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Kultur Ein Held unserer Zeit

Nils Holgersson kann Europa retten

Wunderbare Reise Des Kleinen Nils Holger (1985) Nils Holgersson und der Hamster Krümel Regie: Hisajuki Toriumi , | Wunderbare Reise Des Kleinen Nils Holger (1985) Nils Holgersson und der Hamster Krümel Regie: Hisajuki Toriumi , |
Er sieht nur so harmlos aus: Nils Holgersson
Quelle: picture alliance / United Archiv
Wir alle haben im letzten Jahr den Boden unter den Füßen verloren. Doch es gibt einen Helden der Weltliteratur, der uns Versöhnung bringt: Eine Ode an Nils Holgersson und Humanität ohne Selbstmitleid.

Wut, Verachtung und Selbstüberschätzung schwellen in diesen Tagen beängstigend an. Wut aus einem dauernden Gefühl, übersehen und übergangen zu werden; Verachtung für eine Ignoranz und Inkompetenz der gesellschaftlichen Eliten, die man ganz allgemein und überall vermutet; Selbstüberschätzung, die aus Ton und Stil so vieler Netzkommentare spricht und die nach Allensbach-Umfragen knapp die Hälfte der Deutschen denken lässt, sie könnten es besser als die Politiker.

Wo sollen die versöhnenden Kräfte herkommen, die wir so unübersehbar brauchen? Natürlich, die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse müssen so sein, dass unsere westlichen Gesellschaften zusammenhalten. Aber es müssen sich eben auch die Gemüter beruhigen. Es braucht eine neue Milde. Wo soll sie herkommen? Aus vielen kulturellen Quellen kann sie kommen. Neulich leuchtete sie aus einem Buch, für das heftige Begeisterung zu bekennen man in diesem Zusammenhang etwas Mut braucht, jedenfalls dann, wenn man gern auf der Höhe der gesellschaftlichen Gegenwartsdiskussion vermutet wird. Aber der tiefe Eindruck, den das Buch auf den vorlesenden Vater gemacht hat, lässt für solche Eitelkeit keinen Raum – dies übrigens ein kleiner Nebenbeweis für die heilende Wirkung, um die es hier geht.

Alles einfärbende Humanität

Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen kennt jeder. Wirklich? Kaum jemand weiß, dass es sich um einen Vielhundertseitenwälzer handelt, fast 700 sind es in der Neuübersetzung von Thomas Steinfeld, die unter dem Originaltitel „Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“ in der Anderen Bibliothek erschienenen ist. Kaum jemand kennt das Buch so, wie Selma Lagerlöf es in den Jahren vor 1906 geschrieben hat. Dabei macht erst die Länge die nette Geschichte zum Ausnahmebuch, zum literarischen Bildungserlebnis sondergleichen und zu noch viel mehr. Also sparen wir uns das aufgeklärte Abwinken angesichts eines patriotischen Auftragsbuches für den schwedischen Volksschulunterricht – darum handelte es sich. Lassen wir den Ideologieverdacht weg, lassen wir uns ein, lassen wir die temperierende, verschönernde Wirkung aufs Gemüt zu, die von diesem Buch ausgeht.

Wunderbare Reise Des Kleinen Nils Holger (1985) Nils Holgersson und der Hamster Krümel wurden von einem Wichtelmänchen verzaubert. Jetzt können sich die Tiere für Nils Gemeinheiten an ihn rächen. Regie: Hisajuki Toriumi , |
Nils Holgersson und sein Hamster Krümel wurden von einem Wichtelmännchen verzaubert
Quelle: picture alliance / United Archiv

Dieses Buch ist „Grimms Märchen“, „Brehms Tierleben“, Goethes Wirklichkeitsliebe, Gustav Freytags Vergangenheitsbilder, Wilhelm Heinrich Riehls Volkskunde, romantischer wie poetisch-realistischer Weltzugriff in einem – eine Summe des Blicks dieses 19. Jahrhunderts auf Natur und Kultur, auf Mensch, Geschichte und Landschaft, zusammengehalten von einer magischen Fantasie und einer alles einfärbenden Humanität. Das alles innerhalb der Grenzen eines national bestimmten Raums, die in Wahrheit aber keine Beschränkung, sondern allererst die Eröffnung eines möglichen Sinnhorizonts bedeuten. Es gibt kein zweites solches Buch. „Ein Buch für Kinder und Erwachsene“ – dieses Werk gibt dem inflationierten Satz seine Würde zurück.

