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Dioxin-Skandale: Das Überall-Gift

Foto: epa apa Herbert P. Oczeret/ dpa

Dioxin-Skandale Das Überall-Gift

Ob Kunststoffe, Konservierungsstoffe oder Kühlmittel: Viele unserer Wohlstandsgüter wurden teuer erkauft - mit dem Abfallprodukt Dioxin. Im Zweiten Weltkrieg sollte das Gift als Chemiewaffe eingesetzt werden. Doch erst in den Siebzigerjahren erlangte es traurige Bekanntheit. Eine Skandal-Chronik.

Es war eine bizarre Verwandlung, die der ukrainische Oppositionspolitiker Wiktor Juschtschenko im Herbst 2004 durchlebte. Kurz zuvor war er noch bei bester Gesundheit gewesen, doch von einer Nacht auf die andere hatte ihn ein mysteriöses Gebrechen heimgesucht. Es schien seinen Körper von innen zu zerfressen. Der Politiker litt unter Entzündungen von Magen, Dünndarm und Bauchspeicheldrüse, die Leber war geschwollen, ein Gesichtsnerv gelähmt.

Wie heftig die Krankheit in seinem Körper wütete, davon zeugen verstörende Porträts des ukrainische Präsidentschaftskandidaten, die damals um die Welt gingen. Sein Gesicht war eine verquollene Maske voller tiefer Krater, die Haut zäh und dick wie Leder, an manchen Stellen schmutzig blau und lila verfärbt.

Wochenlang rätselten Ärzte und Öffentlichkeit über die Gründe für die plötzliche Erkrankung Juschtschenkos. Am 11. Dezember gab es endlich Gewissheit: Der Politiker war mit Dioxin vergiftet worden.

Vom Wundermittel zum Schrecken der Industrienationen

Der in vielen Verbindungen hochtoxische Stoff fristete jahrzehntelang ein Schattendasein. Kaum jemand wusste um die Gefahren, die von ihm ausgingen - bis zum Juli 1976. Damals gingen schockierende Bilder um die Welt. Sie zeigten Kinder mit entstellten Gesichtern. Sie litten an der sogenannte Chlorakne - demselben Ausschlag, der fast 30 Jahre später Juschtschenko zeichnen sollte.

In der italienischen Kleinstadt Meda waren bei einer Explosion auf dem Gelände der Chemiefabrik Icmesa etwa zwei Kilo eines Dioxins mit dem sperrigen Namen 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin, kurz TCDD, freigesetzt worden. Die scheinbar kleine Menge giftigen Staubes genügte, um sechs Quadratkilometer besiedeltes Gebiet zu verseuchen.

Der unsichtbare Tod

Die Gemeinden Seveso, Meda, Desio und Cesano Maderno wurden in der Folge zum Schauplatz eines apokalyptischen Szenarios. Vögel fielen tot zu Boden, Pflanzen verdorrten, Bäume warfen mitten im Sommer ihr Laub ab. Tausende Weidetiere, die das vergiftete Gras fraßen, verendeten elendig. Rund 200 Menschen erkrankten an Chlorakne, mehr als 500 Anwohner wurden evakuiert. Das TCDD erlangte als "Seveso-Gift" traurige Berühmtheit.

Dabei galt die Produktion der sogenannten Halogenkohlenwasserstoffe, kurz HKW, bei deren Herstellung Dioxine entstehen, lange Zeit als Wohlstandsmesser für die westliche Welt. In verschiedenen Verbindungen fanden sie sich in Kunststoffen, machten Lebensmittel haltbarer, steckten als Treibgas in Sprühdosen, als Kältemittel in Kühlschränken, dienten als Pflanzen- und Insektenvernichter oder Holzschutzmittel.

Das einzige Problem: Als Abfallprodukte entstehen bei der Verbindung der HKW auch immer Dioxine. Die todbringende Wirkung der unerwünschten Nebenprodukte war den Chemikern dabei nicht entgangen. Wie hätte sie auch? Die Heilsbringer der Nachkriegsindustrie hatten ihren Ursprung in den Giftküchen des US-Militärs. In Fort Detrick im Bundesstaat Maryland forschten Chemiker an einem Stoff, der Bäume entlauben und Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, Reis und Weizen vernichten sollte.

