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Ethnopsychoanalyse und Haare

HJ-Rasur in Teheran

Ethnopsychoanalyse und Haare: HJ-Rasur in Teheran
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Bis heute hört man beim Herrenfriseur im Iran: "Almani bezan ... Madrese irad migireh", Schnitt "im deutschen Stil, sonst gibt's Ärger in der Schule". Dabei ist die Frisur ein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg.

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Fade Cut, Low Fade, High Fade, Scissor Fade – die moderne Herrenfrisur dreht sich 2024 vor allem darum, möglichst perfekt rasiert zu werden. Fast auf null Millimeter rasierte Seiten, oben lang, ein fließender Übergang. Kaum ein anderes Geräusch ist in Herrensalons und Barbershops so präsent wie das Surren der Rasiermaschine. Herausgewachsene Haarspitzen, lange Mähnen und Zottelköpfe werden damit wieder auf Linie gebracht. Der rasierte Kopf als Zeichen vermeintlicher Männlichkeit in einer Zeit, in der diese immer mehr infrage gestellt wird. Da scheint es passend, dass diese Frisuren aus einer Zeit stammen, in der Männlichkeit, Härte und Disziplin ideologisch geförderte Ideale waren und in der Uniformität den Zeitgeist geprägt haben: eine Ära, in der die Haare entweder unter dem Hemd einer Militär- oder der Mütze einer Schuluniform verborgen werden sollten. Der deutsche Schnitt, die HJ-Rasur – damit ist nichts anderes gemeint als die gängige Frisur der Jungen in der Hitlerjugend während der NS-Zeit.

Atatürk, Hitler, Schah: ein komplexer Austausch

Der Hitlerjugend-Schnitt – gekennzeichnet durch enganliegende Seiten, einen verblassenden Übergang und ein längeres Deckhaar – war ein Symbol für Konformität und Loyalität zur nationalsozialistischen Ideologie.

Doch nicht nur in Deutschland war die Begeisterung in der Zeit groß für Disziplin und Härte. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich unter Mustafa Kemal Atatürk der türkische Befreiungskampf gegen das Osmanische Reich in Bewegung. Unter deutschen Rechtsextremen löste Atatürk damit das "Türkenfieber" aus, die nationalistische Bewegung diente den Nazis damals als Inspiration und Leitbild. Am zehnten Jahrestag der türkischen Republik 1933 marschierten SA-Leute vor der türkischen Botschaft in Berlin auf, ein symbolisches Treffen zweier politischer Bewegungen. Die Nationalsozialisten gratulierten der kemalistischen Bewegung, die fortan als Einflussquelle für Autorität und Disziplin diente. Und die wiederum wurden zum Vorbild für den Monarchen Reza Schah im Iran.

Iraj Esmaeilpour Ghoochani, geboren am 1. Oktober 1968 in Teheran, kam 2009 nach den Massenprotesten der "grünen Bewegung" im Iran nach Deutschland. Vor seiner Promotion an der LMU München im Bereich "Anthropologie des Unbewussten" (2009 bis 2017) führte er zwischen 2000 und 2009 Feldforschung über die Sufi-Rituale durch. In Stuttgart ist er als Künstler in den Wagenhallen und Pop-Kulturforscher aktiv. Er ist außerdem der Gründer des Instituts für Ethnopsychoanalytische Kunst und Theater (IfeKT) und bietet dort systemische Beratungen und Coaching an.  (max)

Die Präsenz von Deutschen im Iran war bereits im Kaiserreich zu erkennen, also in einer Zeit, als Großbritannien und Russland das Land beherrschten. In den folgenden Jahren wurden die Beziehungen zwischen Iran und Deutschland intensiver. 1927 wurde die Iranisch-Deutsche Industriehochschule in Teheran gegründet. Später erhielt die "Junkers Luftverkehr AG" auch die Lizenz für inländische und internationale Fluglinien im Iran. Gleichzeitig wurde die Luftpost im gesamten Iran von "Junkers" ausgeflogen. Ein Jahr später wurden deutsche Ingenieure mit dem Bau der Eisenbahnanlage beauftragt, die Verwaltung der Nationalbank wurde deutschen Finanzexperten übertragen. Gelebt haben sollen die verantwortlichen Ingenieure dem Volkswissen nach in einem gesonderten und nach ihnen benannten Stadtteil Teherans, der bis heute besteht: Naziabad, das Dorf der Nazis. Der Name Naziabad hatte ursprünglich einen anderen Ursprung, doch im kollektiven Gedächtnis des Volkes ist er untrennbar mit dieser Zeit und den deutschen Ingenieuren verbunden.