Ungeschmückte und selbstmitleidfreie Erzählung

Es ist von der ergreifendsten menschlichen Wärme und Intensität, wie das Buch die Beziehungen und Freundschaften zwischen den Tieren entwickelt und wie es daneben menschliche Schicksale, Lebenswege und -wendungen auf stets wenigen Seiten greift. Etwa die Geschichte des jungen Bauern, der seinem verstorbenen Vater Geiz und Hartherzigkeit als Pflicht und Erbe aus dessen Lebensleistung schuldig zu sein glaubt, bis er durch eine Verkettung von Begegnungen unter Tränen versteht, dass er zeigen muss, wer er selbst ist. Oder wie nur durch die völlig ungeschmückte und selbstmitleidfreie Erzählung einer alten Bäuerin von den vielen Jahren, die sie als Mädchen und junge Frau in Hungerzeiten fern der Heimat Arbeit tat, bevor ihr Mann fünf Jahre nach der Hochzeit starb und sie mit fünf Kindern zurückließ, sich im Leser ein tiefer Respekt vor solcher Lebenshaltung ohne Bitterkeit einstellt.

Land und Meer leben glücklich miteinander

Das Buch ist von lyrischer Meisterschaft, voll der berührendsten Bilder. Die Schilderung der Schären wird man nicht mehr vergessen. „Es ist so, dass sich Meer und Land auf viele verschiedene Arten begegnen können.“ Mal fänden Land und Meer einander offenbar so unangenehm, dass einer dem anderen nur das Schlechteste von sich zeigen will, „holprige Wiesen“ hier, unordentlicher Flugsand dort; mal verhalte sich das Land mit gebirgigen Mauern gegen das Meer so, als wenn dieses etwas Gefährliches wäre, was das Meer dann tatsächlich mit wütender Brandung beantwortet. Nach solcher kleinen Ufer-Typologie ersteht dann vor unseren Augen auf zwei Seiten die Schärenlandschaft, wo Land und Meer glücklich miteinander leben und sich füreinander schmücken und sich am Ende selbst nicht wiedererkennen, so ruhig, freundlich und schön sind beide geworden.

Das Buch ist von einer saftigen Präzision, wo das Leben der Elche, ihre Leiber und ihre Bewegungen, wo überhaupt die Tiere, ihr Verhalten, ihre Kämpfe und Tänze geschildert, ihre Behausungen beschrieben werden, wie in der drastischen Schilderung der wenig appetitlichen Atmosphäre um das Adlernest in Lappland. Es ist von biblischer Unerbittlichkeit und zugleich zoologischer Genauigkeit, wie die mehrjährige Plage der Nachtschmetterlingsraupen im zugrunde gehenden Nadelwald und der jahrelange verzweifelte und vergebliche Kampf der Menschen gegen die Heimsuchung erzählt werden. Es ist von einer zugleich existenzialistischen und meteorologischen Bildkraft, wie das Eis im April auf dem Hjälmarsee bricht, in seiner beängstigenden Wucht Adalbert Stifters Eis-und-Schnee-Geschichten vergleichbar.

