Elfriede an der Leine – im Achten

„Die Sprache von der Leine lassen” ist der Titel eines neuen Dokumentarfilms über Elfriede Jelinek.

Das Filmporträt umkreist das Leben der Schriftstellerin und kehrt letztendlich immer wieder zu ihrer Kindheit und Jugend zurück, und die hat sich großteils in der Josefstadt abgespielt – an der Leine ihrer Mutter.

von Wolfgang Sorgo

Wien-Josefstadt, ein Spätsommerabend um 1960: Die Straßenbahnlinie 5 quietscht um die Kurve die Laudongasse bergab, gleich nach dem Wiener Stadttheater am Eck, damals eine Revuebühne, geht’s am zwielichtigen „Theatercafe“ vorbei. Davor drücken sich junge Burschen herum und überlegen, ob sie via Tischtelefon erste halbseidene Begegnungen wagen sollen … Aus den offenen Fenstern einer Wohnung im ersten Stock des abgewohnten Zinshauses gegenüber klingt stetig Klaviermusik: Das Mädchen Elfi übt dort unermüdlich, denn seine Mutter will es so. „Konzertgeben“ nennt sie das, während die Tochter später einmal sagen wird, die Musik hätte sich damals „ächzend und würgend dem Instrumentenkörper entrungen.“ Und draußen zieht das Leben vorüber …

Hassbatterie. „Meine Kindheit ist eine unerschöpfliche Hassbatterie“, meint Elfriede Jelinek in dem seltenen aktuellen Gespräch, das sie anlässlich der Dokumentation mit der Filmemacherin Claudia Müller führte. Aufgeladen wurde diese Batterie in einer kleinbürgerlichen Familie in der Wiener Josefstadt (mit regelmäßigen Abstechern in die Steiermark). Jelinek hat nie eine Autobiografie im herkömmlichen Sinn geschrieben. Allerdings hat sie über ihre Kindheit und Jugend in kaum zu überbietender Offenheit passagenweise in ihrem Werk, vor allem in „Die Ausgesperrten“ (1980) und „Die Klavierspielerin“ (1983), und bis 2004 (Nobelpreis für Literatur) in zahlreichen Interviews Auskunft gegeben – vermittels zweier unterschiedlicher Erzählweisen also.*

„Die Elfi packt das schon!“. Hineingeboren in eine enge „kleinbürgerliche Familienhölle“, wird sie „von einer verrückt- ehrgeizigen Mutter asozial gemacht“, die – obwohl selbst nicht musikalisch – das einzige Kind zu einer Spitzenmusikerin machen will. Neben ihren Schulbesuchen in der katholischen Klosterschule „Notre Dame de Sion“ in der Burggasse und dann im damaligen Mädchenrealgymnasium in der Albertgasse (Matura mit Auszeichnung 1964) lernt sie an der Bezirksmusikschule Klavier, Blockflöte, Geige, Gitarre und Bratsche und beginnt 1960 als angehendes Wunderkind – weiterhin neben der Schule – ihre Ausbildung zur Berufsmusikerin am Konservatorium der Stadt Wien in der Johannesgasse, Fächer: Orgel, Klavier, Blockflöte und Komposition. Sie hetzt von einer Probe zur nächsten, quetscht sich als „sperrig behängter Falter“ in die Straßenbahn und „torkelt instrumentenübersät in die Arbeitsheimkehrer hinein“. Auf die wiederholte Frage, ob das alles nicht zu viel sei für das Kind, antwortet die Mutter zumeist: „Die Elfi packt das schon!“ Beim sozialistischen Vater Friedrich Jelinek stellt sich in den frühen fünfziger Jahren eine psychische Erkrankung ein. Er stirbt 1969 in einer psychiatrischen Klinik.

