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  4. RAF: Heinrich Böll forderte „freies Geleit“ für Ulrike Meinhof

Deutscher Herbst Rote Armee Fraktion

Als Heinrich Böll für Ulrike Meinhof „freies Geleit“ forderte

Am 10. Januar 1972 veröffentlichte der spätere Literatur-Nobelpreisträger Heinrich Böll einen Essay, in dem er die RAF-Terroristen als „verzweifelte Theoretiker“ entschuldigte. Eine Anklage forderte er dagegen für den Verleger Axel Springer.
Leitender Redakteur Geschichte
Heinrich Böll Heinrich Böll
Heinrich Böll (1917 bis 1985) in seiner Kölner Wohnung
Quelle: pa/dpa/Horst Ossinger
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Wenn er doch nur geschwiegen hätte, doch das konnte Heinrich Böll offensichtlich nicht. Zu sehr hatte sich der Schriftsteller (der noch nicht Literatur-Nobelpreisträger war) anscheinend in seine Wut gesteigert. Jedenfalls begann er das Jahr 1972 mit einer Polemik, die mindestens so erinnerungswürdig ist wie jeder seiner Romane.

Im „Spiegel“ vom 10. Januar 1972 veröffentlichte der Kölner Literat, der sich immer wieder als bekennender Linker präsentiert hatte, einen Essay mit der Überschrift: „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ Gemeint war Ulrike Meinhof, ehemalige linksradikale Journalistin und inzwischen das prominenteste Gesicht der anarchistischen Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF).

Böll-Artikel im "Spiegel" v. 10.1.1972
Der Essay von Heinrich Böll im "Spiegel" v. 10. Januar 1972
Quelle: Spiegel-Verlag

In Rage gebracht hatte Böll ein Bericht der „Bild“-Zeitung vom 23. Dezember 1971, in dem über einen Banküberfall in Kaiserslautern am 22. Dezember berichtet worden war, bei dem ein Streifenbeamter erschossen worden war. Der „Spiegel“-Essay begann mit den Worten: „Wo die Polizeibehörden ermitteln, vermuten, kombinieren, ist ,Bild’ schon bedeutend weiter: ,Bild’ weiß. Dicke Überschrift auf der Titelseite der (Kölner) Ausgabe vom 23. Dezember 1971: ,Baader-Meinhof-Gruppe mordet weiter’.“

Dann führte Böll durchaus korrekt immerhin eines der Indizien auf, die der Chefredaktion der Boulevardzeitung diese genre-typisch zugespitzte Formulierung zulässig hatte erscheinen lassen: Beim Überfall war, und zwar als Blockadefahrzeug vor der Ausfahrt der Kaiserlauterer Polizeiinspektion, ein gestohlener Alfa Romeo verwendet worden, der bereits klar der RAF zugeordnet werden konnte – und zwar durch einen gefälschten Kfz-Brief mit der Fahrgestellnummer des Wagens, der in einem abgefangenen, für die RAF bestimmten Paket mit Waffen gefunden worden war.

Die anderen Indizien kannte Böll beim Schreiben seines Essays nicht oder verschwieg sie: Drei von den Tätern in Kaiserslautern verwendete Fahrzeuge, allesamt gestohlen, waren „Doubletten“, hatten also gefälschte Nummernschilder mit Kennzeichen, die für Autos desselben Modells in derselben Farbe ausgegeben worden waren. Exakt diese Tarnung war seit Herbst 1970 immer wieder bei eindeutig der RAF zugeordneten Wagen festgestellt worden – und das wussten am Nachmittag des 22. Dezember 1971 auch schon die Polizeireporter von „Bild“, gewiss von beteiligten Ermittlern.

Außerdem waren zwei Wochen vor dem Banküberfall in einem an der Autobahn Stuttgart–München nach einem Unfall stehen gelassenen gestohlenen Wagen die Fingerabdrücke der gesuchten RAF-Mitglieder Holger Meins, Brigitte Mohnhaupt und Manfred Grashof sichergestellt worden – und eine Parkscheibe, die es nur in Kaiserslautern gab.

Eine ziemlich gute Indizienkette: Nachweislich waren RAF-Terroristen vor dem Überfall in Kaiserslautern gewesen. Nachweislich hatten sich die Bankräuber einer Tarnungsmethode bedient, die typisch war für die RAF. Und für eines der verwendeten Autos hatte die RAF nachweislich eines der raren Blankoformulare für Kfz-Scheine ausgestellt. Übrigens, aber das wurde erst später bekannt, mit einer vielfach für gefälschte Papiere sowie für mehrere Bekennerschreiben verwendeten Schreibmaschine.

Intern ging die Polizei Kaiserslautern deshalb schon wenige Stunden nach dem morgendlichen Überfall und Polizistenmord von der Täterschaft der Baader-Meinhof-Gruppe (oder Baader-Meinhof-Bande; beide Begriffe wurden synonym verwendet) aus. An der Schlagzeile war also rein gar nichts falsch.

Trotzdem wütete Heinrich Böll los. Er attackierte die angebliche „Demagogie“ der zutreffenden Berichterstattung. In seinem Zorn verharmloste er die Ideologie der Baader-Meinhof-Gruppe zur „Kriegserklärung von verzweifelten Theoretikern“, deren „Theorien weitaus gewalttätiger klingen als ihre Praxis ist“. Zu diesem Zeitpunkt hatte die RAF bereits nachweislich zwei Polizeibeamte ermordet und einen Bibliotheksangestellten lebensgefährlich verletzt.

