähnlichkeit des Tristan-Akkords mit Franz Liszts Ich möchte hingehen in der
Literatur berücksichtigt wurde, ist die Tatsache, dass der Tristan-Akkord und sein Umfeld
mit Fréderic Chopins op.68.4 identisch ist, offensichtlich nicht bemerkt worden. Es gelingt
ihm, zu belegen, dass Wagner diesen Akkord offensichtlich von dessen Zeitgenossen
Fréderic Chopin kopiert hat und eröffnet damit auch eine Diskussion über die Verletzung
des Copyrights636. So beleuchtet dieser Aufsatz einen Fall, der zwar mehr als 150 Jahre
635
Ludger Hofmann-Engl, The Role of the Composer in a Contemporary Society. Vortrag in
Rosario/Argentinien am23. 10. 2006, Salon de Actos de la Escuela de Musica de la UNR. London 2006
636
1) which composer (a or b) composed music m first, 2) if a composed m first, did b have access to it or
vice versa, 3) is it believable that a would copy b or vice versa and 4) are the two variants of m similar
enough to each other to claim a copy right infringement. Aus einer E-Mail von Ludger Hofmann-Engl vom
16. 05. 2009 an den Verfasser
209
zurückliegt, mit dem er jedoch das Thema historischer Wahrheit, wie relativ diese auch
immer sein mag, berührt und in Relation zum herrschenden Rechtsverständnis bringt.
3.2.5 Das Festival Sajeta
Miha Kozorog ist seit 2002 Hauptverantwortlicher für das Festival Sajeta in der kleinen
slowenischen Stadt Tolmin am Zusammenfluss der Flüsse Soča und Tolmink.
Der Ethnologe Kozorog beschreibt seine und die Motivation seiner Freunde, unter denen
einige Musiker sind und die das Festival gegründet haben, so:
There's too much shit around, so we try to do something more advanced in this "glittering
grey" times637. Und zwar in jeder Hinsicht, - in politischer, kultureller und sozialer, - aber
auch vor allem die Jugend betreffend. Das Festival hat dementsprechend auch die
Intention, politische Stellung zu beziehen. Besonders Musiker wie Damir Avdic und einige
Slowenische Künstler treten gerade wegen ihres sozialen Engagements bzw. der
diesbezüglichen Botschaft, die sie mit ihrer Kunst vermitteln, im Festival auf. Das Wort
shit bezieht er auf Tradition und Konservativismus. Als Ethnologe sieht er den heutigen
Gebrauch von Traditionen im nationalistischen Kontext, der überall wahrzunehmen sei.
Konformismus und Konsumgesellschaft sind ebenfalls Themen, die allgegenwärtig sind.
Ein anderes Wort dieses spontanen Statements Kozorogs leuchtet in Bezug auf das Thema
dieser Arbeit hier auf: „glittering grey“ (schillernd/grau) ist in gewisser Weise ein
Widerspruch. Er bekommt Bedeutung, wenn wir ihn mit einem Text Vilém Flussers
abgleichen: Flusser vergleicht die heutige Lage mit der vor dem Zweiten Weltkrieg und
stellt deren relative Farblosigkeit fest: Architektur und Maschinerie, Bücher und
Werkzeuge, Kleider und Lebensmittel, all dies ist vergleichsweise grau gewesen. ... Unsere
Umgebung ist von Farben erfüllt, welche Tag und Nacht, in der Öffentlichkeit und im
Privaten, kreischend und flüsternd, unsere Aufmerksamkeit erheischen. Flusser meint, dass
diese Farbexplosion etwas bedeutet, dass man uns mit Farben programmiere. In der
Vorkriegszeit waren Linien vorherrschend, Buchstaben und Zahlen. Die gegenwärtige
Farbenexplosion, die übrigens in den sozialistischen Ländern nicht stattgefunden hat, deute
auf ein Ansteigen der Wichtigkeit zweidimensionaler Codes638. Heute haben die Farben
der Werbeindustrie auch die Länder Südeuropas erreicht. Somit liest sich glittering grey
637
638
Aus einer persönlichen E-Mail an mich vom 12. 07. 2008
Vilém Flusser, Medienkultur. Frankfurt am Main 1997, S. 7 f
210
als ein Prädikat für beides, das Leben im Sozialismus und das in einem liberalisierten
Europa.
Aus heutiger Sicht sieht Kozorog die Gründung von Sajeta als etwas, das aus einer
Situation heraus entstanden ist und seither gelebt wird, weil es eine gute Idee gewesen zu
sein scheint und weil es Verbindungen und Beziehungen zu vielen Menschen schafft. Und
es schafft auch lokale Identität, - das Festival stellt einen Ort, von dem man im weltweiten
Kontext sonst nie etwas hören würde, in den Mittelpunkt, - Miha Kozorog schrieb seine
Dissertation zu diesem Thema.
3.2.5.1 Digitalisierung
Sajeta ist kein Festival speziell für digitale Musik und Kultur, weil auch andere
künstlerische Annäherungen präsentiert werden. Kozorog glaubt, dass die Digitalisierung
wichtig für den Beginn des Festivals war. Denn die wichtigen Behelfe für die
Festivalorganisation sind die Kommunikations- und Informationstechnologien, welche es
leichter machen, neue oder aktuelle Musik etwa im Internet zu finden oder Kontakte zu
jedem Musiker auf der Welt direkt über E-Mail herzustellen. Mit der neuen Technologie
hatte man Zugang zu wesentlich mehr neuer Musik, was sich auf die Programmierung
ausgewirkt hat. Zudem war es möglich, jeden Künstler direkt zu kontaktieren. Und weil es
auf dem Gebiet der Elektronischen Musik viele neue Entwicklungen gab, wurde
elektronische bzw. digitale Musik ebenfalls im Rahmen des Festivals präsentiert.
Der andere Grund, z. B. Laptop Artists einzuladen, war aber auch das begrenzte Budget, heute sei es viel billiger, einen digitalen Künstler im Festival zu präsentieren als zum
Beispiel ein analoges Jazz Trio.
3.2.5.2 Spirituelle Aspekte
Spirituelle Aspekte haben wesentlichen Anteil an der Konzeption dieses Festivals . Von
Sajeta wird gesagt, dass es ein lokales mystisches und mythisches Ereignis ist, aber auf der
anderen Seite ist dieses Bild nicht streng traditionell zu verstehen, - dieses Prädikat bekam
Sajeta vielmehr von Seite der lokalen Jugend (die Stadt Tolmin hat etwa 3500 Einwohner)
verliehen. Sajeta ist eine Art mythische - keine sehr ernste, eine eher lustige, manchmal
auch gefährliche - Figur. Der Name Sajeta hat in Bezug auf das Festival zwei Lesarten.
Einerseits bedeutet es die emotionale Identifikation der Organisatoren mit der Region
(Sajeta ist eine Gestalt aus der lokalen Geschichte), - andererseits ist es eine Art von
211
Totem, hilfreich für die Produktion von Geschichten, für die Kombination von Natur mit
digitaler bzw. zeitgenössischer Kunst und nicht zuletzt für Marketingideen.
Aber es gibt noch einen weiteren spirituellen Aspekt. Weil das Festival an den Ufern bzw.
am Zusammenfluss von zwei Flüssen statt findet, erwarten sich viele Besucher und
Teilnehmer eine tiefe spirituelle Erfahrung im Sinne von New Age. Einige dieser sind aber
enttäuscht oder sogar verärgert, weil sie keine Geräuschmusik oder Ähnliches, was im
Programm immer wieder vorkommt, erwartet haben. Kozorog und sein Team glauben,
dass diese Musik Sajetanische Schwingungen hat, schon wegen der Flüsse in der
Umgebung. Es gibt also viele Widersprüche und Missverständnisse, die eine Art
Markenzeichen für dieses Festival geworden sind und manchmal auch Spaß und kulturelle
Schocks auslösen können.
Die Tatsache, dass der Veranstaltungsort in der Nähe zweier Flüsse ist, hat sicher auch
Einfluss auf die Erscheinungsform und die Wirkung der Veranstaltungen. Auch einige
Musiker scheinen hier in einer ganz speziellen Weise zu arbeiten und auf den Ort zu
reagieren, sicher aufgrund der speziellen Atmosphäre des Veranstaltungsortes Sotočje, was
soviel wie Zusammenfluss heißt.
Auch im Organisationsteam sind es spirituelle Motive, die die Kontinuität des Festivals
sichern, aber in erster Linie sind das künstlerische Belange und die Leidenschaft, etwas
gemeinsam in einer kleinen Gruppe von Freunden zu tun.
Der Name Sajeta mag auch als Hinweis auf diese Grundeinstellung gelten: Das Wort ist
vom Italienischen Saeta (Donnerschlag) abgeleitet und hat hier die Funktion einer
Metapher für Außergewöhnliches. In der Vorstellung der Veranstalter verwandelt sich
Sajeta zu einem mythischen Wesen mit hoher Energie639.
3.2.5.3 Publikum
Mit diesem Festival wollten wir das Niveau und Konzept Slowenischer Musikfestivals
verbessern und frischen Wind in unsere eigene Region des Soča Tales. Wir wollten zeigen,
dass die Dinge an der Peripherie anders waren als in den Zentren (Ljubljana), und wir
versuchten, kreative Leute zusammenzubringen, ohne Rücksicht auf ihren Hintergrund,
ihre Herkunft.
Diese Ziele versuchte man zu erreichen, indem man Schwerpunkt und Aufmerksamkeit auf
die Konsumenten - also das Publikum - und die Produzenten des Festivals, die Künstler
639
aus einer E-Mail von Miha Kozorog an den Verfasser am 11. 04. 2009
212
gleichmäßig verteilte. Die Teilnehmer sind sehr gut und in einer sehr aktiven Form
integriert, - nicht nur weil sie Teil von verschiedenen Workshops sein können, sondern
etwa weil eine Woche Campingplatz angeboten wird, - in einer Woche ist genug Zeit für
die Leute, um miteinander zu kommunizieren und einander kennenzulernen. So kommt es
vor, dass nach wenigen Tagen einige im technischen Bereich mithelfen, andere sich
anderswo hilfsbereit zeigen. Interventionen von Teilnehmenden sind den Veranstaltern
immer willkommen.
Die Teilnehmer sehen, dass sie nicht nur in der passiven Rolle der Konsumenten sind,
sondern dass sie aktiv mithelfen können und in einer sehr aktiven Weise ein Teil des
Festivals werden können.
3.2.5.4 Schwerpunkte
In den letzten Jahren lag der Schwerpunkt des Programms auf neuen, frischen
Produktionen mit Musikern bzw. Komponisten. Die Aufmerksamkeit der Organisatoren
galt besonders den Eigenproduktionen, sodass neue Arbeiten während bzw. für das
Festival entstehen konnten.
Der Ausgangspunkt dafür waren Workshops, die dazu gedacht waren, die künstlerische
Produktion zu fördern. Als das - nach einigen Jahren – nicht genügend Erfolg hatte, lud
man Gastkünstler ein, die untereinander zusammenarbeiten und neue Festival-Projekte
kreieren sollten. Vor allem galt das Interesse, die lokalen Künstler mit international
anerkannten Künstlern zusammenzubringen. Daraus resultierten interessante
Begegnungen, von denen einige bis heute aktiv sind, etwa Embryo und Salamandra
Salamandra, Zlatko Kaucic und Alexander Balanescu, The Tolmin Rebelion (Tolminski
punt) und Peter Brötzmann, Francesco Cusa und many Slovenian artists.
Aber das Festival hat noch mehr Facetten, so z. B. das Anliegen, mit Musikszenen aus ExYugoslawien zusammenzuarbeiten. So kam es schon zu zahlreichen Begegnungen
zwischen der lokalen Szene und anderen Szenen in jenem Gebiet. Die Initiatoren des
Festivals wollen die Kommunikation mit dem Teil der Welt, mit dem sie früher noch
verbunden waren, wieder aktivieren bzw. nicht beenden.
3.2.5.5 Resultat, Prozess oder Situation
Den Veranstaltern geht es vor allem um das Kreieren von Situationen und Kontinuität. Sie
sehen sich am meisten bestätigt, wenn Projekte, die im Festival ihren Ausgangspunkt
213
hatten, erfolgreich fortgesetzt wurden. Es bedeutet für sie, dass die Schwingungen, die
Vibes des Festivals die richtigen sind. In diesem Sinn werden die Künstler das Festival im
Gedächtnis behalten und wiederkommen wollen. Neben diesem situativ-atmosphärischen
Fokus sind die künstlerischen Ergebnisse ebenso wichtig. Es gibt inzwischen viele TonDokumente von musikalischen Begegnungen, die Sajeta initiiert hat, die aber noch nicht
veröffentlicht sind.
3.2.5.6 Begriffe
Bezüglich der heute gängigen Begrifflichkeit im Bereich der zeitgenössischen Musik sind
die Veranstalter mehr und mehr skeptisch, obwohl sie die Begriffe noch verwenden bzw.
verwendet haben. Miha Kozorog sagt, dass sie leer geworden sind. Man finde sie in so
vielen unterschiedlichen Zusammenhängen, weit entfernt von der wahren Avantgarde. Und
schließlich haben diese Begriffe heute einen stark bürgerlichen Klang, während Sajeta in
der Jugendkultur wurzelt, in einer lokalen Jugendszene. Gerade heute betont Sajeta die
Komponente Jugendkultur mehr und mehr, vielleicht als Reaktion auf Musikkritiker, die
das Festival belächelten, als es die gängigen Etiketten verwendete. Sajeta ist heute eine
gute Marke, die mehr und mehr für sich selbst spricht. Viele Menschen in Slowenien und
der weiteren Umgebung wissen, dass sie in Tolmin etwas erwartet, das sich von dem
unterscheidet, was sie anderswo hören können, und dass es wertvoll ist, das zu erleben.
3.2.5.7 Ökonomischer und sozialer Hintergrund
Sajeta ist nicht wirtschaftlich orientiert, doch braucht jedes Festival genügend Einnahmen,
um überleben zu können. Das Problem unseres Festivals ist, dass es als
Gemeinschaftsprojekt begann, - eine Gruppe von Freunden gründete es aus Enthusiasmus,
aus „Gefühl“. Als dann später im Festival große Namen auftauchten und uns als
Veranstalter die Bürokratie vor immer neue Aufgaben stellte, wurde es klar, dass das
Projekt ohne genügend Budget nicht überleben könnte.
Es ist zu viel Verantwortung für die Organisatoren, ohne die übliche Bezahlung zu
arbeiten. In den letzten beiden Jahren bekam das Festival ein wenig finanzielle
Unterstützung vom Staat und von der Stadt, aber beide zusammen repräsentieren etwa nur
ein Drittel des Gesamtbudgets, wenn man wirklich sorgsam mit der Budgetentwicklung
verfährt. Ich glaube, dass das Festival keine Zukunft hat, wenn wir keine finanziellen
Lösungen finden oder institutionelle Unterstützung bekommen. Zurzeit ist das Festival ein
214
Projekt des Jugendverbandes von Tolmin (ZDMD), welche einen Jugendklub in Tolmin
betreibt (Multimedia Centre Mink) und eine gewisse Ausrüstung an Computern, PA und
Videogeräten besitzt), aber diese Institution hat keinen einzigen Angestellten. Auf der
Stadtverwaltung liegt eine große Verantwortung, diese Situation zu verbessern und die
Institutionalisierung von ZTMD und dem Multimedia Centre Mink voranzutreiben, aber
noch scheint es keinen politischen Willen dafür zu geben. Obwohl Tolmin eine wichtige
Festival-Stadt in Slowenien geworden ist (vor allem wegen dem Metal Camp, das in
Tolmin stattfindet), wird die örtliche kulturelle Infrastruktur unterschätzt bzw. als
selbstverständlich angesehen.
Was den sozialen Hintergrund betrifft, ist Sajeta ein sehr Orts bezogenes Projekt, sehr in
einer lokalen Szene verwurzelt. Kozorog glaubt, dass das Festival nur wegen der starken
lokalen Identität der Veranstalter möglich ist. Weil die Arbeitsbedingungen schwieriger
und schwieriger werden und man am Ende kein Plus erwirtschaften könne, gebe es mehr
und mehr Überlegungen, das Festival zu beenden. Es ist nur eines, das das Festival wieder
und wieder geschehen lässt, eine Art rituelle Wiederholung unter einer Gruppe von
Freunden, Musik- und Kunstliebhabern.
3.2.5.8 Organisaton, Konzept
Der formale Veranstalter ist der Jugendverband von Tolmin (ZTMD), eine lokale
Jugendorganisation. Die operative Arbeit aber wird von ungefähr fünf Personen aus
Tolmin geleistet, welche glauben, dass das Festival eine gute Sache ist und deshalb ihre
Energie investieren. Dann gibt es weitere Leute von außerhalb Tolmins (Ljubljana usw.),
die dem Festival zu helfen versuchen, indem sie ihre Vorlieben wie Fotografieren,
Soundmixing, DJ-ing, Dokumentation, Mithelfen in der Programmierung des Festivals
usw. einbringen. Es gibt zwar keinen wirklichen Leiter oder Direktor, aber Miha Kozorog
ist für das endgültige Programm verantwortlich, - schließlich gibt es noch den Präsidenten
des ZTMD, Janez Leban, der rechtlich für alles die Verantwortung trägt und sich um alles
Bürokratische kümmert.
Das Festival wurde inzwischen zu einem gesellschaftlichen Treffpunkt von Freunden aus
Tolmin, aber auch aus anderen Gegenden, nicht nur aus Slovenien, sondern auch Serbien,
Kroatien, Italien und Österreich. Dieses Gemeinschaftsgefühl mag für Außenseiter
Geschlossenheit signalisieren, was die Verantwortlichen ein wenig stört, doch ist es
215
andererseits genau dieses Gemeinschaftsgefühl, das das Festival am Leben erhält und sie
motiviert, weiterzumachen.
3.2.5.9 Was ist das Neue
Die Herausforderung wie auch das persönliche Ziel für den Anthropologen Kozorog war,
das alte anthropologische Paradigma zu überwinden, Menschen zu erforschen, aber eher,
um sich in ein Gemeinschaftsexperiment einzulassen. Er begann 2002, sich um dieses
Projekt zu kümmern, - vorher beobachtete er es nur von außen.
Was neu ist? Im Konzept des Festivals ist, glaube ich, im Verhältnis zu historischen oder
zeitgenössischen Festivals, nichts neu. Es habe immer schon Festivals gegeben, die
unterschiedliche Stile, Genres und Kunst kombiniert haben, es habe immer auch schon
Festival-Eigenproduktionen gegeben, und auch Festivals spontaner Gemeinschaft mit
starkem lokalen Bezug. Aber trotzdem gebe es nicht viele Festivals wie Sajeta640.
3.2.6 International Multimedial Art Festival (IMAF)
Das International Multimedial Art Festival widmet sich vor allem der Performance-Kunst,
einer Kunstform, die sich in ersten Ansätzen etwa seit 1920 im Dadaismus zeigt641.
Performance als Performing Art entsteht in den 1970er Jahren im Kontext der sich zur
Spätmoderne wandelnden Gesellschaft, wobei der Zusammenhang mit der Postmoderne
evident zu sein scheint, aber auch eine Verbindung zum Feminismus dieser Zeit besteht.
Die Performance-Kunst entspringt vor allem den Umbrüchen in der darstellenden und
bildenden Kunst, - in der bildenden Kunst durch die Einführung des Parameters Zeit,
d. h. von Dauer und Momenthaftigkeit, Simultaneität und Unwiederholbarkeit, sowie
körperlicher Präsenz. In der Radikalität der Wahl der Gestaltungsmittel drückt sich die
Kritik am traditionellen Werkbegriff sowie an der Trennung von Werk und
Entstehungsprozess aus. Der Prozess der Bildwerdung wird zum theatralischen Akt, die
Ateliersituation weicht einer Szene mit Publikum642. Auch aus der Sicht der szenischen
Kunst entwickeln sich neue Ausdrucksmittel, - die Darbietung wird zum Akt und zum
Prozess. Hier kommt zur neuen Auffassung von Zeit auch eine neue Konzeption des
640
aus einem per E-Mail geführten Interview mit Miha Kozorog, Antworten in persönlichen E-Mails an den
Verfasser am 18. 01. 2009 und 10. 04. 2009
641
Gabriele Klein/Wolfgang Sting, Performance als soziale und ästhetische Praxis. In: Gabriele
Klein/Wolfgang Sting (Hsg.), Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst. Bielefeld
2005, S. 11
642
Gabriele Klein/Wolfgang Sting (2005) S. 11 ff
216
Raumes. Die Performance-Kunst verlässt das klassische Theater und sucht den
öffentlichen Raum. Theater in diesem neuen Sinn wäre nicht mehr der Ort bürgerlicher
Repräsentation, sondern Ereignis, unmittelbare Erfahrung des Realen und Inszenierung
von Authentizität, - Flüchtigkeit, Gegenwärtigkeit und Vergänglichkeit wären nunmehr
dessen Kennzeichen. Performance ist eine sich zwischen Theater und Tanz, Musik, Film
und bildender Kunst konstituierende ästhetische Praxis, - eine extrem wandelbare
innovative Kunstform643. Diese ästhetische Praxis wird im sozialen und als sozialer
Prozess definiert, indem sie auf Texte und Rollenbilder verzichtet. Hier handelt es sich um
ein serious game, das sich ereignet, Gegenwart herstellt, und nicht nur so tut als ob. Es ist
auf Körper und Bewegung, auf Selbst-Erleben und Mitbeteiligung der Zuschauer
ausgerichtet. Im Unterschied zur Aufführungspraxis der medialen Öffentlichkeit, des
Performativen in allen gesellschaftlichen Bereichen (Eventkultur), stellen künstlerische
Performances die Ökonomisierung und Veralltäglichung des Theatralen in Frage. Hier
liege die politische Chance der Performance-Kunst. Die Werte der globalisierten Welt wie
Beweglichkeit, Flüchtigkeit, Ortlosigkeit, Flexibilität und das permanente Neuerfinden des
Selbst sind im Grunde identisch mit den Leitbildern der Akteure. Stillstand, Langsamkeit
oder Inszenierung der Abwesenheit können Strategien sein, um sich von der Gesellschaft
des Spektakels abzusetzen bzw. dieses zu verweigern644.
Auch Musik hat grundsätzlich performativen Charakter, und für die musikalische
Darbietung gilt heute, was für das Theater gesagt wurde. Auch im Bereich der Musik ist
eine Bewegung aus den Konzertsälen zu beobachten645. Ist das traditionelle Konzert646 eine
starre Inszenierung tradierter Texte und Rollenbilder, zielen musikalische Performances in
speziell ausgewählten öffentlichen Räumen ebenfalls auf Authentizität und
Gegenwärtigkeit. Die Multimedialität, auf die der Festivalname verweist, ist nicht nur ein
weiteres Merkmal der Performance-Kunst, sondern ein Trend im allgemeinen
Kunstschaffen.
