Deutsche Steuerfahnder haben Elfriede Jelinek den ganzen Haushalt abgeführt. Nun stellt sie sich in ihrem neuen Buch vor, was es da zu lesen gibt

Gerade ist ein Porträtfilm über die österreichische Nobelpreisträgerin zu sehen, und ein neues Buch ist erschienen. Da wie dort erfährt man viel über sie, ihr Lebenswerk und ihre Familie.

Paul Jandl
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Sie habe sich für das Schreiben entschieden, «weil das die einzige Kunstform war, die meine Mutter nicht gefördert hat», sagt Elfriede Jelinek.

Sie habe sich für das Schreiben entschieden, «weil das die einzige Kunstform war, die meine Mutter nicht gefördert hat», sagt Elfriede Jelinek.

Isolde Ohlbaum

Wie kommt die Lüge in die Welt? Durch Muttertagsgedichte! Im Film «Die Sprache von der Leine lassen» erzählt die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, wie sie ihre «steinharte» Mutter milde stimmen konnte. Mit falschen Lobreden und ausgedachten Erlebnissen sorgte das Kind für freundliche Auflockerungen in einem streng disziplinierten Alltag. Mit Musikinstrumenten behängt, musste das Kind zu endlosen Übungsstunden quer durch Wien fahren. Es durfte nicht draussen spielen und keine Freunde haben. Aus der kleinen Elfriede sollte ein Wunderkind werden. Das Kind hat sich damals ziemlich gewundert: Ausgerechnet ich?

Die abendfüllende Dokumentation, die die porträterfahrene Regisseurin Claudia Müller mit Unmengen von Archivmaterial zusammengestellt hat, könnte genau so heissen: «Ausgerechnet ich?» In alten Interviews sieht man die Schriftstellerin, wie sie alles, was sie sagt, in Anführungszeichen der Ironie packt. Wegen mir doch bitte keine Aufregung! Aufregung hat es allerdings genug gegeben.

Man sieht den Sprecher des Nobelpreiskomitees, der 2004 aus der berühmten Stockholmer Flügeltür tritt und der staunenden Welt verkündet, dass die Schriftstellerin den Preis bekomme «für den musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger sprachlicher Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen».

Der Skandal verpufft

Viele hatten den Namen Jelinek noch nie gehört, aber im Film wird der Rummel gezeigt, der sich nach der Entscheidung im kleinen Wiener Häuschen der Autorin abspielte. Kameras, Blitzlichter, Telefonanrufe. Die Menschen auf den Strassen Österreichs haben sich in Windeseile zu Gegenstimmen eigener Art formiert, auch das hört man im Film. «Nestbeschmutzerin» ist das Schmähwort, mit dem Elfriede Jelinek schon lange vor den Nobel-Ehren bedacht wurde. Es kocht noch einmal aus der Volksseele und dem Populisten Jörg Haider hervor.

Man könnte richtig nostalgisch werden, bei so viel öffentlicher Wirkung von Literatur. Der Skandal verpufft im Nirwana jener Jahre, in denen die Literatur immer stiller wird und die Politik immer schriller. Auch die Jelinek hat sich zurückgezogen. Zur Preisverleihung nach Stockholm ist sie nicht gefahren. Wegen einer «generalisierten Angststörung», wie sie im Film sagt. Und da waren noch die Anfeindungen, von denen man sagen würde: Jemand, der so schreibt wie Elfriede Jelinek, steckt das locker weg.

Aber so ist diese Schriftstellerin nicht. Wenn sie etwas wegsteckt, dann wieder nur in die Sprache. Nach 2004 sind Theaterstücke, Essays und Hörspiele entstanden. Und der Roman «Neid», den es nur online gibt. Die mittlerweile 76-jährige Schriftstellerin schweigt, und deshalb greift Claudia Müllers chronologisch erzählender Film auf Autorenstimme und -bilder aus den Archiven zurück. Auf Jelineksche Textpassagen, die von Sophie Rois, Sandra Hüller, Maren Kroymann und Stefanie Reinsperger gelesen werden und damit die ganze Kraft satirischer Heimatkunst entfalten.

Mögen die Österreicher noch so sehr mit ihren alpinen Skifahrern wedeln, unter der gepflegten Fremdenverkehrslandschaft ist nur moralischer Morast. Elfriede Jelineks Karriere als Aufdeckerin hat in anarchischen Wiener Wohngemeinschaften begonnen. Die Schriftstellerin trug Schlaghosen und dunklen Lidschatten. Eine Femme fatale mit Sinn für das Banale. «Wenn man das Pathos riskiert, muss man auch die Trivialität riskieren», sagt Jelinek in einem Film, dessen andächtige Einfühlsamkeit viele Klischees zurechtrückt.

