Milchhausstraße (Kettlasbrunn)

Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich die Idee genossenschaftlicher Organisation schließlich auch in unseren Breiten durch und im Februar 1888 wurde in Ebendorf eine „Spar- und Darlehenskasse“ nach dem Vorbild des vom Genossenschaftspionier Friedrich Wilhelm Raiffeisen in Deutschland entwickelten Systems gegründet – der erste Zusammenschluss dieser Art im östlichen Weinviertel.1 Bald darauf kam es zur Gründung zahlreicher weiterer Raiffeisenkassen und auch in Kettlasbrunn wurde 1891 eine solche Institution gegründet.2 Im Gefolge dieser Gründungen wurde der Zusammenschluss in Form einer Genossenschaft von den Bauern nicht nur im Bereich der Finanzierung, sondern auch für die gemeinsame Vermarktung ihrer Erzeugnisse angewandt. Insbesondere für die Milchwirtschaft war diese Idee prädestiniert, da die Milch(-erzeugnisse) spezieller Lagerbedingungen (Hygiene und Kühlung) bedurfte und insbesondere da die Viehwirtschaft im Weinviertel, abseits herrschaftlicher Schäfereien in früherer Zeit, stets nur eine untergeordnete Rolle spielte und die einzelnen landwirtschaftlichen Betriebe nur wenige Milchkühe besaßen. Trotz dieser kleinen Strukturen war der aus dem Milchverkauf erzielbare Erlös ein willkommener Zuverdienst und in der engeren Umgebung schlossen sich 1889 in Eibesthal erstmals die Landwirte zusammen um ihre Milch gemeinschaftlich an Molkereien in Wien zu verkaufen.3

Spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich in allen heutigen Katastralgemeinden Mistelbachs Milchgenossenschaften gegründet. Die bisherige Annahme eine solche Gemeinschaft sei in Kettlasbrunn erst 1905 gegründet worden, kann durch das Aufscheinen einer hiesigen Milchgenossenschaft in einem Gewerbe-Adressbuch aus dem Jahr 1903, als widerlegt betrachtet werden.4 1905 wandelte sich diese erste Milchgenossenschaft zur Molkereigenossenschaft und es erfolgte deren Eintragung als „registrierte Genossenschaft mit beschränkter Haftung“ im Genossenschaftsfirmenbuch beim zuständigen Gericht in Korneuburg.5 Eine Molkereigenossenschaft hatte über Sammlung, Lagerung und Transport der Milch zwecks gemeinschaftlichem Verkauf hinaus auch den Zweck und das Recht Milchprodukte (Butter, Käse, Molke) selbst herzustellen und zu vertreiben. Inwieweit die Herstellung von eigenen Milchprodukten überhaupt und insbesondere nach der Gründung der Mistelbacher Genossenschafts-Zentralmolkerei im Jahre 1927 wirtschaftlich war, ist jedoch fraglich. Aufgrund der oben bereits erwähnten besonderen Lagerbedürfnisse wurden allerorts eigene Milchhäuser errichtet und wie der Name bereits vermuten lässt, befand sich das Kettlasbrunner Milchhaus in der heutigen Milchhausstraße. Das erste (kleinere) Milchhaus, das wohl spätestens nach dem Wandel zur registrierten Genossenschaft entstanden sein dürfte, befand sich nächst der Einmündung in die Kettlasbrunner Hauptstraße und zwar rechterhand auf dem spitz zulaufenden Grundstück zwischen den Gerinnen von Kettlasbach und Gießbach, die unmittelbar dahinter zusammenfließen.

Blick auf Kettlasbrunn vom Kirchturm aus um etwa 1909: der Pfeil markiert das alte (ursprüngliche) Milchhaus, etwas verdeckt durch Bäume. Dieses befand bei der Einmündung der Milchhaustraße in die Kettlasbrunner Hauptstraße.Blick auf Kettlasbrunn vom Kirchturm aus um etwa 1909:
der Pfeil markiert das alte (ursprüngliche) Milchhaus, etwas verdeckt durch Bäume. Dieses befand bei der Einmündung der Milchhaustraße in die Kettlasbrunner Hauptstraße.

