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Literatur Phänomen Hanns Zischler

Wie man aus Worten Bomben bastelt

Hanns Zischler, 1947 in Nürnberg geboren, ist einer der meistbeschäftigten deutschen Schauspieler. Schriftsteller ist er auch. Und Lesender ist er immer Hanns Zischler, 1947 in Nürnberg geboren, ist einer der meistbeschäftigten deutschen Schauspieler. Schriftsteller ist er auch. Und Lesender ist er immer
Hanns Zischler, 1947 in Nürnberg geboren, ist einer der meistbeschäftigten deutschen Schauspieler. Schriftsteller ist er auch. Und Lesender ist er immer
Quelle: picture alliance / Geisler-Fotop
Hanns Zischler ist Verleger, Schauspieler – und belesen. Spricht man mit ihm über Bücher, geht man mit vielen Tipps nach Hause. Und will sofort loslesen, von „Morels Erfindung“ bis zum „Weltpuff Berlin“.

Es ist still bei ihm zu Hause in Berlin. Der Blick geht über ein Fischgrätparkett und einen Wintergarten hinaus in einen Charlottenburger Garten. Auf dem Schreib-Esstisch steht eine mechanische Schreibmaschine, ein Laptop und das Buch, das Hanns Zischler gerade übersetzt. Eine Graphic Novel. „The three lives of Hannah Arendt“. Es gibt Assam zu trinken. Als „rassiger Herrentee“ sei der angepriesen worden, sagt er. Passt ja. Bücher an allen Wänden, auf allen Etagen. Fein sortiert nach Genres, Nationalliteraturen. Hinter reispapierähnlichen Rollos. Zischler, als Verleger, Schriftsteller, Fotograf, Schauspieler, Vorleser, ein Mann, der sieben Leben haben muss, findet sofort, was er braucht. Das meiste hat er ohnehin im Kopf. Wenn an Ostern wieder alles einschneit, denkt man, wäre das ein angenehmer Ort, um ein paar Tage nicht mehr wegzukommen.

1. Vladimir Nabokov: Erinnerung, sprich

„Erinnerung, sprich“ ist ein unerschöpfliches Buch. Dank Dieter E. Zimmers Übersetzung konnte ich es sehr früh lesen. Immer wieder kommt es mir vor wie eine sehr komplexe Partitur, bei der man mit jeder neuen Einspielung (Lektüre) eine bislang überhörte Stimme entdeckt – wodurch sich der bisher gewonnene Gesamteindruck stets und beglückend verschiebt. Die Jugend, die Nabokov gestohlen wurde, holt er sich aus der Asservatenkammer der „verlorenen Zeit“ zurück. Tatsächlich gaukelt er uns etwas vor – nur die allerwenigsten Leser sind auch Schmetterlingskundler, doch dass wir ihm auch auf diesen Jagden bereitwillig folgen, gehört zum hypnotischen Kunstgriff seines Schreibens.

2. Francis Ponge: Lyren, Stücke, Methoden

Francis Ponge ist für mich – neben Kafka –, seitdem ich mich lesend und schreibend mit Literatur beschäftige, der prägende Autor. In dieser bislang leider einzigen größeren zweisprachigen Ausgabe sind sehr kleine Stücke, kurze Betrachtungen und Reflexionen gesammelt. In einem Interview erzählte er, wie er in einer Zeit der Entbehrungen sich abends 20 Minuten in eine stillgelegte Toilette seiner Wohnung zurückzog und eine Bombe bastelte – allein mit Hilfe des großen Wörterbuchs von Littré (von 1875). Die Kunst und die Kraft, die Wörter mit ihren Gegenständen – ich sage es bewusst – zu „vermählen“, behext mich bis heute. Es gibt von ihm einen Text über den Klatschmohn, als wäre er der Blume selbst entlockt.

3. Jorge Luis Borges: Die germanischen Literaturen des Mittelalters

Noch einer vom Jahrgang 1899. Wie Ponge und Nabokov. Anfang der 80er-Jahre hatte ich für meinen kleinen Verlag das Buch übersetzen lassen. Ich hatte mich mit dem Übersetzer überworfen und heute weiß ich, dass ich ihm unrecht getan habe. Leider ist dieses Buch nie auf Deutsch erschienen, auch in der großen Ausgabe bei Hanser nicht. Borges gelingt auf gut 100 Seiten, die altenglische, altnordische und altdeutsche Literatur so nachzuerzählen, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt. Er ist als Nacherzähler von Geschichten – und sehr viele seiner Texte sind ja Nacherzählungen und Variationen von teilweise kryptischen Überlieferungen – in der Lage, das Opake durchsichtig, das Verhärtete flüssig zu machen. Er hat ein untrügliches Gespür für die besonderen, diesen frühen Texten innewohnenden Metaphern. Sie sind die bunt bemalten Glasfenster, durch die das Licht der Überlieferung hereinbricht und gebrochen wird.

