Wolfgang Schüssel

"Die Neutralität an sich bietet keinen Schutz"

Trump, Europas Verteidigung und die Rolle Österreichs. In einem Kommentar für den "Pragmaticus" stellt Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel erneut die Neutralität in Frage.

Der frühere österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel fotografiert während einer Veranstaltung am 29. November 2023 in Wien
Der frühere österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel fotografiert während einer Veranstaltung am 29. November 2023 in Wien
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Ein großer Freund der Neutralität ist er schon lange nicht mehr. "Die alten Schablonen – Lipizzaner, Mozartkugeln oder Neutralität – greifen in der komplexen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht mehr", sagte Wolfgang Schüssel schon in seiner Rede anlässlich des Nationalfeiertages am 26. Oktober 2001. Das war er noch Bundeskanzler und die Welt eine ziemlich andere.

Nun frischt der mittlerweile 79-Jährige seine langjährige Fremdelei auf. In einem Kommentar für das Medienportal "Der Pragmaticus" erläutert Schüssel, was ein Wahlsieg Donald Trumps für Europa bedeuten würde, plädiert für eine offene Debatte "wie sich die EU notfalls allein schützen kann", und belebt seine schon bisherige Sichtweise, untermauert mit aktuellen Beispielen. Die Neutralität schütze kein Land, das habe man bei der Ukraine und Moldau gesehen, beides Länder mit Neutralität in der Verfassung. "Geholfen hat ihnen das keineswegs".

Wolfgang Schüssel ist Jahrgang 1945. Er war noch ein Bub, als der Staatsvertrag paktiert und die Neutralität 1955 im Neutralitätsgesetz verankert wurden. Ihre Aufnahme in die DNA des Landes, ihre Beschwörung an Feiertagen, die kaum stattfindende Debatte über ihre jeweils aktuelle Sinnhaftigkeit erlebte er bereits zum Teil als Politiker mit. 1979 wurde er in den Nationalrat gewählt, 1989 Wirtschaftsminister, im April 1995 Parteiobmann, im Mai 1995 als Nachfolger von Alois Mock Außenminister. Da war er als der "Mann mit dem Mascherl" bekannt.

Das legte er ab und die Krawatte an, als er 2000 Bundeskanzler wurde. Vor der Nationalratswahl 1999 hatte Schüssel angekündigt, in Opposition zu gehen, falls die ÖVP bei der Wahl Dritter werde. Die ÖVP wurde Dritter – und Schüssel Kanzler. Jörg Haider verzichtete, blieb in Kärnten, an seiner Stelle wurde Susanne Riess-Passer Vizekanzlerin. Nach der Wahl 2003 fand die schwarz-blaue Koalition ihre Fortsetzung. 2007 wurde die ÖVP abgewählt, Alfred Gusenbauer kam. Schüssel trat scheibchenweise zurück, aus dem Nationalrat schied er 2011 aus.

Bundeskanzler Wolfgang Schüssel am 12. Juni 2000 als Beifahrer im Porsche von Kärntens Landeshauptmann Jörg Haider
Bundeskanzler Wolfgang Schüssel am 12. Juni 2000 als Beifahrer im Porsche von Kärntens Landeshauptmann Jörg Haider
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Schüssel gilt als Förderer der Karriere von Sebastian Kurz, trat politisch in den Hintergrund, ganz leise wurde er nie. Im "Pragmaticus" sagt er nun über:

Den Krieg in der Ukraine
Der Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 änderte schlagartig die gesamte europäische Sicherheitsstrategie. Es zeigte sich nämlich: Der Kreml ist bereit, sämtliche vertraglichen Verpflichtungen – vom Budapester Memorandum bis zur Pariser Konferenz – zu brechen.

Die neue Sicherheitssituation in Europa
Von den 27 EU-Mitgliedern sind daher nur noch Irland, Malta, Zypern und Österreich neutral. Auch Irland diskutiert intensiv.

Österreich nach den Kämpfen in Bosnien und dem Kosovokrieg, als alle östliche Nachbarn der NATO beitraten
Das war das geopolitische Umfeld, in dem ich als Vizekanzler und Außenminister mit Kanzler Viktor Klima eine neue Sicherheitsdoktrin in Form eines "Optionenberichtes" erarbeitete. Erstmals sollte formuliert werden, "eine NATO-Mitgliedschaft zu prüfen" – das wurde allerdings im allerletzten Moment verhindert.

Was sich an der Lage geändert hat
Bisher waren der nukleare Schutzschirm der USA und ihre militärische Präsenz in Europa die Voraussetzung dafür, dass unsere Länder jahrzehntelang eine Friedensdividende ohnegleichen genießen durften.

Was passiert, wenn Joe Biden verliert
Mit einem Wahlsieg Donald Trumps könnte sich auch hier die Situation für Europa drastisch verändern. Einige seiner ehemaligen Berater beschrieben, wie sie ihn in seiner Amtszeit nur mit Mühe von einem NATO-Austritt abhalten konnten.

Welchen Wert hat die Neutralität noch? Vorführung der Garde auf der Bundesheer-Leistungsschau am Wiener Heldenplatz 2018
Welchen Wert hat die Neutralität noch? Vorführung der Garde auf der Bundesheer-Leistungsschau am Wiener Heldenplatz 2018
Helmut Graf

Warum die Neutralität nicht mehr wirklich gilt
Wir haben mit dem EU-Beitritt 1995 die Verpflichtung übernommen, an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) mitzuwirken. Mit dem Vertrag von Lissabon (in Kraft seit 2009) wurde eine wechselseitige Beistandsverpflichtung bei einem bewaffneten Angriff auf ein Mitgliedsland vereinbart. Wir haben dem schon 1997 in einer Novelle der Bundesverfassung Rechnung getragen. Einfach gesagt: Bei jedem EU-Beschluss (wie auch bei einem UNO- oder OSZE-Mandat) gilt die Neutralität nicht mehr.

Den Schutzmantel Neutralität
Die Neutralität an sich bietet ja auch keinen Schutz, das hat Belgien im Zweiten Weltkrieg erfahren. Noch vor wenigen Jahren hatten die Ukraine und Moldau ihre Neutralität in ihren Verfassungen verankert. Geholfen hat ihnen das keineswegs.

Was er nun vorschlägt
Auf europäischer Ebene muss aber auch eine offene Debatte geführt werden, wie sich die EU notfalls allein schützen kann ... Der österreichische Beitrag im Fall eines Angriffs auf ein Mitglied (Art. 42/7 des EU-Vertrags) ist gut vorzubereiten und muss innenpolitisch genauso außer Streit stehen wie das Prinzip, dass Österreich bei jeder weiteren Entwicklung zur politischen Union im Kernbereich dabei sein sollte.

Den gesamten Kommentar lesen Sie hier

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