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Kriegsende im Eichsfeld: Als die Amerikaner Desingerode beschossen

Foto: A9999 Db Adn/ DPA

Kriegsende im Eichsfeld Als die Amerikaner Desingerode beschossen

Genau einen Monat, bevor der Krieg aus ist, stehen US-Truppen am 8. April 1945 vor dem Dorf Desingerode im Eichsfeld. Die Einwohner hissen eine weiße Fahne, doch die Amerikaner können sie nicht sehen. So wird das überlaufene Dorf beschossen - mit tragischen Folgen.
Von Heinz-Georg Maring

Desingerode hatte wie die anderen Dörfer des Eichsfeldes unter den Wirren des Zweiten Weltkrieges zu leiden. Im Krieg sind 19 Desingeröder als Soldaten gefallen. Gegen Ende des Krieges war das kleine Dorf mit über 700 Einwohnern überfüllt. Aus allen Teilen Deutschlands waren die Menschen in die dörfliche Idylle geflohen, weit weg von den großen Bombardierungen wie es sie zum Beispiel in Hannover und Hildesheim gab.

Es war für die Desingeröder eine schwere Zeit, und doch kann gesagt werden das Desingerode vom Schlimmsten verschont wurde. Die Nahrungsmittelknappheit konnte durch das, was im eigenen Garten wuchs, ausgeglichen werden. Viele hatten aber auch ein Schwein im Stall, das dann - meistens schwarz - geschlachtet wurde. Ganz am Ende, als die Amerikanischen Truppen auch Desingerode besetzten, wurde der Krieg für das Dorf gefährlich und forderte auch unter der Zivilbevölkerung Opfer.

Vormarsch der Amerikaner

Am "Weißen Sonntag", dem 8. April 1945 hatte ein deutsches Korps in Desingerode Stellung bezogen, das durchaus Willens war, dem anrollenden Feind entgegen zu treten. Jedoch verließ die Abteilung der deutschen Wehrmacht gegen 23 Uhr das Dorf und zog Richtung Werxhausen ab. Am Morgen des 9. April 1945 stand die Spitze der US-Einheiten am Rand des Desingeröder Waldes und schaute auf den Ort.

Die 104. Infanteriedivision der 3. Armored Division der 1. Amerikanischen Armee hatte am 7. April 1945 die Weser bei Veckerhagen/Hemeln überwunden und am Mittag des 8. April 1945 Göttingen eingenommen. Von Sattenhausen über Himmingerode stießen die Truppen auf Desingerode vor. Vom Waldrand bei Werxhausen wurden sie von zurückweichenden SS-Einheiten beschossen. Daraufhin belegten die Amerikaner Desingerode mit Granatfeuer. Desingerode war der erste Ort im Altkreis Duderstadt, der von den Truppen der Vereinigten Staaten eingenommen wurde.

Der Beschuss des Dorfes

Elfriede S., die heute K. heißt und in Gelsenkirchen lebt, war damals Schulkind. Sie erzählt von dem Tag, als der Krieg nach Desingerode kam: "Der Morgen des 9. April 1945 war sehr nebelig. Die Leute im Dorf erzählten in diesen Tagen, das die Amerikaner bereits im Göttinger Wald lägen." Elfriede wohnte mitten im Dorf, gegenüber der Linde, zusammen mit Ihrem Vater, der Mutter Mathilde (53) und den Geschwistern, Anni, Hermann (5) und Hermine (11). Elfriede berichtet weiter: "Mein Vater befand sich bei seinem Vater 'auf dem Klimp', wo sie einen Militärwagen demontierten, den die deutschen Truppen zurückgelassen hatten."

Der Beschuss des Ortes begann um 9.30 Uhr. Davon berichtet Marianne T., die damals genau wie Elfriede S. Schulkind war: "Als die Amerikaner angefangen haben zu schießen, sind wir in einen selbstgebauten Bunker gekrochen, den ein Bekannter in einem nahegelegenen Garten gebaut hatte. Wir hatten großes Glück, denn nur einige Meter weiter schlug eine Granate ein."