Wettlauf mit der Atombombe

Nachdem rund 1100 Verbindungen getestet worden waren, gingen kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs zwei neue chemische Waffen in Produktion. Die Herbizide LN-8 und LN-14 enthielten als Nebenprodukt der Herstellung Dioxine. Mitte 1945, nachdem Deutschland bereits kapituliert hatte, machte sich in den USA ein Frachter auf den Weg nach Japan, an Bord genug Gift, um 30 Prozent der dortigen Reisernte zu vernichten. Doch eine andere Gruppe von Wissenschaftlern war den Chemikern in Fort Detrick mit ihrer Lösung für ein schnelles Kriegsende zuvorgekommen: Als im August 1945 die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki explodierten, drehte das Schiff ab.

Nach dem Krieg empfahl George W. Merck, der US-Sonderbeauftragte für biologische Kriegführung, die Ergebnisse der Forschung für öffentliche Gesundheit, Landwirtschaft, Industrie und Naturwissenschaften zu nutzen. Er sprach dabei von einem "großen und bleibenden Wert für das menschliche Wohlergehen". Und so geschah es auch - doch erst dem Seveso-Unglück wurde der Blick der Öffentlichkeit darauf gelenkt, zu welchen Preis sie sich ihren Wohlstand erkauft.

Wissenschaftler schätzen, dass die tödliche Dosis für Menschen bei einem tausendstel Gramm pro Kilo Körpergewicht liegt, im Tierversuch wirkte das Seveso-Gift schon bei einem millionstel Gramm tödlich. Dioxine gelten zudem als krebserregend, schädigen Immun- und Nervensystem und verändern das Erbgut. Zudem hat das Gift eine extrem lange Halbwertszeit von etwa zehn Jahren. Außerdem ist es lipophil, wird also im Fettgewebe eingelagert und kann sich dort anreichern.

Einsatz in Vietnam

Die Veröffentlichung dieser Erkenntnisse in den achtziger Jahren machten Dioxine zu einem der wichtigsten Umweltthemen der damaligen Zeit. "Überall ist Seveso", titelte der SPIEGEL im Mai 1983 - und es schien wirklich so. Denn als die Auswirkungen des Seveso-Giftes an die Öffentlichkeit gelangten, begannen Wissenschaftler und Betroffene überall auf der Welt Zusammenhänge herzustellen.

Die Herbizide LN-8 und LN-14 etwa verschwanden nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs für immer in den Giftkammern der Militärs. Unter dem Namen "Agent Orange" kamen die Erkenntnisse der Forscher 17 Jahre, nachdem der Giftfrachter vor Japan umgedreht hatte, doch noch zum Einsatz.

Abermillionen von Litern des Entlaubungsmittels wurden während des Vietnam-Kriegs über dem Dschungel versprüht - mit schrecklichen Konsequenzen für Einheimische und US-Soldaten. Laut einem SPIEGEL-Bericht von 1991 wurde trotz Warnungen der Wissenschaftsabteilung des Pentagon auf Pressekonferenzen weiter behauptet, das "Agent Orange" getaufte Herbizid sei "nicht giftiger als Aspirin". Der Vietnam-Krieg geriet zum chemischen Langzeitexperiment.

Das Gift ist überall

Bis heute liegt die Krebsrate in den mit Agent Orange bombardierten Teilen Vietnams um ein vielfaches höher als der Durchschnitt, und noch immer kommen in den belasteten Gebieten Kinder mit schweren Fehlbildungen zur Welt. In den USA litten rund 200.000 Vietnam-Kriegsveteranen an den Spätfolgen der Dioxin-Vergiftung.

Und die Seveso-Erkenntnisse zogen immer weitere Kreise. In den USA wurde 1978 das Stadtviertel Love Canal in Niagara Falls, New York, zum Katastrophengebiet erklärt. Zwischen 1920 und 1952 fungierte dort der Graben eines gescheiterten Kanalbauprojekts als Mülldeponie für die florierende Chemieindustrie. Zehntausende Kubikmeter Giftmüll wurden in der Grube verklappt, bevor 1957 erst eine Schule, später eine Siedlung auf dem Gelände errichtet wurde.