Hier sind alle Schweden zuhause

Überall ist ein leuchtendes bildnerisches Vermögen am Werk, das die Farben und Formen der Landschaften und der Kleider, der Bauernkaten, Höfe und Herrenhäuser, der Schlösser wie der Fabriken erstehen lässt. Mit einer staunenswerten geologisch-genealogischen, mythischen Fantasie wird der Ursprung der Landschaften imaginiert, die Verteilung der Flüsse, Seen, Bergrücken und Wälder ins Land – die Genesis Schwedens. Und mit einer seltenen Meisterschaft der Verknappung wird das Sich-Einschreiben des Menschen in diese Landschaften geschildert, werden Jahrhunderte der Geschichte von Regionen und Städten, von Landbau, Bergbau und Waldnutzung überspannt, Jahrhunderte der Gewerke und Gewerbe, der Hochzeiten und Begräbnisse, der Walpurgisnächte, Volksgesänge und Studentenfeiern.

Das Stockholm-Kapitel ist dabei das genaue Gegenstück zu Karl Schefflers jüngst bei Suhrkamp wiedererschienenem „Berlin“-Buch von 1910. In gerafftester Erzählung wächst die Stadt, wie wir sie kennen, auf den Inseln am Ausfluss des Mälarsees in die Ostsee, von der Besiedlung durch Fischer und der Ankunft des Königs über die Klöster der Mönche und Nonnen und die Häuser der Kaufleute und Handwerker bis zu den Bauten und Institutionen der Gegenwart um 1900. Hat Scheffler gekannt, was Lagerlöf kurz zuvor über Stockholm schrieb als jene Stadt, die alles Schwedische, alles Beste der Nation anzog und in der „alle Schweden zu Hause“ seien? „Von hier aus gelangen die Dinge zu allen Schweden, und hier haben alle Schweden etwas zu erledigen. Hier muss sich keiner fremd fühlen.“ Scheffler konturierte Berlin als das exakte Gegenteil einer solchen echten Nationshauptstadt, weil die ewige Kolonialstadt immer nur jene angezogen habe, die woanders nicht zurechtkamen, und in der nicht einmal die Einheimischen heimisch werden konnten.

Ein Buch für Europa

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Dieses Buch ist ein nationales Epos, literarischer Nationalismus, ja – aber ein Nationalismus der freundlichen Selbsterkenntnis. Weil er Zugehörigkeit stiftet zu Raum und Geschichte der gerade noch erfassbaren eigenen Lebenswelt, ist er schwer verzichtbar für unsere Behausung in dieser grenzenlosen, zunehmend nivellierten Welt. Glücklich die Nation, die so ein Buch besitzt. Wir Deutschen haben kein vergleichbares. Aber das ist das Beglückende: Wir können einfach dieses nehmen! Es ist ein europäisches Buch. Es funktioniert auch für Deutsche. Es macht still und demütig. Es ruft Achtung und Respekt vor vielem wach, das größer ist als wir selbst. Das ist heute ein eher anstößiger Gedanke. Aber nur an solcher Selbst-Relativierung könnten wir genesen.

Viel spricht dafür, in der verbreiteten Selbstüberhebung die Folge einer fortschreitenden Herauslösung aus nährenden Bezügen zu sehen. Verbindungen sind heute gekappt, die in Lagerlöfs Buch noch reich anwesend sind. Unser Weltverhältnis droht auszutrocknen. Es ist leicht, den Eindruck als papierene Kulturkritik abzutun. Aber wer dieses Buch liest, fühlt an dem gegenteiligen Weltverhältnis, das sich beim Lesen wieder zu regen beginnt, was uns fehlt.

Die Wirkung dieses Buches ist ein mildes Wohlwollen gegen die menschlichen Bemühungen und Bestrebungen über die Jahrhunderte, Sympathie für die Vorfahren und die Mitmenschen, für ihre Werke und Leistungen, für Natur und Landschaft – für unsere Welt. Und die Wirkung überdauert die Lektüre. Das Buch ist ein Gegenmittel gegen die extreme Fixierung auf das recht habende Individuum. Es erlöst uns von uns selbst. Wütende, lest dieses Buch!

Der Autor ist Historiker und hat als Redenschreiber für das Bundespräsidialamt gearbeitet.

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