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Elfriede Jelinek zum 75. Geburtstag: Das Volk und die Ungeliebte

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Elfriede Jelinek in ihrem Haus in Wien.
Elfriede Jelinek in ihrem Haus in Wien. © dpa

Nieder mit dem Kapitalismus und Patriarchat – zum 75. Geburtstag der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek

Aber die Zeit ist nicht meine“, schreibt Elfriede Jelinek einmal in ihrem vielleicht persönlichsten Theaterstück „Winterreise“ (2011). Entfaltet wird in dem an Franz Schuberts traurigen Liederzyklus angelehnten Prosadrama eine degenerierte Welt: ein alter Mann vegetiert im Pflegeheim vor sich hin, ein anderer sucht im Cyberspace vergeblich nach Liebe und trifft einzig auf eine menschenverachtende Pornografie, derweil ist die einst von ihrem Peiniger eingesperrte Natascha Kampusch einem Shitstorm der geltungssüchtigen Netzgemeinde ausgesetzt. Und immer wieder klagt ein Ich, das sich selbst abhanden gekommen ist. Es steht, wie sich die Autorin einst mit ihrer Rede zur Verleihung des Nobelpreises selbst positionierte, „im Abseits“.

Vom Rande her, fernab der öffentlichen Angriffe schreibt Elfriede Jelinek. Denn bis zur international renommierten Auszeichnung (und auch noch danach) galt sie in ihrem Heimatland Österreich vielen als Nestbeschmutzerin. Geboren am 20. Oktober 1946, heute vor 75 Jahren, in Mürzzuschlag, wuchs sie unter dem Protektorat einer allmächtigen Mutter in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf, studierte später Orgel und Klavier und tat sich anschließend als marxistisch inspirierte Autorin hervor, die schon in ihren frühen Romanen nicht mit Spott und Häme über politische Skandale sparte. Ihr Hauptfokus gilt seither den rechtsnationalen Demagogen wie Jörg Haider oder Heinz-Christian Strache. Von ihrem essayistischen Prosawerk „Die Kinder der Toten“ bis hin zu ihrem NSU-Stück „Das schweigende Mädchen“ thematisiert sie das beständige Fortleben des nie richtig aufgearbeiteten Faschismus. Grotesk parodiert werden daher in ihrem jüngsten Drama „Schwarzwasser“ (2020) all jene, die „ihr Vaterland hinter sich herschleppen wie eine Nachgeburt“ und auf den Plätzen gegen die Überfremdung Europas anschreien: „Wir sind die einzig rechtmäßigen dieses Volkes“.

Doch längst nicht nur die Stereotypen vom nationalistischen Straßenmob oder vom besserwissenden Deutschen, diesem „Prinzen aus Prinzip“, stehen im Fokus ihrer für die Regie stets herausfordernden Suaden. Das Enfant terrible arbeitet sich unentwegt an sämtlichen ideologischen Machtstrukturen unserer Zeit ab. Neben den Verwerfungen des Neoliberalismus gehören dazu allen voran Rassismus und Sexismus. Schonungslos deckt sie mit ihren zitatreichen Dramen, die sich geradezu gewaltsam in den Kanon hineinbohren, patriarchale Muster in Klassikern wie Goethes „Faust“ oder den Märchen der Brüder Grimm auf. Nichts ist der Kulturpessimistin heilig, die in der Welt bloß noch einen Friedhof sieht. Wohl auch deswegen muten ihre abgehalfterten, schlafwandlerischen Figuren wie Geister und Untote an. Würden sie nicht unentwegt sprechen, liefen sie Gefahr im All, im dunklen Nichts verloren zu gehen.

Nur was erweist sich an ihren galligen, bewährt hoffnungslosen Texten als originell? Schließlich zählt Jelinek nicht zu den ersten, die ihr Schreiben vornehmlich in den Dienst einer littérature engagée stellen. Ihre spezifische Ingeniösität äußert sich vor allem in einer ausgefeilten Sprachästhetik. Statt sich nach und nach kritisch an Unterdrückungssystemen abzuarbeiten, vermengt sie diese auf der Wortebene miteinander.

Besonders anschaulich wird dies in ihrem noch heute umstrittenen Anti-Porno-Roman „Lust“ (1989), der in brutalem Zynismus sich wiederholende Vergewaltigungen in der Ehe verhandelt. Indem die Autorin darin den „Mann“ „in der Fleischbank seiner Frau einkaufen“ und in „ihren Geschlechtsbetrieben“ fuhrwerken lässt, führt sie metaphorisch den Konsumkapitalismus mit der sexuellen Gewalt eng. Beide Regime fußen, so die Botschaft, auf derselben Ordnung: Es gibt männliche Herrschende und alle anderen, die Beherrschten.

Kompromisse kennt Jelinek somit nicht. Ihre Haltung und ihr weiter entstehendes Werk zeugen von einer kaum versiegenden Radikalität. Auch wenn sich die Welt zu langsam ändert, können wir uns noch immer ihres mahnenden Fingers versichern. Sie wird nicht aufgeben, die laustarke Ungemütliche der deutschsprachigen Literatur.

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