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Kult-Zeichentrickserie "Heidi": Geissenpeter, Berge und das große Glück

Foto: ddp images

Kult-Zeichentrickserie "Heidi" Alpenglück, made in Japan

In den Siebzigern eroberte ein Mädchen von der Alm die Herzen der Deutschen: "Heidi" brachte Heimatfilm-Idyll ins Kinderprogramm. Dabei verdankten die Deutschen die Kleine mit den Kulleraugen zwei Japanern. Und Astrid Lindgren.

Saftiges Grün, knallrote Dachziegel, ein Dörfchen, eingeschmiegt zwischen dem Ufer des Sees und schroffen Felswänden. Ein Bergmassiv, das den Himmel zu tragen scheint wie ein blaues Zelt. Mit einem Schwung gleitet die Alpenlandschaft unter der Schaukel dahin. Als ob die Seile an eben diesem Himmelszelt befestigt wären. Das Mädchen auf der Schaukel jubelt vor Glück und holt noch einmal Schwung. Unter ihr gleitet wieder die Idylle vorbei. Eine Idylle, die perfekter nicht sein könnte - und im Hintergrund beginnen zwei Frauen zu jodeln.

"Heidi, Heiiidiii! Deine Welt sind die Berge!" - Woche für Woche juchzten in den Siebzigerjahren die beiden Schlagerstars Gitti und Erika voller Inbrust diese Zeilen, die damals jedes Kind in Deutschland kannte. Genau wie die dunkelhaarige Titelheldin, die im Vorspann der Zeichentrickserie mit Zicklein und Ziegenhirt um die Wette hüpft, während um sie herum die Schönheit der Alpen im Wechsel der Jahreszeiten erstrahlt: Die Blätter fallen, Schnee fällt, Blüten fallen - und das Mädchen mit den Kulleraugen tanzt und tanzt und tanzt.

Am 18. September 1977 strahlte das ZDF zum ersten Mal die Zeichentrickserie "Heidi" aus. Genauer gesagt: eine Übersetzung von "Arupusu no shojo Haiji" (hier das originale Titellied auf Youtube ) - zu Deutsch: "Heidi, das Mädchen aus den Alpen". Der gezeichnete Heimatfilm-Import aus Japan sollte in den folgenden Jahren zu einer der ungewöhnlichsten Erfolgsgeschichten im deutschen Kinderfernsehen werden.

Die Serie, die das ZDF von 1977 bis 1978 ausstrahlte, schien urdeutsch. Tatsächlich wurde Heidi zur Heldin einer ganzen Generation deutscher Kinder, die mit Heidi-Puppen spielten und abends selig in ihrer Heidi-Bettwäsche einschlummerten. Beinahe hundert Jahre vor der Zeichentrickversion war 1880 der Roman der Schweizer Autorin Johanna Spyri erschienen: "Heidis Lehr- und Wanderjahre", ein Jahr darauf kam "Heidi kann brauchen, was es gelernt hat" heraus. Die Geschichte um ein Waisenkind, das in der Obhut eines grummeligen Großvaters seine Liebe zu den Bergen entdeckt, wurde ein Klassiker des Jugendromans. Neben Wilhelm Tell ist Spyris Naturmädchen Heidi bis heute das literarische Identifikationsobjekt der Schweiz. Es ist in Comics und Musicals ebenso aufgetreten wie in Sexfilmchen und Hollywood-Adaptionen.

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Doch die Heidi-Manie der Siebzigerjahre verdankt das Alpenmädchen der Liebe zweier Japaner. Bis heute hat kaum eine der diversen Interpretationen das internationale Bild der Heidi so sehr geprägt wie die Zeichentrickserie. Das Idyll vom Dörfli, dem fiktiven Heimatort Heidis in der Schweizer Gemeinde Maienfeld, verzaubert auch 40 Jahre nach der Erstausstrahlung in Japan noch. Das Zeichentrick-Grün der Alm, in den Köpfen von Heidi-Fans ist es längst mit dem der Alm des Romans verschmolzen.

Animatoren im Alpenland

Die beiden japanischen Ziehväter des Alpenmädchens, Isao Takahata und Hayao Miyazaki, hatten sich bereits 1971 auf eine Recherchereise nach Europa begeben, die eigentlich gar nichts mit "Heidi" zu tun hatte: Miyazaki und sein sechs Jahre älterer Mentor Takahata waren mit der Produktion einer Anime-Adaption von Astrid Lindgrens "Pippi Langstrumpf" beauftragt worden.

Doch bei einem Treffen mit den Japanern weigerte sich Lindgren, ihre Geschichte für die Serie freizugeben. Ein neues Projekt musste her. Und auf das stießen sie durch reinen Zufall: Just zu dieser Zeit gab nämlich Fernsehmagnat Leo Kirch gerade den Auftrag, eine "Heidi"-Fernsehserie zu produzieren - und zwar an das japanische Anime-Studio Zuyio, den Auftraggeber von Takahata und Miyazaki.

Und so brachen die beiden Zeichentrick-Künstler im Juli 1973 zu einer erneuten Recherchereise nach Europa auf. Als sie zum ersten Mal Maienfeld betraten, einen 2500-Einwohner-Ort in Graubünden in der Schweiz, wurden sie von leuchtenden Farben begrüßt: dem Rot der Dächer, dem Grün der Wiesen, die Millionen Kinder später mit ihrer Heidi verbinden würden. Und genau wie die Romanfigur Heidi waren auch die beiden Japaner bei ihrer Ankunft überwältigt von dem Panorama der Berge.