Spuren bis in die Haarspitzen

Nach der Machtergreifung Hitlers verstärkte sich die Präsenz der Deutschen im Iran. Zwischen 1935 und 1940 stieg der deutsche Export in den Iran um das Fünffache, Deutschland wurde der größte Käufer iranischer Rohstoffe. Eine direkte Schifffahrtslinie zwischen Hamburg und Bandar-e Abbas wurde eröffnet und die Fluggesellschaft Lufthansa gründete eine Luftlinie zwischen Teheran und Berlin. Im Schatten des Zweiten Weltkriegs und im letzten Jahr der Regentschaft von Reza Schah im Iran sowie Hitler in Deutschland war die Hälfte des iranischen Außenhandels in den Händen Deutschlands. 1935, sechs Monate vor den Nürnberger Rassegesetzen, setzte der Schah die Umbenennung von Persien zu Iran durch. Die geht zurück auf den Begriff "Aryān" und bedeutet "arisch". Iran, das Land der Arier. Fortan forderte die iranische Regierung andere Länder auf, Persien als Iran zu bezeichnen. Nicht verwunderlich, dass Hitler den Schah als Verbündeten betrachtete.

Diese engen Beziehungen waren sogar ein Grund für das Ende der Herrschaft von Reza Schah. Die Botschafter Englands und Russlands schrieben am 3. September 1941 in einem Brief an Ali Mansur, den damaligen Premierminister, dass die Einmischung der Alliierten in den Iran auf die Sympathien des Iran für Deutschland zurückzuführen sei. Mit Einmischung ist der Einmarsch von Truppen beider Länder in den sich selbst neutral erklärten Iran gemeint. Ein Jahr später kamen die USA dazu, um über den Iran den Nachschub in die UdSSR abzusichern. Mit dem Einmarsch endete die Ära von Reza Schah, ihm folgte sein Sohn Mohammad Reza Schah auf dem Thron.

Obwohl die politischen Beziehungen zwischen dem Iran und Deutschland still blieben, blieb die Sympathie zwischen beiden Ländern, basierend auf einer illusorischen rassistischen Blutsideologie, teilweise aufgrund einer illusorischen Urverwandtschaft und Blutsverwandtschaft bis zur Regierungszeit von Mohammad Reza Schah bestehen. 1952 tauchte dann die SUMKA-Partei auf, die sich selbst als "Hüter des Blutes und der arischen Rasse" betrachtete und eine antikommunistische Agenda verfolgte. Ihr Führer, Davoud Monshizadeh, pries sieben Jahre nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus die Persönlichkeit Hitlers und betrachtete sich als dessen Anhänger und Schüler. Dabei orientierte sich die SUMKA-Partei auch modisch an der NSDAP.

Der verblasste Schnitt und sein Erbe

Diese Verbindung hatte nicht nur politische Bedeutung, sondern auch ethno-kulturell. Im Iran wurde der HJ-Schnitt in Friseur-Salons übernommen und als Modell-i Almani 'مدل موی آلمانی' bezeichnet, was eine Faszination für die deutsche Ästhetik und Disziplin widerspiegelt. Die Übernahme des Hitlerjugend-Schnitts im Iran und der weitreichende Einfluss türkischer Friseure bei der Definition deutscher Frisuren spiegelt bis heute ein komplexes Zusammenspiel kultureller Einflüsse wider. Iraner und Türken fühlten sich gleichermaßen von den wahrgenommenen Standards deutscher Präzision und Disziplin angezogen, während hierzulande bis heute die wenigsten von den historischen Konnotationen ihrer gewählten Frisuren wissen. Egal, wo wir in der Geschichte stehen, der Name unseres Vaters schreibt sich auf unseren Körper und verfolgt uns, egal ob uns das bewusst ist oder nicht. Was die neue Generation am verblassten Haarschnitt cool findet, ist eigentlich eine Ästhetik der Disziplin. Der Name des Vaters bildet somit einen Kreis von Einflüssen, der die Generationen überdauert.

Haarschnitt und die Furcht der Kinder vor dem Friseur haben etwas mit Kastration zu tun, wenn wir das Ganze unter der Lupe der Freud'schen Analyse betrachten wollen. Aber vielleicht ist das Ganze einfacher, als es aussieht: Der Haarschnitt ist eine Spur, eine Handschrift und die Unterzeichnung des Vaters auf dem Körper seines Sohnes: Disziplin. Ein Modell von Disziplin und gleichzeitig ein Modell für Disziplin. Damals lebte die ganze Welt unter dem Regime dieser Wertvorstellungen. Und das spiegelte sich auch in der Mode. Marken wie Hugo Boss, ursprünglich auf militärische Designs ausgerichtet, illustrierten die enge Verknüpfung von Mode, Symbolik und politischer Ideologie, indem sie während des Zweiten Weltkriegs Uniformen für die NSDAP, Schutzstaffel, Wehrmacht und die Hitlerjugend produzierten. Die deutsche Bevölkerung wurde dadurch auf Linie gebracht. Heutzutage leben Iraner:innen und wir alle unter dem Regime der Kontrolle. Und das hinterlässt nicht nur in, sondern auch auf den Köpfen tiefgehende Spuren. Die Gesellschaft der Kontrolle hat eine Frisur: den verblassten Schnitt.

