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Mode Anna dello Russo

„Ich habe so viele Koffer geschleppt in meiner Karriere“

Anna dello Russo wurde durch das Phänomen „Streetstyle“ berühmt. Hier erinnert sich die Stylistin an ihre Anfänge bei der „Vogue Italia“ - und an eine Modewelt, die es so gar nicht mehr gibt.
Streetstyle-Star, bevor es Influencer gab: Anna dello Russo. Hier während der Modewochen im März in Paris
Streetstyle-Star, bevor es Influencer gab: Anna dello Russo. Hier während der Modewochen im März in Paris
Quelle: Getty Images

Ich glaube, jeder hat einen Traum. Mein Traum war die Mode. Aber in Bari in Apulien, wo ich aufwuchs, gab es keine Mode, es gab nur Boutiquen. Mein Vater frage mich: „Willst du etwa in einer Boutique arbeiten?“ Hätte ich sofort getan, aber er sagte: „Nein, du wirst Journalistin und stellst dich international auf.“ Er hatte natürlich recht. Also habe ich mein Kunst- und Literatur-Studium in Bari abgeschlossen und bin nach Mailand an die Domus-Academy gegangen, deren Mode-Zweig von dem Designer Gianfranco Ferré mitgegründet worden war.

Damals fühlte ich mich total verunsichert, doch heute ist es nichts Besonderes, nach Mailand zu ziehen – meine Nichten wollen nach China, London, New York. Durch die Technologie ist die Welt geschrumpft und zugänglicher geworden, aber vor über 30 Jahren, als ich anfing, war vor allem die Modebranche noch exklusiv und verschlossen. Ein Jahr studierte ich an der Domus-Academy, und danach organisierte mir Gianfranco Ferré ein Vorstellungsgespräch mit Franca Sozzani, die gerade zur neuen Chefredakteurin von „Vogue Italia“ berufen worden war und ein Team zusammenstellen musste. „Sprichst du Englisch?“, fragte sie mich bei unserem Treffen. „Ein bisschen“, sagte ich. Ihre Antwort: „Ok, lerne es, denn morgen musst du für ein Shooting nach Miami fliegen.“ Santa Maria Grazia, ich konnte es nicht fassen! Einen Tag später fing ich an.

Auf der Mailänder Modewoche im Februar 2019
Auf der Mailänder Modewoche im Februar 2019
Quelle: Getty Images

Wir waren ein kleines Team. Franca wurde meine Mentorin, sie wollte junge Leute fördern. Die einzigen zwei Moderedakteurinnen waren ich und Alice Gentilucci. Eines Tages rief uns jemand von der amerikanischen „Vogue“ an, weil wir mit der ein Produktionsteam teilten. Man fragte nach dem „Schuhredakteur“. Ich schaute Alice an: „Welcher Schuhredakteur?“ Es gab nur uns, nicht mal Assistenten hatten wir. Nach Miami flog ich alleine, ich und meine Koffer. Ich habe so viele Koffer geschleppt in meiner Karriere. Aber wir hatten die Chance, die goldenen Zeiten der italienischen „Vogue“ zu erleben, die 90er-Jahre. Alles war „Top“: Die Models, die Fotografen, die Qualität der Bildsprache. Es war, als wäre man Teil der Champions League der Mode. Franca Sozzani entdeckte junge Fotografen wie Steven Meisel, der fortan alle Cover des Heftes fotografieren würde.

Ich ging in die beste Schule. Mein Metier lernte ich am Set, Leidenschaft war meine Antriebskraft. Die Mode verlangt Disziplin von dir. Ich habe Kleider gebügelt, Locations gesucht, mit Models und Fotografen gesprochen, mich um alles gekümmert. Kreativität macht nur eine Hälfte des Jobs aus, der Rest ist Organisation. Zumal man auch eine finanzielle Verantwortung trägt. Du kannst auf deinen Reisen nicht zig Kilo an Übergepäck mitnehmen. Ach ja, und die Kuriere! Alle wollen immer alles per Kurier liefern lassen. Nein! Das kostet alles Geld. Dein Job ist es, auszuwählen, editing, das Richtige mitzunehmen.

