Meine Großmutter Selimat Achmedova hat vor acht Jahren ihr Augenlicht verloren. Sie schafft es gerade noch aus dem Schlafzimmer in die Küche, wenn sie sich an den Möbeln festhält. Rund um die Uhr wird sie von ihren Töchtern und Enkelinnen betreut. Im Schlaf schreit sie oft, jemand scheint ihr Angst einzujagen. Tagsüber singt sie Totenlieder, im Tschetschenischen Uzam-Lieder genannt. Wer dem Text lauscht, bekommt es mit der Angst zu tun:

Freut euch nicht, an der großen Welt.
Im Grab bedeckt eine Platte die Welt.

Oder:
Freut euch nicht, an eurer großen Familie.
Denn ins Grab legen wir uns allein.

Der Uzam markiert den Ursprung mündlicher tschetschenischer Volksweisen. Alte Frauen singen diese Lieder noch heute im Haus oder auf Beerdigungen. Gesungen wird über die Deportation der Wainachen – so nennen sich die Tschetschenen und die benachbarten Inguschen, es bedeutet "unser Volk" – nach Mittelasien und Kasachstan. Oder über den Liebsten, der in den Krieg zog. Über die Verstorbenen oder die Angst vor dem nahenden Tod. Ihre Dankesgebete sind an die Berge gerichtet, die Sonne, den Fluss und an Deli, so heißt Gott in Tschetschenien. Dialoge mit der Natur sind allgegenwärtig, denn bis zur Islamisierung im späten 18. Jahrhundert waren die Tschetschenen Heiden; die Göttin der Fruchtbarkeit und des Frühlings wurde in der wainachischen Mythologie Tuscholi genannt. Mithilfe der Gesänge heilen die tschetschenischen alten Frauen den Seelenschmerz ihrer Erinnerungen. Sie sind voll von Leid.

Meine Großmutter Selimat hat zwei Tschetschenienkriege und die gewaltsame Vertreibung der Wainachen im Jahre 1944 überlebt. Sie lässt die Rosenkranzperlen durch ihre Finger gleiten. Als sie 19 Jahre alt war, hat sie sie von ihrer Mutter zur Hochzeit geschenkt bekommen. Das war 1945.

Vor der Deportation lebte sie im Dorf Kesala, in der Region Scharoj, hoch in den Bergen. Ihr Vater, ein Kolchosvorsitzender, fuhr einmal im Jahr in die Stadt Grosny. Eines Tages kehrte er mit einem Koffergrammofon zurück. Alle Dorfbewohner versammelten sich auf seinem Hof und lauschten erhitzt der Musik. Sie hatten noch nie etwas Ähnliches gesehen oder gehört.

Mädchen gingen normalerweise nur bis zur zweiten Klasse in die Schule, man meinte, sie würden sowieso im Dorf heiraten und bräuchten keine Bildung. Aber meine Großmutter hatte Glück, sie durfte fünf Jahre zur Schule gehen. Während des Großen Vaterländischen Krieges wurden viele junge Männer an die Front geschickt. Die meisten wollten nicht in den Krieg und haben sich in den Bergen versteckt, aber sie wurden schnell gefunden. Auch ihr Bruder musste an die Front, sie hat nie mehr etwas von ihm gehört.

Am frühen Morgen des 23. Februar 1944 drangen Bewaffnete ins Haus der Familie meiner Großmutter und forderten alle auf, es sofort zu verlassen. Die Soldaten sprachen Russisch. Niemand verstand diese Sprache. Die Bewohner warfen sich nur schnell warme Kleidung über. Essbares nahmen sie nicht mit, sie ahnten ja nicht, wohin es gehen sollte. Überall wurden Häuser angezündet, alle weinten, schrien, Kühe rannten aus den brennenden Ställen. Dann wurden sie aus dem Dorf zu Fuß über die Berge getrieben. Dort lud man sie in Viehwaggons und brachte sie auf eine zweiwöchige Fahrt nach Kasachstan.

Alle, die zurückblieben, Kranke, Kleinkinder und Alte, wurden erschossen.