Symbiose ohne Ende. Die kleinbürgerliche Mutter will offenbar über eine Musikerkarriere ihrer Tochter einen gehobenen Platz in der Wiener Gesellschaft erreichen. Sie legt die Tochter an die Leine und kontrolliert sie gnadenlos. Sie stellt gegebenenfalls die Tochter „zur Rede und an die Wand. Inquisitor und Erschießungskommando in einer Person, in Staat und Familie einstimmig als Mutter anerkannt“ („Die Klavierspielerin“, 1983). Und sonntags geht es in die Messe in die Maria-Treu-Kirche mit der schönen Orgelmusik.

Bleibende Angststörungen. Bald zeigen sich die ersten Anzeichen einer psychischen Krise, von Angststörungen, die Jelinek nicht mehr verlassen werden. Es fällt ihr schwer, aus dem Haus zu gehen und zu reisen. Selbstverletzungen und Gesprächstherapien folgen. „Es wäre gut, wenn man psychische Einschränkungen endlich mal genauso ernst nehmen würde wie körperliche“, meint Filmemacherin Claudia Müller, „viele nehmen es ihr ja heute noch übel, dass sie 2004 ihren Nobelpreis nicht persönlich abholen konnte.“

Jede Leine hat zwei Enden. Sie hätte „ihre Kindheit nicht leben dürfen“, wird Jelinek einmal bekennen. Aber jede Leine hat zwei Enden: Nach dem Tod der Mutter wird der Tochter bewusst, dass Kontrolle auch Schutz bedeuten kann. Die Angstzustände hatten beide noch mehr zusammengeschweißt. „Außenstehende bezeichnen das Mutter-Tochter-Verhältnis als Vereinnahmung und bedingungslose Verehrung. Eigentlich waren sie gleichberechtigte Partner gegen den Rest der Welt.“ (Mayer/Koberg)

Die Josefstadt nur eine Kulisse? War bei so eingeengten Lebensverhältnissen das Wohnumfeld, die Josefstadt, überhaupt für Jelineks Schicksal relevant, könnte man sich fragen. Die Antwort gibt sie selber. „Elfi“ hat nicht nur ihre Instrumente bespielt, sondern mit gleichsam soziologischem Blick offenbar auch ihre topografische und soziale Umgebung im Bezirk detailliert registriert und später in Sprache verwandelt: als stille Beobachterin der beiden 5er-Stationen in der Laudongasse vom Wohnungsfenster aus, auf dem Schulweg ins Mädchenrealgymnasium in der Albertgasse, der eigentlich nur etwa fünf Minuten in Anspruch nahm und am Hamerlingpark vorbeiführte, beim Kirchgang durch die Kochgasse und Piaristengasse zur Maria-Treu-Kirche oder die Straßenbahnfahrten zur Musikakademie.

Die Josefstadt als Erfahrungsfeld. Aus diesem Grund dürfte Jelinek in ihrem „realistischsten“ Roman „Die Ausgesperrten“ (1980) auch das scheinbar sinnlose Familienmassaker des Rainer Warchalowski, das im Herbst 1965 ganz Wien erregte, literarisch aus Meidling in die Josefstadt verpflanzt haben, in ihr unmittelbares Erfahrungsfeld also. Natürlich nicht deckungsgleich mit ihrer Familiensituation. Jelinek: „Es hat mich eben nicht interessiert, einen Kriminalfall genau zu dokumentieren … ich habe eine Art ökonomisch-soziologischer Studie versucht: Wer sich die Selbstentäußerung krimineller Handlungen leisten kann und wer nicht“ (Interview, 1990).

 

Eine kurze Bezirksbegehung gemeinsam mit Elfriede Jelinek

Wenn man will, lassen sich aus dem Gesamtzusammenhang des Romans auch einige charakteristische „Josefstadt-Miniaturen“ betreffend die Wiener Nachkriegsgesellschaft herausgreifen:

Drinnen in der 5er-Linie. „Halt, verlassen wir diese Straßenbahn nicht so schnell, bleiben wir noch ein wenig. Sie ist mit einer einfarbigen Menge angefüllt, bei der man auf den ersten Blick nicht erkennt, um wen es sich handelt. Um Vieh oder um Menschen. (…) Die Männer waren völlig Grau in Grau, die Werktätigen hatten tiefe Furchen in ihren geschlechtslosen, wenig männlichen Gesichtern gegraben. Was sie mit ihren Frauen daheim treiben, kann man sich vorstellen: nichts.“ („Die Ausgesperrten“)