4. Adolfo Bioy Casares: Morels Erfindung

Das ist der Science-Fiction-Roman, der den modernen Science-Fiction-Roman eröffnet und beendet. Wie das Virtuelle zu unserer zweiten Natur wird, kann man hier erfahren. Die Erfindung dessen, was wir heute virtuelle Realität nennen, ist hier schon vollständig beschrieben. 1940 so etwas zu schreiben, ist bedrängend kühn. Es findet auch nicht im All, es findet unter uns, hier, statt. „Morels Erfindung“ ist eine beängstigende dreidimensionale Projektion von Menschen, die kraft des Hologramms zu einer makabren Unsterblichkeit gefunden haben und den auf eine Insel Geflüchteten – er ist dem Leser zum Verwechseln ähnlich – in ihren Bann ziehen. Casares’ Freund Borges hat diesen „vollkommenen“ Roman eine „rationale Imagination“ genannt. Wer heute „Morels Erfindung“ liest, wird mit anderen Augen ins Kino gehen als vorher.

5. Franz Kafka: Amerika

„Amerika“ hat mich verfolgt im besten Sinne – eine kleine Offenbarung und Erlösung, weil hier Kafka sich als hochkomischer Autor zu erkennen gibt. Wie Kafka diesen Karl Rossmann ins Verderben führt und es trotzdem wie eine burleske Veranstaltung erscheinen lässt. Dieses Paradoxon ist ja ziemlich selten. Es gibt eine Barmherzigkeit in „Amerika“, die keinen Humor verträgt. Und es gibt eine Unbarmherzigkeit, die mit einem ganz seltsam distanzierten Humor vorgetragen wird. Es schaudert einen natürlich immer, wenn man an diesen offenen Schluss kommt. Weil man nicht weiß, was Rossmann da in diesem Naturtheater von Oklahoma tatsächlich bevorsteht. Dass man es nicht auslesen kann, ist das eigentlich schlimmste Verhängnis. Dabei ist „Amerika“ wie alles von Kafka auf rätselhafte Weise „zeitfest“. Man hat nie den Eindruck, dass man etwas liest, das um die Jahrhundertwende geschrieben wurde. Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren ist hier die Schlacke weg. Und obwohl man alle Realien und Bezüge zusammenstellen kann, aus denen er die Geschichte amalgamiert hat, ist diese Zusammenstellung nicht die Lösung des Rätsels, auch wenn man immer noch ein paar mehr Quellen findet, Schundhefte zum Beispiel, die Kafka gelesen hat. Es hat mich tief, tief beeindruckt, dieses Buch.

6. Wilhelm Lehmann: Der Überläufer

Biographie in Büchern
Ein Anti-Ernst-Jünger, sagt Hanns Zischler über dieses Buch
Quelle: Elmar Krekeler

Wilhelm Lehmann beschäftigt mich schon sehr lange. Zunächst als Lyriker, neben Huchel und der Kolmar. Vor wenigen Jahren erschien dieser außergewöhnliche Roman in gekürzter Form. Er hat meinen Blick nicht nur auf Lehmann, sondern auf die Erste-Weltkrieg-Literatur entscheidend verändert. „Der Überläufer“ ist gegen Jüngers „Stahlgewitter“ geschrieben, ein Roman gegen Jüngers „Stahlgewitter“. Lehmann wehrt sich gegen die Heroisierung und Pathetisierung der Gemeinschaft im Schützengraben. Während Jünger erzählt, wie Menschen im Graben zusammengeschweißt werden, sagt Lehmann: „Ich will diese Gemeinschaft nicht haben. Ich finde sie grauenhaft. Ich will nicht zusammengeschweißt werden.“

