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Meinung Landleben

Das Dorf hat seine beste Zeit noch vor sich

Blick auf Polling in Oberbayern mit der Pfarrkirche St. Salvator und Heilig Kreuz Blick auf Polling in Oberbayern mit der Pfarrkirche St. Salvator und Heilig Kreuz
Blick auf Polling in Oberbayern mit der Pfarrkirche St. Salvator und Heilig Kreuz
Quelle: Getty Images/Westend61
Die Pandemie hat vielen Großstädtern das Leben auf dem Land wieder schmackhaft gemacht, die Suche nach Natur und Ruhe zieht sie in die Dörfer. Doch die neue Euphorie kann nicht über die politische Entmündigung des ländlichen Raumes in den letzten Jahrzehnten hinwegtäuschen.

Die Eliten in Staat und Gesellschaft hatten das Dorf mit seinen Eigenschaften und Kompetenzen schon aufgegeben und als „Wertlos!“ abgestempelt. Dabei sind die Lebensbedingungen auf dem Lande heute so gut wie nie zuvor.

Die technische Infrastruktur wie Wasser-, Abwasser- und Energieversorgung ist auf einem guten Stand. Die überwiegend mittelständischen Betriebe zeigen sich langfristig stabil. Bildung und Mobilität haben die Bevölkerung wohlhabender, liberaler und weltoffener gemacht. Dorfbewohner sind wie Großstädter zu Globetrottern geworden. Immer mehr junge Landbewohner kehren nach Ausbildung und Studium in der Stadt wieder in ihre ländliche Heimat zurück. Das macht Hoffnung: Das Dorf hat seine beste Zeit noch vor sich.

Die aktuelle Flutkatastrophe, die ja vor allem auch viele Dörfer schwer getroffen hat, macht eine wichtige, von außen oft kaum sichtbare Ressource der ländlichen Regionen sichtbar: die gegenseitige Hilfe in schweren Notlagen. Anpacken, wenn es darauf ankommt. Es ist dieses soziale Kapitel, das das Dorfleben für viele lebenswert macht: Das gemeinschaftliche Handeln in Vereinen und Kirchengemeinden, das informelle Wirtschaften von Nachbar zu Nachbar – was von Gartenarbeit, Hausbau und Reparaturen bis zur Betreuung von Kindern, Kranken und Älteren reicht.

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Umfragen zeigen, dass Dorfbewohner weit mehr als Bewohner der Stadt ihr Wohnumfeld lieben. Selbst attraktive Metropolen wie Berlin erleben derzeit mehr Abwanderungen als Zuwanderungen vor allem junger Menschen – ein Trend, der durch die Corona-Pandemie noch befördert wird.

Die Großstadtflüchter sehen die hohen Mieten, das Gedränge in den öffentlichen Parks, die geschlossenen Läden, gastronomischen Betriebe, Museen, Opern- und Konzerthäuser in ihren Städten. Sie suchen auf dem Land die menschenleere Natur, die Ruhe und die kleinen vertrauten Gemeinschaften. Selbst kleinere Dörfer und dünnbesiedelte Landkreise wie die Uckermark bieten nun plötzlich mehr Anreize und Sicherheit als das Massenwohnen in den Metropolen.

In der Coronakrise kann das Dorf seine Stärken voll ausspielen. Die überregionalen Medien und Zukunftsforscher berichten positiv über das Land und seine Werte, die nun neu entdeckt und mit Leben gefüllt werden. Die neuen Landbewohner bringen viele Ideen des Arbeitens und Zusammenlebens mit. Während der Corona-Lockdowns hat sich gezeigt, dass ein Großteil der Bürotätigkeiten in das Homeoffice verlagert werden kann. Damit eröffnen sich für das Erwerbsleben auf dem Lande ganz neue Chancen. Gerade für Familien mit Kindern wird das Landleben so noch attraktiver.

Die politische Entmündigung der Dörfer

Aber diese positiven Entwicklungen können nicht über die schmerzlichen Verluste hinwegtäuschen, die das Dorf in den vergangenen Jahrzehnten erfahren hat. Es wurde vor allem seiner Selbstverantwortung regelrecht beraubt – durch Dekrete von oben. Die Politik hat das Dorf entmündigt, entmachtet und geschwächt.