Raus aus der 5er-Linie. „In diesem Augenblick ergießt sich ein neuer Schwarm arbeitender Menschen aus dem frisch angekommenen Fünfer in die Seitengassen, miefige Treppenhäuser beleben sich sprunghaft, Familienmütter hechten zur Wohnungstür, um ihre Erhalter in Empfang zu nehmen. Reißen ihnen die schäbigen Aktentaschen, abgestoßenen Kochgeschirre, Thermosflaschen, bessere Leute reißen ihnen Aktenmappen plus Zeitungen, Reste von Beamtenforellen, fettigen Papieren etc. vom Leibe. Und rein in die zerrissenen Haussocken, die vor nicht allzu langer Zeit noch zur Arbeit getragen wurden. Man weiß eben, was sparen heißt, wenn es auch nicht jeder muss. Die ersten geohrfeigten Kinder erheben schrill ihre geschundenen Stimmen.“ („Die Ausgesperrten“)

Kriegsinvalide. „Im Beserlpark um die Ecke schnüren Hunde locker durchs Gras und kacken hier und da ein wenig. Kriegsinvalide, die damals noch das Straßenbild belebten, betrachten sie interessiert und denken an die Zeit, als sie, im feindlichen Ausland, noch wer waren, der sie jetzt nicht mehr sind. Knallen mit den Leinen, was die Hunderl nicht stört. Keiner gehorcht den Exsoldaten mehr, und sie haben auch keinen, dem sie aufs Wort gehorchen könnten. Die Autorität ging leider verloren.“ („Die Ausgesperrten“)

Mord und Totschlag im Achten. „Manchmal kommt in diesem Bezirk eine Mordserie vor, und ein paar alte Weiberln sterben in ihren mit Altpapier völlig zugewachsenen Fuchsbauten. Wo ihre Sparbücher geblieben sind, weiß nur Gott allein, und der feige Mörder weiß es auch, der unter der Matratze nachgeschaut hat.“ („Die Klavierspielerin“)

Keine Ohrfeigen im Piaristengymnasium? „Wenn Rainer das feine Piaristengymnasium besuchen würde, hätte der Gott ihm das sicher hoch angerechnet, aber seine Eltern haben das Schulgeld nicht. Die reichen Ministranten haben niemals Ohrfeigen erhalten, was dem aufgeweckten Rainer natürlich gleich aufgefallen ist, solche Sachen fallen immer auf.“ („Die Ausgesperrten“)

Elfriede an der langen Leine … Als die Eltern damit beginnen, in Hütteldorf am Rande des Wienerwalds ein kleines Haus zu bauen, was ihre häufige Abwesenheit aus der Josefstadt erfordert, eröffnen sich für die Tochter größere Freiräume: Elfriede allein zu Hause; aber ihre Wege führen sie auch ins Burgtheater: „Erstes glühendes Regen am vierten Rang! Das rotbackige Anstellen um Stehplätze! Erstes Erspüren, was Kunst sein kann, sein soll!“ (Burgtheater, 1992) Und erstes flackerndes Regen zu Studienkollegen.

… und allmählicher Abschied von der Josefstadt. Mit dem Schulabschluss und einem psychischen Zusammenbruch nach der Maturareise (1964) beginnt der allmähliche Umzug in das neue Haus in Hütteldorf, in dem sie bis heute alternierend mit einem Wohnsitz in München lebt. Aber: „Ich habe das Gefühl, dass ich seit meiner Kindheit nichts mehr erlebt habe, nichts, das von Bedeutung wäre.“ (Gespräch, 2022)