Im Herbst 1998 gründete der 1955 in Odzaci/Serbien geborene Performance-Künstler
Nenad Bogdanovic das International Multimedial Art Festival (IMAF). Bereits zuvor
643
Gabriele Klein/Wolfgang Sting (2005) S. 12 ff
Gabriele Klein/Wolfgang Sting (2005) S. 15 f
645
Vgl. das Klangforschungsprojekt Songs of(f) Stage an der Universität Mozarteum. Aus: Helmi Vent,
Spiel-Arten und Ereignisparameter im Experimentellen Musiktheater am Beispiel einer
TanzMusikTheaterWerksattt. In: Gabriele Klein/Wolfgang Sting (Hsg.) (2005) S. 157 ff
646
Auch die traditionelle Konzertsituation ist kulturanthropologisch gesehen als cultural performance und in
dem Sinn, in dem alle Arten von Performances kulturell kontextualisiert sind, eine Praxis, in der die Kultur
sich selbst erkennt, in diesem Fall also ein Ort der bürgerlichen Repräsentation, das Konzert ein Ritual der
bürgerlichen Gesellschaft. Vgl. Gabriele Klein/Wolfgang Sting (2005) S. 7
644
217
(1984/88) gründete Bogdanovic die Kunstzeitschriften Total und Secondo Manifesto, deren
Herausgeber er auch war. Seit 1980 ist er Kurator verschiedener internationaler
Kunstprojekte und Ausstellungen sowie Gründer und Leiter des Multimedial Art Studio
und der MAS – Gallery in Odzaci, die sich der Performance-Kunst widmen. Seit 1980 tritt
er mit seinen Performances und Kunstaktionen im Rahmen zahlreicher internationaler
Festivals an die Öffentlichkeit. 1993 begann er das Kunst-Projekt Man Gallery.
Das International Multimedial Art Festival widmet sich allen Formen zeitgenössischer
Kunst unter Berücksichtigung aller modernen Medien. Eines der Ziele dieses Festivals ist
die Erweiterung des Territoriums zeitgenössischer Kunst, die Ausweitung bestehender
Grenzen. Es ist allen Medien gegenüber, die ein Künstler für seine Arbeit wählt, offen, um
das Fundament für neue bzw. zukünftige Kunstformen zu legen. Es werden auch nur
solche Künstler eingeladen, deren Arbeit als innovative und aufrichtige Kunstform
angesehen werden kann. Die teilnehmenden Künstler kommen aus allen Teilen der Welt
und finden hier ein interessiertes Publikum sowie eine Plattform für Austausch, Diskurs
und Freundschaft. In diesem Sinn ist dieses Festival im internationalen Vergleich ein
wichtiger Ort für Performance-Kunst. Die Motivation für Bogdanovic sind künstlerische
Befriedigung und persönliches Wachstum.
3.2.6.1 Publikum
Im Zusammenhang mit der Offenheit gegenüber neuen Kunstformen ist IMAF auch
bestrebt, das Publikum in aktiver Weise zu integrieren. In einigen Fällen ist das Publikum
sogar integrativer Bestandteil der künstlerischen Performance oder Aktion. Grundsätzlich
sieht Bogdanovic sein Festival als einen Ort für Kommunikation, an dem die Besucher die
Möglichkeit haben bzw. ermuntert werden, mit den am Festival beteiligten Künstlern in
Kontakt zu treten. In diesem Sinne versucht man, während des Festivals eine entsprechend
freundschaftliche Atmosphäre zu schaffen, um den Zusammenhalt, die Gemeinsamkeit zu
forcieren.
So wird auch jeder Teilbereich des kommunikativen Prozesses gleich wichtig genommen:
Künstler, Publikum und die Kommunikation zwischen diesen beiden. Bogdanovic und sein
Team sind der Meinung, dass in der zeitgenössischen Kunst grundsätzlich das Publikum
genauso wichtig ist wie die Künstler, erst in der Aktivität beider wird quasi Kunst erst
realisiert. Dabei geht das Interesse des Veranstalters weg vom traditionellen Werkbegriff
hin zu dem des künstlerischen Prozesses und der Situation. Die materiellen Resultate im
218
Sinn von geschlossenen Produkten sind dabei weniger von Bedeutung als die Resultate, die
sich aus Interaktionen ergeben, - Prozessorientierung steht also vor Ergebnisorientierung.
Die Positionierung des Festivals im Kontext traditioneller Entwicklung und Begrifflichkeit
ist grundsätzlich nicht angestrebt. Es gehe nicht darum, das Programm bzw. die
auftretenden Künstler in einen wie auch immer gearteten historischen oder begrifflichen
Kontext zu stellen, sondern ausschließlich um die präsentierte Kunst.
Die Bedeutung des IMA Festivals für die Region steht in keinem Zusammenhang mit der
finanziellen Unterstützung, die es bekommt. Verglichen mit der Tatsache, dass
zeitgenössische Kunst in Serbien sehr wenig gefördert wird, sind aber die
Arbeitsbedingungen relativ gut. Seit die lokale Gemeinde die Wichtigkeit von
internationalem Kulturaustausch eingesehen hat, gibt es von dieser Seite genügend
Unterstützung, doch wäre mehr staatliche Unterstützung für das Festivalteam
wünschenswert. Dieses besteht im Prinzip aus zwei Personen, Nenad Bogdanovic und
Radoslav B. Chugaly, beide Mitglieder der Serbischen Künstlervereinigung, - unterstützt
von einigen Künstlern und Kunstkritikern. Weiters gibt es einen künstlerischen Beirat, der
die Anmeldungen und Angebote prüft und über das Programm entscheidet. Einige Künstler
werden aufgrund der Empfehlung international anerkannter Persönlichkeiten und andere
aufgrund ihrer dem Team bereits bekannten Arbeit eingeladen.
Als die wesentliche und ursprüngliche Motivation dieser Arbeit bezeichnet Bogdanovic die
kulturelle Isolation seines Landes bzw. seiner Region, die man mit der Aktivität dieses
Festivals aufbrechen will. Ein weiterer, nicht weniger wichtiger Grund für das Engagement
ist, die zeitgenössische Kunst in eine Region zu bringen, die sonst mit Kunst nicht so stark
in Berührung kommt, wie das z. B. in den Großstädten und Metropolen der Fall ist.
Bogdanovic und sein Team wollen beweisen, dass kleine Gemeinden genauso wichtig sind
wie die großen647. Kenneth McBride bezeichnet das Festival als den sozialen Körper
(social body) des Landes, als einen Ort der Identität648.
647
aus einem per E-Mail geführten Interview mit Nenad Bogdanovic, Antworten vom 23. 03. und
01. 04. 2009
648
Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 34
219
3.2.6.2 Themen
Eines der Grundthemen der in Odzaci gepflegten Performance-Kultur ist der menschliche
Körper und – bevorzugt durch die Lage des Veranstaltungsortes am Ufer der Donau649 –
die Natur. Das fünfte Internationale Multimedial Art Festival rückte mit dem Thema
Nature of performance – performance in nature nicht nur die Auseinandersetzung mit der
Natur in den Vordergrund, sondern vor allem den Diskurs über die Definition von
Performance-Kunst650. So schreibt Caterina Davinio (Italien) im Textteil des Kataloges,
dass das Ziel der Performance-Kunst sei, mit dem Körper und mit der Stimme zu
kommunizieren, - einen interaktiven Raum zu schaffen, der den realen Lebensraum mit
Kunst und die Kunst mit realem Raum verbindet. Die Konzepte vom Körper als Identität,
Aktion und Interaktion haben sich durch das Internet und die Internet-Kunst radikal
verändert. Die neuen Konzepte sind die der Verlagerung des Körpers und der Aktion in
virtuelle Räume (Cyberspace), der Mehrfach-Identitäten und der kollektiven kreativen
Handlung (cre-action). Mit der neuen Natur der Medienlandschaft und ihrer telematischen
Durchmessung habe sich auch die Natur der Performance verändert, die sich nun der
Kommunikationstechnologie bediene651. Klaus Groh (Deutschland) entwirft eine sechs
Punkte umfassende, die Unterschiede zur Natur herausarbeitende Definition von
Performance-Kunst: 1) Performance-Kunst ist künstliche kreative Aktivität, 2) Performance-Kunst ist konzentrierte Isolation vom Leben, 3) Performance-Kunst hat die
Übertragung von Identität zum Ziel, 4) Performance-Kunst existiert nur im Dialog
zwischen Akteur und Betrachter 5) Performance-Kunst verlangt intelligente soziale
Reaktion 6) Performance-Kunst ist ein kultureller Prozess652.
Die kanadische Performance-Künstlerin Pam Patterson setzte sich in ihrer Arbeit mit dem
Atem bzw. dem Atmen als Ausdruckspotential auseinander. Mit Hilfe ihrer Hände
ritualisierte sie das Ende eines Atemzugs und den Beginn eines neuen. Mit der
Thematisierung des Atmens wollte sie die Notwendigkeit einer aktiven und bewussten
Entscheidung, sich dem Leben und seinen Aktivitäten zu öffnen, zeigen653.
649
ein Teil des Programmes 2003 fand in Kamariste, 15 km von Odzaci entfernt, statt. Dieses Waldgebiet
liegt an der Grenze zwischen Serbien und Kroatien und am Ufer der Donau.
650
Nenad Bogdanovic et al, IMAF 2003, Katalog zum 5. Internationalen Multimedial Art Festival 22. 08. –
30. 09. 2003 Odzaci, Serbien und Montenegro. Odzaci 2003, S. 18 - 36
651
Bogdanovic et al (2003) S. 18
652
Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 21
653
Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 19 f
220
Ein wichtiger Aspekt der Performance-Kunst ist das Verhältnis der Künstler zum
Publikum. Für Hugh O’Donnell (Nordirland) ist die Natur der Performance mit der
menschlichen gleichzusetzen: der Drang, etwas zu schaffen, die Bereitschaft, neue Medien
auszuprobieren, den Körper als Medium und eine Art physischer Metapher einzusetzen,
ermöglicht dem Publikum eine Erfahrung, die der des Künstlers gleich ist. Performances
sind an den Ort gebunden, der dem Künstler ermöglicht, eine visuelle Sprache zu
entwickeln, die für den Ort spricht und den Künstler mit dem Publikum verbindet654. Auch
für Sarawut Chutiwongpeti (Thailand) geht es darum, Vertrautheit und emotionale
Resonanz mit dem Betrachter zu erkunden655. Adina Bar-On (Israel) spielt in ihrer Arbeit
View (1997/98) auf den Unterschied zwischen vertraut und entfernt, privat und öffentlich
an. Unter anderem will sie damit die Legitimität des Romantischen zeigen und das
Einfühlungsvermögen fördern656. Philosophische und spirituelle Themen liegen im
Kontext dieser Kunstform, die rituelle wie kultische Aspekte in sich trägt, nahe. Paul King
(Großbritannien) vergleicht seine Arbeit mit philosophischen Untersuchungen, die keine
bestimmten, eindeutigen Antworten zulassen, - die jeweilige Antwort kann nur vom
Betrachter subjektiv ermittelt werden. Mit seiner Arbeit gibt er keine Antworten, vielmehr
stellt er Grund legende Fragen657. Natascha Pena-Urrutia (Schweden/Chile) sieht die
Wurzeln der Perfomance-Kunst im ununterbrochenen Dialog mit der Natur, den die
Menschen ursprünglich gepflegt und den sie in Ritualen ausgelebt haben. Im Zuge des
Rationalisierungsprozesses in der westlichen Welt sei dieser unverfälschte Kontakt
verloren gegangen. Die Performance-Kunst ist zu Beginn des vorigen Jahrhunderts als
Antwort auf den Rationalismus und als Ausdruck des Bedürfnisses nach spiritueller
Entwicklung entstanden. So trage die Performance-Kunst zur Wiedervereinigung des
Menschen mit der Natur bei658. Aleksandar Jovanovic (Serbien/Montenegro) hebt in
seinem Feedback das im Festival spürbare Anliegen nach größtmöglicher Kreativität und
spiritueller Kommunikation mit dem Publikum hervor659. Der Spanier Bartolome Ferrando
erwähnt die große Bandbreite von Praktiken, Aktionen und Interventionen in der heutigen
Perfomance-Kunst.
654
Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 22 f
Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 21 f
656
Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 25
657
Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 25
658
Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 29
659
Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 36
655
221
Diese Pluralität sei kein Zeichen für Auflösung oder Untergang, sondern mache Praktiken
möglich, die Schnittpunkte zu erzeugen und Informationen auszutauschen in der Lage sind.
In den Bereichen Malerei, Musik, Skulptur, Theater, Tanz, Film, Literatur, Installation,
Environment, Dichtung, Video und Computer baue der Künstler Zusammenhänge, - er
klebe die einzelnen Elemente nicht zusammen, er verschmelze sie ineinander. Performance
sei nicht logisch, sie untergrabe die gewohnte Syntax von Aufführungen, - sie konfrontiere
uns mit Diskontinuität660.
3.2.7 Fair Music
Das Ziel von fair music, der ersten weltweiten Initiative für mehr Fairness und
Gerechtigkeit in der Musikwirtschaft ist es, ein breiteres Bewusstsein für Fairness im
Musikbusiness zu schaffen, die Stellung sowohl der KünstlerInnen als auch der
MusikhörerInnen weltweit zu stärken, faire Regeln im Musikleben zu etablieren,
künstlerische Freiheit zu schützen, faire Honorierung von Komponisten und Musikern
sowie eine gerechte Verteilung der Chancen für kleine Produzenten weltweit zu erreichen.
fair music wurde vom Musikinformationszentrum Austria (mica-music austria)661 initiiert,
- die Idee stammt von dessen geschäftsführendem Direktor Peter Rantaša, der die
Erfahrungen der Fair Trade Organisationen mit Nahrungsmitteln aufgegriffen und sie in
die Welt kultureller Güter und Leistungen übertragen hat.
3.2.7.1 Peter Rantaša
1964 in Wien geboren und ursprünglich Klangkünstler, gründete Rantaša zunächst das
Wiener Electronic Festival PhonoTAKTIK und die Wiener Electronic Plattform Rhiz - Bar
Modern, bevor er 1999 die Geschäftsführung von mica - music austria übernahm. Seit
2003 ist Rantaša auch Mitglied des Vorstands des Internationalen Musikrates (IMC).
Sowohl in seiner Rolle als Künstler als auch in der des Kurators und nicht zuletzt in der
des Hörers und Musikfans haben ihn die unfaire Behandlung von Musikern und die
Einschränkung deren künstlerischer Freiheit durch kommerzielle Interessen empört.
660
Nenad Bogdanovic et al (2003) S. 29
mica – music austria wurde 1994 gegründet. Die Hauptaufgabe dieser unabhängigen Non-ProfitExpertenorganisation ist es, Österreichische Musik aller Genres weltweit zu verbreiten und zu unterstützen.
mica - music austria ist Teil eines Netzwerks und Schnittstelle für Produzenten, professionelle Musiker und
Hörer in Europa. Es schafft Verbindungen zwischen Politik und dem Musiksektor und ist ein Forum für alle
Interessensgruppen im Bereich Musik. vgl. www.musicaustria.at (22. 03. 2009)
661
222
Musikschaffenden sollte künftig das Schicksal erspart bleiben, das vielen von ihnen schon
zuteil wurde662. Rantaša hält den Moment für günstig: Die aktuellen dramatischen
Veränderungen in der Musikbranche lassen keinen Stein auf dem anderen. Man kann
diesen Strukturwandel als Modernisierungsschub begreifen. Er bietet uns die Chance, ein
Bewusstsein für Fairness in Produktion und Vertrieb von Musik zu schaffen und in
Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen und NGOs aus dem Musikbereich
breit akzeptierte Standards zu etablieren.
3.2.7.2 Menschenrecht
Schließlich bezieht sich Peter Rantaša mit seiner Initiative auf Musik als ein Menschenrecht663. Der duale Charakter kultureller Güter und Leistungen werde oft ausgeblendet,
wenn es in internationalen Debatten bezüglich kultureller Vielfalt oder Solidarität in erster
Linie um die Verteilung von Geld geht. Mit diesem dualen Charakter ist gemeint, dass ein
Kulturgut – etwa eine Komposition oder eine Musik-CD - eine ökonomische und eine
ideelle Seite aufweist. Diese nicht-ökonomische Seite, die das Kulturelle von anderen
verhandelbaren Sphären unterscheidet, lässt sich nicht in Zahlen ausdrücken, sei deshalb
dem Missbrauch ausgeliefert und fände daher auch wenig Fürsprache, - außer durch das
Menschenrecht selbst. Der duale Charakter kultureller Güter und Leistungen erzeugt einen
Widerspruch im kulturellen Gegenstand selbst, ein Gegenstand, der sich – wie die sich
entwickelnden Wissensgesellschaften – in einer Phase der Wandlung befindet. Dieser
inhärente Widerspruch arbeitet ausgerechnet jenen traditionellen Kräften in die Hände,
die das Kulturelle ... auf seine ökonomische Dimension reduzieren wollen, um es ohne
Hindernisse handelbar und verhandelbar zu machen 664.
662
Als Beispiel erwähnt Rantaša Solomon Linda, der die Rechte für seinen Titel Mbube 1939 für einen
geringen Betrag an seinen Verlag verkauft hatte und am späteren Welterfolg des zu The Lion sleeps tonight
umbenannten Songs nicht mehr teilhaben konnte. Er verstarb 1962 völlig verarmt. Aus:
http://fairmusic.net/?paged=2&s=fairness (03. 04. 2009)
663
Im Statut des International Music Council (IMC) sind die musikalischen Grundrechte verankert: 1) Alle
Kinder und Erwachsene haben das Recht, sich in aller Freiheit musikalisch auszudrücken 2) Alle Kinder und
Erwachsene haben das Recht, musikalische Ausdrucksformen und Fähigkeiten zu erlernen 3) Alle Kinder
und Erwachsene haben das Recht auf Zugang zu musikalischen Aktivitäten: zur Teilnahme, zum Hören, zum
musikalischen Schaffen und zur Information 4) Musikschaffende haben das Recht, sich als Künstler zu
entwickeln und das Recht auf Kommunikation in allen Medien, indem ihnen angemessene Einrichtungen zu
ihrer Verfügung stehen 5) Musikschaffende haben das Recht auf angemessene Anerkennung und Vergütung
für ihre Arbeit. Aus: Peter M. Rantaša, Fair Music. In: Privacy 43, Katalog zur Ars Electronica, Linz 2007,
S. 172
664
Aus einem persönlichen Gespräch des Verfassers mit Peter Rantaša am 05. 05. 2009 in Wien, vgl. auch
Andreas Hirsch/Peter Rantaša, Strom ohne Wiederkehr. Für eine Dialektik kultureller Modernisierung. In:
Hybrid. Living in paradox. Katalog zur Ars Electronica 2005, Linz 2005, S. 137, siehe auch:
http://90.146.8.18/de/archiv_files/20051/FE_2005_Rantasa_%20Hirsch_de.pdf (06. 05. 2009)
223
Menschenrecht beinhaltet auch den Schutz des geistigen Eigentums. In unserer Zeit des
digitalen Musikmarktes wird der Konflikt zwischen dem Recht auf Schutz des geistigen
Eigentums einerseits und dem Recht auf Teilhabe an der Weltkultur andererseits sichtbar.
Das bestehende, international uneinheitlich geregelte Urheberrecht wird dem durch die
Digitalisierung insbesondere im Musikbereich ausgelösten Strukturwandel nicht mehr
gerecht. Es vermag auch den dringend notwendigen Interessenausgleich zwischen dem
Recht der Musikschaffenden auf faire Abgeltung und dem Recht der Menschen auf
Teilhabe an der Weltkultur und deren Vielfalt nicht mehr widerspruchsfrei zu leisten665.
Für den hier erwähnten Strukturwandel auf dem Musiksektor ist also in erster Linie die
Digitalisierung verantwortlich, digitaler Musikvertrieb spielt in der globalisierten Welt eine
wesentliche Rolle. Sowohl die von extremer Marktkonzentration geprägte Unterhaltungsindustrie als auch Internetanbieter und Service Provider agieren in erster Linie im
Eigeninteresse, was auch die ungerechte Verteilung der Erträge zur Folge hat. Die
Marktverzerrung durch übergroße Investoren für einige Unterhaltungsindustrieprodukte ist
schließlich auch zu Gunsten der Darstellung kultureller Vielfalt zu hinterfragen666.
3.2.7.3Fair Music
Der Start dieser Initiative fand im Rahmen des Mozart-Jahres 2006 statt, - dem Jahr, in
dem weltweit der 250. Geburtstag von Wolfgang Amadeus Mozart gefeiert wurde. Mozart
war für fair music nicht nur Anlass, sondern auch Symbolfigur, - denn Mozart gilt als der
erste unabhängige Komponist in der westlichen Welt667. Die seit der Aufklärung
einsetzende Befreiung des Künstlers aus Abhängigkeiten, die mit gesteigertem
Selbstwertgefühl einherging, zeitigte nicht nur künstlerische Innovation, sondern auch z. B.
das Urheberrecht. Dieses wurzelt, zumindest von der Idee her, im Kopierschutz
(Copyright), der nach der Erfindung des Buchdrucks und der damit einhergehenden
Möglichkeit der Vervielfältigung von Texten relevant geworden war. Das Urheberrecht,
das ursprünglich eine Balance zwischen den Interessen der Urheber, Verleger und
Konsumenten herstellen sollte, ist seit der Digitalisierung und dem Ansteigen des
665
Birgit Brandner, Pressetext zur fair music-Kampagne, Pressestelle der Initiative fair music, Wien 2007
Peter Rantaša (2007) S. 173
667
Die Geschichtsbeschleunigung der Zeit, ihre kulturelle Spannungsenergie fokussierte sich in Künstlern
wie Mozart exemplarisch - ein Drängen zum Nullpunkt revolutionärer Veränderung wurde von ihm und
anderen individualistisch ins Subjekt gebannt. Die Dekadenz der Adelsgesellschaft wurde für ihn brauchbare
Substanz zum Komponieren. Aus: Herbert Lachmayer, Genie in Verwandlung. In: Herbert Lachmayer (Hsg.)
