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Geschichte Seveso 1976

Als der Nebel des Grauens Wirklichkeit wurde

Am 10. Juli 1976 entwich aus einer Chemiefabrik in Norditalien hochgiftiges Dioxin. „Wie ein heißer Windstoß“ kam die Wolke über Seveso, aber die Bewohner wurden erst acht Tage später informiert.

Erst verdorrten die Blätter, dann starben die Tiere auf den Weiden, dann wurden Kinder mit merkwürdigen Hautverätzungen in Krankenhäuser eingeliefert, dann traten verunsicherte Arbeiter in den Streik. Erst am 17. Juli 1976, sieben Tagen nach der Havarie, rafften sich die Behörden zu Maßnahmen auf, nachdem sie zuvor nur die Warnung ausgegeben hatten, Obst und Gemüse aus den Gärten von Seveso besser nicht zu essen. Die Fabrik wurde geschlossen. Erst einen Tag später gab die Firmenleitung zu, dass es zu einem schweren Unfall gekommen war. Er entpuppte sich als die bislang schwerste Chemiekatastrophe in Europa.

Der Name der lombardischen Kleinstadt Seveso steht seitdem für das Gefahrenpotenzial großindustrieller Anlagen und die skrupellose Bereitschaft ihrer Betreiber, dieses mit allen Mitteln zu verschleiern. In den Morgenstunden des 10. Juli stieg die Temperatur in einem Kessel der nahen Chemiefabrik Icmesa unkontrolliert an. Da mit dem Reaktor auch das Rührwerk abgestellt worden war, das die Wärme ableitete, öffnete der Überdruck gegen Mittag ein Sicherheitsventil. Eine unbekannte Menge von dioxinhaltigem Trichlorphenol, das bei der Produktion eines Desinfektionsmittels anfiel, gelangte in die Luft und trieb mit dem Wind Richtung Seveso.

So darf man sich das Dioxin-Molekül vorstellen
So darf man sich das Dioxin-Molekül vorstellen
Quelle: picture-alliance / Bildagentur-o

„Ich erinnere mich an einen heißen Windstoß“, erinnert sich Emanuela Conte. Dass er hochgiftig war, ahnten sie und ihre Nachbarn nicht. Erst als ein gutes Dutzend Kinder über dramatische Hautveränderungen klagte, kam die Vermutung auf, dass etwas Bedrohliches über die kleine Gemeinde gekommen sein könnte. Im Krankenhaus diagnostizierten die Ärzte eine Chlorakne, wussten aber nicht, was man dagegen tun konnte.

Während die Behörden sich noch in halbherzigem Aktionismus ergingen und das Schwimmbad schlossen, bewiesen die Verantwortlichen von Icmesa, einer Tochter von Givaudan, das wiederum eine Tochter des Schweizer Pharmaunternehmens Hoffmann-La Roche war, einfallsreiches Krisenmanagement. Sie erkannten schnell die ganze Dimension der Havarie und entwickelten umgehend eine PR-Strategie.

Hans Fehr, seinerzeit Pressesprecher von Roche, hat den Vizedirektor von Roche später so zitiert: „Erstens: Die Sache wird im engsten Kreise der Icmesa gehalten; Givaudan und Roche werden nicht erwähnt. Zweitens: Dass es bei der Herstellung von Hexachlorophen passiert ist, wird … nicht erwähnt. Drittens: Dass Dioxin gebildet wurde, wird nicht erwähnt.“

Vergifteter Abfall wurde in Müllbeuteln verpackt
Vergifteter Abfall wurde in Müllbeuteln verpackt
Quelle: picture alliance/KEYSTONE

Erst am 17. Juli wurde das Werk von Icmesa geschlossen. Und weitere neun Tage vergingen, bis die ersten 200 Bewohner von den Behörden evakuiert wurden, 500 weitere folgten. Unabhängige Analysen hatten zuvor bestätigt, dass sechs Quadratkilometer in und um Seveso stark kontaminiert worden waren.

