Brauns Anwalt präsentiert eigene Ermittlungen

„Gleich erfahren Sie, wie es wirklich war“: die alternative Realität im Wirecard-Prozess

Der Strafverteidiger Alfred Dierlamm (ganz links) erzählt den Wirecard-Skandal neu. Rechts neben ihm sein Mandant, der ehemalige Wirecard-Chef Markus Braun.

Der Strafverteidiger Alfred Dierlamm (ganz links) erzählt den Wirecard-Skandal neu. Rechts neben ihm sein Mandant, der ehemalige Wirecard-Chef Markus Braun.

Artikel anhören • 5 Minuten

München. Es ist der Verhandlungstag, an dem der Wirecard-Skandal umgeschrieben werden soll. „Gleich erfahren Sie, wie es wirklich war“, sagt Rechtsanwalt Alfred Dierlamm. Mit diesen Worten betritt er den Gerichtssaal, in dem seit Ende 2022 gegen seinen Mandanten Markus Braun als mutmaßlichen Kopf einer Betrügerbande verhandelt wird. Einen großen Beweisantrag hat der erfahrene Strafverteidiger angekündigt. Er soll die Unschuld Brauns beweisen und die wahren Täter entlarven. Groß ist er auf alle Fälle. Allein die 26-seitige Zusammenfassung trägt Dierlamm über mehrere Stunden vor. Insgesamt 1500 Seiten dick ist der Packen, den er dem Gericht unter Richter Markus Födisch übergibt. Wenn es wahr ist, was darin steht, zeichnet Brauns Verteidiger in der Tat eine neue Geschichte des Wirecard-Skandals.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Die geht so: Wirecard war keine in weiten Teilen nur erfundene Firma. „Es gab das Geschäft, es gab die Milliarden“, glaubt Dierlamm beweisen zu können. Aber das Geld wurde am einstigen Dax-Konzern vorbei auf kriminelle Weise in davon unabhängige Schattengesellschaften gelenkt. Veruntreut wurden dabei insgesamt mindestens 2 Milliarden Euro.

Um das beweisen zu können, haben Dierlamm und sein Team bergeweise Kontoauszüge und E-Mails ausgewertet, die von Gericht und Staatsanwaltschaft bislang sträflich ignoriert worden seien. Am Ende sei man mit den eigenen Ermittlungen bei Weitem noch nicht, stellt der Anwalt klar. Von über einer halben Million E-Mails habe man zum Beispiel erst ein Fünftel auswerten können. Am aufschlussreichsten seien dabei die des Mitangeklagten Oliver Bellenhaus, der im Prozess auch als Kronzeuge fungiert und eine ganz andere, zur Anklage der Staatsanwalt passende Realität beschreibt.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Klar sei beim Aufdecken des Wirecard-Skandals in Eigenregie eines geworden. „Es gibt keinen Hinweis, dass Herr Braun eingeweiht war“, betont Dierlamm. An keiner der anrüchigen E-Mail-Korrespondenzen sei sein Mandant beteiligt gewesen. Alles sei vor ihm und anderen Vorständen geheim gehalten worden – mit einer Ausnahme. Das war der flüchtige Ex-Vorstand Jan Marsalek, der in Dierlamms Version in Wahrheit der wahre Kopf einer Verbrecherbande gewesen ist. Assistiert habe ihm Kronzeuge Bellenhaus, der Staatsanwaltschaft und Gericht mit Lügen bislang erfolgreich aufs Glatteis geführt habe.

Wenn es spannend wird, verschwindet die Kommunikation auf Telegram

Ein paar Schönheitsfehler hat die spektakulär klingende Neuschreibung des Wirecard-Skandals aber. Beim Durchforsten des E-Mail-Verkehrs sei man auf „erschwerte Umstände“ gestoßen, sagt Dierlamm. Die mutmaßlich auf Verabredung schwerer Straftaten zielende Kommunikation zwischen Marsalek, Bellenhaus und Kumpanen breche leider stets an der Stelle ab, wo man beginnt, über sensible Inhalte zu sprechen. „Lass uns auf Telegram wechseln“, zitiert Dierlamm eine E-Mail. Wie es auf dem Messengerdienst dann weiterging, ist nirgendwo dokumentiert.