Doch bald darauf, jedenfalls spätestens Anfang der 1920er Jahre6, wurde auf der anderen Seite dieser Straße und zwar an der Ecke zur Herrenzeile ein neues deutlich größeres Milchhaus errichtet. Aus naheliegenden Gründen wurden in den 1950er Jahren die Gebäude der Gemeinschafts-Kühlanlage des Ortes nebenan errichtet.7 Zwar war die Milchwirtschaft im Weinviertel grundsätzlich stets von untergeordneter wirtschaftlicher Bedeutung, allerdings ist an nachfolgender Statistik zum Rinderbestand in Kettlasbrunn deren Aufschwung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ebenso der später folgende völlige Bedeutungsverlust gut ablesbar8:

Jahr Rindviehbestand in Kettlasbrunn
1834 171
1934 517
1981 36
1987 6

Die umfassenden Umwälzungen, die sich in der Landwirtschaft ab den 1960er Jahren vollzogen, läuteten langsam aber sicher auch das Ende der Milchwirtschaft als Nebenerwerbszweig vieler Betriebe ein und die Milchgenossenschaften lösten sich meist in den 1970er bzw. 1980er Jahren auf. Auch die beiden Kettlasbrunner Milchhäuser existieren heute nicht mehr: an der Stelle des „neuen“ Milchhauses, dass etwa 1989 abgebrochen wurde, steht heute ein Wohnhaus und an der Stelle des „alten“ Milchhauses befindet sich seit einigen Jahren der „offene Bücherschrank“ und ein Rastplatz.

Das Das „neue“ Milchhaus an der Einmündung der Milchhausstraße in die Herrenzeile im Jahr 1980 als die Milchgenossenschaft bereits aufgelöst war. An der Fassade ist schwach noch der Schriftzug „Gegründet im Jahre 1906“ zu erkennen. Wie durch mehrere Quellen jedoch eindeutig belegt, erfolgte die Gründung tatsächlich bereits 1905. Möglicherweise wurde das alte Milchhaus erst im Jahr nach der Gründung der Genossenschaft in Betrieb genommen.

Im Zuge der Einführung offizieller Straßennamen in Kettlasbrunn im Jahre 2004 erhielt diese Gasse, den schon zuvor informell gebräuchlichen Namen „Milchhausstraße“.9

Wo befindet sich die Milchhausstraße?

 

Bildnachweis:
Verwendung der Fotos mit freundlicher Genehmigung des Besitzers Herrn Stadtrat a.D. Josef Rath bzw. Dank an das Team der Topothek Mistelbach/Kettlasbrunn

Quellen:

  1. Mitscha-Märheim, Univ.-Prof. Dr. Herbert: Eine kleine Geschichte von Ebendorf (1971), S. 33;
    Wiener Landwirtschaftliche Zeitung, 3. März 1888 (Nr. 18), S. 126 (ONB: ANNO)
  2. Memorabilienbuch der Pfarre Kettlasbrunn, S. 51f
  3. k.k. Statistische Central-Commission (Hrsg.): Statistische Monatsschrift Jahrgang 1892, Beilage: „Verzeichnis von 321 Molkerei-Genossenschaften und anderen Unternehmenung zur Verwerthung der Molkereiprodukte sammt Daten über deren Gebarung im Jahre 1891“, S. 34  (ONB: ANNO)
  4. Österreichischer Zentralkataster sämtlicher Handels-, Industrie- und Gewerbebetriebe (1903), II. Band – Die Betriebe von Niederösterreich, S. 238 (Digitalisat in den Beständen der ONB)
  5. Neue Freie Presse, 12. Juli 1905 (Nr. 14685), S. 19 (ONB: ANNO);
    Leisser, Willibald: Kettlasbrunn im Weinviertel (1989), S. 68 (Anm.: bei Leisser lediglich als Milchgenossenschaft bezeichnet)
  6. Memorabilienbuch der Pfarre Kettlasbrunn, S. 196 (Anm.: hier wird von einem Festumzug im Jahr 1925 berichtet der von der Herrenzeile „zwischen den Milchkammern“ in die Bezirksstraße (=Kettlasbrunner Hauptstraße) führte)
  7. Leisser, Willibald: Kettlasbrunn im Weinviertel (1989), S. 75;
  8. Leisser, Willibald: Kettlasbrunn im Weinviertel (1989), S. 42
  9. Protokoll der Sitzung des Mistelbacher Gemeinderates vom 14.12.2004
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