Nazi-Narziss und Echo

Im metaphorischen Sinne ist das die Geschichte von Echo und Narziss, eine tragische Liebesgeschichte der griechischen Mythologie, in den Werken von Ovid. Echo, die Nymphe, ist von Hera dazu verflucht, nur die Worte anderer wiederholen zu können. Auf der anderen Seite ist Narziss, ein junger Mann von außergewöhnlicher Schönheit, von seiner eigenen Selbstliebe besessen. Die Geschichte dreht sich um die unerwiderte Liebe von Echo zu Narziss, der seine eigene Reflexion in einem Teich bewunderte. Narziss, grob betrachtet, kann als passendes Symbol für den Westen dienen. Wie Narziss seine äußere Erscheinung bewunderte, fokussiert sich der Westen oft auf äußerliche Merkmale, technologischen Fortschritt und visuelle Reize. Diese Selbstfixierung ohne Selbstreflexion könnte als Metapher für eine Gesellschaft stehen, die sich auf das Visuelle, Oberflächliche und Hedonistische konzentriert, ohne ihre eigenen Werte zu hinterfragen.

Im Gegensatz dazu repräsentiert der Osten, symbolisiert durch Echo, eine Kultur, in der auditive Intuition eine größere Rolle spielt. Die "1001 Nächte" betonen die mündliche Überlieferung, bei der Geschichten durch das Hören und Erzählen weitergegeben werden. Allerdings kann der Osten, ähnlich wie Echo, Schwierigkeiten haben, innere Emotionen genau zu übersetzen und zu kommunizieren. Der verblasste Haarschnitt kann als Echo dienen, das der Narziss, der sein eigenes Spiegelbild bewundert, oft ignoriert oder nicht hören möchte. Im Gegensatz dazu stehen die Echo- Botschaften, die durch den verblassten Haarschnitt und die kulturellen Einflüsse des Ostens (Iraner, Türken etc.) bewusst oder unbewusst übermittelt werden.

Nehmen wir diese Analyse als Grundlage, so sollte Integration als ein wechselseitiger Prozess verstanden werden, um die vielfältigen Stimmen zu hören, selbst wenn sie stottern oder nicht der eigenen ursprünglichen Melodie entsprechen. Der verblasste Schnitt könnte als Symbol für die einzigartige Sprache der Symbole dienen, die sich in der Wahl der Frisur ausdrückt. Es ist eine Einladung, die Vielfalt als Stärke zu erkennen und die Melodie des verblassten Schnitts als einen Ausdruck der Liebe und des kulturellen Reichtums zu verstehen, der gehört werden sollte, selbst wenn sie anders klingt.

Die Welt der Frisuren dient damit als unerwartete Leinwand für kulturellen Austausch und historisches Erbe. Der Hitlerjugend-Schnitt, der verblasste Haarschnitt, aus verschiedenen Kontexten stammend, verschmelzen in der zeitgenössischen deutschen Mode und finden bis heute Resonanz im Iran und bei vielen Iranern in Deutschland. Diese Entwicklung sollte nicht als eine einseitige Liebesgeschichte betrachtet werden. Es ist sinnvoller, diese Frisuren tiefergehend zu betrachten. Auf diese Weise können wir eine Geschichte verwobener kultureller Einflüsse aufdecken und ein nuanciertes Verständnis für die Komplexität von Identität, Mode, Integration und historischem Bewusstsein schaffen.

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2 Kommentare verfügbar

  • Peter Nowak
    am 20.02.2024
    Antworten
    Dieser sehr informative Artikel erklärt auch, warum der Sohn dieses Schahs 1967 in der BRD und Westberlin mit viel Pomp empfangen wurde und seine Prügelgarde, die berüchtigten Jubelperser, gegen Schah-Kritiker vorgehen konnten, bevor Benno Ohnesorg von einem Polizisten. erschossen wurde.

    Mich…
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Ausgabe 683 / Die CDU will abheben / Ks / vor 1 Tag 18 Stunden
Sehe ich auch so.

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