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Im selben Stil ging Bölls Wutrede weiter: Die RAF sei nicht „so wahnwitzig wild und schießlustig“, wie sie dargestellt werde. Es handele sich um einen „Krieg von sechs gegen 60 Millionen“. Eine, so fuhr der Schriftsteller ironisch fort, „tatsächlich äußerst bedrohliche Situation für die Bundesrepublik Deutschland“ – es sei „Zeit, den Notstand auszurufen“. Dass zu dieser Zeit zwei Dutzend mutmaßliche RAF-Mitglieder steckbrieflich gesucht wurden und ein weiteres Dutzend bereits in Haft saß, hätte er wissen können, doch es störte ihn nicht.

Der Schriftsteller sah das Problem im angeblich „fragwürdigen“ Rechtsstaat, der in Wirklichkeit eine „gnadenlose Gesellschaft“ sei. Seine Forderung fiel eindeutig aus: Ulrike Meinhof solle freies Geleit bekommen – und „Bild“-Verleger Axel Springer (in dessen Verlag auch WELT erschien und erscheint) wegen Volksverhetzung angeklagt werden.

Es handelte sich um die bis dahin radikalste Sympathieerklärung eines prominenten Linken für die RAF – und sie war inhaltlich widerlegt, bevor sie erschien. Denn am 9. Januar 1972, einen Tag vor Auslieferung des „Spiegel“-Heftes mit Bölls Essay, gab Kaiserslauterns Polizei die über den Jahreswechsel gewonnenen Ermittlungsergebnisse bekannt.

Sie ließen an der Verantwortung der Baader-Meinhof-Bande für den Bankraub und den Polizistenmord keinen Zweifel mehr. Denn im bald nach Weihnachten entdeckten Unterschlupf der Bankräuber waren ein Fingerabdruck des RAF-Mitglieds Klaus Jünschke und eine kurze handschriftliche Notiz gefunden worden, die Ulrike Meinhof zugeordnet werden konnte.

WELT-Kommentar v. 12.1.1972
Der erste WELT-Kommentar zum Thema vom 12. Januar 1972
Quelle: Axel Springer SE

Angesichts der klaren Sachlage war kaum überraschend, dass Böll harsch kritisiert wurde. Der österreichisch-amerikanische Publizist Hans Habe forderte seinen umgehenden Rücktritt als internationaler Präsident des Schriftsteller-Verbandes PEN-Club. Der bayerische Innenminister Bruno Merk (CSU) wies darauf hin, dass Ulrike Meinhof kein „freies Geleit“ brauche, sondern sich einfach nur bei der nächsten Polizeidienststelle stellen müsse: „Im freiheitlichen Rechtsstaat sichern Polizei und Justiz Freistätten für Mörder. Da werden sie nämlich davor geschützt, etwa von den Angehörigen der Ermordeten umgebracht zu werden.“

Der Chefredakteur des ZDF, Rudolf Woller, konstatierte, Böll werde „nicht müde, diesen unseren Staat als das Gesetz gewordene Böse zu diffamieren. Er möchte anderen, die anderer Meinung sind, mit dem Urteil ,faschistisch’ den Mund verbieten“. Hessens Justizminister Karl Hemfler (SPD) fragte: „Mit welchem Recht sollen diese sechs Menschen besser behandelt werden als jeder andere, der ein Verbrechen begangen hat?“ Ein WELT-Leser spottete, bei Bölls Essay handele es sich eben um die „Ansichten eines Clowns“ – das war der Titel eines bekannten Böll-Romans.

Der nordrhein-westfälische Justizminister Diether Posser (SPD) am 13.09.1972 im Landtag in Düsseldorf.
Der nordrhein-westfälische Justizminister Diether Posser (SPD) 1972 im Landtag in Düsseldorf
Quelle: picture-alliance / picture-allia

Erst der Ordnungsruf von Diether Posser, selbst bekannter linksliberaler Strafverteidiger und inzwischen für die SPD Minister in Nordrhein-Westfalen, ebenfalls im „Spiegel“, brachte Böll wenigstens ansatzweise zur Besinnung. Posser nannte den Essay seines politischen Freundes verharmlosend, „absurd“ und „kritiklos“ gegenüber der RAF; er bilanzierte: „Sieht Böll nicht, dass diese Gruppe unsere Ordnung mit ihren unbestrittenen Mängeln nicht verbessern will, sondern dass sie sie zerschlagen möchte?“

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Darauf reagierte Böll im „Spiegel“ mit einem weiteren Text am 31. Januar 1972: „Die Wirkung meines Artikels entspricht nicht andeutungsweise dem, was mir vorschwebte: eine Art Entspannung herbeizuführen und die Gruppe, wenn auch versteckt, zur Aufgabe aufzufordern.“

Doch wieder wurde der Kölner Schriftsteller von der Wirklichkeit überholt. Denn wenige Tage vor dem Erscheinen seiner halbherzigen Entschuldigung hatte Andreas Baader auf die öffentliche Kontroverse über „freies Geleit“ für Ulrike Meinhof reagiert: mit der Erklärung des „Volkskrieges“ gegen die Bundesrepublik.

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Dieser Artikel wurde erstmals im Januar 2022 veröffentlicht.

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