Heinrich Böll war schon zu Lebzeiten ein Denkmal seiner selbst

Der vor hundert Jahren geborene Schriftsteller und Nobelpreisträger Heinrich Böll mag etwas in Vergessenheit geraten sein. Aber man lernt an und mit ihm viel über das Nachkriegsdeutschland.

Paul Jandl
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Der Schriftsteller als Mahner: Heinrich Böll in einer Aufnahme von 1982. (Bild: Imago)

Der Schriftsteller als Mahner: Heinrich Böll in einer Aufnahme von 1982. (Bild: Imago)

Man kann nicht sagen, dass er sich an Adenauers Formel «Nur keine Experimente!» gehalten hat, aber ein literarisch Wilder war er auch nicht. Heinrich Böll hat die deutsche Literatur in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg wie kaum ein anderer geprägt, aber zum hundertsten Geburtstag läuten die Glocken für einen, bei dem man dann doch erst fragen muss: Böll? Wer?

Es wird nachgelesen, und wenn ringsum untersucht wird, worin die Aktualität Heinrich Bölls heute liegt, dann wirkt schon das wie ein Rettungsversuch. Dem Literaturnobelpreisträger des Jahres 1972 wird zugutegehalten, dass er immerhin nach neuen, vielleicht auch kolportagehaften Formen gesucht hat, um das gesellschaftlich Komplexe abzubilden. Auch als Moralist sei er Avantgarde gewesen, weil er ganz früh an das erinnert habe, was nach kurzer Zeit schon alle hätten vergessen wollen: an den Krieg und an die nahtlos weiterwirkende Doppelmoral. Später war er dann schon die Nachhut der engagierten Literaten. Ein Denkmal seiner selbst. Logenplatz auf der richtigen Seite. Hans Magnus Enzensberger warnte vor «linkem Alarmismus».

Heute etwas in Vergessenheit geraten, zu seiner Zeit berühmt: Vor hundert Jahren, am 21.  Dezember 1917, wurde der Schriftsteller Heinrich Böll geboren. – Porträt von 1958. (Bild: Keystone)
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Mit den Mächtigen auf Du und Du: Heinrich Böll (links) zu Tisch mit dem «Stern»-Herausgeber Henri Nannen (Mitte) und dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt (rechts), Bonn, 1971. (Bild: Imago)
Ein «Symbol der Freiheit in der Welt» nannte Böll diesen Freund: Alexander Solschenizyn und er geben vor seinem Haus in Langenbroich in der Nordeifel eine Medienkonferenz, 1974. (Bild. Imago)
Der Schriftsteller mit seiner bevorzugten Kopfbedeckung, der Baskenmütze. (Bild: Imago)
Andere Zeiten: Heinrich Böll rauchend am Schreibtisch mit den nötigen Utensilien für handschriftliche Notate. (Bild: Imago)
Die Zigarette fehlt auf kaum einer Aufnahme: Heinrich Böll auf einer Parkbank in Bornheim-Merten, 1982. (Bild: Imago)
Inmitten von anderen Aktivisten: Der Schriftsteller auf einer Friedensdemonstration in Bonn, 1983. (Bild. Imago)
Ein späte Aufnahme, die ihn wenige Monate vor seinem Tod am Ufer des Lago Maggiore in Ascona zeigt, 31. März 1985. (Bild: Keystone)
Die Weggefährten tragen den Sarg: Lew Kopelew (links), Günter Grass (2.v.l.) und Günter Wallraff (5.v.l.) sowie die Söhne Heinrich Bölls an der Beerdigung in Merten am 19. Juli 1985. (Bild: Imago)
Weniger als Schriftsteller, aber als Figur der Zeitgeschichte ist Heinrich Böll in Deutschland auch heute präsent: Skulptur vor der Heinrich-Böll-Bibliothek in Berlin. (Bild: PD) Zum Artikel

Heute etwas in Vergessenheit geraten, zu seiner Zeit berühmt: Vor hundert Jahren, am 21.  Dezember 1917, wurde der Schriftsteller Heinrich Böll geboren. – Porträt von 1958. (Bild: Keystone)

Aus Schutt und Staub

1917 in Köln geboren, hat Heinrich Böll den Zweiten Weltkrieg als junger Soldat mitmachen müssen. Versehrt ist er aus den Trümmern zurückgekommen, um sich in autodidaktischer Arbeit den Schutt und den Staub erst wieder vom Herzen zu schreiben. Mit Trümmerliteratur, die sich in trauerndem Stolz auch als solche gesehen hat. Mit einer proletarischen «Verteidigung der Waschküchen», wie einer von Bölls Essays heisst. Und mit einer Zeitgenossenschaft, die weit über das bloss Literarische hinausging. Heinrich Bölls Deutschland ist im Kern immer die rheinische Heimat. Und seine literarische Topografie vergrössert vieles ins Monströse. Die Rolle des Klerus, die Suche nach Erlösung, Mief und Milde.

Das Verwirrende, das Verstörende wird bei Böll als verwirrend und verstörend beschrieben, aber am Ende kommt man sicher ans Ziel einer Läuterung. Millionen haben «Gruppenbild mit Dame» oder «Billard um halb zehn» gelesen, haben eine kollektive Katharsis durchlaufen, die deshalb funktioniert, weil sie innere Widersprüche schon aus pädagogischen Gründen ausblenden muss. Das wie in Schwarz-Weiss getauchte Deutschland des Kriegs und des Nachkriegs, der persönlichen und sozialen Katastrophen wird oft auch moralisch und risikolos in deutlichem Schwarz-Weiss kommentiert. In seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen von 1964 hat Böll von einer «Ästhetik des Humanen» gesprochen. Heute würde man vor programmatischen Selbstauskünften dieser Art wohl eher zurückschrecken.

Die guten alten Dinge

Im Museum der literarischen Dinge hat das Werk Heinrich Bölls einen Spezialplatz. In gläsernen Vitrinen soll heute liegen, was vor mehr als einem halben Jahrhundert auf Zwecke hin geschrieben wurde, die man sich heute erst wieder in Erinnerung rufen muss. Sind die Tausenden Seiten Böll schlecht gealtert? Oder braucht es bei Böll eine Art «Manufactum»-Renaissance der guten alten Dinge? Böll ist präzise, aber er ist auch sentimental. Beides zusammen ergibt vielleicht das, worunter dieser Schriftsteller verschlagwortet ist: Mitleid, Gewissen. Ästhetisch müssen das nicht unbedingt Kategorien allergrösster Haltbarkeit sein.

Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dieser Tage zu einer Feierstunde in Sachen Heinrich Böll eingeladen. Man traf sich im Schloss Bellevue zu einer sehr deutschen Veranstaltung, an der Schauspieler, Kritiker und Kollegen einen Mann und ein Werk auf kongeniale Weise ehrten: mit kollektiver Rührung.