Die Republik Österreich entsteht – die ersten Nationalratswahlen 1920

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02.10.2020
Geschichte in Geschichten
Wahlplakat, zwei Arbeiter geben sich die Hand, einer hält ein Buch
Autor: Franz Halas

Von der Nationalversammlung zum Nationalrat


Abb. 1: Das interessante Blatt, 18.11.1920, » S. 1.

Mit dem » Gesetz vom 06. Juli 1920 wurde von der Nationalversammlung das Datum für die erste Nationalratswahl auf den 17. Oktober 1920 festgesetzt. Diese Wahl war ein wichtiger erster Schritt zur Normalisierung der neuen republikanischen Verfassung in [Deutsch]-Österreich. Durch die Abstimmung im Oktober wurde die Auflösung der bisherigen Nationalversammlung, die interimistisch als Nationalrat fungierte, vollzogen. Ein neues demokratisches Regierungssystem mit neuen politischen Institutionen und einer eigenen Legitimität wurde aufgebaut.


Abb. 2: Staatsgesetzblatt 1918-1920, » 140. Stück Nr. 451

Die Verfassung

Die österreichische Bundesverfassung schuf die rechtliche Grundlage für die neue Republik Österreich. Die Entstehung und Inkraftsetzung dieser » Verfassung war selbst ein spannender politischer und rechtlicher Prozess und ist mit der ersten Nationalratswahl aufs Engste verschränkt. Besonders die zeitliche Abfolge von Beschluss des Verfassungsgesetzes, dazwischenliegender Nationalratswahl und Inkrafttreten der neuen Verfassung im November, bietet die Gelegenheit, ein Schlaglicht auf die faszinierenden politischen und rechtlichen Vorgänge zu werfen, die Legitimität und Legalität bei der Entstehung eines neuen Staates miteinander verschränken. Das Bundes-Verfassungsgesetz wurde von der Nationalversammlung am 1. Oktober 1920 beschlossen, trat aber erst einen guten Monat später, am 10. November 1920, in Kraft, da an diesem Tag der am 17. Oktober gewählte Nationalrat zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentrat. In der Zeit dazwischen galt das » Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920, betreffend den Übergang zur bundesstaatlichen Verfassung, das eine Fortgeltung der bestehenden Gesetze festschrieb, „[…] insoweit sie nicht mit den Bestimmungen des Gesetzes vom 1. Oktober 1920, St. G. Bl. Nr. 450, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird (Bundes-Verfassungsgesetz), in Widerspruch stehen.“ Die Kraft des Verfassungsgesetzes wirkte hier also bereits ohne in Kraft getreten zu sein.       

Koalitionen – Kompromisse – Krisen

Auf dem Weg, die junge Republik einzurichten und mit Leben zu füllen, mussten die handelnden Personen und Parteien Koalitionen eingehen und Kompromisse schließen, die nicht immer leicht zu schmieden und zu finden waren. Insbesondere die beiden größten Parteien, die Sozialdemokraten und die Christlichsoziale Partei, mussten im Sinne der staatlichen Neuordnung zusammenarbeiten, um Regierungshandeln zu ermöglichen. Dass dies auf Grund der unterschiedlichen politischen Programmatiken und Zielsetzungen nicht immer leicht zu bewerkstelligen war, ist wenig verwunderlich. Diese Situation führte immer wieder zu Krisen und Problemen, die die politischen Akteure zusätzlich zu den herrschenden Umständen der Nachkriegszeit herausforderte.

So führte zum Beispiel eine Auseinandersetzung bezüglich einer Verordnung über Soldatenräte und über das Wehrgesetz im Juni 1920 zum Ende der Koalition aus Sozialdemokratischer Arbeiterpartei Deutschösterreichs und Christlichsozialer Partei.