Bis in die 1960er-Jahre waren nahezu alle deutschen Dörfer selbstständige Gemeinden mit eigenem Bürgermeister und Gemeinderat. Diese Ämter genossen hohes Ansehen und wurden im Dorf durch demokratische Wahlen vergeben. Die Amtsträger kümmerten sich um Schulen, Feuerwehr, Krankenhilfe und Wasserversorgung. Was man lokal nicht allein schaffen konnte, regelte man durch überörtliche Zweckverbände oder Genossenschaften.

Ab 1970 zerstörten zentrale, übergeordnete Instanzen des Staates nach und nach diese Kompetenz und Kraft der dörflichen Selbstverantwortung. Über 20.000 deutsche Dörfer mussten infolge kommunaler Gebietsreformen (Ausnahmen bildeten unter anderem Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Niedersachsen) ihre Selbstbestimmung aufgeben. Die Dörfer wurden zu ohnmächtigen „Ortsteilen“ in oft riesigen, willkürlich zusammengefügten Großgemeinden. Die demokratische Basis des Staates war auf dem Lande damit entscheidend geschwächt. Die Dorfbewohner verloren nicht nur ihre eigene demokratische Kraft, sondern auch das Selbstwertgefühl, für sich und ihr Dorf verantwortlich zu sein. Resignation und Wut machten sich breit.

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Insgesamt wurden in Deutschland durch die Gebietsreformen über 300.000 ehrenamtlich tätige gewählte Gemeinderäte „beseitigt“. Ihnen wurde von oben signalisiert: Wir brauchen euer Denken, Fühlen und Handeln nicht mehr. Dieses Signal war der Beginn des inneren Dorfsterbens. Der renommierte Neuzeithistoriker Wolfgang Reinhard sieht in den bundesweiten Gebietsreformen der 1960er- und 1970er-Jahre das Ende der Demokratie in Deutschland. Die wegrationalisierten gewählten Bürgermeister und Gemeinderäte fehlen heute dem Land und lassen Raum für antidemokratische Kräfte.

Inzwischen zeigen Studien, dass die Gebietsreformen keine finanziellen Einsparungen, aber verheerende demokratische, kulturelle und soziale Verluste verursacht haben und weiter verursachen. Langzeitbeobachtungen belegen, dass selbstständig gebliebene 1000-Einwohner-Dörfer in Bezug auf ihre Bevölkerungs-, Infrastruktur- und Immobilienwertentwicklung besser dastehen als gleich große eingemeindete Dörfer. Hier zeigt sich der Mehrwert durch den eigenen Bürgermeister und Gemeinderat.

In der ländlichen Kommunalpolitik dominiert das Gefühl der Geringschätzung und Bevormundung durch die hohe Politik. Es gibt zu wenige Entscheidungsfreiheiten, über 90 Prozent der kommunalen Ausgaben sind durch staatliche Gesetze und Richtlinien festgelegt. Es gibt zu viele rechtliche, planerische und finanzielle Reglementierungen. Die Länder entscheiden über Schulschließungen und legen fest, welche Dörfer noch Wohn- und Gewerbegebiete ausweisen dürfen – und welche nicht.

Kommunalpolitik ist ein permanenter und zermürbender Abnutzungskampf gegenüber den Ländern und dem Bund. Die kommunale „Selbstverantwortung“, die in Sonntagsreden immer gern als Schule der Demokratie bezeichnet wird, ist kaum noch eine solche. Sie ist weitgehend eine Verwaltung von Aufgaben, die meist „von oben“ bestimmt werden. Diese Entmündigung der Kommunalpolitik zeigt längst Wirkung. Bei Kommunalwahlen finden sich immer weniger Bewerber für die Gemeinderäte, und vielerorts ist kaum noch jemand bereit, für das Amt eines Bürgermeisters zu kandidieren.

