Deutschland überholt Japan wirtschaftlich – das schmerzt die japanische Seele

Vor knapp fünfzig Jahren wurde Deutschland wirtschaftlich von Japan überholt. Nun offenbart der Verfall des Yen eine Schwäche Japans: Die Exportindustrie ist hochproduktiv, das Land nicht.

Martin Kölling, Tokio 4 min
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Fussgänger auf der Shopping-Meile im Stadtviertel Ginza in Tokio.

Fussgänger auf der Shopping-Meile im Stadtviertel Ginza in Tokio.

Kimimasa Mayama / EPA

Jetzt ist es amtlich: Deutschland hat Japan überholt und ist nach den USA und China die drittgrösste Volkswirtschaft der Welt. Nach Angaben des japanischen Kabinettamts wuchs das Bruttoinlandprodukt (BIP) in Japan im Jahr 2023 inflationsbereinigt zwar um 1,9 Prozent, während es in Deutschland um 0,3 Prozent schrumpfte. Doch wegen der starken Abwertung des Yen kam die älteste Industrienation Asiens in Dollar gerechnet nur auf 4,21 Billionen Dollar, Deutschland dagegen auf 4,46 Billionen Dollar.

Der Preis ausstehender Zinserhöhungen

Damit kassiert Japan die Quittung für seinen geldpolitischen Sonderweg. Weil die Bank of Japan den Zinserhöhungen anderer Notenbanken nicht folgte, verlor die japanische Landeswährung im vergangenen Jahr gegenüber dem Dollar 14 Prozent und gegenüber dem Euro 13 Prozent an Wert. Denn die Märkte nahmen die wachsende Zinsdifferenz zwischen der ostasiatischen Industrienation und dem Rest der Welt zum Anlass, den Yen als Billigwährung abzustempeln.

Noch bitterer für Japans Selbstbewusstsein ist jedoch, dass die Wirtschaftsleistung im letzten Quartal überraschend schrumpfte. Im Vergleich zum Vorquartal sank Japans BIP zum zweiten Mal in Folge, gegenwärtig um 0,1 Prozent. Ökonomen hatten im Schnitt mit einem Wachstum von 0,2 bis 0,3 Prozent gerechnet. Stefan Angrick von Moody’s Analytics sagt: «Japans Wirtschaft ist in einer schwachen Verfassung.»

Das Land befindet sich in einer «technischen Rezession». Der Grund dafür sind laut Angrick die «unglaublich schwachen» Daten für den privaten Konsum und die Unternehmensinvestitionen, die nun sogar zum dritten Mal in Folge gesunken sind. Zudem liege das BIP nur knapp über dem Niveau vor der Corona-Pandemie.

Auch der einzige Lichtblick, der positive Beitrag des Aussenhandels, kann die Aussichten nicht verbessern. Der Chefökonom des Dai-ichi Life Research Institute, Toshihiro Nagahama, prognostiziert, dass das BIP auch im dritten Quartal zum dritten Mal in Folge sinken wird. Denn neben der schwachen Konjunktur wurde Zentraljapan Anfang des Jahres von einem schweren Erdbeben erschüttert. Zudem mussten Toyota-Töchter wegen Skandalen um gefälschte Zulassungstests den Verkauf vieler Modelle einstellen.

Schwache Konjunktur stellt Japans Zinswende infrage

Die Anleger schüttelten die negativen Nachrichten bei ihrer Rekordjagd zwar ab. Der Nikkei-225-Index stieg auf 38 487 Punkte und lag damit nur knapp unter dem Rekordstand von 1989. Zum einen hoffen sie, dass ein schwacher Yen bei der Umrechnung von Auslandsgeschäften die Bilanzen der Exportindustrie aufhübscht. Zum anderen glauben sie, dass Japan vor einer Reformwelle steht. So treibt die Regierung zum Beispiel Reformen der Corporate Governance an, damit sich Unternehmen stärker an Aktionärsinteressen ausrichten und den Gewinn erhöhen. Doch die schwache Konjunktur erschüttert zwei Hoffnungsträger der Regierung: kräftige Lohnerhöhungen und eine Zinswende der Notenbank.

Die Regierung setzt darauf, dass die Löhne deutlich stärker steigen als die Inflationsrate von derzeit 2,3 Prozent. Dies soll die lahmende Nachfrage ankurbeln. Bleibt die Konjunktur aber schwach, könnten die Unternehmen knausern und die Löhne weniger stark erhöhen als im vergangenen Jahr. Damals lag der Lohnzuwachs bei 3,7 Prozent.

Für die Geldpolitik könnte dies zum Problem werden. Bislang gehen die Märkte davon aus, dass die Bank of Japan den Leitzins von derzeit minus 0,1 Prozent im Frühjahr leicht anheben wird. Als Voraussetzung für diesen Schritt hat die Notenbank bisher allerdings ein robustes Wachstum und vor allem gute Lohnzuwächse genannt. Der Volkswirt Angrick meint daher: «Die Daten machen es der Zentralbank schwer, eine Zinserhöhung zu rechtfertigen, ganz zu schweigen von einer Serie von Zinserhöhungen.»

Hausgemachte Probleme bremsen Japans Wirtschaft

Der Verlust des dritten Platzes in der Rangliste der Wirtschaftsnationen trübt die Stimmung zusätzlich. Denn der schwache Yen taugt nicht als Ausrede, schliesslich hat Japan 50 Prozent mehr Einwohner als Deutschland. Michiaki Tanaka, Professor an der Business-School der Rikkyo-Universität, erklärt: «Der Hauptgrund ist, dass Japan ein billiges Land geworden ist.»

Der Yen ist dabei nur ein Faktor. Tanaka verweist auch auf die niedrige Produktivität Japans im Vergleich zu Deutschland. Im Produktivitäts-Ranking der OECD, einer Organisation der klassischen 38 Industrienationen, liegt die Schweiz auf Platz 8, Deutschland auf Platz 9, Japan nur auf Platz 27. Pro Stunde erwirtschaftet ein Arbeitnehmer in der Schweiz kaufkraftbereinigt rund zwei Drittel mal mehr als einer in Japan.

Diese niedrige Produktivität drückt auf die Preise der Güter und auch auf die Ressource Arbeitskraft. Ab Mitte der 1990er Jahre bis vor der Corona-Pandemie stagnierten die Reallöhne in Japan nahezu, während sie in vielen anderen Ländern stiegen. Angesichts dieser Erfahrung bleiben viele Japaner lieber sparsam.

Zu allem Überfluss droht auch die Aussenwirtschaft an Schwung zu verlieren. Die Exporte sind nach der starken Abwertung des Yen weniger stark gestiegen, als viele Experten erwartet hatten. Gleichzeitig könnte sich Japans Rückstand bei der Digitalisierung negativ auf das BIP auswirken.

Shigeto Nagai, Japan-Ökonom bei Oxford Analytics, sagt voraus, dass Japans Handelsbilanz bei Dienstleistungen in den kommenden Jahren negativ sein wird. Der Grund: steigende Importe digitaler Dienstleistungen. «Im Gegensatz zu seinem Erfolg in der verarbeitenden Industrie ist Japan in der Wertschöpfungskette digitaler Dienstleistungen nur langsam nach oben geklettert», so urteilt Nagai. Auch Japan hat offensichtlich grossen Reformbedarf.

Mehr von Martin Koelling (koe)

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