Abb. 3: Wiener Caricaturen 15. Juni 1920, » S. 1

Diese Krise kommentierte die Neue Freie Presse bezeichnend mit dem Titel » Koalition ohne Koalition: „Unter allen Krisen, welche die parlamentarische Geschichte aufweist, ist die jetzige in Oesterreich wohl eine der seltsamsten. […] Die jetzige Nichtkoalition heißt Kooperation und das frühere Koalitionsprogramm ist verwandelt in ein Arbeitsprogramm. Wem solche Wortklaubereien Freude machen, der möge sich ihrer bedienen […]. Ist die vorzeitige Auflösung wirklich notwendig? Entweder die Parteien verständigen sich, dann kann die Nationalversammlung ihr natürliches Lebensende finden, wie das Gesetz es vorsieht. Oder aber, sie verständigen sich nicht, und die Gegensätze bleiben. Was sollte dann die Auflösung helfen? Wird in den Wahlen eine so grundstürzende Veränderung erfolgen, daß eine der großen Parteien aufs Haupt geschlagen und in hoffnungslose Minderheit versetzt wird; ist nicht viel eher anzunehmen, daß trotz der natürlichen Schwankungen, trotz Sieg oder Niederlage die Gesamtansicht des Hauses dieselbe bleibt?“


Abb. 4: » Brot Arbeit Ordnung. Werbung, Nationalratswahl 1920, 1920.10.17, Demokratische Partei.


Abb. 5: » Wählet die Grossdeutsche Volkspartei. Werbung, Nationalratswahl 1920, 1920.10.17, Großdeutsche Volkspartei

Und genauso, wie in dem Artikel prognostisch angenommen wurde, änderten die vier Monate später stattfindenden Wahlen wenig an der Stimmenverteilung. Wie beschrieben, hatte diese geringfügige Verschiebung keine Änderung der Gesamtansicht zur Folge, aber sehr wohl in Hinsicht auf die parteipolitischen Vorzeichen auf Regierungsebene.

Die erste Nationalratswahl – Ergebnisse und Erkenntnisse

„Im allgemeinen sind es dieselben Männer wie vor zwei Jahren, die sich um die Mandate bewerben, nur wenige haben sich freiwillig aus dem politischen Leben zurückgezogen“, wie die » Illustrierte Kronen Zeitung das Angebot am Wahltag resümierte. Die BürgerInnen konnten am 17. Oktober 1920 aber aus dem gesamten Spektrum der politischen Bewegungen auswählen und sogar neu antretenden Parteien ihre Stimme geben. Die Kommunisten und Monarchisten standen beispielsweise zum ersten Mal zur Wahl. Auf politischer Ebene sind Wahlen der Gradmesser der Kräfteverhältnisse der Parteien, aber seitens der Öffentlichkeit wurde bei dieser Wahl mit keinen großen Überraschungen im Wahlergebnis gerechnet.


Abb. 6: » So war das Wahlresultat 1919! Wählet christlichsozial, Werbung, Nationalratswahl 1920, 1920.10.17, Christlichsoziale Partei


Abb. 7: » So habe ich das Christentum nicht gemeint! Werbung, Nationalratswahl 1920, 1920.10.17, Sozialdemokratische Arbeiterpartei


Abb. 8: Illustrierte Kronen Zeitung, 17.10.1920, » S. 1.

Und am Ende blieb die » Parteienlandschaft im ersten Nationalrat auch überschaubar; jedoch löste die Christlichsoziale Partei die Sozialdemokraten als stärkste Fraktion ab. Eine einfachere Regierungsbildung und Regierungsarbeit folgten daraus allerdings nicht. Der Staats-Kanzler vor den Wahlen, der christlichsoziale Politiker Michael Mayr, der einer Proporzregierung vorstand, wurde – nach ergebnislosen Verhandlungen zu einer Regierungsbildung unter dem Wiener Polizeipräsidenten Johann Schober – erster Bundeskanzler der Republik Österreich durch eine Koalition von Christlichsozialer Partei und Deutschnationalen.


Abb. 9: Österreichische Illustrierte Zeitung, 28.11.1920, XXX. JG Heft 9, » S. 110.

