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Kultur Marcel Reich-Ranicki

"Bölls Theaterstücke und Gedichte sind nichts wert"

Vor 25 Jahren starb Nobelpreisträger Heinrich Böll. Warum er wichtig war und doch vergessen wurde, beschreibt Marcel Reich-Ranicki im Interview.

WELT ONLINE: Herr Reich-Ranicki, ist Heinrich Böll vergessen?

Marcel Reich-Ranicki: Nicht bei meiner Frau und mir. Erst vor ein paar Wochen hat mich meine Frau an eine Geste Bölls erinnert. Wir waren 1958 aus Polen nach Frankfurt gekommen. Wir hatten buchstäblich nichts. Von den ersten Honoraren für meine Rezensionen konnten wir uns gerade ein möbliertes Zimmer zur Untermiete leisten. Als Böll kurz darauf nach Frankfurt kam, besuchte er uns und brachte meiner Frau einen Strauß Blumen mit. Meine Frau hat das bis heute nicht vergessen. Da war ein Deutscher, der zwei unbekannte polnische Juden mit Blumen in seinem Land willkommen hieß. So etwas hatten wir mit keinem anderen erlebt. Nur mit Böll.

WELT ONLINE: Aber wie sieht es mit den Büchern von Böll aus? Sind sie noch lesbar?

Reich-Ranicki: Einige seiner Erzählungen gehören zum Besten, was er je geschrieben hat. Sie sind auch heute unbedingt empfehlenswert. Vier habe ich in meinen Kanon der deutschen Literatur aufgenommen: „Der Mann mit den Messern“, „Wiedersehen in der Allee“, „Wanderer kommst du nach Spa…“ und „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“. Seine Theaterstücke und Gedichte sind nichts wert. Seine Romane wie „Brot der frühen Jahre“, „Billard um halb zehn“ oder „Ansichten eines Clowns“ sind passabel, aber nicht brillant. Wenn man bedenkt, dass sie vom damals berühmtesten und erfolgreichsten deutschen Schriftsteller stammen, sind sie heute eine Enttäuschung. Seine beste Arbeit ist vielleicht tatsächlich „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“. Eine Geschichte aus dem Medienmilieu, da kannte er sich aus, das konnte er gut.

WELT ONLINE: Auch sein meistgelesenes Buch „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ ist eine Mediengeschichte.

Reich-Ranicki: Ja, aber die ist später erschienen. Für die Wirkung der Medien nicht nur auf das Publikum, sondern auch auf die Medienmacher hatte er ein besonderes Gespür.

WELT ONLINE: Warum halten viele Leute Böll heute trotz allem für vergessen?

Reich-Ranicki: Er ist weitgehend vergessen, und ich habe auch eine Vermutung, woran das liegt. Die Wirkung von Literatur kann auf ganz unterschiedlichen Qualitäten beruhen. Es gibt Bücher, die durch die Schönheit ihrer Sprache oder die mit enormer Intelligenz und psychologischem Scharfblick komponierte Handlung unwiderstehlich werden. Aber es gibt auch Schriftsteller, die einen besonderen Sinn für Themen haben, für Themen, die eine Gesellschaft unterschwellig umtreiben, die aber noch niemand öffentlich eindrucksvoll formuliert hat. So ein Schriftsteller war Böll: Er war kein Sprachkünstler, und viele seine Geschichten und Figuren wirken sehr künstlich und mühsam konstruiert. Aber er hatte eine Nase für Themen, die den Deutschen auf den Fingern brannten. Aber nun ist Böll 25 Jahre tot, heute sind ganz andere Themen aktuell, also wird der Abstand zu seinen Büchern und zu ihm unaufhaltsam immer größer.

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WELT ONLINE: Wie kommt es, dass Böll heute noch nicht einmal mehr Feinde hat? Früher wurde er von Kirche und Konservativen bekämpft. Heute sind die Leute gleichgültig oder verehren ihn.

Reich-Ranicki: Vielleicht darf ich das aus meiner eigenen Erfahrung beantworten. Denn auch ich wurde früher viel heftiger bekämpft und angefeindet als heute. Aber da ich heute fast keine Rezensionen mehr schreibe, haben die Leute keinen aktuellen Grund mehr, sich über mich zu ärgern. Also bekämpfen sie mich nicht mehr. Bei Böll wird es ähnlich sein. Da er tot ist, muss ihn niemand mehr fürchten. Also ist es viel leichter geworden, ihn zu verehren. Auch für Konservative und Anhänger der katholischen Kirche.

WELT ONLINE: Böll wurde gern „Gewissen der Nation“ genannt. Wenn er heute mehr und mehr in Vergessenheit gerät, bedeutet das, dass unser Land ein solches Gewissen nicht mehr braucht?

Reich-Ranicki: Bölls publizistische Arbeit war ungeheuer wichtig. Auch mit seinen Zeitungsartikeln, Protesten und öffentlichen Auftritten hat er vieles, was dieses Land gefühlsmäßig umtrieb oder hätte umtreiben müssen, zu einem öffentlichen Thema gemacht. Er hat Debatten angestoßen, die an der Zeit waren. Das ist eine besondere Gabe. Natürlich könnte Deutschland einen solchen Schriftsteller auch heute wieder brauche. Aber sie sind selten. Nicht jede Generation kann erwarten, dass sie einen Böll hat. Das Land muss dankbar sein, für den einen, den es hatte.

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