Ausgabe Mai 2023

Ohne Ort auf der Welt

Mira L. Siegelberg, Staatenlosigkeit. Eine moderne Geschichte, Cover: Hamburger Edition

Bild: Mira L. Siegelberg, Staatenlosigkeit. Eine moderne Geschichte, Cover: Hamburger Edition

„Ich konnte nirgends hin, nirgends. Und schließlich, wen interessierte es schon. Was mit einem unwichtigen, staatenlosen Sprachlehrer passierte, interessierte kein Schwein.“ Eric Amblers 1938 erschienener Roman „Nachruf auf einen Spion“ handelt von dem Ungarn Joseph Vadassy, der aufgrund einer Verwechslung staatenlos wird: „Keine Regierung würde sich schützend vor ihn stellen, kein Konsul sich für ihn verwenden, kein Parlament Anteil an seinem Schicksal nehmen. Offiziell existierte er nicht, er war eine Abstraktion, ein Geist. Im Grunde konnte er sich nur das Leben nehmen.“

Für Mira Siegelberg verhandelt Amblers Thriller mit den Mitteln der fiktionalen Literatur eine Lage, die für die Betroffenen in der Realität drastische Folgen haben konnte. So im Fall von Oskar Brandstädter, den die Historikerin in ihrem Buch „Staatenlosigkeit“ zitiert. Der staatenlos Gewordene bat den Völkerbund 1934 inständig, ihm Papiere auszustellen. Als er auf seinen Brief keine Antwort erhielt, schrieb er 1935 ein zweites Mal. Diesmal, so Siegelberg, „sprach aus seinem Brief Furcht und tiefe Hoffnungslosigkeit, was die zunehmende Verzweiflung der Menschen ohne Pass offenbart. Brandstädter erklärte, ihm stehe die Ausweisung aus Österreich unmittelbar bevor. Für einen Staatenlosen gebe es keinen anderen Ausweg als den Suizid.“ Denn staatenlos zu sein bedeutet, schutz- und rechtlos zu sein.

Siegelberg erläutert dies im ausführlichen Rückgriff auf die Schriften Hannah Arendts. Die deutsch-jüdische Philosophin, die 1933 vor den Nazis geflohen war, hat sich intensiv mit der Situation von Flüchtlingen und Staatenlosen auseinandergesetzt. Ohne einen Platz in der Welt, ohne „ein Recht, zu einer organisierten Gemeinschaft zu gehören“ – und das hieß für Arendt: zu einem Staat –, lassen sich die Menschenrechte nicht garantieren, lautet ihre oft zitierte Schlussfolgerung. Dabei, und das wird oft übersehen, ist Staaten- und Rechtlosigkeit nicht dasselbe: Die meisten deutschen Juden waren im NS-Regime zwar recht-, aber nicht staatenlos. Sie blieben deutsche Staatsangehörige und wurden zugleich Schritt für Schritt entrechtet. Die Gleichsetzung von Staaten- und Rechtlosigkeit ist aber auch im Fall Adolf Eichmanns fragwürdig. Während Arendt behauptete, der Organisator der „Endlösung“ sei staatenlos gewesen und habe nur deswegen von Israel entführt und vor Gericht gestellt werden können, bezeichnete sich Eichmann immer als deutschen Staatsangehörigen. Die Tatsache, dass er in Jerusalem von einem deutschen Rechtsanwalt verteidigt wurde, spricht für sich.

Doch diese Kritik im Detail soll das grandiose Buch nicht schlechtmachen. Siegelberg bietet eine faszinierende Reise in und durch die Geschichte, vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute, wobei die beiden Weltkriege und ihre Folgen in Europa den größten Raum einnehmen. Dabei geht es immer um die Frage, wie von politischer und juristischer Seite über Staatenlosigkeit geschrieben, gesprochen und geurteilt wurde. Dass diese auch von Vorteil sein konnte, macht die Historikerin an Max Stoeck deutlich. Der preußische Unternehmer hatte lange in London gelebt und dadurch seine ursprüngliche Staatsangehörigkeit verloren, ohne allerdings Brite zu werden. 1921 klagte er dagegen, dass er während des Krieges als Deutscher interniert und sein Vermögen beschlagnahmt worden war. Er gewann den Prozess, weil seine Anwälte ein Dokument vorlegen konnten, das seine Entlassung aus der Staatsangehörigkeit des Deutschen Reichs belegte. So erhielt er sein Geld zurück, da er als Staatenloser nicht unter die Bestimmungen des Versailler Vertrags fiel, die das Einziehen deutschen Vermögens zu Reparationszwecken erlaubten. Das Urteil wurde in Sachen Staatenlosigkeit zu einem Präzedenzfall: Für Geschäftsleute wie Stoeck bedeutete es, den Staat mit seinen bürokratischen Formalitäten los zu sein. „Ihr Leben zeigte beispielhaft, wie der Kapitalismus die Verbindung von Weltbürgertum und Kommerz förderte. Aus Sicht des Unternehmers, der Chancen und Profit suchte, behinderten Grenzen und Nationalität die Möglichkeiten, weltweit neue Beziehungen zu knüpfen und Handel zu treiben.“

Kosmopolitischer Ehrentitel oder katastrophale Entrechtung?

