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Essen & Trinken Atlas der Entbehrung

Dieses Kochbuch stellt Mangel in den Mittelpunkt

Ressortleitung Stil, Leben und Reise
Vom Atlantik bis zum Ural kennt wirklich jeder ein einfaches Kartoffel-Gericht, hat die Kochbuchautorin Huguette Couffignal beobachtet Vom Atlantik bis zum Ural kennt wirklich jeder ein einfaches Kartoffel-Gericht, hat die Kochbuchautorin Huguette Couffignal beobachtet
Vom Atlantik bis zum Ural kennt wirklich jeder ein einfaches Kartoffel-Gericht, hat die Kochbuchautorin Huguette Couffignal beobachtet
Quelle: picture alliance/ Moritz Vennemann
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Als Tofu noch „Sojakäse“ hieß und Igel oder Gürteltier auf dem Speiseplan standen: Ein Kochbuch aus dem Jahr 1970 widmet sich der Küche der Armen. Die Rezepte sind nur bedingt zum Nachkochen geeignet. Dennoch lohnt es sich, sie zu lesen.

Einen Mangel an neuen Kochbüchern kann man derzeit wirklich nicht beklagen. Manche dienen Spitzenköchen als Visitenkarte und kommen in edlen Schubern daher wie Kunst- oder Architekturbände, andere versprechen ein langes und gesundes Leben, wenn man nur bereit ist, auf bestimmte Dinge zu verzichten. Manche erklären, wie mit drei Zutaten Mahlzeiten zubereitet werden können, die die Mitbewohner staunen lassen. Andere wollen dem Leser die Küche eines Landes oder einer Region in möglichst ursprünglicher Form nahebringen.

Da die großen Themen der Kulinarik mehrfach abgehandelt sind, werden die Inhalte der Neuerscheinungen immer spezieller. Zu den kuriosesten Veröffentlichungen in diesem Herbst gehören das Buch „Kunst Kochen“ mit Anleitungen für 52 Gerichte, die wie Gemälde von Mark Rothko, Jackson Pollock oder Frida Kahlo aussehen, und „The Hebridean Baker“, in dem Coinneach MacLeod, ein backender Tiktok-Star von der Isle of Lewis, seine liebsten Rezepte und Geschichten vom äußersten Zipfel der schottischen Inseln ausbreitet.

Für Veganer, Pasta-Hamsterkäufer oder Hobbyköche

Der praktische Nutzen solcher Titel mag sich in Grenzen halten, aber im Idealfall sind Kochbücher eben nicht nur Werkzeuge, die den Alltag leichter und schöner machen, sondern erlauben eine Lektüre, die den Leser an andere Orte versetzt, seinen Horizont öffnet und ihm zeigt, was möglich ist. Doch gerade wenn von Traditionsgerichten und den Rezepten der Großmütter die Rede ist, wird gern ausgeblendet, dass die meisten Menschen über die Jahrhunderte hinweg schon froh sein konnten, wenn sie nicht hungern mussten. Für die Mehrheit der Weltbevölkerung war die Ernährung ein Leben lang von Knappheit und Eintönigkeit geprägt. Die entscheidende Frage lautete nicht „Was gibt es heute zu essen?“, sondern „Gibt es heute was zu essen?“

In der Zeit des italienischen Risorgimento war die Pizza nur ein Snack, den sich im von Überbevölkerung und Unterernährung geplagten Neapel auch die Ärmsten leisten konnten, während man im übrigen Italien auf die billigen Teigfladen herabblickte. Das Land von Pasta und Pomodori war damals das Armenhaus Europas, zwischen 1880 und 1915 wanderten 13 Millionen Italiener, vorrangig aus dem Süden, nach Amerika aus, um dem Hunger zu entfliehen.

In Japan, dessen Esskultur sich zu einer unerschöpflichen Inspirationsquelle für Köche aus dem Westen entwickelt hat, ernährte sich die Landbevölkerung bis ins späte 19. Jahrhundert hauptsächlich von Gerste und Bohnen, Reis war der Oberschicht vorbehalten. Die Obsession mit Nudelsuppen kam erst mit den amerikanischen Weizenlieferungen nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Der eindrucksvollen Autobiografie des Filmemachers Werner Herzog wiederum ist zu entnehmen, dass noch Mitte des 20. Jahrhunderts die Versorgung in den oberbayerischen Bergen so dürftig war, dass seine Familie sich einen Laib Brot für eine ganze Woche einteilen musste.