Mozart – Experiment Aufklärung. Wien, Ostfildern 2006)
666
224
Internetmarktes ein komplexes wie erneut umstrittenes Thema. Aus den voraufklärerischen
Abhängigkeiten befreit, sehen sich Künstler heute vielfach wieder in neue Abhängigkeiten
verstrickt. Weltweit gibt es nach wie vor kein Urhebervertragsrecht, das KünstlerInnen vor
nachteiligen Verträgen in Schutz nehmen würde. Nach wie vor sind die Fragen der
ungerechten Verteilung im Bereich Weltmusik zwischen Nord und Süd unbeantwortet. So
bleiben weiterhin viele KünstlerInnen zwar mit Begeisterung bei der Sache, bekommen
aber von dem Geld, das in ihrem Namen von den Musikindustrien eingehoben wird, nur
einen minimalen Anteil. fair music betont das Recht der Musikfans darauf, die Musik zu
hören, die sie hören möchten, - auch das Recht der Kreativen, für ihre Leistungen und
Ideen Anerkennung und Bezahlung zu bekommen. Dabei gehen die Musikfans davon aus,
dass ihr in Musik investiertes Geld, auch den von ihnen geschätzten Künstlern zu Gute
kommt. Die Initiative fair music setzt sich dafür ein, dass die Musikschaffenden einen
gerechten Anteil am von ihren Fans bezahlten Geld erhalten und dass die Künstler ihre
Musik künstlerisch frei und unter fairen Bedingungen produzieren können. Um diese Ziele
zu erreichen, entwickelt die Initiative gemeinsam mit dem Internationalen Musikrat (IMC),
der 1949 von der UNESCO gegründeten Musikdachorganisation, sowie NGOs aus Musik
und Kultur Standards für die Zertifizierung von fair produzierter und vermarkteter Musik.
Die fair music – Initiative ist in diesem Sinn an der Umsetzung der UNESCO -Konvention
für Schutz und Förderung kultureller Vielfalt beteiligt und wird von der Österreichischen
UNESCO - Kommission unterstützt.
3.2.7.4 Gender Mainstream und Vielfalt
Zur Fairness im Musikbusiness zählt nicht zuletzt auch Gender Mainstream, die Erhaltung
der Vielfalt in der musikalischen Produktion sowie die Stärkung von Minderheiten (so
genannten Nischen). Entlang der erwähnten UNESCO - Konvention zum Schutz
kultureller Vielfalt will die Initiative die betroffenen Interessensgruppen weltweit in einen
Prozess mit einbegleiten, der die Errichtung anerkannter Standards zum Ziel hat. Die
Konsumenten sollen sich wieder sicher sein können, dass die Künstler ihren fairen Anteil
an den verkauften CDs und an den aus dem Netz herunter geladenen Musikdaten
bekommen und dass deren künstlerische Freiheit nicht eingeschränkt wird668.
668
Die Aktualität dieser Thematik wurde in einer Expertendiskussion deutlich, die am 26. Februar 2009 im
Rahmen des UBIT-Zukunftsforum in Salzburg stattgefunden hat:
Tatort Internet – Wie wir mit illegalen Downloads umgehen. Eine Veranstaltung der Fachgruppe
Unternehmensberatung und Informationstechnologie der Wirtschaftskammer Salzburg in Zusammenarbeit
225
3.2.7.5 Manifest
Das Manifest der Initiative umfasst folgende sieben Punkte, mit denen sie die breite
Akzeptanz der geforderten Standards festlegt:
1. Unbeschränkte künstlerische Freiheit in der Musik
2. Freier Zugang zu musikalischem Ausdruck
3. Festlegung (Urheber) vertragsrechtlicher Mindeststandards
4. Adäquater Gebrauch von Technologie zur fairen Verteilung von Tantiemen
5. Fairness und Gerechtigkeit im Musikbusiness muss ein Schlüsselmoment kultureller
Vielfalt sein
6. Volle Anerkennung des kulturellen Charakters musikalischer Produkte, anstatt sie auf
rein ökonomische Eigenschaften zu reduzieren
7. Fairness und Gerechtigkeit in Musikbusiness müssen Normalität werden, nicht die
Ausnahme bleiben
3.2.7.6 Fair Music Award
Zudem schreibt fair music seit 2007 den fair music Award für vorbildliches Verhalten im
Music Business aus. Musikproduzenten wie –konsumenten sind eingeladen, Unternehmen,
Initiativen und Dienstleister zu nennen, die diesem Kriterium entsprechen, eine Jury669
wählt aus den Nominierten die Preisträger. Der erste fair music Award wurde am
mit der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen, Salzburg. Diskussionsteilnehmer waren internationale
Experten, unter ihnen der Leiter der Linzer Ars Electronica Gerfried Stocker, der Mitbegründer der
schwedischen Datentauschplattform „Pirate Bay“ Magnus Eriksson, als Repräsentant des Walt Disney
Filmkonzerns Ferdinand Morawetz und Labelbetreiber Karl Möstl. Während Stocker und Eriksson für ein
Aufbrechen herrschender Copyrightverhältnisse eintraten, verteidigten Morawetz und Möstl die traditionellen
Werte geistigen Eigentums. Während Stocker in der freien Zirkulation von Information eine Chance sieht
und Eriksson meinte, Künstler müssten in Zukunft ihr Geld mit Konzerten verdienen, verwies Morawetz auf
die Kosten und Möstl auf das Herzblut, das in jeder im Internet verfügbaren Produktion stecke. Vgl. auch
Tobias Bauckhage, Das Ende vom Lied. Zum Einfluss der Digitalisierung auf die internationale
Musikindustrie. Stuttgart 2002, S.7: Es ist viel und leidenschaftlich über das unautorisierte Kopieren von
digitaler Musik diskutiert worden: die Vertreter der Musikindustrie beschwören den Untergang ihrer
Branche und sogar das Ende vom Lied, ihre Kritiker begrüßen das Internet als den vermeintlichen
Wegbereiter zur totalen Autonomie und entkommerzialisierten Musik.
669
Die Kriterien der Beurteilung sind folgende: Unbeschränkte künstlerische Freiheit in der Musik (im
künstlerischen Prozess, Mitbeteiligung, Ausdruck und Kreativität), gerechte Bedingungen für Urheber
(Komponist/Innen, Musiker/Innen, Künstler/Innen), innovative Geschäftsmodelle, Vertragsbedingungen,
Renumerationen, kulturelle Vielfältigkeit (Repertoire, Werkverzeichnis, Bewerbung), Service für
Konsument/Innen (garantierter Zugang von Musik, Nutzbarkeit, adäquater Gebrauch von Technologie zur
fairen Verteilung von Tantiemen), Unterstützung von Künstler/Innen (Karrierenentwicklung), leichter
Zugang von Musiker/Innen aus dem Süden zu Musikmärkten
226
8. September 2007 im Rahmen der Ars Electronica in Linz von mica – music austria und
dem World Culture Forum (WCFA) in Zusammenarbeit mit der Ars Electronica und mit
Förderung der Europäischen Kommission, Programm Education and Culture vergeben und
die Preisträger vorgestellt. In einer Podiumsdiskussion wurden Fragen des Strukturwandels
in der Musikwirtschaft und der mit diesem einher gehenden Chancen der Stärkung von
Musikschaffenden und –hörern erörtert, auch Fragen der Wertschöpfungskette,
insbesondere im digitalen Musikvertrieb, und der Verteilungsgerechtigkeit zwischen Nord
und Süd, sowie auch die gefährdete kulturellen Vielfalt in einer globalen Landschaft der
Ungleichheiten und Modelle für mehr Fairness und schließlich der Verlust der Privatsphäre
diskutiert670.
Mit der Vergabe der ersten fair music-Awards wurde die Bandbreite dieser Initiative
deutlich:
- Die Internet-Plattform Tonga Online, die durch den Einsatz neuer Technologien den
Menschen außerhalb Zimbabwes Zugang zur Tongakultur und zur aktuellen Lage in
Zimbabwe gewährt.
- Female:pressure, ein Netzwerk von und für Künstlerinnen das sich für
Gleichberechtigung der Geschlechter im Musikbusiness einsetzt.
- Freibank Music Publishing, 1986 von Mark Chung gegründet, um die Urheberrechte der
deutschen Band Einstürzende Neubauten wahrzunehmen, bot seine Dienstleistungen nach
dem Motto „More and Faster“ kurze Zeit später auch befreundeten Künstlern an und
übernimmt u. a. das Direktinkasso mechanischer Lizenzen, was einmalig in der deutschen
Verlagslandschaft ist.
- Extraplatte, ein Label, Vertrieb und Plattenladen, ist ein Nischenbetrieb, der sich für
kulturelle Vielfalt im österreichischen Musikmarkt und die Förderung noch unbekannter
Musiker einsetzt.
670
Am Podium waren Chris Gelbmann (Buntspecht Label), Volker Grassmuck (Humboldt Universität
Berlin), Joichi Ito (Neoteny/Creative Commons), Ronaldo Lemos (Overmundo/iCommons Brasilia), Margit
Niederhuber (Republik Österreich - UNESCO Kommission), Danny O’Brien (Electronic Frontier
Foundation) und Peter Rantaša (mica -music austria)
227
Abb. 6: Darstellung der traditionellen Wertschöpfungskette der Musik671
3.3
Zusammenfassung
Die hier dargestellten Fälle als Beispiele für aktuelle Initiativen, Aktivitäten und
Haltungen, die auf die vielfachen, zum Teil radikalen Veränderungen und Entwicklungen
unserer Zeit reagieren bzw. diese abbilden, ergeben die Kristallisationsfläche dieser Arbeit.
Anhand dieser Beispiele versuche ich, die Dynamik und Wechselwirkung zwischen
gesellschaftlicher Realität und künstlerischen Agierens aufzuzeigen. Einerseits reagieren
Künstler mit ihren Initiativen etwa auf bedrohliche Entwicklungen, andererseits werden in
ihnen künstlerische Visionen formuliert und realisiert. Diese weder kommerziell
getriebenen, noch von der Öffentlichkeit in Auftrag gegebenen Projekte spiegeln kreatives
Potential und Verantwortungsbewusstsein wider. So subjektiv und unterschiedlich ihre
671
Zur Verfügung gestellt von mica – music austria, music information center austria
228
Herangehens- und Umsetzungsweisen auch sein mögen, stimmen die Intentionen und
Grundlegungen dieser Initiativen und Projekte mit den allgemein formulierbaren Maximen
der aktuellen, international diskutierten Kunstdiskurse und Strömungen weitgehend
überein. In der Untersuchung wird ein Wertewandel in der Musik durchaus deutlich,
obwohl dieser, wie gezeigt wurde, weder inhaltlich eindeutig noch zeitlich auf eine Jahreszahl bezogen definiert werden kann, Es wird aber trotzdem klar, dass der mit der Jahreszahl 1980 markierte Beginn der Digitalisierung von Musik einen in viele Bereiche wirkenden Einschnitt darstellt, der neue Strategien auch auf Seite der Künstler zeitigte und zeitigt.
3.3.1 Peter Ablinger
Die erste hier gezeigte Position ist die des Komponisten Peter Ablinger. Obwohl Ablinger
auch Initiativen gesetzt hat, wurde hier seine persönliche, in seiner Arbeit extrem
wiederzuerkennende Haltung in den Vordergrund gestellt. Sein Werk thematisiert das
Hören und stellt damit gleichzeitig die traditionellen Hörgewohnheiten in Frage. Seine
Arbeit knüpft nicht an die Tradition an, sondern orientiert sich an den Fragen in Bezug auf
unsere Gegenwart, die über unser Erkenntnisvermögen definiert ist. Sie ist nicht der
Ästhetik der Neuen Musik verpflichtet, - vielmehr bezieht sie sich auf Diskurse im
Bereich der bildenden Kunst. Obwohl die gängigen Kriterien der postmodernen Ästhetik
im Werk Ablingers nicht nachweisbar sind, lassen sich einige Aspekte seiner Arbeit
grundsätzlich auf die im Kapitel 1.2 beschriebene postmoderne Haltung beziehen. Dazu
gehören Strategien und Kunstgriffe, mit denen er versucht, den Hörer zu aktivieren bzw.
aktiv in seine Arbeit miteinzubeziehen, - seine Sensibilität zu schärfen. Die Aktivität der
Hörenden ist für Ablinger Garant für die von ihm angestrebte Unmittelbarkeit. Sein
Eingeständnis des elitären Charakters neuer bzw. seiner Musik, die bewusst Unbefugte
ausschließt, beinhaltet jedoch keinerlei Machtanspruch.
Die Mitbegründung des Musikverlags Zeitvertrieb Wien Berlin dokumentiert seine
kritische Haltung gegenüber den etablierten Normen, die für den Komponisten
Abhängigkeitsverhältnisse bedeuten.
Besonders in der Thematisierung der Hörens sowie des Rauschens in Peter Ablingers Werk
sehe ich einen eindeutig spirituellen Bezug. Es ist ein sehr subtiler Einspruch gegen die
Verfestigungen und Verhärtungen auch im Bereich der fortschrittlicheren Musikkultur, die
sich bewusst der überkommenen Logik widersetzt. Die Krise, die in der
Auseinandersetzung mit seinem Werk sichtbar wird, ist nicht die der traditionellen
229
Codierungen, sondern die unseres sich auf Tradition stützendes Erkennens, das durch den
Verlust der Unmittelbarkeit sich selbst in Frage stellen muss.
3.3.2 KomponistInnenforum Mittersill
Die Intention des KomponistInnenforum Mittersill ist – bezogen auf den Grundaspekt des
Austausches und der Kommunikaton – das traditionelle Kommunikationsmodell
Komponist-Musiker-Publikum zu dynamisieren bzw. es gleichzeitig zu hinterfragen.
Wesentlich dabei ist, dass dieses auf Kreativität und Vermittlung gleichermaßen zielende
Projekt fern der städtischen Zentren der Hochkultur in einer Gemeinde im Salzburger
Oberpinzgau realisiert wird. Regionalität wie auch der im KomponistInnenforum Mittersill
gelebte Pluralismus sind inzwischen auch wesentliche kulturpolitische Themen.
Der Aufbau einer Plattform und eines Netzwerks für Musikschaffende war eine erste
Reaktion auf die schon in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts komplexer und damit
schwieriger werdende Kommunikation. Die Digitalisierung zeitigte zusätzlich eine
Polarisiserung des Marktes, aus dem Minderheiten mehr und mehr ausgschlossen sind.
Die Aktivitäten des Labels ein klang_records zielen einerseits auf die bessere Sichtbarkeit
dieser, andererseits spielt auch hier der Vermittlungsgedanke, Bewusstsein für das Neue
und Unangepasste zu schaffen, eine wichtige Rolle. In der speziellen Situation noch
zwischen den Paradigmen Sozialismus und liberalisiertes Europa ist dieses Projekt
schließlich auch eines der Integration in politischem wie künstlerischem Sinn. In diesem
Zusammenhang wird besonders dem Gender Mainstream Rechnung getragen.
3.3.3 No Music Day
Bill Drummond zeigt in seinen Aktivitäten hohe Sensibilität für die langsam sich
vollziehenden Veränderungen des Musikmarktes. Nicht der radikale Einschnitt der
Digitalisierung ist es in erster Linie, dem er die Krise des Musikhörens zuschreibt, sondern
der schon wesentlich früher entwickelten Möglichkeit der Musikaufnahme (recorded
music), die für ihn den Beginn des Verlustes der Gegenwärtigkeit von Musik markiert.
Das Projekt No Music Day ist in erster Linie ein künstlerisch-spirituelles, das eine
Neuorientierung unseres Verständnisses von Musik vorschlägt. Die als monumentale
Version von John Cages 4’33’’ lesbare Plakat-Partitur ist beides: einerseits Partitur im
Sinne einer radikalen musikalischen Komposition, andererseits eine Art des Einspruchs,
für die auch das Plakat eine adäquate Form der Veröffentlichung darstellt.
230
3.3.4 Chameleon Group
In Ludger Hofmann-Engls Initiative zeigen sich im Wesentlichen zwei Aspekte, die einen
Wertewandel illustrieren. Zum einen ist es das Agieren jenseits der traditionellen
Strukturen im Musikleben bzw. in der Musikwirtschaft, zum anderen das pädagogischsoziale Engagement, das dem Interesse folgt, die offensichtliche Kluft zwischen der Musik
und dem Publikum zu überwinden. Grundlage dieser beiden Grundhaltungen ist ein neues
Künstlerbild, das den uneigennützigen Einsatz für andere vor das durch Neid und
Karrieredenken charakterisierte und narzisstisch geprägte traditionelle Künstlerimage
stellt. In diesem Zusammenhang weicht auch das traditionelle Werkverständnis einer
Auffassung, für die Prozesse und Entwicklungen wichtiger sind.
3.3.5 Sajeta
Auch im Festival Sajeta geht es um eine Dynamisierung des Verhältnisses zwischen
Musikern und dem Publikum. Dazu trägt die Abgelegenheit und Intimität des für das
Festival gewählten Ortes bei. Ein zweiter wichtiger Punkt ist die Be- bzw. Aufwertung des
Regionalen bzw. Dezentralen. Es scheint ein wesentlicher Faktor des Erfolges zu sein, dass
das Festival nicht in großstädtischem Kontext stattfindet. Die Lage in der Natur bzw. an
Wasserläufen begünstigt zudem eine Atmosphäre, die auch spirituell-mystische Anteile
hat. Sowohl über die sich in Tolmin alljährlich versammelnden Künstler als auch über das
Publikum wurde bereits ein Netzwerk aufgebaut, über das die im Festival präsentierte
Musik und Musikauffassung Verbreitung finden kann.
3.3.6 IMAF
Multimedia ist ein in der von den Medien geprägten Gegenwart entstandener Begriff für
die Vielgestaltigkeit und Konplexität des Zusammenwirkens von Medien bzw. medialen
Techniken. Die Performance ist eine Kunstform, die in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts entwickelt wurde und die jeweils aktuellen Medien mit einbezieht.
Nenad Bogdanovic zielt mit der Multimedialität vor allem auf die Ausweitung bestehender
Grenzen der einzelnen Kunstsparten, die in der Performance-Kunst ja grundsätzlich in
Frage gestellt sind. Dabei bilden die speziellen Themen des Festivals, Natur und
menschlicher Körper, einen wesentlichen Aspekt der Performance-Kunst ab: das
Ritualhafte und Archaische, das im Zusammenwirken mit aktueller Medientechnologie ein
für unser heutiges Leben signifikantes Spannungsfeld aufbaut.
231
In der Performance-Kunst sind der Kontakt und die Interaktion mit dem Publikum bzw.
dessen Integration wesentliche Bestandteile. Das Flüchtige dieser Kunstform sezt auch den
traditionellen Werkbegriff außer Kraft. Schließlich ist auch diese Initiative eine regionale,
fern von den kulturellen Zentren der Großstädte.
3.3.7 Fair Music
Die Initiative Fair Music reagiert auf die radikalen Veränderungen des Marktes, der –
begünstigt durch die aufgrund der Digitalisierung grenzenlose Verfügbarkeit musikalischer
Güter – Musik als Massenware erscheinen lässt. In diesem Zusammenhang scheinen
Künstlerrechte auf der Strecke zu bleiben. Im Kontext des hier geführten Diskurses ist die
Problematik natürlich zweischneidig: einerseits arbeiten Künstler selbst an der
Transformation der Begriffe Werk und Autor, die sich in der Diskussion der Postmoderne
auch bereits aufgelöst haben, und stellen somit die traditionelle Wertschöpfungskette sowie
das traditionelle Marktverständnis in Frage- andererseits sehen Künstler die Gefahr der
Beschneidung ihrer Rechte und setzen sich für diese ein. Die Frage, ob der Musikmarkt mit
dem Markt anderer Güter überhaupt verglichen werden kann, muss hier unbeantwortet
bleiben. Das Recht auf freien Zugang zu kulturellen Gütern steht in einem gewissen
Widerspruch zum Recht des Künstlers auf faire Entgeltung seiner Leistungen. Hier wird
der duale Charakter kultureller Güter deutlich. Ein weiteres Anliegen dieser Initiative ist,
Vielfalt zu erhalten bzw. zu ermöglichen. Massenkonsum bzw. ausschließlich Gewinn
orientierter Markt schließen zwar nicht grundsätzlich Vielfalt, doch zumindest die Präsenz
von Minderheiten aus. Wer heute nicht groß ist, ist nicht vorhanden.
Fair Music zielt schließlich auf das Bewusstsein beim Musik-Konsumenten, der –
entsprechend der Fair Trade-Idee – sich Gedanken darüber machen sollte, welcher Anteil
des von ihm gezahlten Betrages für eine Konzertkarte oder eine CD dem Künstler
zukommt. Auch das ist - im Entferntesten – ein Aspekt von prehension. Es geht hier
darum, Wissen um und Sensibilität für die komplexen Verhältnisse zu schaffen, die dem
Konsumenten heute normalerweise verborgen sind, und die ihn, wie die schwarze Kiste
Flussers (Fernsehen, Massenmedien) manipulieren werden, solange er seine Rolle nicht
aktiv einnimmt bzw. definiert.
232
4
Ergebnis und Ausblick
4.1.
Definitionen und Begriffsbestimmungen im Kontext des
Wertewandels nach 1980 als Ergebnisse der Untersuchungen der
Fallbeispiele im tiefenzeitlichen Kontext
Die aktuellen Themen bezüglich heutiger Musikpraxis und Musikerfahrung, die hier nun
deutlich werden, sind folgende, wobei die Reihenfolge nicht wertend ist:
• die unbegrenzte Verfügbarkeit von Musik durch Digitalisierung und Internet
• Musik als Hintergrunddesign
• Musikkonserve und Massenkonsum
• das Verhältnis Musiker – Publikum
• die Begriffe Werk und Autor
• Regionalität, Vielfalt
• Minderheiten, Gender mainstream
• Körperlichkeit und Spiritualität
• Politische und soziale Bezüge
• Erneuerung traditioneller Strukturen der Musikkultur
Zur Problematik der Musikkonserve, der reproduzierten Musik (recorded music) möchte
ich folgendes Gedankenmodell diskutieren:
Konsequent gedacht, ist schon die Schrift eine Aufnahme der gesprochenen Sprache, heißt
es doch auch in unserem heutigen Sprachgebrauch etwa noch ein Protokoll aufnehmen,
also mitschreiben. Dasselbe gilt für das Verhältnis von klingender Musik und Notenschrift.
In einem tiefenzeitlichen Kontext lässt sich dieses Problem als eines der Medien begreifen,
das sich seit Jahrhunderten durch die Kulturgeschichte zieht. Die ihm zugrunde liegende
Funktion des Verschlüsselns und Entschlüsselns (Codierens und Decodierens) durchzieht
die Wissenschaften seit dem 13. Jahrhundert. Siegfried Zielinski bezeichnet sie als
untergründigen Bestandteil des scholastischen Zugangs zur Welt, der durch die Dominanz
der Buchstaben und durch das Trivium der Königswissenschaften Grammatik, Rhetorik
und Dialektik bestimmt war672.
672
Siegfried Zielinski (2002) S. 95
233
Die dem zugrunde liegende Entwicklung ist die der Ablösung der Botschaft vom Körper
des Boten, der sie überbringt, die sich seit den ursprünglichen Formen der Übermittlung
von Botschaften im alten China, in Kleinasien und der europäischen Antike vollzieht. Das
treibende Interesse dieser Ver- und Entschlüsselungssysteme war es nicht nur, die Übermittlungsgeschwindigkeit zu erhöhen, sondern auch den Boten als Mitwisser auszuschalten. Wie ich meine, gehört hierzu auch, die Originalität der Botschaft zu Ungunsten
kreativer Übermittlung zu bewahren, denn der menschliche Bote hat die im Gedächtnis
aufbewahrte Botschaft vielleicht sinngemäß, wohl aber selten wortwörtlich übermittelt.