Insgesamt 42 Schüsse hat der damalige Pfarrer des Dorfes, Ludwig D, gezählt. Die erste Salve traf einen Garten am Dorfrand. Die nächste schlug schon ein ganzes Stück näher, zwischen der Schule (heute Kindergarten) und dem Friedhof, ein. Grabsteine wurden beschädigt, sämtliche Fensterscheiben gingen zu Bruch.

Das Dorf ergibt sich

Bürgermeister Johannes Freckmann erkannte die große Gefahr für das Dorf. Er hisste zunächst am Kirchturm eine weiße Fahne, um den Amerikanern zu zeigen, dass im Dorf kein Widerstand geleistet werde. Der Beschuss wird aber fortgesetzt, weil vom Standpunkt der Amerikaner aus die Fahne nicht zu sehen ist. Man hatte die Angreifer aus Richtung Seulingen erwartet, so dass die Fahne in Richtung Norden zeigte. Die US-Truppen standen aber fast im Süden.

Pfarrer D. berichtet von den ersten Schäden im Dorf: "Zum größeren Unglück fiel der elektrische Strom aus, so das das Telefon nicht benutzt werden konnte. Auch die Wasserleitung war unterbrochen." Als der Beschuss noch mehr zunimmt, unternahmen Bürgermeister F. und sein Stellvertreter Ewald Z. eine gewagte und zugleich mutige Aktion. Sie gingen den amerikanischen Einheiten auf freiem Feld in Richtung Wald entgegen und zeigten ihnen die weiße Fahne. Zum einen konnten Sie jetzt von amerikanischen Geschossen getroffen werden. Zum anderen konnten aber auch treue Nazis diese Aktion als Verrat auslegen und auf sie schießen. Doch jetzt endlich hörte das Bombardement auf.

Die Opfer

Als nicht mehr geschossen wird, bot sich die Gelegenheit nachzuschauen, welche Schäden entstanden waren. Besonders schlimm hatte es genau den Dorfmittelpunkt - also den Bereich bei der Linde - getroffen. Elfriede S. berichtet: "Bis 10 Uhr wurde der Beschuss immer heftiger. Mutter legte mir ein Kissen über den Arm und sagte mir ich solle schon mal in den Runkelkeller hinter der Scheune gehen. Später habe ich bemerkt, dass in dem Kissen unsere Erstkommunionkleider verborgen waren. Mutter blieb mit Herrmann und Hermine im Wohnzimmer. Wo sich Anni befand kann ich nicht mehr sagen. Auf dem Hof wurde ich dann von einer Druckwelle zu Boden geschleudert."

Was Elfriede dann im Wohnzimmer vorfand war ein grausames Bild. Eine Granate hatte das Fenster durchschlagen und war im Wohnzimmer der Familie explodiert. Mathilde S. war ein Bein und ein Arm abgerissen worden. Ihren Sohn Herrmann hatte ein Granatsplitter im Nacken getroffen und getötet. Hermine war ebenfalls von Splittern getroffen worden und verblutet. Das letzte, was Elfriede von Ihrer sterbenden Mutter hörte, war: "Hol deinen Vater!" Später birgt man die Toten und Verletzten und trägt sie in die Schwesternstation der Vinzentinerinnen. Dort versuchen die Schwestern zu helfen. Maria Zwingmann, damals sechs Jahre alt berichtet: "Wir sind zum Schwesternhaus gegangen, durften aber die drei nicht sehen. Die Schwestern haben es uns verboten und uns in die Küche geschickt."

Zwei Stunden nach dem Beschuss, um 12.30 Uhr, stirbt Mathilde S. Kurz zuvor hatte man noch den Pfarrer zur ihr gerufen. Maria Z. berichtet weiter: "Die drei Toten hat man dann in die Kapelle der Schwesternstation gelegt." Ihr Mann, Ewald Z., ergänzt: "In der Mitte lag die Mutter und rechts und links die Kinder."