Isao Takahata verschlang das Buch von Johanna Spyri förmlich - genau wie viele andere Japaner: Während des Aufstiegs zur Industrienation nach dem 2. Weltkrieg sehnte sich ein Großteil des Inselstaats nach Vereinfachung, einem Zurück zur Ursprünglichkeit der Natur. Vor diesem Hintergrund begeisterte Spyris Alpenidyll die japanischen Leser. Sie fanden sich selbst wieder in dem Waisenmädchen Heidi, das sich, gegen seinen Willen in die Großstadt Frankfurt verschickt, nach den Bergen und dem Großvater sehnt. Heidi wurde zum Symbol für die Sehnsüchte der japanischen Seele.

Und diese Sehnsüchte befeuerten Isao Takahata und Hayao Miyazaki mit aller Energie: Miyazaki studierte in Schweizer Museen die Landschaftsmalerei des Künstlers Ferdinand Hodler, die seine Zeichenarbeit in "Heidi" stark beeinflussten. Hodlers klare, aufgeräumte Alpenpanoramen erkennt man auch in Miyazakis Hintergründen für die "Heidi"-Serie wieder. In Maienfeld und Umgebung saugten Regisseur Takahata und seine Begleiter die unverfälschte Natur in sich auf. Einen Monat lang dokumentierten sie ihre Entdeckungen mit Bild- und Tonaufnahmen. Jedes Haus, jede Wiese, die sie später daheim in Tokio zeichneten und animierten, entstammte einem realen Vorbild, das sie auf ihrer Reise zu Gesicht bekamen.

Das Mädchen mit den Kulleraugen

Dank dieser peniblen Recherchearbeit gelang Takahata und Miyazaki eine detailgetreue Nachbildung der Schweizer Natur, die in Japan Kultstatus erlangte und einen wahren Heidi-Boom auslöste. Zum enormen Erfolg der Serie trug auch die Verniedlichung der Hauptfigur bei. In den Siebzigern wurde die "Kawaii" genannte Charakterisierung mit Kulleraugen gerade zum Markenzeichen der Anime- und Mangakultur. Die "Heidi"-Serie wurde einer ihrer Vorreiter.

Neben Fans, die sich als Heidi kostümierten und "Heidi"-Themenparks nahe Tokio besuchten, beeinflusste das Alpenmädchen sogar die japanische Tourismusindustrie. Noch heute reisen Massen japanischer Heidi-Fans nach Graubünden, um in Maienfeld und Umgebung auf Spurensuche nach ihrem Idol zu gehen. Reisebusse karren Scharen von Touristen zu den Schauplätzen von Roman und Serie - etwa zum "Heidi's House - The Original" auf der Alm.

Dass die Serie auch in Deutschland Kultstatus erlangen würde, hätte Hayao Miyazaki nie erwartet. "Wir versuchten, die schweizerische Landschaft so realistisch wie möglich darzustellen. Aber als wir dann hörten, dass die Heidi-Filme in Europa im Fernsehen laufen sollten, bekamen wir große Angst, dass wir vielleicht Fehler gemacht hatten, die auffliegen könnten", gab der Zeichner 2010 in einem Interview mit der "Zeit" zu.

Doch die schlaflosen Nächte hätte er sich sparen können: Heidi avancierte zum Hit. Noch heute sind die Titelmelodie und Miyazakis Schaukelsequenz aus dem Intro in den Köpfen eines Millionenpublikums untrennbar mit Spyris Romanfigur verknüpft.

Ringelreigen auf dem Parkplatz

Heidis Schöpfer Hayao Miyazaki und Isao Takahata zog es nach dem Erfolg mit dem Alm-Märchen jedoch zu neuen Abenteuern. Sie gründeten 1985 ihr eigenes Animationsstudio - Ghibli. Mit Filmen wie "Prinzessin Mononoke" (1997), "Mein Nachbar Totoro" (1988) und "Die letzten Glühwürmchen" (1988) schrieben sie Zeichentrick-Geschichte. Und mit "Chihiros Reise ins Zauberland" (2001) gewann Miyazaki sogar einen Oscar. Mittlerweile zählt er zu Japans einflussreichsten Regisseuren.

Heidis Spuren sind auch noch im späteren Schaffen der beiden zu finden. In ihren Filmen beschäftigten sich Miyazaki und Takahata zwar oft mit japanischer Kultur, doch beständig konzentriert sich ein Großteil ihres Werkes auf die Entfremdung von Mensch und Natur - wie schon in "Heidi". Und bis heute sind auffällig viele ihrer Helden vor Energie sprühende Mädchen.

Hayao Miyazaki selbst hatte wirklich alles gegeben, um seiner Heldin diese überbordende Lebensfreude zu verleihen: Um den vergnügten Ringelreigen im Vorspann seiner Serie richtig hinzubekommen, war er 1973 in Tokio mit einem Kollegen auf den Parkplatz neben dem Studio hinausgetreten und hatte filmen lassen, wie die beiden Hand in Hand zwischen den Autos umhertanzten. Genau wie später Heidi und Geissenpeter auf dem Marktplatz von Maienfeld.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Textes hieß es, Leo Kirch habe die Rechte an "Heidi" an das japanische Anime-Studio Zuyio verkauft. Tatsächlich gab Kirch lediglich den Auftrag zur Produktion einer "Heidi"-Animationsserie an Zuyio.