Dobersdorf 998: Diese Adresse geben zurzeit Dutzende Lkw-Fahrer am Tag in ihre Navigationsgeräte ein. Sie gehört zur „Holsteintanne“, der Firma der Familie von Burgsdorff auf Gut Dobersdorf. In sechs Sprachen steht das Wort „Anmeldung“ auf dem Schild gegenüber der kopfsteinbepflasterten Allee, denn vom Kreis Plön aus verteilen sich die Tannen auf halb Europa. Hunderttausende innerhalb von zwei Monaten.
Inmitten der Hügel der Holsteinischen Schweiz liegt der größte Weihnachtsbaumbetrieb Norddeutschlands. Ein Ort zwischen Adventsromantik und Industriestress. Mitten in der Corona-Pandemie ist Hochsaison, in diesem Jahr ist die Nachfrage sogar besonders groß.
„Allein heute kommen 50 Lkw, die unsere Bäume abholen“, sagt Mitarbeiter Jan Stölting. Ein Großkampftag auf dem Gut beginnt. Der Mann mit dem blonden Bart und den von der Kälte roten Wangen steht auf der Plantage, Tausende Tannen um ihn herum, jede einzelne trägt ein Fähnchen. Manche sind blau, andere rot, die nächsten gestreift. Die Bäume wurden im Sommer begutachtet, jeder einzeln, und jeder bekommt dann ein Fähnchen für die Ernte im Winter. Die Farben und Muster geben Auskunft über den Kunden, die Größe und Qualität des Baumes. „Das ist dann schon ein richtig großer Aufwand“, sagt Stölting.
Vom Mini-Bäumchen bis zur Acht-Meter-Tanne
Die Holsteintanne ist ein Familienbetrieb in erster Generation. In diesem Jahr wird die Familie wohl erstmals die Marke der 500.000 verkauften Bäume knacken. Vom 80-Zentimeter-Bäumchen „to go“ mit zugehöriger Tasche und Stehkreuz bis zum Acht-Meter-Exemplar für Plätze in Städten oder die Foyers großer Unternehmen ist alles dabei.
Als Christian von Burgsdorff vor 25 Jahren das Gut mit angeschlossenem Ackerbaubetrieb seiner Eltern und das Haupthaus – einer der letzten großen Rokoko-Bauten in Schleswig-Holstein – übernahm, war ihm eines klar: Er will unabhängig wirtschaften. „Ich will nicht am Tropf von Subventionen hängen“, sagt er. „Und das geht heute nur noch mit sogenannten Sonderkulturen im Ackerbau.“
Und da zum Gut ohnehin eine Forstwirtschaft gehörte, fiel die Entscheidung des studierten Betriebswirts und Landwirts zügig: Tannenbäume, die später in den Wohnzimmern oder in Einkaufszentren und Unternehmenszentralen zu Weihnachtsbäumen geschmückt werden, wurden da gepflanzt, wo zuvor Wirsing wuchs. Um die 130 Erntehelfer hat Christian von Burgsdorff zurzeit beschäftigt, Saisonkräfte, zum großen Teil kommen sie aus Rumänien, allesamt Männer. Die Corona-Auflagen haben die Organisation dabei erschwert.
Der Betrieb verkauft aber nicht nur Tannenbäume, sondern baut seit geraumer Zeit auch die dafür nötigen Erntemaschinen selbst. Treepacker GmbH heißt die Firma, die von Burgsdorff für den Maschinenbau gegründet hat. Sie baut zum Beispiel den sogenannten Cutter: Das ist ein hydraulisch betriebener Baumschneider mit Vier-Takt-Motor, eine Art Rollator mit kräftiger Kneifzange. „Die Arbeit ist ungefährlich, braucht wenig Kraft und geht nicht so in den Rücken“, sagt von Burgsdorff.
Wer geübt ist, schafft damit bis zu 1500 Bäume am Tag, schätzt Jan Stölting. Er ist Betriebsleiter der Treepacker GmbH, gelernter Landmaschinenmechaniker sowie studierter Maschinenbauer und hat schon die Weiterentwicklung des Kneifers im Sinn: Die Zange soll austauschbar sein, damit die Arbeiter mit demselben Gerät auch mit einer Sichel mulchen und mit einem Messer den Stumpf von Ästen befreien können. „Ich will ein Kombigerät entwickeln, mit dem man alles machen kann. Das ist mein Ziel.“
Auch das Binden und Verladen geschieht per selbst konstruiertem Fahrzeug: Ein umgebauter Trecker vernetzt die Tannen und stapelt sie fein säuberlich für die Paletten. Die Erntehelfer müssen den Baum nur mit dem Stumpf voran an die Zangen halten und einen großen schwarzen Knopf drücken.