Das Dorf wird besetzt

Um 16 Uhr fuhren die ersten amerikanischen Soldaten mit zwei Jeeps, die mit je vier schwer bewaffneten Soldaten besetzt waren, im Dorf umher und erkundeten das Terrain. Gegen 17 Uhr rollte dann die gesamte Mannschaft im Ort ein. Entlang der Dorfstraße standen die Fahrzeuge. Sie sahen furchterregend aus, diese Soldaten. Sie trugen einen Stahlhelm auf dem Kopf und hielten Maschinenpistolen in den Händen. Ein besonderes Ereignis war für die Dörfler nun auch, "einen Neger" sehen zu können.

Manche Einwohner versteckten sich immer noch in den Kellern. Für das ganze Dorf wurde eine Ausgangssperre von 20 Uhr abends bis 6 Uhr morgens verhängt. Das Vorgehen der Amerikaner bei der Besetzung von Orten folgte immer dem gleichen Schema: Zunächst wurde ein Erkundungstrupp geschickt. Danach wurde der gesamte Ort (also alle Häuser) nach versteckten Wehrmachtssoldaten durchsucht. Es folgte die Besetzung von Häusern als Quartier für die Soldaten.

An der Grabenstraße mussten binnen zwanzig Minuten die Häuser geräumt werden. Die Bewohner mussten sich in dem von Menschen ohnehin überlaufenen Dorf eine neue Unterkunft suchen. Marianne T. war damals Schulkind und hieß B. Das Haus der B.'s stand an der Grabenstraße. Sie berichtet: "Wir hatten Glück, denn wir durften im Haus bleiben. Wir mussten aber das Erdgeschoss räumen und alle im Obergeschoss unterkommen. Die Soldaten waren zu uns sogar ganz freundlich. Ich erinnere mich noch, dass einer so ein dunkelhäutiger Typ war. Ein anderer war Lehrer. Der hat bei uns im Haus sogar Geige gespielt."

Tauschgeschäfte mit den Besatzern

Nicht alle Soldaten waren so freundlich. Oft waren Sie gegenüber der Bevölkerung auch schroff. Für die Kinder hatten Sie ein Herz. Häufig verschenkten Sie - oft in großer Menge - Schokolade, die es im Dorf schon lange nicht mehr gegeben hatte. Für Erwachsene fielen manchmal Zigaretten ab. Mancher Desingeröder machte mit den Soldaten auch Tauschgeschäfte.

Marianne T. berichtet weiter: "Bei Richard G. auf dem Hof hatten die Soldaten ihre Feldküche. Da sind wir Schulkinder immer hingegangen. Nicht wegen des Essens, sondern weil wir dort immer eine Schale mit allerlei Obst bekamen. Abends wollten die Soldaten dann was zum Trinken (Schnaps) von uns. Mein Vater hat Ihnen gesagt, dass wir so was nicht haben. Am zweiten Abend brachten die Soldaten dann zwei große Flaschen Schnaps (Whisky) mit ins Haus. Sie haben sogar mir - einem Schulkind - einen eingeschüttet." Und mit einem Schmunzeln fügt Sie hinzu: "Und den hab ich dann auch wirklich getrunken!"

"Das haben wir nicht gewollt!"

Außer den drei Toten hatte es im Dorf noch zwei Verletzte gegeben. Anni S. hatte Splitter im Bein und die Gastwirtin Klara F. wurde auf dem Weg zum Schutzkeller über einem Auge verletzt. Die Verwundeten wurden von den Amerikanern nach Göttingen ins Krankenhaus gebracht. , bei Klara F. konnte man die Verletzung noch im hohen Alter als Narbe erkennen.

Der Zimmermann Ewald Z. fuhr mit einem kleinen Ponywagen nach Duderstadt und holte die Särge für die Toten, die auf dem Friedhof bei der Kirche bestattet wurden. Marianne T. kann sich noch an zwei Bemerkungen amerikanischer Soldaten erinnern: "Das mit den Toten, das haben wir nicht gewollt", sagte einer. Von dem Geige spielenden Soldaten hörte sie: "Krieg ist nicht gut!"

Nach drei Tagen verließen die Soldaten das Dorf wieder. In den Häusern an der Grabenstraße lag viel Unrat. Manches nützliche Ding hatten die Soldaten mitgenommen.