Dieses Werkzeug oder Hilfsmittel ist durchaus auch – wie viele andere unserer
Werkzeuge, die als Verlängerung, Erweiterung und Verstärkung der Fähigkeiten des
menschlichen Körpers673 gebaut sind – vom menschlichen Körper bzw. seinen
Sinnesorganen und der Funktion der Sinneswahrnehmung abgeschaut. Denn schon hier ist
das Prinzip des Verschlüsselns und Entschlüsselns der primären Reize durch Nervensystem
und Gehirn gegeben. Dieses Prinzip wird nun offensichtlich immer weiter quasi
verschachtelt angewandt. Am Anfang dieser Reihe sollen hier die Phänomene Gedanke
und Gefühl stehen. Schon Sprache und Musik könnte man als codierte Äußerungen des
Gedachten bzw. Gefühlten sehen. Die Schrift als Verschlüsselung des gesprochenen
Wortes674 wird nun erneut verschlüsselt, sei es in der Kryptologie durch Geheimschriften,
in der Telegraphie durch das Morsealphabet oder in der Schallaufzeichnung durch
elektromagnetische Wellen, bei der das Übermittelte erst durch dazwischen geschaltete
Apparate wieder lesbar. bzw. hörbar wird. Die nächste Verschlüsselungsebene ist die der
Digitalisierung, die die Entschlüsselung durch den Computer gestattet. Diese Kette von
673
Vgl. Herbert Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Düsseldorf/Wien,/New York/Moskau 1992,
S. 61:
Jede Erfindung oder neue Technik ist eine Ausweitung oder Selbstamputation unseres natürlichen Körpers,
und eine solche Ausweitung verlangt auch ein neues Verhältnis oder neues Gleichgewicht der anderen
Organe und Ausweitungen der Körper untereinander. [...] Im audio-taktilen Europa hat das Fernsehen den
Gesichtssinn verstärkt und drängt die Europäer immer mehr zu amerikanischen Verpackungs- und
Bekleidungsformen. In Amerika, der stark visuellen Kultur, hat das Fernsehen der nicht visuellen Welt der
gesprochenen Sprachen, der Esskultur und der bildenden Kunst die Tore der audio-taktilen Wahrnehmung
geöffnet.
674
Ludwig Klages, der die schriftliche Sprache, also die Schrift, als Voraussetzung des abstrakten Denkens
sieht, erkennt im Bestreben des Menschen, auch räumlich entfernten Personen vernehmlich zu werden, die
Ursache der Entstehung der Schrift als Ersatz für das Sprechen. Die Schrift überbiete die Sprache bzw. die
menschliche Stimme an Reichweite und Beständigkeit in jedem nur wünschbaren Grad. Die Schrift als
stummer Bewahrer des Wortes habe einen Wandel der Innerlichkeit zur Folge, die zum lautlosen Sprechen
und zur Fähigkeit zum begrifflichen Denken der Schreibfähigkeit und zur denkerischen Begabung führte. In:
Ludwig Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft.München 1968, S. 215 f. Der Begriff sei aber die
hemmende und regelnde Schranke, die in der willkürlosen Ausdruckserscheinung des bedeutungserfüllten
Lautes errichtet wurde. Ebda S. 213
234
Konvertierungen scheint uns immer mehr von der ursprünglichen Denk- bzw.
Gefühlsebene, im Weiteren von den Klangphänomenen Sprache und Musik zu entfernen.
Dabei ist der Unterschied zwischen analoger zur digitalen Codierung ein wesentlicher, der
nicht ausschließlich im Zeitalter der Computer zu Hause ist. Die Entwicklung von analoger
zu digitaler Übertragung von Information ist nicht linear. In Systemen von Zeichen, mit
denen Ereignisse beschrieben werden (wie die modernen Schriften und Notenschriften),
sind diese Zeichen Bedeutungsträger, - ihre Bedeutung verändert sich grundsätzlich nicht,
ob sie in Stein gemeißelt sind oder mit Bleistift auf Papier geschrieben. In einem
erstaunlich großen Toleranzbereich sind etwa auch Handschriften entzifferbar. Die von
Ludwig Klages, dem Pionier der Graphologie postulierte Ausdruckbewegung675 ist in
diesem Fall nicht Bestandteil des Systems. Im Gegenteil, auf diese und andere Ebenen
wird zugunsten der Dechiffrierbarkeit verzichtet. In asiatischen Sprachen sind z. B. heute
noch unterschiedliche Tonhöhen bedeutungstragend676, die bei uns immer mehr abflachen,
weil sie in unserer Schrift nicht abbildbar sind.
Analoge Übertragungssysteme (wie zum Beispiel die Schallaufzeichnung über Mikrophon
und elektromagnetische Wellen oder auch manch grafische Notation) übermitteln
Ausdrucksbewegungen in direkterer Weise, also auch die unterschiedlichen Tonhöhen und
Tempi etwa eines gesprochenen Textes. Die Notenschrift, die diese Parameter zwar auch
ausdrücken kann, ist aber trotzdem ein System von Zeichen, das nicht kontinuierlich
wiedergibt.
Das Lesen, Decodieren oder auch Abtasten funktioniert dementsprechend auch in
unterschiedlicher Weise. Ein System von abstrakten Zeichen wie die Schrift eines ist,
verlangt von uns die Fähigkeit des Lesens und die kreative Fähigkeit des Interpolierens,
also des Ergänzens dessen, was über die Zeichen allein nicht übermittelbar ist. Andere
solcher Systeme wie zum Beispiel die Strichcodes zur Kennzeichnung von Waren, werden
von Scannern, also von Maschinen gelesen, dasselbe gilt für Compact Discs und MP3Player. Analoge Übertragungssysteme wie akustische Äußerungen des Menschen
unabhängig von Sprache geben das Gefühl einer direkten Verbindung mit einem
675
Die Ausdrucksbewegung ist die gegenständliche Verwirklichung der dem Lebenszustande innewohnenden
Antriebsform. Ludwig Klages (1968) S. 51 und S. 214 - 220. Ludwig Klages unterscheidet hier übrigens
zwischen der schriftlichen Form als Ersatz für die mündliche (z. B. die Briefform), und der Schrift als
eigenständigem Medium: Der echte Brief nämlich gibt keinen Gedankenausdruck, sondern teilt etwas mit
und bedient sich dabei der schriftlichen Form als eines bloßen Ersatzes, nicht aber als eines selbständigen
Mediums. Es heißt noch nicht, in diesem »zu Hause sein«, wenn man gelernt hat mit Hilfe von Feder und
Tinte zu sprechen! Klages unterscheidet zudem ausdrückenden und mitteilenden Gebrauch des Wortes.
676
Christoph Drössler, Dossier in der Beilage Wien Modern 09/42a zum Falter Nr. 42, Wien 2008, S. 5
235
ursprünglichen Ereignis, etwa einem Gefühl. Andere analoge Systeme benötigen auch
Maschinen zur Entschlüsselung, wie zum Beispiel den Schallplattenspieler oder das
Tonbandgerät. Recorded music ist aber in jedem Fall geschriebene Musik, also Schrift. Es
wird nun klar, dass wir in der heutige Medienwelt und Kommunikationsstruktur mit
vielfältigen Kombinationen aus den genannten Übertragungsmöglichkeiten konfrontiert
sind. Und es sind auch unterschiedliche Ziele, die mit den verschiedenen Kodierungen
erreicht werden sollen. Recorded music muss also zur Kategorie Technobilder gezählt
werden..
Siegfried Zielinski beschreibt zwei solche Ziele der Telematik, die in der Perspektive der
Technik und des Wissens um sie grundverschieden sind: Die strategische Zurichtung und
Beschleunigung der Kommunikation im Interesse der etablierten Apparate wie der Kirche,
des Staats, militärischer oder privater Körperschaften einerseits, die Entfaltung einer
Taktik und Kultur der Verständigung unter Freunden andererseits, bei denen die
Verabredung eines Codes nicht mehr als einer formalen Übereinkunft bedarf677.
Ein in diesem Zusammenhang wesentlicher Faktor ist der des menschlichen Gedächtnisses.
Möglicherweise ist es der Umgang mit diesem Gedächtnis, der eine Kultur grundsätzlich
charakterisiert.
Es gibt auch heute noch Traditionen, die ausschließlich mündlich überliefert werden678.
Die Weitergabe von kulturellen Gütern über Zeichensysteme ist insofern Entfremdung, als
solche Systeme starr und unbeweglich sind (eine Schrift- oder Tonaufzeichnung verändert
sich nach der Niederschrift oder Aufnahme nicht mehr, außer sie verblasst oder wird
beschädigt). Das menschliche Gedächtnis ist zwar fehlerhaft, aber gerade aus diesem
Grund wertvoll zur Aufrechterhaltung der Lebendigkeit einer Kultur679. Morton Feldmans
Interesse für türkische Nomaden-Teppiche galt vor allem der unausgewogener Symmetrie
deren Muster, die durch die Knüpfart zustande kam. Während persische Teppiche so
geknüpft werden, dass während des Knüpfens der gesamte Teppich überblickt und so das
Muster kontrolliert werden kann, werden die türkischen Nomaden-Teppiche so gewirkt,
dass der fertige Teil nach unten weggeht und deshalb nicht sichtbar bleibt. Das im Fall der
677
Siegfried Zielinski (2002) S. 97
Etwa der Dhrupad in Indien, vgl. Ritwik Sanyal/Richard Widdess, Dhrupad. Tradition and performance
in Indian music. Asgate 2006 und Ritwik Sanyal (1987) S. 14 f
679
Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Baukasten zu einer Theorie der Medien. Kritische Diskurse zur
Pressefreiheit, München 1997, S. 125: Die geschriebene Literatur hat, historisch gesehen, nur wenige
Jahrhunderte lang eine dominierende Rolle gespielt. Die Vorherrschaft des Buches wirkt heute bereits wie
eine Episode. Ein unvergleichlich längerer Zeitraum ging ihr voraus, in dem die Literatur mündlich war;
nunmehr wird sie vom Zeitalter der elektronischen Medien abgelöst, die ihrer Tendenz nach wiederum einen
jeden zum Sprechen bringen.
678
236
persischen Teppiche durch Anschauung Kontrollierbare ist hier ins Gedächtnis verlagert.
Durch diese Gedächtnisarbeit ergeben sich Asymmetrien, weil unser Gedächtnis nicht so
symmetrisch funktioniert wie das direkte Anschauen. Gerade in dieser Asymmetrie, in
einem gewissen Sinn auch Fehlerhaftigkeit, interessiert Feldmann die Lebendigkeit des
nach einer Seite hin offenen Musters, das Nicht-Ausbalancierte, das er auch als Komponist
anzustreben sucht und seine Arbeitsweise an diesem nomadischen Teppichknüpfen
orientiert680.
Der Unterschied in der Herstellung von persischen und Nomaden-Teppichen könnte man
mit Vilém Flusser auch mit diskursiven und dialogischen Kommunikationsstrukturen
vergleichen. Sender von Diskursen müssen bei der Verteilung der Information darauf
achten, dass diese nicht deformiert wird – dass keine „Geräusche“ in den
Verteilungsprozess eindringen und die Information verändern681 (perfekte Symmetrie). Die
von Feldman bewunderte Asymmetrie oder crippled symmetrie entsteht durch die
dialogische Verarbeitung bzw. Veränderung der Information.
Am Beispiel Musik könnte man im Ausführenden einer Notenschrift die Funktion des
Maschinenhaften erkennen, der nicht spielt, was er selbst fühlt, sondern was ein anderer
gefühlt hat. Dabei geht es hier nicht darum, dass ein guter Musiker durch Empathie sich
dieses fremden Gefühls bemächtigen kann. Aber schon der Hörer von Musik oder von
Gesprochenem, könnte man sagen, bekommt auf diese Art und Weise Gedanken und
Gefühle übermittelt, die nicht seine eigenen sind. Schon der Leser einer Schrift vollzieht
Gedanken nach, die nicht seine eigenen sind. Es geht also darum, in welcher Position wir
diese Person oder uns selbst selbst wähnen, in der des Senders oder des Empfängers von
Information, - und dabei wird noch eine große Rolle spielen, in welchem Kontext dieser
Informationsaustausch passiert. Ein Orchestermusiker wird sich weniger als Empfänger
und mehr als Vermittler bzw. Sender einer von ihm entschlüsselten Botschaft fühlen. Ein
Solist wird immer auch sein eigener Zuhörer sein, also in einen Dialog mit dem Notentext
treten. An dieser Stelle lohnt es sich, auf sehr weit zurückliegende Vorstellungen
zurückzugreifen. Der Dichter, Philosoph und Arzt Empedokles aus Agrigent (6./5. Jhdt. v.
Chr.) hatte – pythagoreisch geschult – ein intensives Verhältnis zur Musik, der er heilende
Kräfte zusprach. Eines der Prinzipien, die seiner Naturlehre zugrunde liegen, ist das von
680
Walter Zimmermann, Morton Feldman – der Ikonoklast. In: Walter Zimmermann (Hsg.), Morton
Feldman, Essays. Kerpen 1985, S. 15 f
681
Vilém Flusser, Kommunikologie. Frankfurt am Main 1998, S. 20
237
Attraktion und Repulsion oder Liebe und Hass, die – im Wechselspiel von Energie und
Materie - alle Bewegung verursachen. Die ideale Form für Empedokles - durch die
Vorherrschaft der Liebe gekennzeichnet - ist der Zustand von Ruhe, Frieden und Glück.
Dieser Zustand ist für ihn nicht ewig bzw. statisch, sondern bedingt fortdauernde
Bewegung. In diesem Zusammenhang unterscheidet Empedokles nicht zwischen
subjektiver und objektiver Welt, zwischen Aktivem und Passivem. Seiendes bedeutet für
ihn den ständigen Austausch zwischen dem Einen und dem Anderen, die beide aktiv sind.
Hier setzt Empedokles mit seiner Porentheorie an. Um diesen Austausch zu gewährleisten,
muss es eine Haut geben, die einerseits schützt und andererseits in beide Richtungen
durchlässig ist. Dafür ist diese mit sehr feinen Poren ausgestattet, durch die unentwegt
Ströme ausgesendet werden. Im Falle von Sympathie werden diese Ströme gegenseitig
aufgenommen, dafür müssen die jeweiligen Poren aber in Größe und Form zusammen
passen, müssen ein gemeinsames Maß haben.
In diesem Zusammenhang sieht Empedokles die Liebe als die wichtigste Grundbedingung
für die Wahrnehmung des Anderen. Sie ist ununterbrochene verströmende Tätigkeit auf
der Grundlage einer im Inneren lodernden, nicht versiegenden Energie. Das gilt für das
Sehen gleichermaßen wie für das Hören. Dieses findet für Empedokles im Inneren des
Ohrs und an der Grenze zum Außen statt. Die Wahrnehmung von Klängen rühre von den
inneren Geräuschen her, „wenn die Innenluft, indem sie vom Schall in Bewegung versetzt
werde, einen Klang produziere“. Zuhören ist ein Hören in Zuneigung und setzt für ihn eine
innere Bewegung voraus. Wahrnehmung begreift Empedokles als einen aktiven Vorgang, gelungene Wahrnehmung als den vollzogenen Austausch von Strömungen. Zielinski
vermutet, dass Empedokles bezüglich des feinen Wahrnehmens auch eine Überschreitung
zum Seelischen oder Geistigen anspricht, denn „alle alten Worte für Seele bedeuten
ursprünglich Luft oder Atem.“ So erkennt etwa auch Gérard Simon die Texte der antiken
Naturphilosophen als dem Arbeitsfeld einer „Theorie der Seele“ und nicht dem der Physik,
Mathematik oder Geometrie zugehörig. Zusammenfassend sieht Zielinski in der
Porentheorie des Empedokles eine Theorie der Wahrnehmung in der einfachsten und
zugleich denkbar tiefsten Form. Technologisch gesehen ist sie eine Theorie der doppelten
Kompatibilität, physikalisch eine der Affinitäten (psychologisch als Konzept der
wechselseitigen Zuwendung von Aufmerksamkeit auffassbar), ökonomisch eine der
Verschwendung und medienheuristisch eine für ein perfektes Interface. Später – beginnend
mit Demokrit – mussten Schnittstellen künstlich hergestellt werden, um die Kluft zwischen
238
Sein und Schein, die es bei Empedokles noch nicht gibt, besser überbrücken zu können682.
Das Utopische an dieser Porentheorie des Empedokles lässt vor allem eine Sichtweise und
Haltung erkennen, die später etwa in der Dialogphilosophie Martin Bubers wiederzufinden
ist683.
Eine weitere meines Erachtens lohnende zurückgreifende Suchbewegung in diesem
Zusammenhang ist die Auseinandersetzung mit dem Hinduismus in Bezug auf die
Funktion der Sprache, die dort sowohl mit dem menschlichen Bewusstsein als auch mit
dem Göttlichen identifiziert wird. Kann der spirituelle Aspekt bei Empedokles nur
angenommen werden, so ist er hier evident. Im Hinduismus haben wir es mit einer
Gedankenwelt zu tun, in der der menschliche Körper, der Klang des gesprochenen Wortes,
das geschriebene Wort und das Göttliche in ein ganzheitliches System gebracht werden.
Besonders im Kaschmirischen Sivaismus, der wichtigsten Schule des Sivaismus in
Nordindien, ist der Klang von Grund legender Bedeutung684. Für die Kaschmirische
Tradition, die auf die Traditionen der Saiva-Agama und der Grammatiker685 aufbaut, ist
der Klang sowohl für Schaffung des Universums als auch für die Integration der Seele in
den Kosmos wesentlich. Die höchste Realität ist die männliche Gottheit Siva, verbunden
mit der femininen Energie des heiligen Klanges und der heiligen Sprache. In der Trika
Philosophie (Kaschmirischer Sivaismus) repräsentiert jeder Buchstabe des Alphabets
Energie in bestimmter Form686. Das höchste Ich-Bewusstsein beinhaltet alle 50 Buchstaben
des Sanskritalphabets. Die 16 Vokale sind Energieformen, die den Gott Siva
682
Siegfried Zielinski (2002) S. 55 ff (das ganze Empedokles-Kapitel)
Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung. In: Martin Buber, Ich und Du,
Stuttgart 2006, S.3, Und die Liebe selber kann nicht in der unmittelbaren Beziehung verharren; sie dauert,
aber im Wechsel von Aktualität und Latenz. ebda S. 17. Diese polare Sichtweise ist auch z. B. in der
balischen Musik zu finden, die auf der Harmonie zweier essentieller Gegensätze beruht (Hans Oesch,
Außereuropäische Musik, Band 2. Regensburg 1987, S. 82, in: Carl Dahlhaus, (Hsg.) Neues Handbuch der
Musikwissenschaft, Band 9. Regensburg 1987)
684
Guy L. Beck, Sonic Theology. Hinduism and Sacred Sound. New Delhi 1995, S. 160 ff
685
Philosophische Schule (etwa 1.Jhdt v, Chr. bis 5. Jhdt. n. Chr.), die sich mit der Sprache bzw. mit
semantischen und linguistischen Methoden beschäftigt hat. Für die Grammatiker ist die Grammatik der
wichtigste Teil der Vedischen Tradition, auf die die zentrale Bedeutung der Sprache zurückgeht und auf die
sie sich beziehen. Für sie hat die Bedeutung eines Wortes keine objektive Existenz, - die Bedeutung liegt
nicht in den Dingen sondern im menschlichen Bewusstsein, wo es mit dem Klang auf unterschiedlichen
Ebenen verbunden ist. Neben dem Klang eines Wortes gibt es noch eine subtilere Form, in der Worte nicht
durch Luftvibrationen artikuliert sind, sondern als mentaler Vorgang. Das Wissen um die Grammatik, das
Geheimnis der Sprache, ermöglicht die höchste Erfüllung und Befreiung, das höchste Glück. Die Rolle der
Grammatik ist, den Gebrauch der Mantras (heilige Worte oder Sätze) so zu kontrollieren und zu reinigen,
sodass ihre Kraft erhalten bleibt. Die Ansicht, dass Wort und Bewusstsein austauschbare Begriffe sind, dass
jeder Gedanke linguistische Form besitzt, stimmt übrigens mit einem Axiom der heutigen westlichen
Phänomenologie überein. Vgl. Guy L. Beck (1995) S. 50 ff
686
auch die Energiezentren des menschlichen Körpers (Chakren) werden mit Buchstaben des Alphabets in
Verbindung gebracht. Vgl. Guy L. Beck (1995) S. 205
683
239
repräsentieren. In den 34 Konsonanten sind die verschiedenen Existenzformen
manifestiert. Die Phoneme sind kreative Kräfte des Universums. Das Universum ist nicht
nur der sichtbare Ausdruck, sondern auch verbaler Ausdruck des Göttlichen687.
Die Funktion der heiligen Texte, der Mantras, liegt im Klang. Guy L. Beck merkt an, dass
Sprache in Bezug auf Rituale in erster Linie performativ war und erst in zweiter Linie
kommunikativ. Vak, ein vedischer Begriff für das absolute Wort bzw. die Göttin der
Sprache als Personifikation der Sprache als produktives energetisches Prinzip und somit
mit Sakti688 gleichzusetzen, ist in Zusammenhang mit dem Klang einer der zentralen
Begriffe im Buddhismus. Vak ist nicht nur die Personifikation von Sprache, sondern vor
allem deren kreative Energie. Das Phänomen Sprache besteht in der Verschränkung
zwischen Sprechen und Geist. NÁda-Brahman schließlich ist der Begriff für den heiligen
Klang. Jeder Buchstabe ist die Verkörperung von Siva-Sakti in Verbindung mit einem
bestimmten Chakra im menschlichen Körper689. NÁda ist ein Grund legender Begriff, ohne
den es keine Musik, keine Töne und keinen Tanz geben könne. BrÁhma ist die Form von
Náda. Alles, was der Rede oder der Sprache entstamme, sei nÁda. MataÆga Muni
unterscheidet vier nÁdas, von denen eines im Herzen, eines im Hals, eines im Gehirn und
eines in der Region des Mundes wohnt690.
Für die oben erwähnte Überbrückung der Kluft zwischen Schein und Sein verwendet
Vilém Flusser ein krasses Bild: Die kodifizierte Welt bietet den an ihr Beteiligten nicht nur
einen Raum, in dem sie trotz ihres Wissens um den Tod ein sinnvolles Leben führen
können, sondern in dem sie wie in einem Kerker herumtorkeln müssen691.