Schleswig-Holstein ist Weihnachtsbaumland
Etwa 700.000 Nordmanntannen pflanzen die Mitarbeiter des Weihnachtsbaumbetriebs in diesem Jahr. Insgesamt wachsen mehr als vier Millionen Bäume auf den 700 Hektar der Familie – teils rund um Dobersdorf, teils in Dänemark. Wer Christian von Burgsdorff auf die immer weiter verbreiteten Kunststoffbäume anspricht, erntet nur ein mildes Lächeln. „Wer sagt, dass Plastikbäume umweltfreundlicher sind, dem sage ich: Auf unseren Äckern leben Schlangen, Käfer, Frösche, Fasane, Niederwild und Singvögel. Die Bäume binden Stickstoff und produzieren Sauerstoff.“
Argumentationshilfe bekommt von Burgsdorff sogar von der Bundesregierung: Auf deren Webseite ist zu lesen, dass sich ein Plastikbaum erst nach 17 bis 20 Jahren ökologisch amortisiert. Gründe sind die energieintensive Produktion, die problematische Entsorgung und die weiten Transportwege aus Asien.
Neben Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und dem Sauerland ist Schleswig-Holstein das Weihnachtsbaumland in Deutschland. „Das maritime Klima zwischen den Meeren tut den Tannen gut“, sagt Dr. Andreas Wrede, Leiter des Kompetenzzentrums Weihnachtsbäume bei der Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein. „Wir haben wenig Spätfröste, den milden Witterungsverlauf mögen die Nordmanntannen.“
Offizielle Statistiken gibt es nicht, weil diese Sonderkulturen nicht gesondert erfasst werden, aber Landwirtschaftskammer und auch der Erzeugerverband gehen von rund 2000 Hektar Fläche aus, auf denen im nördlichsten Bundesland Tannenbäume wachsen. Pro Hektar werden etwa 4000 Bäume gepflanzt, mithin beträgt die Jahresproduktion rund 800.000 Tannen.
„Es werden mehr Tannenbäume verkauft“
Auch Wolf Graf von Baudissin verkauft Weihnachtsbäume, sein Gut liegt zwischen Kiel und Eckernförde. Der stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbands der Weihnachtsbaumproduzenten rechnet damit, dass in diesem Jahr mehr Tannen verkauft werden als sonst, weil das Coronavirus das Verhalten vieler Menschen beeinflusst, allein schon, weil Reisen so gut wie unmöglich sind.
„Umfragen haben ergeben, dass viele Menschen sich in der Vergangenheit keinen Baum gekauft haben, weil sie in den Urlaub fuhren. Das fällt in diesem Jahr weg.“ Knapp 30 Millionen Christbäume wurden laut statista.com 2019 in Deutschland verkauft – an Privatleute, Gastronomen, Kommunen, Unternehmen. Der Verband rechnet damit, dass sich in diesem Jahr mehr Menschen als sonst eine Tanne fürs Wohnzimmer besorgen. Engpässe bei der Versorgung befürchtet von Baudissin nicht.
Für von Baudissin kann der Kauf des Christbaums in diesem Jahr noch viel mehr sein als das bloße Abhaken eines Punktes der zu erledigenden Sachen. „Der Weihnachtsbaumkauf kann zum Ausflug für die ganze Familie werden“, wirbt der Direktvermarkter. „Wir können zwar keinen Punsch anbieten wie sonst. Aber jeder kann sich sein Heißgetränk selbst mitbringen und draußen im Freien auf seinen Baum anstoßen.“
In Hamburg wird der Straßenverkauf nach dem zweiten Advent großflächig starten, viele Baumärkte bieten aber auch jetzt schon Tannen an. Die Meterpreise liegen laut Branchenangaben etwas über denen des Vorjahrs, weil die Corona-Umstände die Kosten erhöhen.
Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es, knapp 30 Millionen Christbäume hätten 2019 in deutschen Wohnzimmern gestanden. Die Daten von statista.com beziehen sich jedoch auf die Zahl der Bäume, die an Privatleute sowie an Gastronomen, Kommunen und Unternehmen verkauft wurden. Wir haben dies korrigiert.