„Er stürzt die Mächtigen vom Thron“ Über das jüdische Mädchen Mirjam, das Jesus geboren hat und von Christen als Mutter Maria verehrt wird

Es war sicher nicht leicht, in einer solchen Umgebung ein Kind zur Welt zu bringen, vor zwei Jahrtausenden in Palästina: in einem Stall irgendwo auf freiem Feld, wo der Wind hineinwehte und die Nacht bitterkalt wurde. Dann musste die ganze Familie, Mirjam und Josef mit dem Säugling, Hals über Kopf nach Ägypten fliehen, denn der König Herodes hatte eine Prophezeiung über ein neugeborenes Kind gehört, das ihm den Thron streitig machen sollte. Darauf wusste er nichts Besseres zu tun, als alle neugeborenen Kinder in Israel töten zu lassen.
Madonnenstatue

Maria - ein normales Mädchen, Geflüchtete, Mutter

Jeschua, Mirjams Kind, entging dem Tod – aber nicht dem Flüchtlingsschicksal. Arm, auf der Flucht, ausgestoßen begann der Mensch Jeschua (die Europäer nennen ihn in Kirchenlatein Jesus), in dem nach christlichem Glauben Gott sein Gesicht gezeigt hat, sein Leben auf dieser Erde. Seine Mutter Mirjam (Maria) war keine Himmelsprinzessin, sondern ein ganz normales jüdisches Mädchen aus einem Bergdorf in Galiläa.

Wahrscheinlich waren Mirjams Hände schwielig von der Arbeit im Haushalt und in der Schreinerei ihres Mannes Josef, vom Wasserholen am Dorfbrunnen, vom Schrubben, Waschen und Brotbacken. Die Menschen tuschelten über sie in dem kleinen Nest Nazareth, denn jeder wusste, dass sie vor ihrer Eheschließung schwanger geworden war und dass Josef nicht der Vater war.

Später, sie waren längst aus dem ägyptischen Exil zurückgekehrt und aus dem Kind war ein junger Mann geworden, blamierte Jeschua seine Familie, weil er im Land umherwanderte, irritierende Predigten hielt und sich mit den einflussreichen Leuten anlegte. Die Familie begann, Jeschua für ein schwarzes Schaf zu halten; nur Mirjam, seine Mutter, hielt unbeirrt zu ihm. Als man ihm am Ende als Aufrührer hinrichtete und seine Freunde längst geflohen waren, stand sie unter seinem Kreuz.

Maria - subversiv, unangepasst, desillusioniert

Subversiv, unangepasst, desillusioniert ist es gewesen, das Mädchen aus dem armen Volk, der politische Flüchtling Mirjam, die Schwester all jener Mütter, die um ihre toten Söhne weinen. Nach ältester biblischer Tradition hat sie den Mächtigen den Sturz angesagt und den Niedrigen die Erhebung. Als die schwangere Mirjam ihre Verwandte Elisabet im judäischen Gebirge besuchte, sang sie ihr ein rebellisches Lied: „Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut (...) Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“ (Lk 1,46–53)

Wenn da nicht das klassische Lied von Aufständischen ist! In Polen sammelten sie sich 1980 um die Ikone der Madonna von Tschenstochau, als die verbotene Gewerkschaftsbewegung Solidarność in Danzig, Gdingen und Stettin zum Streik aufrief und damit die Agonie des Kommunismus im ganzen Ostblock einleitete. Der Arbeiterführer Lech Wałęsa, später wurde er polnischer Staatspräsident, hängte sich einen Rosenkranz um, wenn er mit Militärs und Politikern verhandelte, und betete ohne Scheu in aller Öffentlichkeit zu Maria.

Maria - an der Seite der Schwachen, Ausgestoßenen

In Mexiko feiern jedes Jahr Hunderttausende ein Volksfest mit Feuerwerk, Blumen und Tortillas bei der Madonna von Guadalupe. 1531, wenige Jahre nach der blutigen Eroberung Mexikos und der Auslöschung der aztekischen Kultur durch Spanien, soll dort einem Indio namens Juan Diego die Gottesmutter erschienen sein, und zwar in der Gestalt einer Indianerprinzessin. „Höre, mein kleiner Juanito“, sagte sie ihm nach den alten Legenden: „Ich bin die Jungfrau Maria, die Mutter des einzig wahren Gottes, durch den es Leben gibt. Ich wünsche sehr, dass man mir hier ein Heiligtum errichtet. Denn ich bin eure Mutter voller Mitleid, die deine und die aller Menschen in diesem Land. Hier will ich ihr Weinen, ihre Sorgen anhören, um ihre Leiden und Schmerzen zu heilen (...) Geh zum Palast des Bischofs in Mexiko und sag ihm, dass ich dich sende."

Das ist klassische Mariologie, wie die Theologen sagen. Die Mutter aus dem Himmel als Aztekenprinzessin, die Sprache der verachteten Indios sprechend. Sie sagt nicht: Seid euren spanischen Herren schön gehorsam und muckt nicht auf! Stattdessen stellt sie sich auf die Seite der Indios. Den Indio Juan Diego, einen Niemand, einen Sklaven der Spanier, redet sie zärtlich als ihr Söhnchen an, hinterlässt auf seinem Poncho ihr Bild und schickt ihn als ihren Boten zum spanischen Bischof (der ihm natürlich nicht glaubt, aber durch ein paar hübsche Wunder überzeugt wird). Der Bischof begann von da an übrigens tatsächlich, sich um die armen Indios zu kümmern. Und 300 Jahre später rief ein einheimischer Priester zum Befreiungskrieg gegen die Spanier auf, mit dem Schlachtruf: „Es lebe die Jungfrau von Guadalupe, weg mit der schlechten Regierung!“ Die schlechte Regierung, das war damals der Erzbischof von Mexiko, der zugleich als spanischer Vizekönig fungierte.

Ja zu sagen, heißt zu glauben

Was die Bibel von der Mutter Jesu erzählt, ist nicht viel. Aber zu diesen kargen Informationen passt die Mutter des armen Volkes auf den Werkstoren von Danzig und auf dem Mantel des Indios auf jeden Fall besser als die geläufigen Zerrbilder, wie sie der patriarchalischen Kirche so gut in den Kram passen: die „Magd des Herrn“, demütig, still, sich bescheiden im Hintergrund haltend, fröhlich die niedrigsten Dienste leistend, den Männern stets untergeordnet.

Dabei könnten alle in der Kirche von Maria lernen, was Glauben bedeutet: „Ja sagen“ heißt Glauben in der Sprache der Juden. Genau das tut sie. Sie sagt Ja, als ihr der Engel verkündet, sie werde einen Sohn bekommen, ohne einen Mann zu haben, direkt von Gott – weil Gott das so will. Sie sagt Ja zu der schweren Geburt im Stall, zu dem harten Leben auf der Flucht und später in Nazareth. Sie sagt Ja, als ihr Sohn von ihr fortgeht, um den Leuten überall im Land von Gott zu erzählen, als er sein Leben riskiert und sterben muss. Sie fragt nicht: Was bringt es mir, wenn ich mich auf Gott einlasse? Sie sagt einfach: Mach mit mir, was du willst. „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ (Lk 1,38)

Text: Christian Feldmann, freier Journalist, Rundfunkautor und Theologe, Münchner Kirchenzeitung, Mai 2019