Ehemaliger Wirecard-Chef Markus Braun verantwortet sich vor Gericht
08.12.2022, Bayern, München: Der früheren Wirecard-Vorstandschef Markus Braun sitzt zum Prozessauftakt auf der Anklagebank im Gerichtssaal. Verhandelt wird in einem unterirdischen Sitzungssaal neben der JVA München-Stadelheim. Knapp zweieinhalb Jahre nach dem Kollaps des Wirecard-Konzerns hat am Donnerstag der Strafprozess im mutmaßlich größten Betrugsfall der deutschen Nachkriegsgeschichte begonnen. Foto: Peter Kneffel/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Zweieinhalb Jahre nach der Pleite des Finanzdienstleisters hat in München der Prozess gegen Ex-Chef Braun und zwei weitere frühere Manager begonnen.

„Alles, was Fleisch an die Knochen bringt, wurde dann über Telegram abgewickelt“, vermutet Dierlamm. Aber man könne sich denken, was da besprochen wurde. Denken kann man sich in der Tat vieles. Nach zwingendem Tatsachenbeweis, wie von Dierlamm angekündigt, klingt das weniger.

Als Verdachtsmoment gegen Bellenhaus führt Brauns Verteidigung ins Feld, dass dieser viele seiner E-Mails gelöscht habe. Seine E-Mail-Partner haben das aber nicht, weshalb man die Löschungen nachvollziehen könne. Als Kronzeuge unglaubwürdig sei Bellenhaus schon wegen der Datenlöschung. Alle „externen Strukturen“, die Dierlamms Team aufgedeckt haben will, hätten zudem unter Kontrolle von zwei Personen gestanden. Das seien Marsalek und Bellenhaus gewesen.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige
Die andere Wahrheit

Die anklagende Staatsanwaltschaft zeichnet ein völlig anderes Bild des Wirecard-Skandals, als es die Verteidigung des Hauptangeklagten Markus Braun tut. Nach Erkenntnissen der Ermittler war Braun nicht Opfer, sondern Täter und Kopf einer Betrügerbande. Die hat demnach weite Teile des angeblichen Wirecard-Geschäfts nur erfunden. Es hat in dieser Variante ebenso wenig je existiert wie 1,9 Milliarden Euro, die auf Wirecard-Treuhandkonten hätten liegen sollen. Angeklagt sind im Münchner Strafprozess neben dem ehemaligen Konzernchef Braun auch dessen Ex-Chefbuchhalter Stefan E. und der ehemalige Wirecard-Statthalter in Dubai, Oliver Bellenhaus. Er hat zugegeben, als Teil einer Bande Geschäfte in großem Umfang frei erfunden zu haben, und fungiert im Prozess als Kronzeuge. Zeugen, die im Prozess aufgetreten sind, und Ermittlungen des Wirecard-Insolvenzverwalters stützen die Tatversion der Staatsanwälte.

Der vermeintliche Kronzeuge wäre damit in Wahrheit ein besonders raffinierter Haupttäter. Über die von ihnen aufgebauten Schattenstrukturen hätten er und Marsalek in großem Stil und über Jahre hinweg Provisionen der Händler abkassiert, die eigentlich Wirecard als Zahlungsdiensleister zugestanden hätten. „Das war eine Gelddruckmaschine für die Bande“, sagt Dierlamm. Mit Scheinverträgen, gefälschten Bankbestätigungen und virtuellen IBAN sei dabei gearbeitet worden.

Was aber war mit den angeblichen Wirecard-Treuhandkonten, auf denen am Ende 1,9 Milliarden Euro hätten liegen sollen, aber es nicht taten? Um sie drehen sich große Teile des Prozesses. Auch dafür hat Dierlamm eine Erklärung. Um ihre Betrügereien nicht nur vor Aktionären und Öffentlichkeit, sondern auch vor Braun zu vertuschen, habe die Bande um Marsalek und Bellenhaus nicht nur die Existenz dieser Treuhandmilliarden, sondern auch dahinter stehender Geschäfte trickreich erfunden.

Mehrere Hundert Einzelbeweisanträge hat Dierlamm an das Gericht gestellt, um all das zu verifizieren. Geht das Gericht allem nach, dürfte das den schon jetzt bis ins Jahr 2024 hineinreichenden Prozess um viele Monate verlängern. Sollten sich diese Beweise am Ende als stichhaltig erweisen, wäre der Wirecard-Skandal in der Tat ein anderer.

Mehr aus Wirtschaft

 
 
 
 
Anzeige
Anzeige

Top Themen

Energiekosten
 
49-Euro-Ticket
 
Weitere Top-Themen

Spiele entdecken