Das Außen und Innen der Kommunikationsstruktur der heutigen Übergangszeit vergleicht
Vilém Flusser - dem an anderer Stelle skizzierten Bild der Maske entsprechend - mit zwei
Kisten, die durch Kanäle miteinander verbunden sind. Die eine ist weiß, die andere
schwarz, - die eine ist die Empfangskiste (Massenkultur), die andere die Sendekiste
(Elitekultur). Die heutige Wertekrise liegt nach Flusser in deren undurchsichtigen
Schwärze, - in der Unhaltbarkeit des elitären Programms. Dieses maskiere die
Verhaltensmodelle, und zwar so gut, dass sie sich selbst in ihnen nicht mehr wieder
erkennt und sie daher selbst im Feedback empfängt. In diesem Zirkel erscheint das
687
Jaideva Singh, Abhinavagupta. Para-trisika-Vivarana. New Delhi 2005, S131 ff
Göttliche Energie, Frau des Gottes Siva, einem der großen Götter im Hinduismus, vgl. Beck S. 250
689
Guy L. Beck (1995) S. 101 und S. 104
690
Prem Lata Sharma (1992) S. 7 f
691
Vilém Flusser, Medienkultur. Frankfurt am Main 1997, S. 107 ff
688
240
Medium selbst als die Botschaft.
Die Bilder und Töne, die der Kiste (Fernsehapparat) entströmen, "bedeuten" etwas für den
Empfänger. Sie bilden einen Code. Ein Code ist ein System, in dem sich Symbole
regelmäßig ordnen. Der Empfänger kann die Bilder und Töne dekodieren und so ihre
Bedeutung, ihre Botschaft lesen. Der Typ des Codes ist für ein Verständnis des Fernsehens
sehr wichtig. Bis vor kurzem verfügte der Westen im Wesentlichen über zwei Typen von
Codes: ein- und zweidimensionale, von den dreidimensionalen, wie der Skulptur und
Architektur, einmal abgesehen. Zweidimensionale Codes, zum Beispiel Landkarten und
Gemälde, sind Bilder, welche ihre Bedeutung "abbilden". Sie werden dank der Imagination
(Einbildungskraft) gelesen. Eindimensionale Codes, zum Beispiel das Alphabet, sind aus
Punkten bestehende Linien, welche ihre Bedeutung "abtasten". Sie werden begrifflich
(konzeptuell) gelesen. Das Fernsehen ist wie auch der Film ein Code, in dem
zweidimensionale Elemente (Bilder) sich in eine Linie (die Bildfolge) ordnen. Ihr Lesen
kann entweder eine neue Art Bilderlesen, also ein Rückfall in den Analphabetismus, oder
aber ein Lesen sein, bei dem sich das begriffliche Denken auf die Ebene der Imagination
erhebt und andererseits die Imagination die Struktur des begrifflichen Denkens annimmt.
Beim heutigen Gebrauch der Television ist nur die erste der beiden Lesarten möglich.
Nach ihrer Dekodierung bedeuten die Bilder und Töne dem Empfänger Ereignisse dort
draußen. Diese Bedeutung wird aber nur gewonnen, wenn der Empfänger sein Wissen von
der Struktur des Fernsehens ausklammert, was ihm das Fernsehen selbst weitgehend
erleichtert. Er weiß, dass die Kiste über ein Kanal genanntes Glied mit einer Stelle
verbunden ist, an der die Bilder und Töne von Spezialisten behandelt werden, und dass
dieses Glied nur ein Teil einer ihm nicht überblickbaren Kette ist, welche die Kiste höchst
mittelbar mit den Ereignissen verbindet, die ihre Bilder und Töne bedeuten. Sonach weiß
er, dass zwischen Bedeutung und Bedeutung ein kostspieliger Prozess liegt, der von
jemandem bezahlt wird, und dass dieser Jemand ein Interesse daran haben muss, welche
Botschaft als Endprodukt dieses Prozesses herauskommt. Der magische Charakter der
Kiste lässt den Empfänger dieses Wissen für den Augenblick des Empfangs vergessen. Er
liest die Botschaft der Kiste als direkte Vermittlung ("Medium") zwischen sich und den
Ereignissen in der Welt dort draußen692.
692
Das Phänomen des Verbergens des technischen Vorgangs ist in der Mediengeschichte bekannt. In den
Apparaten Athanasius Kirchers (17. Jhdt.), etwa dem Metamorphosen-Apparat, soll nicht erkenntlich sein,
wer oder was agiert. Vor allem auf Grund des Konzepts von der Reinigung der Seelen durch ihre durch
solche Apparaturen hervorgerufene Erschütterung werden diese so gebaut, dass ihre Funktionsmechanismen
den Benutzern rätselhaft bleiben. Die projizierte Welt soll als künstlich hergestellte nicht erkenntlich sein.
241
Der Ansager gibt dem Leser den Schlüssel. Aber er kann selbst ein Schauspieler sein, der
einen Ansager vorstellt. Dadurch wird die ganze Welt, welche das Fernsehen vorstellt auch wenn es sie angeblich darstellt -, fiktiv. Die Folge ist ambivalent zu werten. Entweder
verliert für den Empfänger der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion jede
Bedeutung, oder er überlässt die Unterscheidung einem anderen. Beides sind Symptome
einer perniziösen Entfremdung. ... Politisch zielt die Botschaft auf eine Entpolitisierung
des Empfängers693.
Ähnlich beurteilt Wolfgang Welsch die heutige Erscheinungsform der Dokumente, die
zweifach existieren – visuell aufbereitet auf dem Bildschirm und digital verschlüsselt im
Speichermedium. Die meisten Benützer von Computern bewegen sich auf der
Benutzeroberfläche, die so genannte Software ist für sie eine schwarze Kiste, eine Black
Box. Er identifiziert diese Dopplung von Erscheinungsform und verborgener Struktur auch
in der realen Welt. Die innere Struktur der Phänomene – etwa die physikalische oder
chemische Struktur einer Pflanze – ist uns im Alltag ebenfalls verborgen. Während die
klassische Ontologie das Verhältnis von Erscheinung und Wesen thematisiert, ist diese
Unterscheidung in der elektronischen Welt aufgehoben, - Monitorexistenz und
Speicherexistenz seien völlig deckungsgleich694. Dieses Fehlen der vertikalen Differenz
von Sein und Erscheinung sieht Welsch durchaus positiv. In horizontaler Richtung besitze
die elektronische Welt eine der Alltagswelt unbekannte Offenheit für Veränderungen,
Mutationen und Innovationen. Die elektronische Welt sei zwar eine völlig flache, dafür
aber eine unendlich weite Welt695. Welsch folgert, dass die Medien-Ontologie im
Gegensatz zur herkömmlichen anti-klassisch sei und statt einer hierarchisch organisierten
Welt eine Welt von lateralen Anschlüssen, Kreuzungen und Vernetzungen, - von
rhizomatischen Wucherungen und Transformationen entfalte. Dieses Bild entspreche den
avanciertesten Wirklichkeitsbeschreibungen seitens der Philosophie der letzten Jahrzehnte,
etwa denen von Jacques Derrida und Gilles Deleuze. Diese beiden haben in den späten
sechziger Jahren – annähernd zeitgleich mit der Geburt der elektronischen Medien – die
Aus: Siegfried Zielinsky (2002) S. 164 ff. Die technologische Entwicklung wie auch die Medienkonzepte der
1990er Jahre waren darauf angelegt, die Grenze zwischen Mediennutzern und Apparaten unmerklich zu
machen. Man sollte in eine so genannte virtuelle Realität von Bildern und Tönen eintauchen können, ohne zu
spüren und noch mehr: ohne zu wissen, dass es mit einer präzise vorstrukturierten, berechneten Konstruktion
von Oberflächen und Zeitverläufen zu tun hat. In: Siegfried Zielinsky (2002) S. 297
693
Vilém Flusser, Medienkultur. Frankfurt am Main 1997, S. 107 ff
694
Wolfgang Welsch (1996) S. 302 f
695
Vgl. Holger van den Boom, Digitaler Schein – oder: Der Wirklichkeitsverlust ist kein wirklicher Verlust.
In: Florian Rötzer (Hsg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main 1991,
S. 203, zitiert nach Wolfgang Welsch (1996) S. 304
242
Wirklichkeit als durch Übergängigkeit, offene Vernetzungsketten, permanente
Sinnverschiebungen und eine prinzipielle Unabschließbarkeit der Sinnprozesse
gekennzeichnet gesehen696. Diese Postulate implizierten eine tief greifende Korrektur der
traditionellen Philosophie. Habe sich die traditionelle Philosophie von einer Prägung des
Denkens durch die Medien Mündlichkeit oder Schriftlichkeit (Programmierung durch
Codes697) frei geglaubt, so setze sich heute die Überzeugung durch, dass es ohne
Verbindung mit einem Medium keinen Sinn geben könne. Eric Havelock zeigte bereits
1963 die Prägewirkung des griechischen Alphabets auf die griechische Philosophie auf,
und Derrida konnte nachweisen, dass Sinn sich stets der Einschreibung in Medien
verdanke. Medialität komme nicht erst nachträglich zum Sinn dazu, sondern sei konstitutiv
für diesen, - habe produktive Bedeutung für Sinnprozesse. Friedrich Nietzsche hat diesen
Umbruch des Denkens vorweggenommen, indem er schrieb: Unser Schreibzeug arbeitet
mit an unseren Gedanken698. Die Entwicklung der Medien gehe weiter in Richtung
Hypergeschwindigkeit, Leichtigkeit, Transformierbarkeit und Virtualität, - neben das
Visuelle trete das Auditive und Taktile699. Die Veränderungen seien aber zweifacher Natur,
- neben der Virtualisierung und Derealisierung unseres Verständnisses von Wirklichkeit
kommt es zu einer Revalidierung nicht–elektronischer Wirklichkeitserfahrungen. Die
neuen Technologien können Möglichkeiten, die anderen Wirklichkeitsformen vorbehalten
sind, nicht ersetzen. Insofern bekommen Eigenschaften wie Trägheit, Widerständigkeit,
Unveränderlichkeit, Beharren, Massivität, Konstanz und Verlässlichkeit neue Bedeutung.
In diesem Zusammenhang betont Welsch die Bedeutung der Leiblichkeit im Gegensatz zu
den Tendenzen der Immaterialisierung in den elektronischen Medien, - nicht aber als
Gegenprogramm, sondern im Sinne der Komplementarität. Diese liege der Moderne als
Leitlinie zugrunde. Im Kontext der Moderne nannte Stephen Toulmin Descartes’
Wissenschaft der Geistigkeit und Transparenz einerseits, und den Humanismus von
696
Diese Dynamik scheint in einer Zeit vorgezeichnet zu sein, in der Elektrizität und Galvanismus ein
dynamischeres Verständnis von Zeit und Raum in der Physik zeitigte. In seiner Theorie des Glühens spricht
Johann Wilhelm Ritter von der Verschmelzung von Zeit und Raum: Überall ist Veränderung, nirgends
bleibende Stätte. Alles hat seine Zeit, und diese selbst besteht in keiner ruhigen Succession, die es überhaupt
nirgends giebt. Aus: Johann Wilhelm Ritter, Versuche und Beobachtungen über den Galvanismus. In:
Magazin für den neuesten Zustand der Naturkunde... Bd. VI, Sept. 1803, S. 213 f, zitiert nach Siegfried
Zielinsky (2002) S. 205
697
Anmerkung des Verfassers
698
Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. München 1986, Bd. 6, S.
172. Zitiert nach Wolfgang Welsch (1996) S. 306
699
Wolfgang Welsch (1996) S. 306 f
243
Erasmus oder Montaigne andererseits als die Wurzeln dieser komplementären Kräfte700. In
den künstlichen elektronischen Welten kulminiere die Cartesianische
Wissenschaftstradition, in der komplementären Neubewertung des Endlichen,
Körperlichen und Individuellen sind die Motive des Humanismus wiederzuerkennen. Hatte
der Cartesianismus beansprucht, den Humanismus zu überwinden, stehen wir heute vor
einer Neubewertung humanistischer Motive. In diesem Sinn plädiert Welsch dafür, die
Balance dieser beiden Motive anzustreben701. Diese Unterscheidung, die die
wissenschaftliche Diskussion bis heute prägt, erwähnt Siegfried Zielinsky als eine
zwischen aufklärerischem Rationalismus (Physik, Astronomie) und okkulten, magischen
Auffassungen (Biologie, Chemie, Medizin), - zwischen der Sicht der Welt als
Mechanismus und der Sicht der Welt als Organismus. Am Anfang der Moderne erkennt er
die Mechanik als Vorbild des Lebens, wobei das Lebendige gleichzeitig zur Leitmetapher
der Maschinen und Programme werde. Damit beschreibt er im Prinzip den bereits
genannten Grundzug der Moderne, die Komplementarität: Die Sprache in den Netzen der
verschalteten Maschinen und Programme ist durchdrungen von Organismen, genetischen
Prozessen, Strömen und Flüssen702.
Die Polarität von Gehirn und Bauch, die noch heute in unserem Sprachgebrauch auch in
Zusammenhang mit kulturellen Themen zu finden ist, wurde in der Medizin der Romantik
ausgebaut. Aber bereits die medizinisch-alchemistische Theorie in der Tradition des
Paracelsus erkannte die Bedeutung des Wechselspiels zwischen dem oberen Bauchraum
und dem Gehirn. 1682 vertrat Johann Baptist van Helmont die Auffassung, dass die
Verstandeskräfte im Gehirn nur tätig seien, insofern sie aus der Herzgrube erleuchtet
werden. Johann Christian Reil, der Leibarzt Goethes, führte die menschliche
Nerventätigkeit auf zwei Systeme zurück, - das Cerebralsystem (Gehirn, Rückenmark) und
das Gangliensystem (mit Sonnengeflecht). 1811 übernahm Carl Alexander Ferdinand
Kluge die Theorie Reils als Erklärungsmodell der magnetischen Phänomene. Das von der
Herzgrube repräsentierte Bauch-Gangliensystem wurde zum Ort der geheimnisvollen
Nachtseite des Lebens, zum Organ des Unbewussten, während das Gehirn und
Zentralnervensystem den willentlichen Weltbezug, das Bewusstsein herstellt703.
700
Stephen Toulmin, Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne. Frankfurt am Main 1991, S. 13,
zitiert nach Wolfgang Welsch (1996) S. 322
701
Wolfgang Welsch (1996) S. 301 ff
702
Siegfried Zielinsky (2002) S. 86
703
Karl Baier (2009) S. 190
244
In Anbetracht der aktuellen Unüberschaubarkeit alles Gegenwärtigen im Kontext
historischer wie visionärer Positionen sind die dargestellten Initiativen Beispiele für
handelnde Stellungnahmen, Aktivitäten und Taten. Sie reflektieren Geschichte und
Gegenwart und vollziehen diese gleichzeitig. Sie weisen künstlerischen Fragen erneut
Grund legende Bedeutung zu und tragen insofern zur Orientierung bei, indem sie
aufzeigen, eingreifen und verändern. Die weiter zurückliegenden Denkansätze scheinen die
sich heute uns zeigende Gegenwartsstruktur zu bestätigen, die in ihrer Uneinheitlichkeit
und Vieldeutigkeit unsere Aktivität und Kreativität herausfordert. Als ein wesentliches,
heute oft vernachlässigtes Werkzeug zur Erfassung der Welt, wurde an mehreren Stellen
das Hören thematisiert. Mit den sich verändernden Hörgewohnheiten verändert sich
auch unsere Welt. Wie aktiv oder passiv wir mit unserem Hören umgehen, entscheidet
über die Beschaffenheit unseres Bewusstseins von dieser.
Die obsolet werdenden alten Codes haben auch unser Hören programmiert bzw. es in einen
ganz bestimmten Kontext gestellt. Was das neue Hören sein kann, werden wir selbst zu
definieren haben. In der Welt, in der wir heute leben, wird es womöglich ein erweitertes
Hören sein, das im Sinne der hier getätigten Untersuchung sozial-politische, körperlichsinnliche, zeitlich-räumliche und spirituelle Dimensionen mit einbezieht, - ein Hören als
eine Haltung der umfassenden Aufmerksamkeit und Gegenwärtigkeit.
4.2
Veränderte Hörgewohnheiten und neues Hören
Das laute „Pfui“ einer Zuhörerin im Publikum während der Uraufführung eines Werkes
von Klaus Lang im Rahmen eines Wien-Modern-Konzertes im Jahr 2007 nennt der
künstlerische Leiter des Festivals Berno Odo Polzer zwar als Beispiel für auch heute noch
vorkommende Publikumseklats, doch bemerkt dieser gleichzeitig dazu, dass damit der
Mitschnitt dieser Uraufführung ruiniert gewesen wäre. Er hätte nichts gegen
hemmungslose Auseinandersetzungen über Musik, wenn sie bloß vor oder nach den
Stücken stattfinden704. Dieser Ausspruch ist symptomatisch für eine nicht explizit
ausgesprochene Haltung, doch eine sehr wohl gelebte und damit auch spürbare. Es ging in
diesem Fall also offensichtlich nicht darum, dass die anderen Zuhörer möglicherweise
gestört hätten werden können, sondern um die gelungene Tonaufnahme. Wenn weiter in
diesem Zusammenhang gleichzeitig die gegenwärtige Musik und die Auseinandersetzung
704
Berno Odo Polzer in einem von Carsten Fastner geführten Interview Das Projekt Avantgarde ist
Geschichte. In: Falter 42a/08, Beilage Wien Modern zum Falter 42/08. Wien 2008, S. 20
245
mit ihr vom klassischen Musikbetrieb abgegrenzt und mit der Frage verknüpft wird, was
mit den Emotionen bei der Erfahrung von völlig unbekannter Musik passiere, so ist damit
eine Offenheit angesprochen, die vom heutigen Musikbetrieb auch in diesem Bereich nicht
eingelöst wird.
Die veränderten Hörgewohnheiten gehen zunächst aber mit einer Veränderung der
Gesellschaft, im Speziellen mit einer Veränderung des Publikums einher, die weltweit zu
beobachten ist. Das World Forum on Music des Internationalen Musikrates (IMC), das
erstmals im Jahr 2005 abgehalten wurde, versteht sich als Plattform, die dem
Erfahrungsaustausch von Musikschaffenden aus der ganzen Welt und der Diskussion um
die Vorbereitung des Musikbereichs auf die Herausforderungen der Zukunft gewidmet ist.
Das im Oktober 2009 in Tunis geplante nächste Forum wird sich u. a. auch dem Thema
„Changing audiences: Challenges for art music around the world“ („Publikumswandel:
Herausforderung für die Kunstmusik in der ganzen Welt“) widmen. Bezug nehmend auf
dieses Tagungsthema gab es im Rahmen des Festivals Wien Modern 2008 am
10. November 2008 eine Konferenz zu dieser Thematik. Im Mittelpunkt standen die
Stellung der Kunstmusik im 21. Jahrhundert sowie die Herausforderungen und Gefahren in
Bezug auf freien Markt und weltweite Marktentwicklungen.
Referenten waren unter anderen der Musiksoziologe Michael Huber und die Pianistin und
Komponistin Katharina Klement, auf deren Beiträge ich hier näher eingehen will.
4.2.1 Publikumswandel
Michael Huber arbeitet am Institut für Musiksoziologie Wien in den Bereichen Stellenwert
und Funktion der Musik in der Gesellschaft, Musik und neue Medien, Strukturen des
gegenwärtigen Musiklebens, Sozialisation und Musikrezeption, sowie Populäre Musik,
Jazz und elektronische Musik in Österreich. Er stellte zunächst fest, dass wir zurzeit nicht
wüssten, wie das Publikum der zeitgenössischen Kunstmusik in Österreich aussehe, was es
denke und welche Bedürfnisse es habe. Der Grund dafür sei, dass zwar aktuelle
Kulturstudien über Österreich und Wien gebe, die zeitgenössische Kunstmusik darin aber
nicht berücksichtigt sei. Das einzige, was wir vermuten können, ist, dass dieses Publikum
überdurchschnittlich hoch gebildet und bereit sei, überdurchschnittlich viel Zeit und Geld
in den Konsum von zeitgenössischer Musik zu investieren. Die wesentlichen Faktoren für
diesen Konsum seien neben verfügbarem Zeit- und Geldkapital Urbanität und
246
Bildungsgrad. Für die Veränderung des Publikums seien verschiedene Faktoren
verantwortlich, - Huber nennt die folgenden:
1) Die Überalterung der Bevölkerung führt zur spezifischen Ausrichtung des
Angebots und in der Folge zum Verlust des jüngeren Publikums
2) Die Schrumpfung der Bevölkerung ist für weniger Steuereinnahmen und
dementsprechend härtere Verteilungskämpfe verantwortlich
3) Die Heterogenisierung der Bevölkerung durch Migration senkt das Interesse an
nationalem Kulturerbe
4) Die Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen erschwert PublikumsSegmentierung und Besucherbindung. Hier spricht Huber auch die Krise der
Tonträger-Industrie an
5) Die Globalisierung der Kulturwirtschaft vergrößert das Angebotsspektrum
6) Wirtschaftskrisen verringern das Zeit- und Geld-Potenzial der Menschen für
kulturelle Aktivitäten
Entlang dieses Katalogs fordert Huber mehr wissenschaftliche Studien über das Musikpublikum sowie Konzepte und Aktivitäten seitens der Musikvermittlung und Kulturpolitik
bezüglich der speziellen Bedürfnisse des älteren wie des jüngeren Publikums, sowie des
Publikum-Nachwuchses. Vor allem Nachwuchspflege sei von zentraler Bedeutung, - nur
wer in jungen Jahren auch aktiv Musik macht, bleibe als Publikum erhalten705706.
4.2.2 Neue Oralität
Katharina Klement stellt die neue orale Technik der Elektronik und wieder belebten
Improvisation, die sich neben der traditionellen Schriftkultur entwickelt hat, in den
Mittelpunkt ihrer Überlegung zum Publikumswandel. Diesen legt sie die Begriffe primäre
Oralität und sekundäre Oralität zugrunde. Primäre Oralität ist die Weitergabe der Musik
von einer Generation zur nächsten lediglich über das Hören ohne Zuhilfenahme von
705
Michael Huber arbeitet selbst zurzeit an einer entsprechenden Studie, die Ende 2009 erscheinen soll, Andrea Hausmann aus Frankfurt/Oder hat einen Sammelband zum Thema Demographischer Wandel und
Kultur erstellt, der inzwischen erschienen ist
706
Michael Huber, Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er zerbricht
Die Kunstmusik und ihr Publikum in Österreich. Vortrag im Rahmen der Konferenz Publikumswandel:
Herausforderungen für die Kunstmusik in der ganzen Welt am 10. November 2008 im Wiener Konzerthaus,
vgl. http://www.mica.at/mica_aktuell/detail_18772.html (21. 03. 2009)
247
Schrift. Diese oralen Traditionen sind heute vom Aussterben bedroht. Sekundäre Oralität
meint die Übermittlung von Musik über Tonträger und ist die heute gängige Form des
musikalischen Austausches. Klement meint damit vor allem die durch das
Komprimierungsformat mp3 ermöglichte Verfügbarkeit von Musik im Internet (iPodGeneration). Zeitgenössische Kunstmusik verweigere sich aber in mehrfacher Hinsicht
dieser Praxis und ist dem entsprechend immer weniger sichtbar. Diese lasse sich nicht in
komprimierter Qualität zufrieden stellend abbilden, sei eine Kunst, die die Ränder der
Wahrnehmung berühre (von der Lautstärke bis zum Klangspektrum), und sich nicht in
einen Stereo-Hörraum zwängen lässt. Mit komprimierter Qualität meint sie aber auch die
ästhetisch limitierte und schematisierte Audio-Produktion, die dieses Medium vorgibt und
die die so genannte Pop-Musik zu ihrem vorrangig genutzten Präsentationsfeld gewählt
hat. Zeitgenössische Musik arbeite vorrangig nicht für dieses Medium, sondern werde als
real stattfindendes Ereignis (Konzert) konzipiert und rezipiert. Dabei hat sich seit den 50erJahren nicht nur die Spieltechnik verändert, sondern auch die musikalische Schriftkultur im
Sinne etwa der grafischen Notation oder im Bereich der reintegrierten Improvisation.