Und es gelingt ihm auf eine ganz unglaubliche Weise zu erzählen, was ihn veranlasst hat zu desertieren. Lehmann hatte wirklich großes Glück. Beim ersten Mal ist er nur bestraft worden, beim zweiten Mal ist er dann bis zu den englischen Linien durchgekommen. „Der Überläufer“ ist existenziell aufwühlende Literatur, erzählt davon, wie man dem Gemeinschaftsdruck entkommen kann, dem man ausgesetzt ist in dem Moment, wo man in dieser Uniform steckt. Lehmann hat das 1927 geschrieben. Der Roman konnte – vielleicht zu seinem großen Glück – damals nicht veröffentlicht werden. Um als Lehrer in Eckernförde einigermaßen unbehelligt zu sein, wurde er sogar Mitglied der NSDAP. Er ist nicht ins Exil gegangen, ist Mitglied der NSDAP geworden, um sozusagen als Lehrer Unterschlupf zu finden. Das war nun sicher kein heroischer Akt. Dieser Roman aber hat mich doch sehr bewegt.

7. Rudolf Borchardt: Weltpuff Berlin

Das war für mich eine der größten Überraschungen des vergangenen Jahres. Ich halte das für ein ganz großes Buch. Es ist Borschardts Rückblick auf das Jahr 1900 von 1936 aus und fällt vollkommen heraus aus der Literatur über die Jahrhundertwende in Form einer im Exzess geradezu wahnhaften sexuellen Entäußerung. Mit einem klug operierenden Lektorat ließe sich daraus ein wirklicher Roman machen. Es ist ein wahnhaftes Märchen über Berlin. Es geht dabei gar nicht um den Realismus der Erzählung, es geht auch nicht um „Stellen“, sondern um eine pornografische Entgrenzung realistischen Erzählens. Was mich aber zunächst von Borchardt geprägt hat, war seine Anthologie von 1927, „Der Deutsche in der Landschaft“, die jetzt neu erschienen ist. Die hier versammelten Reiseberichte sind die „Ausfahrten“ deutscher Reisender in die Welt. Hier konvergieren Reise und Schrift. Den Hinweis auf dieses kleine Monument der forschenden Reiseliteratur verdanke ich dem Religionswissenschaftler Klaus Heinrich.

8. Andrej Platonow: Die Epiphaner Schleusen

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Auf die Geschichte und vor allem ihren Autor wurde ich durch einen Essay von Joseph Brodsky aufmerksam. „Epiphaner Schleusen“ entstand in der Sowjetunion der 30er-Jahre und spielt in der Zeit Peters des Großen, dessen Selbstherrschaft diejenige Stalins mehr als ahnen lässt. Es handelt vom vergeblichen Versuch eines englischen Ingenieurs, im Auftrag Peters einen Kanal in Zentralrussland zu bauen. Es ist eine ungeheure Geschichte, eine Novelle über den alles verschlingenden Raum Russlands. Bei Platonow, einem wahrhaft gläubigen Kommunisten, lauert dieser Raum, bis er mit den Menschen auch deren Geschichte verschlingt. Der jüngst verstorbene große Schriftsteller Andrej Bitow wurde, sinngemäß, einmal gefragt, was die russische Literatur geworden wäre, wenn es die Sowjetunion nicht gegeben hätte. Bitows Antwort: Nabokov.

9. Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften

Ich merke, dass das, was ich hier aneinanderreihe, ziemlich bildungslastig ist. Man entkommt sich eben selbst nicht so leicht. Die „Wahlverwandtschaften“ habe ich vor 20 Jahren an fünf Nachmittagen in einem privaten Kreis vorgelesen. Es ist ein unverschämt gutes Buch, weil hier die schiere Konstruktion der Partnerwahl(en) wie ein Trompe-l’oeil den Leser sehr lange über die Unmöglichkeit und das Verhängnis einer solchen Konstruktion bzw. Chemie hinwegtäuscht. Goethe gelingt es, so etwas wie einen seiner selbst nicht bewussten befangenen Leser entstehen zu lassen. Lesen ist immer auch Wiederlesen. Der Surplus des nie ruhenden Textes. Wiederlesen ist der Lackmustest der erinnernden Lektüre. Es gibt diese Bücher, die einen nicht verlassen, sie kreisen im Kopf, flüstern einem was zu, legen sich manchmal schwer auf die Seele. Aber selbst das will man ja auch. Weil man dort Worte findet, die man selbst nie gefunden hätte.

Protokoll: Elmar Krekeler

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