Klar, ein paar Extras für den Fotografen sollten schon dabei sein. Du musst smart sein in diesem Beruf, Lösungen finden. Ich habe oft mit Helmut Newton zusammengearbeitet. Plötzlich fragte der mich mal nach einem Seil, weil er die Idee hatte, das Model irgendwo festzubinden. Wenn man mit vielen verschiedenen Fotografen arbeitet, ist es, als hätte man viele Liebhaber – du musst jeden glücklich machen. Jeder Fotograf hat einen anderen Stil, und darauf musst du vorbereitet sein, damit das bestmögliche Foto entsteht. Für Peter Lindbergh musste ich immer schwere Stiefel dabei haben, weil er gerne Models in Bewegung fotografierte. Außerdem immer ein weißes Hemd, androgyne Sachen mit weiten Silhouetten, die vom Winde verweht am Strand von Deauville gut aussehen würden. Bei Helmut durfte ich nie, nie die High Heels vergessen, ebenso Lingerie, Strumpfhosen, Latex.

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Es brach mir das Herz, als Peter Lindbergh kürzlich verstarb. Als Redakteur und Fotograf hat man in den 90er-Jahren so viel Zeit miteinander verbracht und eine persönliche Beziehung aufgebaut. Während der Modewochen traf man sich zwischen den Schauenterminen, besprach die Trends auf dem Laufsteg und Ideen für kommende Shootings. Man schickte damals keine Moodboards hin und her. Stattdessen hieß es: Schau dir diesen Film an, gehe in jene Ausstellung. Mode ist Teamwork. Vergiss dein Ego, schmeiß es weg.

Die Leute sagen, dieses Foto oder diese Modenschau gefällt mir. Dich fragt niemand, niemand interessiert sich für deinen Geschmack. In den 90ern haben wir immer zunächst respektiert, dass sechs Monate Arbeit in einer Kollektion stecken. Es geht ums Beobachten. Wer Mode verstehen will, muss beobachten. Ich kenne so viele Stylistinnen, die einen tollen Geschmack haben, wunderschön gekleidet sind und dann tauchen sie am Set auf und machen einen desaströsen Job.

Anna dello Russo im September 2017 in Mailand
Anna dello Russo im September 2017 in Mailand
Quelle: Getty Images

Im Jahr 2000 bot mir Franca Sozzani an, Chefredakteurin der „Uomo Vogue“ zu werden. Natürlich habe ich Ja gesagt. Wenn sich dir in der Mode solche Chancen bieten, greifst du zu. Ich wusste, dieser Job würde mir helfen, Mode noch besser zu verstehen. Aber es war schwer für mich. Von neun Uhr Morgens bis elf Uhr Abends saß ich im Büro, ich, die es gewohnt war, rauszugehen und um die Welt zu fliegen. Doch als Chefredakteur musst du für alle ansprechbar sein und bist für alles verantwortlich, ob es um das Cover geht oder um eine News über Autos.

Nach sechs Jahren war es genug für mich, ich wollte wieder so mit Mode arbeiten, wie ich es liebe. Zudem merkte ich, dass sich mit dem Internet eine neue Ära anbahnte. Der Modeblogger Scott Schuman vom „The Sartorialist“ fotografierte meine Freundinnen vor den Schauen mit ihren Handtaschen und Looks. Ich dachte: Das sieht nach Spaß aus. Ich erkannte das Potenzial hinter der Streetstyle-Idee. Und auffällig gekleidet habe ich mich schon immer. Also ging es raus aus dem Büro und auf die Straße. Ich und meine Freundinnen, die zu den Schauen gingen, wollten Mode feiern und fühlten uns, als würden wir eine Party besuchen. Wir gestalteten lebende Modestrecken.

Das jüngste Projekt des Streetstyle-Fotografen
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Und die Modelabels liehen uns irgendwann Kleider aus, aber wir wurden nie bezahlt wie die Influencer heute. So hatten wir die Freiheit, zu tragen, was wir wollten. Das war die Zeit, als Chefredakteurinnen und Stylistinnen wie Anna Wintour oder Franca Sozzani endgültig zu Stars wurden. Carine Roitfeld, die ehemalige Chefredakteurin der französischen „Vogue“, sagte kürzlich in einem Interview mit der „New York Times“, dass die Zeit der „Celebrity Editors“ vorbei ist. Es wird keine Franca, keine Anna mehr geben. Sie standen für ein sehr wichtiges Kapitel der Mode. Aber dieses ist nun zu Ende gegangen. Finito.

Anna dello Russo ist heute Editor-at-Large der japanischen „Vogue“ und Botschafterin sowie „Scientific Director“ der Modeakademie Istituto Marangoni in Mailand.

Protokoll: Silvia Ihring

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