Erst da stellte sich Roche seiner Verantwortung und versprach, mit den Behörden zu kooperieren. Die rieten Schwangeren zur Abtreibung und setzten bewaffnetes Militär in ABC-Ausrüstung ein, um das Gelände zu räumen. Als Monate später Spezialisten mit der Dekontaminierung begannen, stellten sie fest, dass die Gebäude im Zentrum der verseuchten Zone nur noch abgerissen werden konnten. Mehr als 3000 Tierkadaver mussten entsorgt werden.

Unter den Folgen der Verätzung leidet Emanuela Conte noch heute: „Plötzlich verschwindet alles, bis sie dir nach Monaten den Verband abnehmen, und darunter ist ein völlig verändertes Gesicht, das du nie akzeptieren möchtest.“ Gegen ihre Narben halfen keine Schönheitsoperationen.

Soldaten in Schutzkleidung räumten den Ort
Soldaten in Schutzkleidung räumten den Ort
Quelle: picture alliance/KEYSTONE

Die Bilder von Kindern mit schweren Hauterkrankungen, die weltweit Aufsehen erregten, sorgten dafür, dass in der Europäischen Union mittlerweile die sogenannte Seveso-III-Richtlinie zum Schutz vor Gefahren bei Unfällen mit gefährlichen Stoffen gilt. Chemiewerke müssen nun regelmäßig Sicherheitsberichte erstellen und Notfallpläne erarbeiten. Ein Sicherheitsabstand zu Wohngebieten soll bei Unfällen gravierende Folgen vermeiden.

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Den verseuchten Erdboden der am meisten betroffenen Zone von Seveso trugen Bagger später einen knappen halben Meter tief ab. Er wurde in Sicherheitsbehältern vergraben – gemeinsam mit den Trümmern des Fabrikgebäudes und abgerissener Wohnhäuser sowie den persönlichen Gegenständen ihrer Bewohner. Darüber befindet sich seit Ende der 90er-Jahre der Parco delle Querce, ein Naturschutzgebiet mit Gedenktafeln, die auf Italienisch und Englisch die Geschichte des Unglücks erzählen.

„Seveso war eine Wasserscheide für die Umweltkultur“, sagt der Biochemiker Paolo Mocarelli von der Mailänder Bicocca-Universität. Zum Zeitpunkt des Unfalls gab es in Italien kaum Erkenntnisse über Dioxin und die damit verbundenen Gefahren. „Kopien der wenigen Forschungsarbeiten über Dioxin kamen damals per Flugzeug.“

Seveso wurde zu einer Geisterstadt. Viele Häuser mussten abgerissen werden
Seveso wurde zu einer Geisterstadt. Viele Häuser mussten abgerissen werden
Quelle: picture-alliance / Leemage

Wissenschaftler haben rund 30.000 Blutproben von Betroffenen untersucht und jahrzehntelang über die Spätfolgen geforscht. Sie fanden heraus, dass Dioxin bei Frauen das Risiko erhöht, an Brustkrebs zu erkranken. Bei Männern senkt es die Spermienproduktion drastisch.

Die Verantwortlichen des Hoffmann-La-Roche-Tochterunternehmens Givaudan einigten sich außergerichtlich mit dem italienischen Staat und der Region Lombardei auf die Zahlung der Kosten für die Dekontaminierung und Entschädigungen für die Betroffenen. So konnten sie weitere strafrechtliche und zivilrechtliche Verfolgung vermeiden.

Zwei leitende Mitarbeiter wurden neun Jahre nach dem Unglück zu Haftstrafen von je 18 und 30 Monaten verurteilt. Während der gesamten Prozessdauer verweigerten sie die Aussage. Den Vorwurf, sie alle hätten gegen Sicherheitsvorgaben verstoßen, erkannte das Gericht nicht an.

„Ihr, die ihr ruhig mit dem Gewissen der Gerechten lebt, die ihr das Leben für eure schmutzigen Spiele ausbeutet, bringt uns doch einfach alle um“, sang der italienische Liedermacher Antonello Venditti zwei Jahre nach dem Unglück in seinem zornigen „Canzone per Seveso“ (Lied für Seveso). „Seveso ist überall“ wurde zum Protestslogan, der die Angst vor Industriekatastrophen global in Worte fasste.

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mit epd

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