Die Spitzenküche feiert Brot wie selten zuvor

Im März Verlag, der mit Eberhard Seidels Kulturgeschichte des Döners im vergangenen Jahr einen lesenswerten Beitrag zur Würdigung und Erforschung des deutsch-türkischen Imbissklassikers geleistet hat, ist nun ein Kochbuch erschienen, das den Mangel in den Mittelpunkt stellt: „Die Küche der Armen“ von Huguette Couffignal (26 Euro). Das Buch kam erstmals 1970 in Frankreich auf den Markt, als die große chinesische Hungersnot, der zwischen 20 und 45 Millionen Menschen zum Opfer fielen, noch keine zehn Jahre zurücklag. Jetzt wurde es neu übersetzt und ausgestattet. Über die Autorin ist wenig bekannt, es gibt von ihr weder Fotos noch biografische Eckdaten. Man weiß eigentlich nur, dass sie ab den späten 1960ern ein gutes Dutzend populärer Kochbücher geschrieben hat, darunter „J’taime le pain“ (Ich liebe das Brot), „La cuisine rustique pays basques“ (Die rustikale Küche des Baskenlandes) und, da würde man auch gern mal reinschauen, „L’astrologie dans votre assiette“ (Die Astrologie auf ihrem Teller). Dabei entwickelte sie offenbar ein ethnologisches Interesse an den Essgewohnheiten in verschiedenen Weltregionen. Ihr einleitender Essay liest sich wie ein World Food Report aus einer Zeit, in der allmählich ein Bewusstsein für globale Probleme entstand. Mit klassenkämpferischen Verve und kühlem Blick schildert sie die Nöte der „Vergessenen“ von Indien bis Kentucky, bescheinigt Landwirten in Ländern der Dritten Welt eine überraschende Inkompetenz beim Bewirtschaften ihrer Felder und legt dar, dass leere Mägen vielerorts mit „Hungertäuschern“ wie Coca-Blättern oder selbst gebranntem Schnaps überlistet werden.

Das Gegenteil von Armenküche

Das eigentlich Interessante an diesem Buch aber sind die 300 Rezepte, die die Autorin aus der ganzen Welt zusammengetragen hat, auch wenn sie sich nur sehr bedingt zum Nachkochen eignen. Unterteilt in „Getreide und Mehl“, „Suppen“, „Essbare Pflanzen“ sowie „Fleisch, Fische und Käse“ lesen sie sich wie eine Enzyklopädie der Entbehrungen. Couffignals lakonische Beschreibungen erinnern an existenzialistische Literatur, etwa wenn sie über eine portugiesische Suppe schreibt, die aus kaum mehr als mit Kräutern und Knoblauch gewürztem Wasser besteht: „Diese Suppe ist in vielen Ländern Europas, im Westen wie im Osten, in Portugal und in Spanien ebenso wie in Griechenland sehr häufig die einzige Mahlzeit für die gesamte Familie. Als Beilage gibt es ein Stück Brot oder eine rohe Zwiebel – das ist alles.“ Oder wenn sie den Yak-Eintopf Goimontoi Shulyu erklärt, der in Zentralasien gegessen wird: „Dieses Gericht ist eine kräftige mongolische Suppe, die man beim Gedanken verspeist, dass draußen der Sturm die Steppe peitscht und man in der Geborgenheit einer Jurte aus Filzhaar hockt.“

Gegrillte Meerschweinchen, wie hier in Peru, waren vor allem in Südamerika beliebt
Gegrillte Meerschweinchen, wie hier in Peru, waren vor allem in Südamerika beliebt
Quelle: Jason Edwards/Getty Images

Gerichte wie gebackener Igel („sozusagen das Nationalgericht der Sinti und Roma“), im Ganzen gebratenes Meerschweinchen („in der Volksküche Lateinamerikas sehr verbreitet und beliebt“) oder Gürteltier auf argentinische Art („sie werden ausgenommen, jedoch noch im Körperpanzer mariniert und anschließend gekocht“) erinnern daran, dass hungrige Menschen es sich nicht erlauben können, bei der Zufuhr von tierischem Protein besonders wählerisch zu sein. Dass die Rezepte ganz ohne Abbildungen auskommen, macht die knapp gehaltenen Texte nur suggestiver. Erhellend ist auch, dass Zutaten wie Kichererbsen, Algen und Tofu (hier als „Sojakäse“ bezeichnet), über die man vor 50 Jahren noch die Nase gerümpft hat, seit dem Erscheinen des Buchs eine erstaunliche Karriere gemacht und sich dauerhaft auf dem Speiseplan der Wohlstandsgesellschaft eingetragen haben.

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