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William T. Vollmanns Reisen Der Armutstourist

Wo andere Reisende Strände und Skylines bestaunen, guckt er in dunkle Ecken: Der US-Schriftsteller William T. Vollmann will wissen, was Armut bedeutet. Und hat Menschen überall auf der Welt danach gefragt.
Die Schneeschauflerbrigade "Moskwa" aus Atyrau

Die Schneeschauflerbrigade "Moskwa" aus Atyrau

Foto: William T. Vollmann

Was ist Armut? Bedeutet es, wenig oder kein Geld zu besitzen? Oder keine Lebensmittel? Keine Kleidung? Kein Zuhause? Oder ist arm, wer auch arm ist an Bildung, an Zukunft, an Hoffnung? Diese und ähnliche Fragen hat sich der Essayist William T. Vollmann gestellt. Und weil er die Antworten nicht wusste, hat er sich damit an die Menschen gewandt, die die Antworten am eigenen Leib spüren: "Arme Leute". So hat er auch seinen Reportagenband genannt. Diese Leute, das sind die thailändische Putzfrau Sunee, die Sexarbeiterin Angelica aus Mexico, Thunfisch-Fischer aus Schabwa, russische Bettlerinnen und Prostituierte aus Japan.

Um sie zu finden, ist er mehrere Jahrzehnte lang durch die Welt gereist und hat sich nicht für Sehenswürdigkeiten und Traumstrände interessiert, sondern für die Ecken, an denen sich Reisende eher selten aufhalten und Touristen lieber schnell vorbeigehen.

So wie in Khlong Toei, dem südlichen Stadtteil von Bangkok, mehr geplatzte Träume als Pflastersteine, ja ein "Labyrinth aus feuchten, abschüssigen Gehwegen". Durch das wankt Sunee. Sie ist betrunken. So wie immer in den vergangenen zwanzig Jahren. Vielleicht weiß sie deshalb nicht, wie viele Kinder sie gebar und wie das eigentlich passiert ist mit dem Trinken. Was sie weiß: Reich ist man, wenn man in seinem frühen Leben ein guter Mensch war, arm ist man, wenn man eben nicht so richtig gut war. Sunee zählt, findet sie, zu Letzteren.

Schriftsteller William T. Vollmann

Schriftsteller William T. Vollmann

Foto: PHILIPPE MERLE/ AFP

Vollmann besucht die Thailänderin immer wieder, auch ihre greise Mutter und die schulpflichtige Tochter, die so gern Lehrerin werden würde und es wahrscheinlich nicht wird.

Statt den Lesern Tränen über das harte Leben der Frauen aus den Augen zu locken, zeigt Vollmann seine Protagonistinnen als ambivalente Menschen. Märtyrerfiguren findet man in diesem Band nicht. Sunee ist alleinerziehend und alkoholsüchtig, arbeitet sich kaputt und ist eine wahnsinnig schlechte Mutter und auch sonst kein besonders sympathischer Mensch. Hätte sie sich ein besseres Leben erarbeiten können? Vielleicht. Hat jemand Schuld an der Misere, die für sie Leben heißt? Vielleicht. Aus der Gegenwart heraus lassen sich diese Fragen nicht beantworten. Vollmann versucht es erst gar nicht. Und das ist erfrischend anders.

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William T. Vollmann

Arme Leute: Reportagen (edition suhrkamp)

Verlag: Suhrkamp Verlag
Seitenzahl: 281
Für 22,00 € kaufen

Preisabfragezeitpunkt

01.05.2024 15.28 Uhr

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Armut, schreibt er, "muss also eher eine Erfahrung sein als ein ökonomisch bezifferbarer Zustand. Sie bleibt daher auf gewisse Weise unmessbar." So wie ihr Ursprung. Das tut ziemlich weh, weil man es gewohnt ist, Unglück in einen rationalen Rahmen zu gliedern. Eine fatale Entscheidung kann an dessen Beginn stehen, die Eltern, Krieg, Konzerne, das politische System, eine Krankheit. "Keine Papiere", sagt der eine im Buch. "Allah", die andere.

"Weil es Menschen gibt, die etwas aus ihrem Geld machen können, die hart arbeiten und Gelegenheiten nutzen, die sich ihnen bieten; und dann gibt es ein paar von uns, die können das nicht", sagt die mexikanische Sexarbeiterin Angelica. Vollmann lässt die Antworten unkommentiert. Statt die Begegnungen zur Folie einer sozialwissenschaftlichen Studie zu machen, agiert er als mitfühlender Beobachter. "Wie würde es mir gehen, wenn ich bis an mein Lebensende dazu verdammt bliebe?", fragt er sich. Er würde nicht einen Tag überleben, lautet sein Fazit.

"Wildes Mädchen" aus Bogota, 1999

"Wildes Mädchen" aus Bogota, 1999

Foto: William T. Vollmann

Vielleicht, weil er empathisch ist. Vielleicht, weil er die Armut nicht nur auf Reisen untersucht hat, sondern sie irgendwann so gut kennt wie die eigene Haustür in Kalifornien. Vor der campieren nämlich seit Jahren Obdachlose, erzählt er im letzten Kapitel des Buchs, dem persönlichsten. Manche koten jedoch an seine Hauswand, andere besprühen sie mit Graffiti, einer versucht gar, in sein Haus einzudringen. Deswegen fragt er sich gleichzeitig: "Wie viel sollte ich mir gefallen lassen?"

Viel, entscheidet er - aber von da an mit Stahltür und Drahtgeflecht an den Fenstern. "Denn ich bin reich und möchte, dass die Armen mich mögen." Persönliche Geständnisse wie dieses wirken oft deplatziert, hier jedoch macht sich Vollmann bloß so wund wie die Figuren seines Buchs.