Ein interessantes Detail der ersten Nationalratswahl sei in diesem Zusammenhang noch besonders hervorgehoben. Die Wahlniederlage der Sozialdemokraten war maßgeblich auf das Wahlverhalten der erst seit Kurzem » stimmberechtigten Frauen zurückzuführen. „Im Zeichen der Frau stand der letzte Wahlsonntag. [...] Bei den Christlichsozialen [haben] rund 50.000 Frauen mehr als Männer gestimmt, bei den Großdeutschen rund 1.000 Frauen mehr als Männer ihre Stimme abgegeben. Die Statistik bringt hier die herrschende Tendenz der Wählerinnen, durch ihre Stimmen die Parteien der bürgerlichen Ordnung zu stützen, klar zum Ausdruck und einen weiteren interessanten Einblick in die Wahlpsychologie gewährt ferner das sozialdemokratische Frauenstimmenverhältnis im Vergleich zu dem christlichsozialen und teilweise auch großdeutschen Frauenstimmenverhältnis, aus dem hervorgeht, daß zweifelsohne ein erheblicher Teil von Frauen sozialdemokratisch organisierter Wähler nicht für die sozialdemokratische, sondern für eine der bürgerlichen Listen stimmten.“ Die Frau, 23.10.1920, » S. 1-2.


Abb. 10: Frauen und Männer bei der Stimmabgabe in Wien. Das interessante Blatt, 21.10.1920, » S. 1.

Vielleicht verlieh der Appell an die Verpflichtung zur Wahl, wie sie beispielsweise in der Illustrierten Mädchenzeitung für Katholiken eingemahnt wurde, mehr Nachdruck als die offenbar weniger glückbringende Agitation der Rauchfangkehrer auf sozialdemokratischer Seite.


Abb. 11: Illustrierte Mädchenzeitung, Nr. 10/11 1920, » S. 116.


Abb. 12: Das interessante Blatt, 21.10.1920, » S. 10.

Die Aktivierung der weiblichen Wählerschaft gelang in den jeweiligen politischen Lagern mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Die Frauen waren bei der ersten Nationalratswahl der Republik Österreich jedoch das Zünglein an der Waage.

Zum Thema digital:

ANNO – AustriaN Newspapers Online:

Berichterstattung zum Wahltag

Das interessante Blatt, 21.10.1920

Das interessante Blatt, 18.11.1920

Wiener Caricaturen 15. Juni 1920

Illustrierte Kronen Zeitung, 17.10.1920

Illustrierte Mädchenzeitung, Nr. 10/11 1920

Österreichische Illustrierte Zeitung, 28.11.1920, XXX. JG Heft 9

Ariadne: Frauen wählet! - 100 Jahre Frauenwahlrecht

ALEX – Historische Rechts- und Gesetzestexte Online:
Staatsgesetzblatt 1918-1920, 140. Stück Nr. 451

Haus der Geschichte Österreich:
Franz Schausberger: Bundes-Verfassungsgesetz
https://hdgoe.at/bundes-verfassungsgesetz

100 Jahre Nationalratswahlen: Wie haben sich die WählerInnen verhalten?
https://wahlen.hdgoe.at/

Literatur zum Thema analog:

Denscher, B. (1981). Wahlkämpfe in der Ersten Republik : Die Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung 1919 und die Nationalratswahlen 1920 – 1930. 1193989-C Neu Mag

Bennersdorfer, E. (2002). Kampf der Symbole: Plakate zu den Nationalratswahlen Erste Republik Österreich. 1642030-C FLU

Ermacora, F., & Kelsen, H. (1982). Die österreichische Bundesverfassung und Hans Kelsen : Analysen und Materialien ; zum 100. Geburtstag von Hans Kelsen. Wien: Braumüller. 1141444-B.4 Neu Mag

Schefbeck, G., & Österreichische Parlamentarische Gesellschaft. (1995). 75 Jahre Bundesverfassung : Festschrift aus Anlaß des 75. Jahrestages der Beschlußfassung über das Bundes-Verfassungsgesetz (Edition Juristische Literatur). Wien: Verl. Österreich, Österr. Staatsdr. 1449156-B  Neu Mag

Über den Autor: Mag. Franz Halas ist Mitarbeiter der Abteilung Kundenservices, Leserberatung und Schulungsmanagement der Hauptabteilung Benützung und Information.

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