Letzten Endes hat aber die Elektronik den ästhetischen Zugang revolutioniert. Alles
Aufnehm- und Speicherbare wird der virtuellen Sample-Datenbank einverleibt. Das
diaphane musikalische Spektrum, das transparente Übereinander vielfältiger musikalischer
Kulturen, das heute vorherrsche, erschwere differenziertes Registrieren. Für das junge
Publikum, das sich auf Internetforen verlinkt, gibt es die traditionellen ästhetischen
Kategorien immer weniger.
Die neuen Medien bieten nicht nur schier unbegrenzten Zugang zu jeder Art von Musik,
sondern erleichtern auch das Selbstproduzieren mittels leistbarer Computer-Software. Hier
setzt Klement mit Ihrer Forderung an, das Fortbestehen einer non-konformen
zeitgenössischen Musik zu sichern. Ihre Forderung zielt vor allem in den pädagogischen
Bereich, wo junge Menschen zum aktiven Hören, aber auch zum kreativen musikalischen
Gestalten angeleitet werden sollen, um in der von den Medien vereinnahmten Welt
Handlungs- und Aktionsspielräume zu erhalten. Der Zugang zum Unmittelbaren, der von
den Medien, wenn nicht verstellt, so doch behindert wird, ist ein wesentliches Anliegen.
Der von Klement vorgeschlagene neuen Oralität, die polar zur Dauerbeschallung des
lärmenden Alltags steht, müsse gefördert und vermittelt werden. In diese Beschallung habe
sich u. a. auch die so genannte „world music“ integriert, die auf ein exotisches
musikalisches Menü abzielt, in denen die Gewürze Emotion und Fernweh nicht zu kurz
kommen, letztlich aber ein Ausverkauf im Kolonialstil ist. Zeitgenössische Musik sollte
248
Ereignisraum bleiben, das Offene beherbergen und keine Hochglanzprodukte, - keine
Unterhaltung liefern. Neue Musik muss eine Kategorie des Ungewissen bleiben, es darf
nicht zum Establishment werden, und bleibt damit ein sensibles und schützenswertes
Vorhaben707.
Dieser pädagogische Ansatz scheint heute auf vielen Ebenen wichtig zu sein, um jungen
Menschen die Möglichkeit zu geben, auf die Herausforderungen des digitalen Zeitalters
aktiv zu reagieren und kreativ damit umzugehen. Im musikuniversitären Bereich aber ist es
offensichtlich oft nicht so sehr die Herausforderung neuer Paradigmen, die die
Entwicklung neuer Strategien notwendig macht, sondern das Verharren im Gewohnten und
Überkommenen. Wir haben uns in unseren musikkünstlerischen Ausbildungsgängen daran
gewöhnt ... nachgestaltend tätig zu sein... die meisten universitären musikkünstlerischen
Ausbildungskonzepte im deutschsprachigen Raum [haben] über die Aufbruchsbewegungen
des 20. Jahrhunderts hinweggespielt und tun es zum großen Teil immer noch.
Experimentelles als künstlerisches Verfahren gibt es in instrumental- und vokalorientierten
Studienbereichen derzeit noch äußerst selten. Ausbildungskonzepte, die die wechselseitige
Verknüpfung von Nachgestaltung und experimenteller Neugestaltung beinhalten, scheitern
an Konvention und Tradition708.
4.2.3 Neue Medien
Der Zugang zu Musik jeder Art war noch nie so leicht wie heute, die Auswahl noch nie so
groß. Diese Verfügbarkeit auf Abruf bringe neben der Spannung auch Angst mit sich und
fordere Verantwortung, der Akt der Erkundung und Entdeckung (was werde ich als
nächstes hören?) rückt somit in den Mittelpunkt. David Jennings sieht heute drei Ebenen
der Kommunikation:
1) Die Welt der Daten im Internet, die auf unterschiedlichsten Wegen allen zugänglich
sind
2) Die so genannten blogs im Internet, die die menschliche Ebene der Kommunikation und
des Persönlichen darstellen
3) Rock’n Roll als das Paradigma, das unser Interesse am Erkunden der Kultur wach hält,707
Katharina Klement, Zeitgenössische Musik als Neo-Oralität des 21. Jahrhunderts. Vortrag im Rahmen der
Konferenz Publikumswandel: Herausforderungen für die Kunstmusik in der ganzen Welt am 10. November
2008 im Wotruba-Saal des Wiener Konzerthauses, vgl. http://www.mica.at/mica_aktuell/detail_18772.html
(21. 03. 2009)
708
Helmi Vent (2005) S. 148 f
249
Jennings nennt diese Ebene die der Haltung (attitude) und des Appetits.
Zudem ist die so genannte Mundpropaganda (word of mouth) heute nach wie vor – wenn
auch heute im Internet - eines der wichtigsten Medien709.
Jennings beschreibt damit exakt die Kommunikationsstrukturen, die Vilém Flusser
vorgeschlagen hat, - übertragen in die Epoche des Internets.
Die Welt der im Netz verfügbaren Daten entspricht der Form des Diskurses, im Speziellen
der des Baum- und Amphitheaterdiskurses, in dem Informationen unverändert übermittelt
werden. Die blogs wären den Kreisdialogen zuzuordnen, in denen Geräusche, also
Veränderungen und Synthesen der Information gegeben sind, und die Mundpropaganda ein
Netzdialog, das kollektive Gedächtnis710.
Der Titel von Jennings Buch (der den drei genannten Ebenen entspricht) ist gleichzeitig
auch Fahrplan oder Rezept für Orientierung im Internet. Die neuen Technologien, die als
Web 2.0 bekannt geworden sind, sieht Jennings als Chance für Vielfalt wie für Nischen.
Das Web 2.0 sei eine Plattform, die die Erkundung von Bereichen ermöglicht, die die
Massenmedien normalerweise ignorieren. Chris Anderson711 weist darauf hin, dass z. B.
Verkäufe von Musik im Internet nicht mehr auf Hits konzentriert sind, sondern sich auf ein
größeres Spektrum verteilen. Die so genannten blogs712 ermöglichen bzw. erleichtern den
Austausch von Meinungen und bieten Musikfans die Möglichkeit, einander gegenseitig
Informationen zuzuspielen. Die Mittel, mit denen heute Neues - also auch neue Musik entdeckt werden kann, seien quasi unbegrenzt. Jennings spricht von einer celestial jukebox,
die uns die gegenwärtige Epoche des Überflusses beschere und betont vor allem die
Aktivität des Einzelnen beim Suchen in diesen neuen, schier unerschöpflichen Kanälen
sowie die Möglichkeit einer interaktiv-dynamischen Verbindung zwischen Produzenten
und Konsumenten. Jennings verwendet für diese selbst-motivierte und -gesteuerte
Entdeckungsreisen im Internet die Metapher des foraging, was so viel wie Futtersuche
bedeutet. Die blogs sind Richtungsweiser von Fans für Fans und bieten Hilfestellungen zur
erfolgreichen Suche713.
709
David Jennings, Reaching an audience in the age of blogs and social networks. Vortrag im Rahmen des
Symposiums The fan, the music and the net am 12. November 2007 in Wien, vgl. auch David Jennings, Net,
Blogs and Rock’n’ Roll. London/Boston 2007
710
Flusser (2000), S. 24 - 33
711
Chris Anderson, The Long Tail: How Endless Choice Is Creating Unlimited Demand. Random House
2006, zitiert nach David Jennings (2007) S. 5
712
Blogs sind Plattformen im Internet, die Vielfalt, Verbreitung und Austausch von individuellen,
authentischen Stimmen und Freundschaften bieten. Vgl. David Jennings, Net, Blogs and Rock’n’ Roll.
London/Boston 2007, S. 4
713
David Jennings, Net, Blogs and Rock’n’ Roll. London/Boston 2007, S. 4 ff
250
Während einige noch Angst haben, dass die iPod-Culture die Menschen in die Isolation
treibt, in dem sie sie in ihre personalisierten Cocons einsperrt, sei es vielmehr heute so,
dass die Konsumenten über die genannten Schnittstellen bzw. Plattformen kommunizieren
und bereits kleine Gruppen andere informieren und anstecken können. Die neuen Medien
und ihre Angebote bieten neue Wege der Kommunikation, - der Pflege von Kontakten und
der Suche nach Gleichgesinnten714. Hier soll zumindest angemerkt sein, dass die von
Jennings propagierte neue Ära der Entdeckung (new era of discovery) in erster Linie vom
Bereich des Entertainments die Rede ist. Grundsätzlich ist die Nutzung der neuen
Technologien aber nur insofern Genre gebunden, als die so genannte zeitgenössische
Kunstmusik in den im Internet gängigen Formaten wie MP3 oft nicht zufrieden stellend
abgebildet werden kann. Auf der anderen Seite ist in jedem Fall die Verbindung
verschiedener Formate wie Audio, Bild und Video eine Bereicherung, die von den
unterschiedlichsten Kunstformen zumindest einen Überblick oder Eindruck übermitteln
kann.
Das, was Kritiker als Musikberieselung (vgl. Kapitel 3.2 – Hörstadt/Linz) bezeichnen, ist
durch Brian Eno als Ambient in die neuere Musikgeschichte eingeführt worden. Bei der
Einführung dieses Begriffs ging es ihm darum, sich weniger auf die Produktion, als auf die
Rezeption von Musik, auf das Hören zu beziehen. Und es ging vielen in dieser Zeit um die
Aufhebung der hierarchischen Unterscheidung zwischen Produzenten und
Konsumenten715. Eno schrieb im Klappentext zu seinem Album Discreet Music 1975, dass
er versuchte, ein Stück zu machen, dem man zuhören, aber es auch ignorieren konnte, ganz im Geist Eric Saties, der Musik machen wollte, die sich mit den Geräuschen des
Essbestecks bei Tisch vermischen kann716. Im Zusammenhang mit den neuen
Hörgewohnheiten der iPod-Generation ist ein großer Teil des Musikhörens dem ambientlistening zuzuordnen, das auch als passives Hören (Berieselung) bezeichnet wird, das
Jennings aber differenzierter sieht. Passivität charakterisiert für ihn weder das, was Eno
meinte, noch die aktuelle Situation. Vielmehr haben Eno und seine Freunde das Hören
Jennings nennt die folgenden sieben Punkte als wesentliche Charakteristika der Blog-Culture (S. 6): 1) An
open form of mass participation in media where anyone can contribute. 2) A conversation, not a lecture or a
broadcast – there is no „final word“. 3) No commissioners, no editors, self-publishing with no infrastructure
of control. 4) Mostly a non-commercial activity (corporate blogs and mainstream media blogs exist, but are
arguably not what the ethos of blogging is really about). 5) The fan economy is a gift conomy, rewarded by
recognition and in-kind returns from fellow contributors. 6) A focus on the individual, authentic voice.
7) Part of a wider activity of personal networking, finding like-minded souls. and building communities of
interest.
714
David Jennings (2007) S. 7 und S. 179
715
David Toop, Ocean of Sound. Klang, Geräusch, Stille. St. Andrä-Wördern 1997, S. 54
716
zitiert nach David Jennings (2007) S. 116
251
konfiguriert, - das Hören ist einem ständigen Wechsel der Aufmerksamkeitspotenziale
unterworfen717. Ambient war Symptom eines tief greifenden Wandels der zunächst
britischen Musikproduktion. Diesem neuen Musizieren lag die Idee zugrunde, dass
Maschinen live spielen, und dass die Energie der Leute, die spielen, von denen
aufgegriffen wird, mit denen sie zusammenarbeiten und schließlich zu den Leuten
zurückkommt, von denen sie sie genommen haben718.
Mit der Entwicklung des Web 2.0 wird das Internet ein interaktives Medium, das die des
passiven Konsumenten in die des aktiven „Prosumenten“ (prosumers) verwandelt, der
seine eigenen Musik-Hörprogramme zusammenstellt und der Suche und Auswahl mehr
Aufmerksamkeit schenkt als das in Zeiten beschränkten Angebots der Fall war719.
Das steht meiner Meinung nach im Kontext einer länger zurückreichenden Entwicklung,
die Prozesse der Auswahl von und des Zugriffs auf Musik betreffend.
Stellte (im Bereich der Kunstmusik) ursprünglich der kirchliche oder fürstliche
Auftraggeber durch die Vergabe der Aufträge und das Engagement der Musiker sein
Musikprogramm zusammen, übernahmen in der bürgerlichen Gesellschaft diese Funktion
die Intendanten und Funktionäre der Musikvereinigungen bzw. Veranstalter. Diese
Programme waren einerseits Ausdruck des bürgerlichen Musikgeschmacks, andererseits
aber programmierten sie das Publikum bzw. das Vokabular bürgerlicher Ästhetik. Mit der
technischen Möglichkeit der Aufzeichnung und Übertragung akustischer Phänomene war
die Verbreitung von Musik nicht nur über Konzertsäle, sondern auch über Rundfunk,
Telefon und Schallplatte gegeben. Mit Ausnahme von Hörer-Wunschprogrammen war und
ist die Auswahl auch dort in Händen von Spezialisten. Obwohl das Radio in seinen
Anfängen durchaus auch als dialogisches Medium zumindest angedacht war720, ist es –
auch durch die Rundfunkpolitik des Nationalsozialismus – nach wie vor Massenmedium.
Erst 1970 machte Hans Magnus Enzensberger in seinem Aufsatz im Kursbuch 20,
Baukasten zu einer Theorie der Medien, wieder auf Brechts Ideen aufmerksam. Mark
Coleman bezeichnet übrigens die Single-Schallplatte und den tragbaren Transistorradio als
die Geburtshelfer für den Rock’n’Roll721. Mit dem Siegeszug der Schallplatte wurde auch
717
David Jennings (2007) S. 116 f. Vgl. dazu auch Wolfgang Welsch (1996) S. 255 f
David Toop (1997) S. 67 f
719
David Jennings (2007) S. 116 f
720
etwa in Brechts Radiotheorie, vgl. Bertold Brecht, Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über
die Funktion des Rundfunks (1932/33). In: Bertold Brecht (1967) S. 127 ff. Brecht fordert in dieser Schrift
einen Hörfunk, der nicht nur sendet, sondern auch empfängt, - dessen Hörer sich bei Bedarf in 'Sender'
verwandeln können.
721
Mark Coleman, Playback. Zitiert nach David Jennings (2007) S. 222
718
252
der so genannte Disc-Jockey geboren, der ebenso Spezialist sein musste. Seine Funktion
war es, vor allem bei Tanzveranstaltungen die Platten nicht nur zu wechseln, sondern auch
dem Zweck entsprechend auszuwählen. Dabei ging es nicht nur darum, die Kontinuität des
Musikflusses aufrecht zu halten, sondern auch das jeweils gängige Repertoire
abwechslungsreich zu mischen und damit Spannung zu erzeugen. Disco Mixing, das
Überschneiden und Vermischen von Schallplatten negierte den Musiker und stellte die
Unantastbarkeit der musikalischen Darbietung infrage. Nicht nur stilistische Grenzen und
kulturelle Differenzen wurden aufgelöst, sondern damit auch die Abgeschlossenheit des
traditionellen Werkbegriffs. Das Problem der menschlichen Kommunikation wurde
innerhalb von Maschinen ausgetragen722. Nach und nach, besonders nach Einführung der
digitalen Formate wurde der Discjockey, nun DJ, selbst zum Künstler. Song und
Komposition wurden auseinander genommen und in miteinander kombinierbare Module
und Fragmente zerlegt. Damit reagierte man auf die Bedürfnisse nachts lebender
ekstatischer Tänzer im Unterschied zu den klassischen Modellen, nach denen die Mehrheit
der Popmusikhörer verlangte. Songs wurden flüssig ... Der DJ – oft irrtümlich zum
Schamanen befördert – ist gleichzeitig Bibliothekar, Bastler und Prophet723. Das so
genannte DJ-ing ist bereits ein komplexes Aufbereiten von musikalischem Material, das
zum Teil extra für diesen Zweck vorbereitet bzw. aufgenommen wird. Es beinhaltet den
manuell-physischen Eingriff (scratch) sowie die elektronische Veränderung des
Ausgangsmaterials (remix). Diese Praxis macht den DJ selbst zum Kreativen, jeder DJ
entwickelt sein eigenes Profil als Spezialist und genießt Künstlerstatus, DJ - Events haben
nunmehr Live-Musikcharakter. Durch die neuen Technologien und Angebote des Web 2.0
und der Musikdownloadplattformen, die eine breite Auswahl seitens des Konsumenten
nicht nur ermöglichen, sondern diesem auch intelligente Hilfe zum Auffinden der Musik
seines Geschmacks bietet, ist nun der Konsument selbst in die kreative Rolle des DJs
geschlüpft, zumindest was die Auswahl und Zusammenstellung eines persönlichen MusikHörprogramms betrifft. Was einerseits Chance ist, ist andererseits Gefahr, - denn auch die
im Netz angebotenen Meta-Programme programmieren uns, ohne dass wir uns dessen
bewusst sind, denn auch wenn jetzt jeder Einzelne zum Spezialisten werden darf, stecken
doch auch noch andere dahinter. Das Internet ist in diesem Sinn ein Musterbeispiel für das,
was Vilém Flusser Technobild nannte. Ein Apparat, über den uns ein Bild von der Welt
722
723
David Toop ( 1997) S. 57
David Toop ( 1997) S. 58
253
vermittelt wird, das im Grunde lügt724. Wir hören zwar „Musik“ aus dem Netz als Musik,
doch sie ist etwas anderes als Musik im traditionellen Sinn, - die aus dem Netz
empfangenen Klänge bedeuten nicht Musik sondern Texte oder Begriffe. Wir sind uns
nicht bewusst, dass wir lediglich ihr Logo vor uns haben, nicht aber die Musik selbst725.
Die Kunst reagiert insofern auf diesen Sachverhalt, als sie Strategien entwickelt, die es
erlauben, mit dem neuen Paradigma kreativ umzugehen und damit einen wesentlichen
Beitrag zur Entzifferung der uns umgebenden kodifizierten Welt leistet726. Dazu gehören
Kunstrichtungen wie das erwähnte DJing (im Audiobereich) und VJing (im Videobereich)
und viele andere, zum Teil interdisziplinär arbeitende Gruppen, die die aktuellen
Technologien nutzen, wie etwa die so genannte Demo-Szene im Bereich des Real timeVideos.
Eine Kunstrichtung, die Peter Weibel als eine der wichtigsten Kunstströmungen des
21. Jahrhunderts bezeichnet hat727, ist die so genannte Klangkunst oder Soundart, die
bereits im ersten Kapitel als Begriff Erwähnung findet. Voraussetzung für diese neue
Strömung war u. a. die Autonomisierung der Kunst, die in den Avantgardebewegungen in
Europa (etwa ab 1930) und den USA (etwa ab 1950) mit der Aufgabe der bis dahin noch
existierenden Materialbindungen der Künstler einherging. Das gilt sowohl für die bildende
Kunst als auch für die Musik, wo Grenzüberschreitungen zu neuen Formen in
Zwischenbereichen der traditionellen Gattungen führten und neue ästhetische
Auffassungen prägten. Helga de la Motte-Haber, die zur Festigung des Begriffes und der
Bewegung beigetragen hat, erwähnt László Moholy Nagy und Erik Satie als Wegbereiter
der neuen Kunstform, die in den 1920er Jahren. Nagy transformierte optische Eindrücke
mittels Ritzungen auf Schallplatten in akustische, und Satie möblierte öffentliche Räume
mit Klang. Diese Idee der Klanginstallation wurde mit fortschreitender Entwicklung der
Technik vervollkommnet und neue Präsentations- wie Rezeptionsmodelle entwickelt, in
denen vor allem die Autonomie des Rezipienten ausgeprägt ist. Ein wesentlicher Faktor
dieser neuen Ansätze war und ist der neu hinzukommende Aspekt des Raumes, der sich
724
Vilém Flusser (2000), S. 148
Jean de Loisy, Im Angesicht dessen, was sich entzieht. In: In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré.
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München 19. September 2008 bis 11. Jänner
2009. München 2008, S. 22 f
726
Vilém Flusser, Kommunikologie. Frankfurt am Main 1998, S. 230
727
Aus: http://www.theaterkanal.de/theater/oesterreich/wien/kosmostheater/phonofemme--intenationalesklangkunstfestival-in-wien
Übrigens hat der Salzburger Komponist Reinhold Schinwald Peter Weibel die Frage gestellt, wie es seiner
Meinung mit der Musik weitergehe. Peter Weibel antwortete: remix (aus einem persönlichen Gespräch mit
Reinhold Schinwald am 17. 04. 2009 in Wien
725
254
um den Rezipienten quasi als energetisches Feld aufbaut, in dem für diesen - stärker als in
den traditionellen Kunstformen - eine vielschichtige und mehrdeutige Struktur erlebbar
wird. Klangkunst ist in ihrer Räumlichkeit auch Standort bezogen, und auch hier in
Hinblick auf die konkrete räumliche Situation, aber auch in Bezug auf den Standort des
Publikums. Im Zentrum des neuen Raumbegriffs stehen Ideen wie die Verzeitlichung von
konkreten Räumen bzw. Orten, welche nur durch die Integration von Zeitvorstellungen
erlebbar werden bzw. im Grunde selbst zeitlich-situationsspezifisch sind728.
Dem entspricht der Aspekt der Verräumlichung der Zeit, der auch in der Musik etwa seit
Schönberg und der 2. Wiener Schule diskutiert wird729. In meiner Arbeit Die Abschaffung
der Zeit730 habe ich diese Fragen ausführlich erörtert. Waren diese Momente der
Verräumlichung in der Musik zu dieser Zeit im Wesentlichen Material bezogen, so sind sie
heute Situation bezogen und haben eine wesentlich höhere Relevanz gegenüber den
Rezipienten, obwohl etwa Jakobik in Bezug auf die Musik Schönbergs ein neues Hören
fordert, das der neuen klangräumlich orientierten Konzeption (etwa dem Denken in zwei
Zeitebenen) Rechnung tragen könnte731. Einen weitern Aspekt dazu liefert Theodor W.