Die Vorbehalte gegen den Staat kamen in jener Zeit aber nicht nur von liberalen Unternehmern. Auch linke Intellektuelle sahen in ihm ein Relikt, das es zu überwinden galt. Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, hervorgerufen durch das Aufeinandertreffen nationaler und imperialer Ansprüche, schuf einen internationalistischen Idealismus, in dem „jede staatenlose Person auch für die Möglichkeit eines postnationalen Kosmopolitismus“ stand. Staatenlose galten da als der neue dritte Stand, auf dem große Zukunftshoffnungen ruhten. „Auf einer Tagung von Staatenlosen und Organisationen, die sich für sie einsetzten, erklärte der Pazifist Romain Rolland in Genf, ‚Staatenlosigkeit‘ sei eine ehrenvolle Bezeichnung für Europa- und Weltbürgerschaft.“

Für viele Angehörige von Minderheiten war Staatenlosigkeit allerdings schlicht eine Katastrophe. Sie sahen sich nach dem Untergang des multiethnischen Osmanischen und des Habsburger Reiches mit Nationalstaaten konfrontiert, in denen kein Platz für sie war. Der neu gegründete Völkerbund befand sich dabei von Anfang an in einem Dilemma: „Er bemühte sich, die harten Folgen der Volkssouveränität zu minimieren, während er zugleich die Gründung neuer Staaten erleichterte, die mit der Macht ausgestattet waren, ein neues Staatsvolk zu schaffen und Menschen auszuschließen.“

Über Inklusion bestimmt der Staat

Siegelberg beschreibt die Debatten über Staatenlose in ihrer ganzen Vielfalt und Ambivalenz. Hatten sie eigene, quasi „natürliche“ Rechte, oder doch nur positive, über einen Staat, der sie zu seinen Bürgern machen würde? Die Historikerin macht klar, dass die Frage immer auch eine nach der Stabilität der politischen Ordnung war: Während westliche Völkerrechtler in staatlichen Strukturen dachten, waren es für Mahatma Gandhi Dorfgemeinschaften, die das Zusammenleben der Menschen bestimmen sollten. Doch solch antikoloniale Sichtweisen spielen im Buch kaum eine Rolle, genauso wenig wie die Realität in vielen postkolonialen Staaten, deren Grenzen mit den Zugehörigkeitsgefühlen ihrer Einwohner oft wenig übereinstimmen. Im Zentrum von „Staatenlosigkeit“ stehen die von europäischen Erfahrungen geprägten Diskurse und Konzepte, wie sie die Debatten im Völkerbund – und später in den Vereinten Nationen – beherrschten.

Den Staat zur zentralen politischen Einheit zu machen, bedeutete implizit, die von ihm geschaffene Realität zu akzeptieren, dass er über Inklusion und Exklusion bestimmen darf – mit enormen Unterschieden für die Betroffenen. Während vor allem wirtschaftlich starke Staaten ihren Bürgerinnen und Bürgern immer größere Möglichkeiten boten, ihr Leben zu verbessern, standen auf der anderen Seite jene „Papierlosen“, die gar keinen Anspruch auf Zugehörigkeit und Befriedigung ihrer Bedürfnisse erheben konnten.

Mira Siegelberg ist tief in die Materie eingestiegen, ihr Fokus liegt auf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch am Anfang und Ende ihres Buches bietet sie Ausblicke darauf, welche Fragen rund um die Staatenlosigkeit heute immer drängender werden. Da ist zum einen die wachsende Kluft zwischen arm und reich: Während die einen weder Geld noch Pass haben, häufen andere beides an. Siegelberg beruft sich dabei auf Atossa Abrahamian. Die in New York lebende Journalistin – selbst Inhaberin eines kanadischen, eines schweizerischen und eines iranischen Passes – beschreibt die neuen wohlhabenden Kosmopoliten, für die die Welt längst postnational geworden ist: „Konsumentinnen und Konsumenten können Pässe sammeln und die Staatsangehörigkeit in Ländern beanspruchen, die ihren Reichtum steuerfrei beherbergen.“ Den reichen Mehrstaatlern aber stehen auf der anderen Seite jene gegenüber, die gar keinen Ort auf der Welt mehr haben. Gerade der Klimawandel wird dabei zu einem grundlegenden Umdenken führen müssen, deutet Siegelberg im Vorwort an. Denn wenn Länder im Meer versinken, stellt das auch die territoriale Grundlage der Souveränität infrage, auf der das Völkerrecht und die internationale politische Ordnung bis heute basieren.

Mira Siegelberg, Staatenlosigkeit. Eine moderne Geschichte. Aus dem Engli- schen von Ulrike Bischoff. Hamburger Edition, Hamburg 2023, 400 S., 40 Euro.

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In der Mai-Ausgabe analysiert Alexander Gabujew die unheilige Allianz zwischen Wladimir Putin und Xi Jinping. Marion Kraske beleuchtet den neu-alten Ethnonationalismus und pro-russische Destabilisierungsversuche auf dem Balkan. Matthew Levinger beschreibt, wie Israel der Hamas in die Falle ging. Johannes Heesch plädiert für eine Rückbesinnung auf die demokratischen Errungenschaften der jungen Bundesrepublik, während Nathalie Weis den langen Kampf der Pionierinnen im Bundestag für mehr Gleichberechtigung hervorhebt. Und Jens Beckert fordert eine Klimapolitik, die die Zivilgesellschaft stärker mitnimmt.

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