In die Sprache gerettet

Es ist der voyeuristische Respekt, der den Film «Die Sprache von der Leine lassen» so interessant macht. Eine Nähe, in der die dramatische Weltenferne der Jelinekschen Kindheit sehr finster strahlt. Da ist die pedantische, in der «Klavierspielerin» gültig porträtierte Mutter, und da ist der geniale, aber verrückte Vater. Judentum, Katholizismus, Österreich und Wahnsinn.

Eine Mischung, die sich in den Anforderungen an die Tochter noch landestypisch verschärft hat. Dass sie nicht zur Komponistin und Instrumentalvirtuosin hochgezüchtet werden konnte, liegt an ihrer Entscheidung für das Schreiben. «Ich habe mich in die Sprache gerettet, weil das die einzige Kunstform war, die meine Mutter nicht gefördert hat», sagt Elfriede Jelinek im Film.

Das Lügen und das aus ihm geborene Schreiben waren ein Gegenmittel zur Macht der Mutter, zu jener phantasielosen Suada, die, laut Jelinek, «immer nur objektsprachlich redet und sagt: Da geht’s lang!» Wo es langgehen soll, hat der deutsche Staat Elfriede Jelinek vor ein paar Jahren zu sagen versucht. Er hat die Autorin mit dem Zweitwohnsitz München verdächtigt, Steuern nicht abgeführt zu haben, und ihr zu Prüfzwecken den ganzen Haushalt davongetragen.

«Jeden Abend liest ein Steuerfahnder nun meine Werke der Gattin und den Kindern vor, und die wälzen sich dann vor Lachen am Fussboden. Sie haben sie beschlagnahmt, meine E-Mails, meine Schriften, also einen Teil davon, ich habe keine Ahnung, welchen, ich nehme an, der private Teil wird sie mehr interessiert haben, obwohl der an Langweiligkeit nicht zu überbieten ist.» So steht es in Elfriede Jelineks neuem Buch «Angabe der Person», das der Verlag vollmundig als «Lebensbilanz» anpreist.

Um Bilanzen geht es tatsächlich. Um das, was unter dem Strich übrig bleibt. Dass das liebe Deutschland der Schriftstellerin in die Taschen greifen will, obwohl es sich doch an ihren Vorfahren schon vergriffen hat, ist die böse Pointe dieses Buches. Einerseits wird hier die Geschichte einer völlig überzogenen Steuerrazzia erzählt und andererseits auch grosse Geschichte.

Im KZ ermordete Angehörige

Der «Ur-Oheim» Herschel Jellinek (noch mit zwei l), war es, der wegen seiner aufrührerischen Schriften nach der Revolution von 1848 vom Henker liquidiert wurde. «Wer in Wien eine Revolution versucht, der verdient es wahrscheinlich nicht besser», schreibt Elfriede Jelinek. Und: «Andere haben bessere Ahnen, haltbarere!» Die unhaltbaren Ahnen der Autorin haben es sich zuschulden kommen lassen, jüdisch zu sein.

Der Cousin Walter ist mit seiner Frau Claire Felsenburg vor den Nazis über die Schweiz nach Amerika geflohen. Sein Vater Adalbert, ein Journalist, hat nach den Erfahrungen im Konzentrationslager Dachau Selbstmord begangen. Adalberts Frau wurde dort ermordet. Diese familiengeschichtliche Spur webt Elfriede Jelinek in ein ziemlich ausfransendes Textgespinst, das von korrupter Moral erzählt. Erst von der Schuld und dann wieder von den Schulden.

Nazis, die sich nach dem Krieg ihre Latifundien sichern konnten, kommen genauso vor wie die Steuersünder Boris Becker und Uli Hoeness. Der Wirecard-Skandal ist da, Verschwörungstheorien und Corona, deren «Charaktermasken» gleichermassen entlarven wie verdecken. «Aber wenn die Querdenker jetzt wieder Länge mal Breite denken dürfen, dann darf ich das auch», schreibt Elfriede Jelinek, die grosse Textflächenkünstlerin.

Am 16. Dezember kommt der Text als Stück auf die Bühne des Deutschen Theaters in Berlin. Am Tag davor ist am Zürcher Schauspielhaus Premiere von Jelineks «Sonne, los jetzt». Die verschwiegenste Autorin der deutschsprachigen Literatur wird vieles und Vieldeutiges zu sagen haben. Auch wenn in ihrem neuen Buch alle paar Seiten ein eindeutiger Satz steht: «Sagen Sie jetzt nichts!»

Elfriede Jelinek: Angabe der Person. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2022. 192 S., Fr. 34.90.

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