Adorno, der im Aufschreiben der Musik als Partitur das Moment der Verräumlichung
angelegt sieht. Das Werk-als-Partitur sei eine erste Verdinglichung der Musik, und in
seiner Objektivierung die Verräumlichung ihrer Zeitlichkeit. Sie sei eine historische
Voraussetzung dafür, dass sich die Kunstform zum Vehikel der Subjektivität und zu einer
Erkenntnisweise entwickeln konnte, sodass die Musik eigentlich ihre Freiheit durch
Beschränkung und ihre Autonomie durch Verdinglichung und Fetischisierung erlangt
habe. Die Verräumlichung des Zeitlichen ist notwendig, nicht bloß empirisch inadäquat.
Autonomie und Fetischismus sind zwei Seiten des gleichen Sachverhalts732.
Mit dem Aspekt des Raumes geht auch der der Präsenz und Gegenwärtigkeit einher. Auch
hier unterscheidet Helga de la Motte-Haber zwischen traditionellen Kunstformen, in denen
meist Abwesend-Transzendentes Präsenz bekommt, und den neuen Künsten, in denen
etwas eigentlich Anwesendes, aber nicht Registriertes präsentiert wird. In diesem Sinn
adressieren die neuen Künste, insbesondere die Klangkunst, an die Wahrnehmungsfähigkeit des Publikums bzw. versuchen, die Rätselhaftigkeit der menschlichen Wahr728
Helga de la Motte-Haber, Konzeptionen von Klangkunst, Berlin 2002
Albert Jakobik, Arnold Schönberg. Die verräumlichte Zeit. Regensburg 1983, S. 20
730
Wolfgang Seierl, Die Abschaffung der Zeit. Aspekte des Zeitproblems in der Musik. Salzburg 1987. In
Erinnerung kommt hier Richard Wagners bzw. Parsifals Diktum Zum Raum wird hier die Zeit (1882)
731
Albert Jakobik (1983) S. 10
732
Theodor W. Adorno, Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion. Frankfurt am Main 2001, S. 72,
zitiert nach Max Paddison (2007) S. 220
729
255
nehmung zu thematisieren733.
In diesem Zusammenhang von den Veränderungen der Hörgewohnheiten zu sprechen,
heißt, eine Erweiterung über den Hörsinn hinaus zu beschreiben. Diese ließe sich durch
den Begriff Synästhesie fassen, der 1892 von Jules Milet, einem französischen
Psychologen, eingeführt wurde und eigentlich weiter gefasst war, als in der Bedeutung, in
der er heute Verwendung findet. Er meint die ganzheitliche Alltagswahrnehmung durch
alle Sinne, und auch, dass auch unimodale, also einheitliche, - auf ein Sinnesorgan
bezogene Wahrnehmung multisensorische Qualität hat. Das Hören von Musik ist also
durchaus auch von anderen visuell-räumlichen Sinneswahrnehmungen begleitet. Heutige
Kunst zielt auf ganzheitliche, Körper bezogene und interaktive Rezeption.
4.2.4 Zusammenfassung
Die technischen Medien des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts bedienten nicht
mehr die gesellschaftlichen Eliten, sondern gaben die Möglichkeit, nicht spezifisches
Publikum zu erreichen. Sie entstanden als Techniken der Kultur, die weltweit
funktionieren und jegliche Grenzen überschreiten sollten. Die, die sie benutzen,
identifizieren sich nicht mehr als Zuschauer bzw. Zuhörer, sondern sind Teilnehmer an
einer globalen Veranstaltung, - Mitspieler im Kontext der Interaktion bzw.
Kommunikation. Diese Welt präsentiert uns nicht mehr technische Artefakte, sondern
zusammengesetzte technische Sachsysteme. Technologie ist, indem sie mit Fortschritt
verbunden ist, auch mit der Macht verbunden. Computer und weltumspannende
Datenleitungen mit ihren Knotenpunkten stehen im Mittelpunkt. Auch wenn sie mit
hochleistungsfähiger Elektronik und Programmen arbeiten, sind sie doch Systeme in der
Tradition der Mechanik734.
Hans Belting spricht bezüglich der Digitalisierung zumindest im Bereich des Fotomarktes
von einer Zeitenwende. Was für das Foto zutrifft, gilt – meiner Meinung nach – auch für
das digitale Audiofile. Es lässt sich augenblicklich weltweit versenden. Zudem konstatiert
Belting die Körperflucht der digitalen Bilder, weil sie echter zu sein scheinen als Körper,
indem sie uns von unseren Körpern zu befreien scheinen. Während auf der einen Seite die
digitalen Bildwelten auf virtuelle Körper ausweichen, entzieht uns auf der anderen Seite
der genetische Code in einem analogen Ikonoklasmus die visuelle Evidenz dessen, was wir
733
734
Helga de la Motte-Haber (2002)
Siegfried Zielinski (2002) S. 322 f
256
heute vom Körper wissen oder wissen wollen735. Die Digitalisierung verändert nicht nur
unsere Hörgewohnheiten, sondern das Hören selbst. Die Explosion der fotografischen
Abbilder der Wirklichkeit entspricht einer schier unbegrenzten Verfügbarkeit von
Abbildern musikalischer Wirklichkeit. Dies zeitigt ein ständiges, ununterbrochenes Hören,
das nicht mehr an Events gebunden ist.
Vorgebildet scheinen diese aktuellen Entwicklungen in der Vorstellung Stockhausens vom
meditativen Hören, das er als Gegensatz zum üblichen Wunsch-Hören definiert. Mit dem
Begriff meditatives Hören bezieht er bereits 1952 eine Position, die später durch die
Popularisierung fernöstlicher Musikkultur (Hippie-Bewegung, The Beatles u. a.) aktuell
geworden ist. Ständige Anwesenheit von durchgeordneter Musik, die keine ‚Entwicklung’
darstellt, kann allein den Zustand meditativen Hörens ... hervorrufen: Man hält sich in der
Musik auf, man bedarf nicht des Vorausgegangenen oder Folgenden, um das einzelne
Anwesende (den einzelnen Ton) wahrzunehmen736.
Die beiden französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari erschließen in
ihrem Gemeinschaftswerk Anti-Ödipus737, das vor allem eine Kritik an der Freudschen
Ödipus-Theorie ist, ein völlig neues, Bahn brechendes Modell des Unbewussten: Das
Unterbewusste ist die Energie, die auf Verwirklichung in der Welt, Entladung und
Lustgewinn drängt. Diese Energie oder Produktionskraft ist Wunschproduktion, das
Unbewusste ist eine Wunschmaschine, die Körperteile sind Maschinenteile. Gemeint ist
eine elementare, molekulare Kraft, die sich über die Koppelung von Körperteilen und
Objekten ständig zu verwirklichen trachtet, die vorübergehend Produktionseinheiten bildet,
die sich wieder auflösen, damit andere Produktionseinheiten gebildet werden können. Die
Funktion des Unterbewussten ist Produktion, - gesellschaftliche Produktion ausschließlich
Wunschproduktion738.
735
Hans Belting (2005) S. 303 ff
Karlheinz Stockhausen, Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Band 1. Köln 1963, S. 21,
zitiert nach Christoph von Blumröder (1993) S. 117 f
737
Gilles Deleuze/Félix Guattari, Anti-Ödipus. Paris 1972
738
Die Metapher der Maschine hat der russische Philosoph Peter D. Ouspensky in seiner Psychologie der
möglichen Evolution des Menschen (Saarbrücken 20086) verwendet. Der Mensch sei eine von äußeren
Einflüssen in Tätigkeit gesetzte Maschine, die tief unter ihrem Niveau arbeite und trotz vieler Hindernisse
fähig sei, sich zu entwickeln und für sich selbst ganz andere Stufen der Aufnahmefähigkeit und Tätigkeit
aufzubauen. (S. 60 ff) Zur Ästhetik Deleuzes/Guattaris passt auch Ouspenskys Vorstellung, dass der Mensch
eine Vielheit ist. Er habe kein Ich, das einheitlich, beständig und unwandelbar ist. Auch David Toop (1997)
nennt ein Kapitel seines Buches Ocean of Sound „Bewusstseinserweiterung/Die Maschine“: Im letzten
Jahrzehnt haben Computer die kybernetische Musik in einen Bereich jenseits der menschlichen Kapazitäten
getrieben. (S. 217)
736
257
Wird nun das Unterbewusste als Ort chaotischer, nicht-gesellschaftsfähiger Wünsche - also
dieser Wunsch zu wünschen - unterdrückt, räumt diese produktive Kraft zugunsten einer
anderen Kraft das Feld, die sich nur mehr im Mythos, in der Tragödie oder im Traum
ausdrücken kann.
Deleuze und Guattari entwickelten über ihre Kritik an Freud und die neue Theorie des
Unbewussten eine ähnlich neue Konzeption des Lesens. Sie postulieren die Idee des
Rhizoms (Wurzelgeflecht) als dynamische Struktur eines Agierens und Produzierens im
Fluss und in nicht zentrierten Systemen. Im folgenden Textausschnitt lässt sich das Wort
Buch ohne weiteres durch das Wort Musik ersetzen:
Findet die Stellen in einem Buch, mit denen ihr etwas anfangen könnt. Wir lesen und
schreiben nicht mehr in der herkömmlichen Weise. Es gibt keinen Tod des Buches, sondern
eine neue Art des Lesens... Ein Buch muss mit etwas Anderem eine Maschine bilden, es
muss ein kleines Werkzeug für ein Außen sein. Keine Repräsentation der Welt, auch keine
Welt als Bedeutungsstruktur. Das Buch ist kein Wurzel-Baum, sondern Teil eines Rhizoms,
Plateau eines Rhizoms für den Leser, zu dem es passt. Die Kombinationen, Permutationen
und Gebrauchsweisen sind dem Buch nie immanent, sondern hängen von seinen
Verbindungen mit diesem oder jenem Außen ab. Ja, nehmt was ihr wollt!739
Das Rhizom ist also wie eine offene (Land-)Karte, die in allen ihren Dimensionen
verbunden, demontiert und umgekehrt werden kann, - ständig modifizierbar ist. Man kann
sie zerreißen und umkehren; [...] Man kann sie auf Mauern zeichnen, als Kunstwerk
begreifen, als politische Aktion oder als Meditation konstruieren. Eines der wichtigsten
Merkmale des Rhizoms ist es, viele Eingänge,- Zugänge zu haben740.
4.3 Künstlerische Positionen als Parameter gesellschaftlicher Realität
Wenn Siegfried Zielinski am Beginn seines Buches über die Tiefenzeit des technischen
Hörens und Sehens741 die Frage stellt, ob wir nicht gerade gegenwärtig verstärkt
Naturwissenschaftler brauchen, die Augen wie Lüchse und Ohren wie Heuschrecken
haben, und Künstler, die etwas aufs Spiel setzen, anstatt den gesellschaftlichen Fortschritt
mit ästhetischen Mitteln nur zu moderieren, dann ist damit einerseits die Gefahr artikuliert,
dass Wissenschaft und Kunst ihre ureigensten Aufgaben vernachlässigen könnten und
andererseits ein Aufruf zur aktiven Begegnung mit den Herausforderungen des Medien739
Gilles Deleuze/Félix Guattari, Rhizom. Berlin 1977, S. 40
Gilles Deleuze/Félix Guattari (1977) S. 21 f
741
Siegfried Zielinski (2002) S. 22
740
258
zeitalters. Dieses etwas aufs Spiel setzen ist für ihn durchaus etwas, das mit dem Reich der
Illusionen, das die Medienwelt darstellt, vereinbar ist. Dabei bezieht er sich auf den
Philosophen Dietmar Kamper, der darauf aufmerksam macht, dass das Wort illudere nicht
nur bedeute, etwas vorzutäuschen, einen schönen Schein zu erzeugen, sondern dass in ihm
etwas mitschwinge, das für mediales Handeln besonders wichtig sei, nämlich dieses etwas
aufs Spiel setzen, die eigene Person mit eingeschlossen. So plädiert er etwa für eine
eingreifende Medientheorie und –praxis, die an der Schnittstelle zwischen
Medienmenschen und Medienmaschinen aktiv ist. Von den Künstlerinnen und Künstlern,
die sich auf das riskante Spiel eingelassen haben, sollte man lernen, mit und durch die
neuen Techniken für das Andere zu sensibilisieren und das Vertraute allmählich
umzukehren, das Mögliche mit seinen eigenen Unmöglichkeiten zu konfrontieren742.
Dieses etwas aufs Spiel setzen ist in der Musik, vor allem in der so genannten Neuen
Musik, im Vergleich mit der bildenden Kunst ein Moment, dem vor allem Tradition,
Konvention und feldspezifische Eigenschaften (wie die traditionelle Wertschöpfungskette
zeigt) deutlich entgegenstehen. Es ist auffallend, dass die Mehrzahl der im FallbeispielKapitel vorgestellten Initiatoren starke Bezüge zur bildenden Kunst haben. Diese sind, und
auch das fällt auf, ausschließlich Männer. Tradition und Konvention sind in der Welt der
Musik nach wie vor vorherrschend. In seinem Aufsatz Fragmente einer Verteidigung743
artikuliert der Komponist Peter Ablinger diese Problematik in großer Deutlichkeit.
Zunächst weist er auf die Abhängigkeit der Musik von den Institutionen Orchester,
Ensemblebesetzung, Akademie, Ausbildung, Instrumententradition, Konzertsaal und
Musikwissenschaft hin. Diese Abhängigkeit ist - für Ablinger - für die erdrückende
Historizität des Musikbetriebs verantwortlich, wird für die neueste Musik zur
korrumpierenden Falle und schaffe zumindest ein von Vorurteilen belastetes Klima
gegenüber allem musikalischem Tun, das auch gar nicht versuche, diese Institutionen zu
umgehen. Deutlich wird ihm diese Art Korruption im Vergleich mit der bildenden Kunst,
wo der freie Zugriff des Autors auf sein Medium, ein anything goes selbstverständlich ist, für die zeitgenössische Komposition aber Fiktion geblieben ist. Die Musikschaffenden
jenseits der institutionellen Anpassung744, die einen Vergleich mit der bildenden Kunst
742
Siegfried Zielinski (2002) S. 21
Peter Ablinger, Fragmente einer Verteidigung. In: Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008,
Saarbrücken 2008, S. 104 f
744
Ablinger nennt Charlie Parker, Velvet Underground, Einstürzende Neubauten, Diamanda Galas, John
Zorn, Cecil Taylor
743
259
nicht zu scheuen brauchen, werden nach Ablinger von der Neue-Musik-Lobby ignoriert
und lässt diese anderen Bereiche wie den verdrängten Schatten der Neuen Musik
erscheinen. Ablinger zeichnet hier den Unterschied zwischen den Künstlern, die den
gesellschaftlichen Fortschritt mit ästhetischen Mitteln nur moderieren und jenen, die etwas
aufs Spiel setzen (Zielinski) nach. Ablingers kritische Haltung bezieht sich jedoch auf noch
Grund legendere historische Entwicklungen. Entsprechend dem Satz von MacLuhan the
medium is the message745 ist für Ablinger jede Botschaft, jede Information nur ein Mittel
zwischen etwas und etwas (jemandem und jemandem). In der bildenden Kunst etwa
wurden unter Berufung auf dieses Medium Ausdruck, Inhalt und Form erfolgreich
verdrängt. Der größte Teil der Neuen Musik ist für Ablinger über den abstrakten
Expressionismus, mit dem er die Intaktheit des äußeren Erscheinungsbildes meint, nicht
hinausgekommen. Wie in der bildenden Kunst gab es in der Musik zwar auch serielle,
minimale, stochastische und modulare Konzepte, doch hatten diese Konzepte meist keinen
Einfluss auf das musikalische Ganze, sondern nur auf Teilbereiche wie die des Tonsatzes
oder der Instrumentaltechnik. Der fatale Kompromiss bestehe also zwischen dem
Anspruch Neue Musik zu schreiben und gleichzeitig den vorhandenen Institutionen, die die
Positionierung von Klang und Hörer (Konzertsaal), die Dauer und Abläufe
(Veranstaltungen), den Standard dessen, was man von den Ausführenden verlangen kann
(Interpreten, Ausbildung) und die Gattungsgeschichte, Virtuosität, Notenschrift usw.
(Instrumentarium) vorgeben bzw. definieren. Gemäß der Meinung Klaus Theweleits, dass
Polyphonie und Liebe einander ausschließen würden, plädiert Ablinger für die
Einstimmigkeit, die er mit der Zweidimensionalität des Bildes vergleicht. In der
Mehrstimmigkeit sieht er keine weitere Dimension, sondern nur deren Illusion, wie etwa
die Perspektive in der Malerei.
Einstimmigkeit ist sozusagen illusionslos.
Ist grundsätzlich das, was es ist.
Eine Stimme im Raum.
Ein Mensch an einem Ort.
Einer der singt.746
745
Herbert Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Düsseldorf/Wien/ New York/Moskau
1992, S. 17
746
Peter Ablinger, in: Berno Odo Polzer (Hsg.), Wien Modern 2008, Saarbrücken 2008, S. 105
260
Medienhistorisch relevant ist schließlich auch Ablingers Relativierung der Notenschrift als
Distanzierung, die Annäherung verspricht, in erster Linie Kontrolle liefere und zur
Funktion des Ganzen werde. Notenschreiben und Komponieren sind für ihn nicht das
Gleiche, können fast das Gegenteil sein. In Bezug auf die mündliche Weitergabe von
Information in früheren bzw. anderen Kulturen entlarvt er Schrift als Synonym für
Versteinerung.
Das Ziel Peter Ablingers wäre in diesem Zusammenhang nicht ein mehr an Komplexität,
die erst über die Schrift möglich geworden ist, sondern Unmittelbarkeit ohne vorgegebene
Denk-Schemata. Gerade in der Entwicklung der neuen Medien sieht er einen Moment der
Annäherung und einer Direktheit des Blicks und meint damit, dass Klänge als solche
gehört werden können und nicht mehr als Hinweisschilder für etwas, nicht mehr
Projektionsmomente sind für Emotionen, nicht mehr Repräsentanten für irgendeine Form
von Ordnung. Die Quintessenz ist, dass Peter Ablinger als Künstler auf das Wesentliche
zurückkommen will, auf die ureigensten Bedingungen des Musikmachens und
Musikhörens. Wenn er in seinen Überlegungen bis zum Beginn der Mehrstimmigkeit
zurückgeht, holt er zwar sehr weit aus, bringt aber doch damit eine weitere Fragestellung
auf den Punkt. Angesichts des offensichtlichen und quasi klaffenden Unterschiedes
zwischen unserer westlichen Musikkultur und z. B. der Indischen, die sich sowohl
Einstimmigkeit als auch mündliche Überlieferung bewahrt hat, erscheinen uns diese beiden
Kulturmodelle zwar getrennt, aber doch einer Wurzel zu entspringen, wenn wir unsere
Geschichte weit genug zurückverfolgen. Es waren zum Teil radikale Entwicklungen bzw.
Entscheidungen, die unsere Kultur zu der gemacht hat, die sie ist. Die Sehnsucht nach den
Wurzeln als dem Ursprünglichen ist verständlich, die Suche nach dem Wesentlichen
orientiert sich oft an diesem. Aus der Position des Inders, hier im Speziellen des Musikers
Ritwik Sanyal (der die Position dieser und den Blickwinkels aus dieser anderen
Musikkultur repräsentiert), ist es die Schrift, die in den westlichen Kulturen diese
unterschiedliche Entwicklung gezeitigt hat. Aber jetzt, am Anfang des 21. Jahrhunderts,
bestünde die Aufgabe darin, diese Unterschiede, die über mehrere Jahrhunderte im
Vordergrund gestanden haben, zu vergessen und das Gemeinsame in Emotionalität und
Kreativität zu suchen. Aus seiner Sicht war und ist die westliche Musik mehr dem Denken
verpflichtet, die Indische hingegen dem Gefühl, dem Herzen747.
747
Aus einem persönlichen Gespräch zwischen Ritwik Sanyal und dem Verfasser am 14. September 2008 in
Mittersill
261
Auf die heute wahrzunehmende Umorientierung vom Wunsch-Hören zum meditativen
Hören hat, wie bereits erwähnt, Stockhausen hingewiesen748. Mit der diese Umorientierung
begleitende geistigen Wandlung vom überspitzt Individualistischen zum PersönlichKollektiven spricht er von einem Aspekt, der sich auch in den in dieser Arbeit dargestellten
Bereichen erkennen lässt.
Ist in den untersuchten Positionen nicht unbedingt rein politisches Engagement zu finden,
so aber doch das Engagement in ästhetischen, sozialen und politischen Bereichen. Nach
Vilém Flusser ist jedes Veröffentlichen ein Politisieren. In dem Sinn also, in dem der
Künstler seine Arbeit an die Öffentlichkeit bringt, nimmt er auch an einem politischen
Diskurs teil. Es ist eine Gratwanderung zwischen dem individuell - Persönlichen und dem
allgemein - Öffentlichen, die die heutige Situation des Künstlers kennzeichnet. Am
deutlichsten wird dies an den Aktivitäten Bill Drummonds, aber auch den anderen, stilleren
Positionen. Dass der Bereich außerhalb der Gesellschaft nach wie vor einen wesentlichen
für den künstlerischen Prozess darstellt, beschreibt Hannah Arendt so:
Offensichtlich ist die Position außerhalb des politischen Bereichs, und damit außerhalb
der Gemeinschaft, zu der wir gehören, außerhalb auch der Gesellschaft, in der wir uns
unter unseresgleichen bewegen, dadurch gekennzeichnet, dass sie eine der mannigfachen
Weisen des Alleinseins darstellt. Unter den existentiellen Modi des Alleinseins sind
hervorzuheben die Einsamkeit des Philosophen, die Isolierung des Wissenschaftlers und
Künstlers, die Unparteilichkeit des Historikers und des Richters und die Unabhängigkeit
dessen, der Fakten aufdeckt, also des Zeugen und des Berichterstatters. ...Diese Weisen
des Alleinseins sind in mancher Hinsicht zu unterscheiden, aber sie haben gemeinsam,
dass sie alle das politische Engagement, das Eintreten für eine Sache ausschließen749.
Dieses Alleinsein, von dem Arendt schreibt, erinnert an die Einsamkeit zum Tode, von der
Vilém Flusser spricht, gegen die uns der Kunstgriff der menschlichen Kultur bzw.
Kommunikation bewahren soll750. Es lässt sich also vermuten, dass die Erfahrung der
Einsamkeit bzw. des Alleinseins immer wieder Voraussetzung ist für die Produktion
kultureller Güter. Dasselbe muss jedoch auch für die Konsumenten dieser gelten, die heute
mit der Übermacht diskursiver Medien konfrontiert, ebenso der Einsamkeit ausgeliefert
748
Karlheinz Stockhausen, Situation des Handwerks (Kriterien der punktuellen Musik). (Manuskript, 1952),
in: Texte I, S. 17 – 23, zitiert nach Wolfgang Gratzer (2003) S. 325, vgl. Kapitel 2.2.2.1/S. 131 dieser Arbeit
749
Hannah Arendt, Wahrheit und Politik, Berlin 2006. S.55
750
Vilém Flusser, Kommunikologie. Frankfurt am Main 20002, S 9 f
262
sind. Auf jeden Fall gehört die Verteidigung des Individuums hierher, dem sich die
Künstler etwa in den 50er-Jahren gewidmet und damit ihre Aufmerksamkeit dem
spirituellen Wachstum zugewandt haben751: Die Seele des Individuums ist in Gefahr [...].
