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Tagebücher veröffentlicht Wie Heinrich Böll den Krieg überlebte

Wie hielt es ein gläubiger Pazifist als Soldat in Hitlers Wehrmacht aus? Heinrich Böll schrieb Tagebuch - seine Notizen aus den letzten Weltkriegsjahren werden nun erstmals veröffentlicht.
Wehrmachtsoldat Böll (r.) 1943 in Paris

Wehrmachtsoldat Böll (r.) 1943 in Paris

Foto: Heinrich Böll Fotoarchiv

Warten, Nichtstun, Zeittotschlagen: Das war die Grunderfahrung des Infanteristen Heinrich Böll, der den ganzen Krieg, alle 2193 Tage, als einfacher Soldat hinter sich brachte - ohne den Trost, an eine gerechte Sache zu glauben, und ohne eine nennenswerte Erfahrung von Kameradschaft, gequält von Läusen, Dreck, schmerzenden Füßen und Sehnsucht, nach der Familie, nach seinem zivilen Leben und nach seiner Lebensliebe Annemarie.

Der Krieg und die Erfahrung der Entmündigung, der Gefangenschaft in einem Zwangssystem, wurden zu elementaren Themen des späteren Nobelpreisträgers, der mit Hörspielen, Kurzgeschichten und Romanen wie "Wo warst du, Adam?", "Und sagte kein einziges Wort" oder auch dem ironischen Meisterwerk "Gruppenbild mit Dame" in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit die Rolle des erinnernden, wachen Mahners einnahm; ein freundlich alternder Herr, auf dessen Solidarität sich Dissidenten des Auslands wie Václav Havel und Alexander Solschenizyn ebenso verlassen konnten wie Protestbewegungen im Inland: Auf dem Raketenstützpunkt Mutlangen nahm er 1983 mit Anti-Nachrüstungs-Demonstranten, die seine Enkel hätten sein können, an der Sitzblockade teil.

Dabei war der Pazifist Böll statistisch ein Glückskind des Krieges: ohne gefährliche, entstellende oder dauerhaft behindernde Verwundung, ohne den sogenannten Heldentod direkter Angehöriger, ohne direkte Fronterfahrung über ein paar Wochen hinaus und ohne Beteiligung an Vernichtungsaktionen in diesem Vernichtungskrieg.

Soweit man weiß, hat Heinrich Böll kein Dorf niederbrennen, keinen Zivilisten erschießen, keinen Menschen bestehlen müssen. Es wurde für ihn gesorgt, gerade so umsichtig und methodisch, dass er einsatzfähig blieb; über weite Strecken dieser beinahe sechs Jahre war seine Existenz weniger bedroht als die der meisten Soldaten und der Menschen, mit denen er unmittelbar verbunden war.

Ein Leben mit dem Rücken zum Krieg: im besetzten Frankreich und Polen, in deutschen Kasernen, in Lazaretten und in der Etappe in Rumänien, Ungarn und Russland. Beschäftigt mit Trivialitäten: Stacheldraht ziehen und betonieren, als Melder mit dem Fahrrad Befehle überbringen, Löcher zustampfen auf einer Pferderennbahn, Proviant bei den Bauern auftreiben. Karten spielen, rauchen, Briefe schreiben, auf "schlechten Füßen" marschieren, die Stuben fegen und immer wieder packen, exerzieren und Wache stehen. Ein kleines Rad im Getriebe, das nie mehr sein wollte als das, aus christlichem Stolz und Protest. "Es ist ja unheimlich verlockend", schrieb er im Juli 1942 an seine Mutter, "die Aussicht, die Möglichkeit, dem ganzen blöden Gesindel überlegen zu sein; einen Putzer zu haben, der alles erledigt, alle die Dinge, die für mich eine Qual sind; wie Waschen und Stiefelputzen; und ein Bett haben und Ruhe; und vorne zu sein, vorne weg, das ist das Verlockendste; nicht mehr hinten weit drin in der Masse wie ein Stück Scheiße; ach, es hat vieles für sich, fast alles; aber es wäre ein Verrat, und deshalb will ich es nicht; Du wirst mich schon verstehen." Verrat wäre es gewesen an der antinazistischen Haltung der katholischen Familie Böll, Verrat aber auch an Lebensgefühl und Ehrgeiz des Studenten der Germanistik und Klassischen Philologie.

Schriftsteller Böll, 1983

Schriftsteller Böll, 1983

Foto: Obertreis/ picture alliance / dpa

Das alles wissen wir aus seinen Briefen aus dem Krieg, die, 2001 publiziert, ein detailliertes Bild der Kriegserfahrung des angehenden Schriftstellers ergaben; in dieser Woche erscheinen die Tagebücher aus den Jahren 43 bis 45 - alle anderen gingen verloren -, sorgfältig ediert und kommentiert. Sie bestätigen zweierlei: Das Gedächtnis des Autors war nicht besonders zuverlässig, und er verwendete seine Beschreibungskraft für seine Briefe. Die Erfahrung von gedehnter Zeit, die seine Mitteilungen an seine Nächsten zu einer intensiven Erfahrung machen, ist hier in ihr Gegenteil verkehrt. Ortsnamen, Erinnerungsstützen ("das rote Mädchen als Spagatkünstlerin / die Seiltänzerin / die Clowns"; "Das 2. Gespräch mit Herrn Oberleutnant Ramrath niemals vergessen!") und immer wieder Beschwörungen ("Anne-Marie!", "Gott möge mir helfen!"). Dem Nichtgeschehen des Tages abgepresst, sind Wörter und Satzfetzen in expressiver Eile aufs Papier geworfen, die aber doch die ganze Spannbreite markieren zwischen stumpf verbrachtem Dienst des Infanteristen Böll und dem Eigentlichen, das im Abwesenden, im Unterdrückten und in der Zukunft liegt: "'Der Mann mit dem Mantel' / eine Erzählung von H. Böll??". Das Schreiben war für ihn in diesen Jahren vor allem das Gespräch mit anderen, hin und wieder entstellt, im Wesentlichen eingeschränkt durch die Zensur.

Seine Notizen sind Selbstvergewisserungen; winzige Speicher einer Erfahrung, die er am 14. November 1943 in einen der typischen, rumpfartigen Sätze fasst: "Die absolute Verlorenheit der Infanterie." Hier ist sie, in Stichworten, zu besichtigen.

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Zweiter Weltkrieg: Heinrich Bölls Kriegstagebücher