Postskriptum: Die transformierte Leine

„In die Sprache habe ich mich gerettet, weil Schreiben die einzige Kunstform war, die meine Mutter nicht gefördert hat.“ (2022) In diesem Sinne vollzieht sich allmählich die Transformation vom „dressierten musikalischen Wunderkind“ zur erfolgreichen Schriftstellerin. Der Mutter ist auch das recht, Hauptsache, sie kann stolz auf einmalige Leistungen ihrer Tochter sein. Allerdings: „Die Sprache zerrt mich hinter sich her, wie ein Hund seinen Besitzer an der Leine zerrt, und schnüffelt an jeder Ecke.“ (Interview, 2004) Eine neue Abhängigkeit? Eine Antwort darauf gibt Jelinek in ihrer Nobelpreis-Rede und sollte auch die neue Film-Doku geben, trägt sie doch den Titel „Die Sprache von der Leine lassen“.

Quellen

* Der vorliegende Beitrag ist auf der Grundlage folgender Werke entstanden:

Verena Mayer/Roland Koberg: elfriede jelinek. Ein Porträt. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2006. Ein ausgezeichnet aufgebautes und gut lesbares Buch zur Einführung in Leben und Werk Elfriede Jelineks

Uta Degner: Eine ›unmögliche‹ Ästhetik – Elfriede Jelinek im literarischen Feld. Wien, Köln 2022: Böhlau Verlag. Diese kürzlich erschienene, wissenschaftlich aufgebaute Studie versucht materialreich die ästhetische Werkentwicklung Elfriede Jelineks nachzuvollziehen. Ihr sind unter anderem die „Josefstadt-Miniaturen“ entnommen.

Die Zitate aus Jelinek-Werken und Jelinek-Interviews sind kursiv gesetzt.

Fotocollage - 3 Fotos von Elfriede Jelinek in verschiedenen Phasen ihres Lebens

Elfriede Jelinek

 

Forschung

Der Interuniversitäre Forschungsverbund Elfriede Jelinek, der seit 1. Februar 2020 besteht, ist ein gemeinsames Zentrum der Universität Wien und der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien (MUK) – der beiden Institutionen also, an denen Elfriede Jelinek studiert hat. Dieses Zusammenwirken ist nicht nur ein innovatives Modell der Kooperation einer Wissenschafts- und einer Kunstuniversität, sondern ergibt sich auch konsequent aus Elfriede Jelineks intermedialer Arbeitsweise und aus ihrer starken Affinität zur Musik, zum Theater, zum Musiktheater, zum Tanz und zum Film. Er baut dabei auf der von 2013 bis 2019 an der Universität Wien bestehenden Forschungsplattform Elfriede Jelinek auf und kooperiert mit dem 2004 gegründeten Elfriede Jelinek-Forschungszentrum.

www.ifvjelinek.at
www.elfriede-jelinek-forschungszentrum.com

 

Film-Doku

Wunderkind, Skandalautorin, Vaterlandsverräterin, Feministin, Modeliebhaberin, Kommunistin, Pessimistin, Sprachterroristin, Rebellin, Enfant terrible, Nestbeschmutzerin, geniale, verletzliche Künstlerin, Nobelpreisträgerin. Die Regisseurin Claudia Müller würdigt die scheue Künstlerin jetzt mit der Kinodoku „Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“.

Der Film über Elfriede Jelinek, die als erste deutschsprachige Schriftstellerin mit dem Literaturnobelpreis (2004) ausgezeichnet wurde, stellt ihren künstlerischen Umgang mit der Sprache in den Mittelpunkt. Es ist ein vielschichtiges, assoziatives Filmporträt voller Widersprüche und nähert sich der sprachlichen Montagetechnik der Künstlerin aus ihrer ganz eigenen Perspektive.

▶ Elfriede Jelinek. Die Sprache von der Leine lassen. Ein Film von Claudia Müller. Österreich/Deutschland 2022. Länge: 96 Minuten
Österreich-Premiere: Viennale 2022, ab 20/10/2022. Österreichweiter Kinostart: 10/11/2022

Ausgabe 03/2022