Mit Seele meine ich nicht nur die mentale Klarsicht, sondern auch das Gefühl, sich seines
ganzen Körpers bewusst zu sein. Solange dieser zarte, sensible Körper in Gefahr ist,
werden wir versuchen, seinen Schrei, seine Tränen, sein Gebet mit der Kunst
auszudrücken752.
Siegfried Zielinskyi folgert hingegen, dass der programmierten und standardisierten Welt
nicht durch den Maschinensturm beizukommen wäre. Der sei schon im vorletzten
Jahrhundert nicht erfolgreich gewesen. In diese Welt sei nur wirksam einzugreifen, indem
man ihre Handlungsgesetze lernt und sie überzulaufen oder unterzulaufen versucht753.
Das meint ein aktives und kreatives Umgehen mit den neuen Medien und Technologien.
Erst über künstlerische Auseinandersetzung bzw. Prozesse werden die schwarzen Kisten
der Technobilderzeugung transparent und verlieren die von Flusser postulierte
Gefährlichkeit.
751
Jean de Loisy, Im Angesicht dessen, was sich entzieht. In: In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré.
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst, München 19. September 2008 bis 11. Jänner
2009. München 2008, S. 21
752
Allen Ginsberg, T. S. Eliot est entré. In: Gérard-Georges Lemaire (Hsg.), Beat Generation, une
anthologie. Romanville 2004, S. 28, zitiert nach: Jean de Loisy, Im Angesicht dessen, was sich entzieht. In:
In: Spuren des Geistigen/Traces du Sacré. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Haus der Kunst,
München 19. September 2008 bis 11. Jänner 2009. München 2008, S. 21
Dieser Gedanke findet sich in ähnlicher Form bereits bei William Blake (Dichter und Kupferstecher, geboren
1757 in London – gestorben 1827 in London):
Doch erst muss die Vorstellung, dass der Mensch einen von der Seele verschiedenen Körper habe,
ausgemerzt werden: dies werde ich tun durch Drucken nach der höllischen Methode, mit Ätzstoffen, die in
der Hölle heilsam und zuträglich sind, indem sie die sichtbaren Oberflächen wegschmelzen und das
Unendliche enthüllen, das darunter verborgen lag. Wenn die Pforten der Wahrnehmung geläutert würden,
würde jedes Ding dem Menschen erscheinen, wie es ist, unendlich. Denn der Mensch hat sich selbst
eingeschlossen, bis er alle Dinge nur mehr durch schmale Ritzen seiner Höhle sieht. Aus: William Blake, Die
Hochzeit von Himmel und Hölle. In: Thomas Eichhorn (Hsg.), William Blake. Zwischen Feuer und Feuer.
München 2007, S. 229.
753
Siegfried Zielinski (2002) S. 299. Initiativen, die sich wie die im Kapitel 3.2. erwähnte Aktion gegen die
Zwangsbeschallung (Hörstadt/Beschallungsfrei/Pipedown) um eine Hygiene der akustischen Umwelt
bemühen, sind übrigens zahlreich. Eine Initiative, die ihre Aktivität nicht gegen die gegenwärtigen Tatsachen
(Stichwort Maschinensturm) richtet, sondern sich für einen aktiven, künstlerisch-kreativen und sensiblen
Umgang mit der akustischen Umwelt einsetzt, ist etwa das Forum Klanglandschaft (FKL). Aus einem Impuls
des seit 1993 bestehenden internationalen Netzwerks des World Forum for Acoustic Ecology (Vancouver
B.C.) entstanden, ist es ein Ziel dieses von der österreichischen Komponistin Gabriele Proy geleiteten
internationalen Forums, die Qualität der uns umgebenden akustischen Kulisse zu steigern und zur
Aufmerksamkeit, zum aktiven Hören gegenüber dieser anzuregen. Einen Schwerpunkt in der Arbeit des
Forums bzw. seiner Mitglieder bildet die so genannte Soundscape Komposition, - eine Form der
elektroakustischen Komposition, die ihr Material aus den alltäglich uns begleitenden Klangphänomenen
bezieht. Der Pionier dieser Bewegung ist der Komponist Raymond Murray Schafer.
Vgl. http://www.klanglandschaft.org//content/view/12/38/lang,de/ (21. 06. 2009).
263
Das in dieser Arbeit thematisierte Begriffspaar music – anti-music bildet, zumindest in
unserem Denken - die von unserer Vernunft erzwungene Teilung zwischen dem Rationalen
und dem Irrationalen ab. Während das Rationale sich dem Prinzip der Vernunft unterwerfe,
sei das Irrationale der verfluchte, sich jeder Darstellung entziehende Teil des Realen. Der
französische Philosoph Jean-Louis Poitevin setzt sich mit Robert Musils Konzept des
Nicht-Ratioïden auseinander, das dieses Prinzip der Vernunft als Rechtfertigung der
instrumentalen Betrachtungsweise des Realen in Frage stellt754. Robert Musil beschreibt
das nicht-ratioïde Gebiet als das der Ausnahmen über die Regel und bezeichnet den
Unterschied zum ratioïden Gebiet als polar, - eine vollkommene Umkehrung der
Einstellung des Erkennenden verlangend. Die Tatsachen unterwerfen sich nicht auf diesem
Gebiet, die Gesetze sind Siebe, die Geschehnisse wiederholen sich nicht, sondern sind
unbeschränkt variabel und individuell. Es sei das Gebiet der Reaktivität des Individuums
gegen die Welt und die anderen Individuen, das Gebiet der Werte und Bewertungen, das
der ethischen und ästhetischen Beziehungen, das Gebiet der Idee. ...Das ratioïde Gebiet ist
beherrscht vom Begriff des Festen und der nicht in Betracht kommenden Abweichung755.
Poitevin verweist auf die Gegenwartsforschung wie auch die individuelle Erfahrung,
welche zeigen, dass es kein Festes gibt. Die Welt sei beweglich, zusammengesetzt und
durchquert von beweglichen Elementen, - sie beruhe auf Gesetzen, die sich der
kartesianischen Vernunft entziehen. Im Zusammenhang mit dieser heutigen neuen
Konzeption des Realen diskutiert Poitevin eine neue Beurteilung des Bösen. Die Frage des
Bösen, dem nun ein Ende gesetzt werden könne, habe ihren Ursprung in der Moral, dem
exakten Pendant zum Festen und Ganzen. Von nun an sei aber der Rückgriff auf absolute
Werte nicht mehr möglich und jener auf die Fiktion vorrangig. Wesentlich sei die
Erforschung dieser unbekannten Zone, die Robert Musil das wahre Leben nennt. Musil
sehe die Zukunft des Denkens nicht in neuen Erfahrungen, sondern in der Entwicklung
neuer experimenteller Methoden756. Damit zeigt Poitevin, dass die von Musil postulierte
Möglichkeit ein konstitutiver Teil der Wirklichkeit ist. Antimusik, und damit die
experimentelle, unangepasste, dem Großteil des Publikums unzugängliche Musik, stellt
sich so als das im Kontext des Rationalen die Funktion des Bösen bzw. Unmoralischen
Einnehmende dar, die jene unbekannte Zone ist oder abbildet. Jene Zone, die nach
754
Jean-Louis Poitevin, Die Gerüche der Küche. Ein Essay über Robert Musil. Innsbruck 2006, S. 58. Ein
Zeitgenosse Musils, nämlich Ludwig Klages, hat das übrigens so ausgedrückt: Bindung der wirkenden
Lebensregung an die vom Geiste aufgestellte Gesetzlichkeit. In: Ludwig Klages (1969) S. 111
755
Aus: Robert Musil, Essays, S. 1027 f, in: Jean-Louis Poitevin (2006) S. 58 f
756
Jean-Louis Poitevin (2006) S. 59 f
264
Heidegger aus dem dichtenden Wesen der Kunst ... inmitten des Seienden eine offene Stelle
aufschlägt, in deren Offenheit alles anders ist wie sonst. Kraft des ins Werk gesetzten
Entwurfes der sich uns zuwerfenden Unverborgenheit des Seienden werde demnach durch
das Werk alles Gewöhnliche und Bisherige zum Unseienden757. Der Dualismus von Musik
und Antimusik, der in unserer Zeit noch unauflösbar zu sein scheint, kann auf diese Weise
zurückgewiesen werden. Wenn in dem am Beginn vorgestellten System Ritwik Sanyals
music und antimusic polar gegenüberstehen und jeweils einander entgegengesetzten
Bereichen (Himmel und Hölle, die einander jedoch zu einem Ganzen ergänzen) angehören,
so lässt sich nun ein Modell entwickeln, in dem Antimusik von Musik nur dadurch
verschieden ist, dass Antimusik sich nicht der Vernunft unterwirft und den groben Raster
der Moral, also die allgemein gültige Codierung negiert. Sie erweist sich als der
wesentliche Teil der Musik, als ihr konstitutives Merkmal. Die Einheit, so schreibt
Poitevin, sei nicht abhanden gekommen, sondern der Weg, sie in ihrer ganzen Macht zu
erfahren, sei schwer zu finden. Zusätzlich seien die Hilfestellungen, diesen Weg zu finden,
verschleiert worden. Er meint damit die mystischen Texte, die in einer Zeit, in der die
Wissenschaft regiere, nicht hoch im Kurs stünden. Musil versuche zu klären, wie eine
Allianz zwischen Genauigkeit und Leidenschaft, Wissenschaft und Mystik, Affekt und
Verstand aussehen könnte. Dichter seien Staatsfeinde, weil sie nach Veränderung
verlangen, der Staat jedoch zu bewahren sucht.
Es sind zwei Arten des Denkens, die Musil unterscheidet, wovon eine, ihre Herrschaft
etablierend, im Herzen des Wissens die Trennung einführt, die andere aber auf die
Zerstörung dieser Trennung zielt758. Die Polaritäten und Dualismen sind in unserem
Denken, - Musil plädiert für ein ungeteiltes Denken, das nicht Affekt und Idee trennt,
Vernunft und Gefühl, Liebe und Wissen. Diese Einheit werde in der Ekstase erfahren, die –
nach Martin Buber - ein Zusammenprall der Ordnung der Dinge mit einer außergewöhnlichen Wirklichkeit ist759.
Der von Musil eingeführte Begriff des anderen Zustands meint eine Befindlichkeit, die auf
eine andere Ebene führe, diese existieren ließe, auch wenn dieser andere Zustand nur
757
Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes. Stuttgart 1970, S. 82 - 89
Jean-Louis Poitevin (2006) S. 156 f. Poitevin zitiert hier eine Stelle aus Musils Mann ohne Eigenschaften,
die an buddhistisch spirituelle Praktiken denken lässt: Man muss seinen Geist aller Werkzeuge berauben, und
daran hindern wie ein Werkzeug zu dienen. Das Wissen ist von ihm abzutun und das Wollen; der Wirklichkeit
und des Begehrens, sich ihr zuzuwenden, muss man sich entschlagen. Ansichhalten muss man, bis Kopf, Herz
und Glieder lauter Schweigen sind. Erreicht man so aber die höchste Selbstlosigkeit, dann berühren sich
schließlich Außen und Innen, als wäre ein Keil ausgesprungen der die Welt geteilt hat...! (Robert Musil, Der
Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 1234)
759
Jean-Louis Poitevin (2006) S. 159 ff
758
265
vorübergehend sei. Diese andere Ebene sei die als Netz ständig in Bewegung stehender
Ströme erlebte Welt, - die Welt einer Folge vorübergehender Zustände und hinfälliger
Momente. übereinander gestapelter Schichten, ständiger Wandlung der Positionen und der
sich durchkreuzenden Kräfte. Dieser Zustand der Unbestimmtheit sei die Möglichkeit eines
Handelns, das das Erreichen der Selbstbestimmung des Gefühls als Welt zeitige760.
Im Kontext dieser Argumentation scheinen die in dieser Arbeit untersuchten Begriffe bzw.
Begriffspaare wie alt und neu, E und U, etc. hinfällig bzw. – in den Worten Nagarjunas –
substanzlos zu sein.
Hier drängt es sich auf, ein Gedankenmodell zu entwickeln, das die Musik als Zeitkunst in
den Kontext etwa des hier skizzierten Denkens Robert Musils wie des an anderer Stelle
erwähnten Modells von Peter D. Ouspensky stellt. Somit wäre die Musik als ständig in
Bewegung Befindliches ein Räumliches, das unser Bewusstsein als solches noch nicht
wahrnehmen kann, - das Phänomen Musik ein Querschnitt einer Welt, die Novalis als die
andere Welt bezeichnet, Ouspensky als die der vierten Dimension, Musil als den anderen
Zustand. Dass die bildenden Künstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Musik
als Vorbild nahmen, würde die Annahme bestätigen, dass diese ein Schlüssel für das
angestrebte Geistige, - ein höheres Bewusstsein sei. Musik machen und Musik hören hieße
dann, in einer Welt agieren, die wir noch nicht wirklich betreten, von der wir jedoch über
die Musik eine Ahnung bekommen können. Diese Sichtweise würde die Musik bzw. die
Kunst – wie das auch schon geschehen ist – auf dieselbe Stufe stellen, auf der die Religion
im weitesten Sinn gesehen wird. Diese Tendenzen, wie etwa auch das problematische
elitäre Gehabe, mit dem Künstler sich als Erleuchtete präsentierten, soll in dieser Arbeit
keiner Wertung unterzogen werden. Auf die offensichtliche Parallelität der als krisenhaft
zu bezeichnenden Entwicklung unserer Musik-Hörgewohnheiten und unseres Zugangs zur
Musik einerseits zur allgemeinen spirituellen Krise andererseits, die sich heute zeigt, habe
ich an anderer Stelle bereits hingewiesen. Die Problematik der Begrifflichkeit in der Musik
des 20. und 21. Jahrhunderts, in der der Begriff Neue Musik im Prinzip nur mehr auf das
Phänomen hinweist, dass die Musik sich der Begrifflichkeit mehr und mehr entzieht, bildet
diesen Wertewandel auch sozusagen an der Oberfläche ab.
Die hier angeführten Fallbeispiele zeigen, dass künstlerische Initiativen diese Entwicklung
einerseits abbilden, andererseits sie aber gleichzeitig mitgestalten bzw. mittragen. Die
760
Jean-Louis Poitevin (2006) S. 176 f
266
Widersprüchlichkeiten heutiger Realität, die sie aufzeigen bzw. die in ihrer Arbeit deutlich
werden, sind Dokumente für die Hinfälligkeit überkommener Kategorien im
künstlerischen, politischen und sozialen Sinn. Die in dieser Weise skizzierte komplexe und
unseren bisherigen Anschauung widersprechende Beschaffenheit der Welt, wie sie in der
Kunst des 20. Jahrhunderts bereits vorweggenommen zu sein scheint, wird von den
aktuellen Forschungsergebnissen sowohl der Neurowissenschaft als auch der
Quantenphysik bestätigt.
Dass die in dieser Arbeit Darstellung findenden spirituellen und okkulten Strömungen, die
in der Kunst extrem stark reflektiert wurden, heute nicht in dem Maße wirken bzw.
sichtbar sind, wie es etwa bis zum 2. Weltkrieg der Fall war, hat mehrere Gründe. Der
Missbrauch durch den Nationalsozialismus und andere Bewegungen hat offensichtlich
auch zu Misstrauen und Desinteresse an diesem Thema geführt.
Der weltweit Verbreitung gefunden habende Mesmerismus ist ein Beispiel dafür, dass die
Entdeckung der Elektrizität und des Magnetismus zunächst auch spirituelle und okkulte
Dimensionen zeitigte. Dass der sich heute vollziehende Wertewandel auf der Wirkung der
Elektrizität beruht, ohne die etwa die Digitalisierung und die weltweit vernetzten
Computersysteme nicht möglich wären, ist vielen nicht bewusst bzw. ist heute in erster
Linie ein fast selbstverständliches Ergebnis technischen Fortschritts. Das Interesse am
Okkulten und das Bedürfnis nach Spiritualität werden sich heute in jedem Fall anders
artikulieren als zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Wenn die aktuellen künstlerischen
Positionen etwa Körperlichkeit und kybernetisches Denken ins Spiel bringen, so weisen sie
damit darauf hin, dass wir die technischen Errungenschaften in anderer Weise sehen und
nützen können, – eine andere Seite von ihnen761 , nämlich in einer Weise, die sie uns
kontrollieren lassen im Unterschied zum heute krisenhaft–drohenden Umstand, dass sie
sich verselbständigen und vielmehr uns kontrollieren. Auf diesen Umstand hat Vilém
Flusser eindringlich hingewiesen, wobei dieses Drohende als Böses nur wieder das bezeichnet, für das wir noch keinen Sinn, keine Begriffe entwickelt, das wir noch nicht im
Griff haben. Noch wird versucht, mithilfe der neuen Technologien die alten, überkommenen Muster nachzubauen und damit festzuschreiben. Die Benutzeroberflächen von digitalen
Computerprogrammen zur Produktion und Bearbeitung von Musik etwa sehen aus wie
unsere gewohnten Instrumente (wie etwa Klaviaturen und Mischpulte, - mit Knöpfen,
761
Vgl. dazu die Bemerkungen zu Pythagoras (S. 11), dessen Lehre heute auf die rein mathematische Ebene
reduziert wird. Mauricio Kagels Unter Strom (1969) etwa beleuchtet die mystische Seite der Elektrizität.
267
Schiebereglern und Tasten). Es ist nicht leicht – wie Flusser sagt – die eine Welt zu
verlassen, solange man nicht weiß, was die andere bzw. die neue sein oder bringen könnte.
Der Wertewandel in der Musik ist eingebettet in radikale wie vielgesichtige gesellschaftliche Veränderungen. Wenn die Autonomie der Kunst als Voraussetzung der Moderne mit
der Verbürgerlichung der Gesellschaft verknüpft war, so lassen sich aufgrund des derzeit
sich vollziehenden Umbaus unserer Gesellschaft (in der das Bürgertum langsam verschwindet) entsprechende Entwicklungen in der Kunst erwarten bzw. heute schon feststellen. In meiner Untersuchung wird deutlich, dass dieser Wertewandel, der durch die
Digitalisierung um 1980 sicherlich einen starken Akzent erhalten hat, bereits wesentlich
früher eingesetzt bzw. Vorbereitung gefunden hat. Das Problem, vor dem wir heute im
Sinne des Kulminationspunktes des Hier und Jetzt stehen, ist, dass wir verschiedenene
Entwicklungsströme wahrnehmen, die einander überlagern und die nicht eindeutig sind.
Das Jetzt im Sinne der hier beschriebenen Gedanken ist immer Veränderung, - im weitesten Sinn ein immerwährender Wertewandel. Im tiefenzeitlichen Kontext betrachtet, lassen
sich aber ganz andere Kanäle und Entwicklungsstränge, unter anderem auch verborgene
und vergessene, wahrnehmen. Gemessen an den hier zur Sprache gebrachten neuen
Möglichkeiten des Denkens sind diese nicht nur zu vernachlässigende, vergangene
Geschichte, sondern ebenso wirkende Wirklichkeit und Gegenwart.
In diesem Sinne erscheint anti-music als eine diesen Wandel illustrierende und also
wesentliche musikalische Kategorie. Im Zusammenhang und Zusammenwirken mit dem
hier mit prehension bezeichneten, Aktivität und Kreativität fordernden Kommunikationsmodell, wird ein radikal neuer, dynamischer Musikbegriff spürbar, der im Prinzip in allen
Fallbeispielen in der zentralen Bedeutung des Vermittlungsgedankens Abbildung findet.
Der sich vollziehende Wandel unserer Werte geht mit der Veränderung dessen, was wir als
Wirklichkeit bezeichnen einher. Die hier angesprochene Krise der Musik entlang der von
Vilém Flusser konstatierten Krise des alphabetischen Codes lässt sich ebenso als Chance
werten, wenn die Integration der unbeschwerteren Dynamik der jüngeren Generation in die
warnende Haltung der älteren gelingt. In diesem Zusammenhang nimmt die jeweils neue
Musik eine Schlüsselrolle ein. Unser Zugang zu bzw. Umgang mit ihr reflektiert sowohl
gesellschaftliche Realität wie auch gesellschaftliche Utopie. Musik in allen in dieser Arbeit
besprochenen Facetten ist der Erweiterungsmodus unseres Bewusstseins, - ein Fenster ins
noch Unerforschte. Sie ist die fremde Schönheit, von der Stockhausen glaubt, dass sie die
Hoffnung des Menschen nährt.
268
Abb. 7: Bill Drummond, Notice. Plakat zum Projekt The 17/2005762
762
Bill Drummond, 17. London 2008, S.3
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5.3
Abbildungen
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S. 176
Abb. 2 (S. 58) Robert Fludd, Das Weltmonochord. Aus: Siegfried Zielinski (2003) S. 131
Abb. 3 (S. 58) Robert Fludd, Dreiecksmodell. Aus: http://z.about.com/d/altreligion/1/0/T//-/-/2triangles.jpg
Abb 4 (S. 170) Plakat mit Ankündigung der 4 Propaganda-Abende des Vereins für
musikalische Privataufführungen 1919. Aus: Hans und Rosaleen Moldenhauer
(1980) S. 207
Abb. 5 (S. 199) Bill Drummond, Plakat zum No Music Day.
Aus: http://www.nomusicday.com/2005/index.php (17. 06. 2009)
Abb. 6 (S. 227) Darstellung der traditionellen Wertschöpfungskette der Musik.
Zur Verfügung gestellt von mica – music austria, music information center austria
Abb. 7 (S. 268) Bill Drummond, Notice.Aus: Bill Drummond, 17. London 2008, S. 3
288
Ehrenwörtliche Erklärung
“Ich erkläre ehrenwörtlich, die vorliegende Dissertation „Antimusic“ Versuch einer Darstellung des Wertewandels in der Musik nach 1980
Theorien, Konzepte, Fallbeispiele ohne unerwähnte Hilfe und nur unter Verwendung der
im Literaturverzeichnis angegebenen Schriften (Druckwerke, Internet etc.) verfasst zu
haben.
Wörtliche und sinngemäße Zitate sowie aus Publikationen anderer übernommene
Informationen und Abbildungen sind durch vollständige bibliographische Angaben
ausgewiesen. Der Text / Textteile wurde / wurden bislang nicht zur Erlangung eines
Studienabschlusses vorgelegt.“
Salzburg, am 29. Juni 2009
..........................................................
Wolfgang Seierl, Mag. art.