Erst nach Seveso erkannte die Regierung, dass das Gelände hochgradig mit Dioxin verseucht war, bis heute ist der Stadtteil ein Niemandsland. 1983 dann wurde die US-Kleinstadt Times Beach in Missouri evakuiert, weil deren unbefestigten Straßen zwischen 1972 und 1976 mit dioxinverseuchtem Altöl besprüht worden waren, um zu verhindern, dass Staub aufgewirbelt wird.

Aspirin gegen Dioxin

Doch die Deutschen mussten zu diesem Zeitpunkt gar nicht nach Übersee schauen, um von den Gefahren des Seveso-Gifts schockiert zu sein. Sie hatten die Dioxin-Skandale direkt vor der Haustür. So kam 1984 heraus, dass 1953 ein Chemieunglück bei BASF in Ludwigshafen, bei dem ein Arbeiter starb, auf den Dioxinaustritt aus einem Druckbehälter zurückzuführen war. Außerdem wurde festgestellt, dass Kieselrot, vielerorts als Belag für Sport- und Spielplätze verwendet, mit Dioxin belastet war.

Weit größere Wellen schlug jedoch der Eklat um die Chemiefabrik der Firma Boehringer in Hamburg-Billbrook. Dort waren Arbeiter jahrzehntelang bei der Herstellung von Pflanzenschutzmitteln entstehendem Dioxin ausgesetzt. Statt geeigneten Schutzvorkehrungen bekamen die Boehringer-Angestellten beruhigende Worte und zwei Aspirin pro Schicht gegen die Kopfschmerzen, die täglich bei der Arbeit in der Fabrik auftraten.

Unter den Arbeitern lag die Krebssterblichkeit um 25 Prozent höher als der Durchschnitt der Bundesrepublik - die Selbstmordrate um 62 Prozent. Denn außer an Krebs litten viele Boehringer-Angestellte unter Leberschäden, Bronchitis, Hirnschrumpfung, chronischen Darmerkrankungen und Depressionen.

Eine Fabrik aus Giftmüll

1984 wurde das Werk für immer geschlossen und Stein für Stein als Giftmüll entsorgt. Der Alptraum ist damit aber noch lange nicht vorbei. Noch Anfang der neunziger Jahre plagen Anwohner in Billbrook die Folgen der Dioxinverseuchung. Im SPIEGEL vom September 1990 klagt ein Malermeister über ständige bohrende Kopfschmerzen, Haarausfall und Bauchweh. Die Gänse, die der Hobby-Geflügelzüchter hielt, mussten nach einer Untersuchung auf Dioxin als toxischer Abfall entsorgt werden.

Auch heute noch ist Dioxin überall. Es entsteht als Abfallprodukt bei vielen chemischen Prozessen, bei der Müllverbrennung, beim Recycling und der Energiegewinnung durch Kohlekraftwerke. Doch das Bewusstsein für die Gefahren ist geschärft. Chemiefabriken und Abfallentsorgungsanlagen sind mit hocheffizienten Filtersystemen ausgestattet. Die Menge des Giftes wird bei der Beseitigung in Verbrennungsöfen bei einer Temperatur von 1200 Grad um ein Vielfaches reduziert.

Dennoch vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht Dioxin-Skandale die Bevölkerung aufschrecken lassen. Diese haben allerdings bei Weitem nicht mehr das Ausmaß von Katastrophen wie in Seveso. Während in Italien 1976 innerhalb weniger Tage Tausende Tiere verendeten, warnt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung beim aktuellen Skandal um verseuchtes Tierfutter sogar vor Panikreaktionen. Für einen gesunden Erwachsenen stelle der tägliche Verzehr eines mit Dioxin belasteten Eis kein gesundheitliches Risiko dar.

Anmerkung der Redaktion: Im Text hieß es ursprünglich, dass Anfang der Achtziger aufgedeckt wurde, dass Boehringer während des Vietnam-Kriegs Chemikalien für die Herstellung von Agent Orange produziert hatte. Dies lässt sich nicht belegen. Boehringer Ingelheim stellt gegenüber dem SPIEGEL klar, dass sie niemals Agent Orange hergestellt oder durch Vorprodukte oder Grundstoffe zu dessen Herstellung beigetragen haben.