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Nicht nur der Staat, auch andere gesellschaftlich bedeutende Institutionen entmündigen und schwächen das Dorf. Die Kirchen prägten seit der Christianisierung im Frühen Mittelalter nicht nur das Dorfbild, sondern auch das Dorfleben. Doch seit einigen Jahrzehnten schrumpft die Zahl der Gläubigen – und der Pfarrer. Und wie reagiert die Amtskirche? Sie macht in mehreren Bistümern, wie zum Beispiel Münster, das Schlimmste, was man sich vorstellen kann: Sie wiederholt die gravierenden Fehler der kommunalen Gebietsreformen und löst die oft seit Jahrhunderten bestehenden Dorfpfarreien auf.

Auch Sparkassen und Volksbanken ziehen sich immer weiter aus den Dörfern zurück. Gerade die Genossenschaften waren typische und traditionsreiche Selbsthilfeeinrichtungen auf dem Lande. Der Grundsatz lautete „Einer für alle – alle für einen“, was nicht nur zu ökonomischen Vorteilen führte, sondern auch den Gemeinsinn förderte.

Das gesellschaftliche Potenzial ländlicher Lebensformen

Selbst die sprichwörtliche Heimatliebe der Land- und Dorfbewohner bekam den „Wertlos!“-Stempel aufgedrückt. Die Deutungshoheit der unterschiedlichen Lebensformen in der heutigen Moderne haben die urbanen Eliten in Staat und Gesellschaft übernommen. Sie betrachteten die offenkundig beharrliche lokale und regionale Heimatliebe mit Argwohn. Diese wurde gern als spießig, naiv und rückständig bezeichnet und sogar zu einer „politischen Krankheit“ erklärt.

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Mit Begriffen wie „Heimattümelei“ und „Kirchturmdenken“ wurde die ländliche Lebensform der lokalen Selbstverantwortung, der Natur- und Menschennähe, des vor- und fürsorgenden Denkens und Handelns diskreditiert und zum Auslaufmodell abgestempelt. Dabei gibt Heimatliebe den Menschen Halt und ist die Basis für bürgerschaftliches Engagement und demokratisches Mitwirken. Gerade darin liegt die große Zukunftschance des Dorfes.

Was ist zu tun? Die Zentralen der Macht in Staat und Gesellschaft müssen anerkennen: Dorf und Land haben wichtige ökonomische, ökologische, kulturelle und soziale Potenziale und bringen diese auch in hohem Maße in die Gesamtgesellschaft ein. Sie sind für Staat und Gesellschaft genauso wichtig wie die Großstädte und Ballungszentren.

Grundsätzlich braucht das Land mehr Entwicklungsgerechtigkeit. So leiden viele Dörfer unter leerstehenden Gebäuden, oft großen Scheunen und Hallen ehemaliger Bauernhäuser und Gasthöfe. Diese Leerstände müssen mobilisiert und die Dörfer dabei unterstützt werden, um Ressourcen zu schonen und zugleich Wohn- und Gewerbeflächen für Einheimische wie Großstadtflüchter zu schaffen. Baldmöglichst braucht jedes Dorf schnelles Internet und einen Anschluss an Schnellbahn- und Regionalbahnstrecken.

Vor Jahrzehnten hatte der gestaltungsversessene Staat viele Dorfstraßen für den Durchgangsverkehr „autogerecht“ gemacht, die inzwischen wieder auf die Bedürfnisse der Dorfbewohner „zurückgebaut“ werden. Dieser Rückbau von zerstörenden Leitbildern von oben macht Hoffnung. Die Entscheider in Staat und Gesellschaft müssen nun auch ihre dorf- und demokratiefeindlichen „Reformen“ zurückbauen. Sie würden damit der Masse der deutschen Dörfer ihre Kompetenz, Kraft und Gestaltungsfreiheit zurückgeben und auf dem Land einen großen kulturellen, ökonomischen und demokratischen Entwicklungsprozess auslösen. Ein solcher Paradigmenwechsel würde nicht nur dem Land sehr guttun, er würde auch den demokratischen Aufbau von Staat und Gesellschaft neu beleben.

Der Autor ist Humangeograph, Dorfforscher und Autor zahlreicher Bücher; zuletzt erschienen „Rettet das Dorf. Was jetzt zu tun ist“ und „Das Dorf. Landleben in Deutschland gestern und heute“.

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