Wandmalerei in Südtirol

Über die berühmten romanischen Fresken in der Krypta des Klosters Marienberg im Vinschgau

Zweimal zogen die Benediktinermönche von ihrem ursprünglichen Gründungsort im Unter-Engadin um, bis sie sich im oberen Vinschgau am Rand des Almeina-Baches neben einer älteren Marienkapelle, die dem Kloster auch seinen Namen geben sollte, endgültig niederließen. Ursprünglich gegründet wurde das Benediktinerkloster um 1095 von Ulrich III. v. Tarasp und seiner Ehefrau Uta als Hauskloster. Die Tarasper waren rätische Edelfreie, die damals im 12. Jahrhundert im Unterengadin Grundbesitz ihr Eigen nannten.

Schon zu Beginn der Klostergemeinschaft in Marienberg bestand eine enge Beziehung zu den Benediktinern der schwäbischen Reichsabtei Ottobeuren (Nähe Memmingen im heutigen Bezirk Bayerisch-Schwaben), stammten doch schon die ersten Marienberger Benediktiner Mönche und Äbte von dort. Seitdem wechselten immer wieder schwäbische Mönche in den Vinschgau im westlichen (Süd)Tirol, eine Tradition, die sich bis zum heutigen Tage fortsetzt, Auch der derzeitige Abt Markus, der sich rührig um die außen- und innenarchitektonische Sanierung und der damit verbundenen Modernisierung des Klosters kümmert, kommt aus Ottobeuren. Dabei versteht er es erfolgreich, immer wieder spendable Sponsoren für seine Projekte zu begeistern. Da auch wir, die „Freunde Südtiroler Museen und Kunstsammlungen“, Spender sind, führt er uns persönlich durch alte und von einem preisgekrönten italienischen Architekten renovierte bzw. neu gestaltete öffentliche Räume, letztere in meinen Augen zwar durchaus ansprechend, wenn nicht spektakulär, jedoch mit reichlich Fußangeln versehen, eine streckenweise höchst dezente Beleuchtung inbegriffen. Doch der eigentliche Grund unseres (wiederholten) Besuches sind natürlich die berühmten romanischen Fresken in der Krypta der Oberkirche.

Klosters Marienberg im Vinschgau, romanische Fresken in der Krypta

Als sich die Unterengadiner Benediktiner in ihrer nun endgültigen Bleibe ansiedelten, errichteten sie vor der Fertigstellung ihres Klosters und dem Bau der Oberkirche die Krypta, um sich dort zu ihren täglichen Gottesdiensten und Stundengebeten zu versammeln. Geweiht wurde diese 1160, und schon wenig später erhielt sie eine neue Ausstattung von „unvergleichlich höherer Qualität“.

An dieser Stelle soll nur ganz kurz und ohne auf Einzelheiten einzugehen über die dortige Maltechnik berichtet werden: Die Wandmalerei liegt auf einem Feinputz, der in kleinen Flächen auf dem zwecks besserer Haftung mit Pickelhieben aufgerauten Mörtel feucht aufgetragen und sofort bemalt wurde („al fresco“). Wurde in der romanischen Wandmalerei an einer Fläche stets von oben nach unten entsprechend der Höhe der Gerüstbretter gearbeitet, so ging man hier in „Tagwerken“ vor, was aber nicht als Zeit- sondern als Arbeitseinheiten zu verstehen ist, denn der sehr niedrige Raum machte ein Gerüst überflüssig. Am Beginn des Malvorgangs stand die Vorzeichnung in Gelb-Ocker, denn die fehlenden Putzritzungen zeigen, dass der Meister ohne Kartons gearbeitet hat, er somit mehr Spielraum für seine künstlerische Tätigkeit hatte. Dies war übrigens eine in der romanischen Malerei verbreitete Methode. Alle Farben wurden übereinander nass in nass aufgetragen („al fresco“), wobei die graphische Feinheit des Pinsels in den Trennlinien (Engelsflügel, Textilien usw.) am besten zum Ausdruck kommt. Zum Schluss wurden die Augenfarbe und die Wangenröte trocken („al secco“) aufgetragen. Sie hat sich deshalb verständlicherweise nur vereinzelt erhalten.

Zu Zeiten der Barockisierung (1643) wurden in der Krypta Begräbnisstätten nach Art eines „Columbariums“ (übersetzt als „Taubenschlag“) eingerichtet: es wurden also übereinander liegende Nischen errichtet, in denen Särge, aber auch Urnengefäße, abgelegt werden konnten, wie wir diese Art der Beisetzung schon seit der Spätantike kennen und immer wieder in Krypten frühchristlicher Kirchen vorfinden. Was damals an Wandmalereien den baulichen Veränderungen nicht zum Opfer fiel, wurde einfach übertüncht.

Erst 1887 ließ der damalige Abt Leo Maria Treuinfels die barocke Tünche entfernen. Dabei stieß man auf die romanischen Fresken. Man nimmt an, dass ihn die Lektüre des „Registrum“ des 1393 verstorbenen Paters Goswin, in welcher dieser die Geschichte des Klosters vom späten 11. Jahrhundert an bis 1393 darstellt, veranlasste, die Fresken freilegen zu lassen. Dass dabei nicht im Sinne des heutigen Denkmalschutzes vorgegangen wurde, lässt sich denken. 1927 begann die Restaurierung der noch vorhandenen romanischen Wandmalereien.

Klosters Marienberg im Vinschgau, romanische Fresken in der Krypta

Wie oben bereits angedeutet sieht sich der Betrachter in diesem niedrigen Raum in der Lage, die natürlich nicht mehr vollständig erhaltenen Malereien in Augenhöhe und so von der Nähe betrachten zu können. Die Ikonografie orientiert sich, wie in vielen Bildprogrammen der romanischen monumentalen Wandmalerei, an der Majestas Domini. Und so erscheint in der Apsis über einem Fenster Christus in der Mandorla mit dem Gestus der segnenden rechten Hand während die linke ein Buch hält. Zu Füßen des Gottessohnes ist linkerhand der Hl. Petrus mit dem Schlüssel zusammen mit dem Markus-Löwen und dem Johannes-Adler, den Attributen der Evangelisten Markus und Johannes, dargestellt. Gegenüber steht Paulus, ein dickes Buch in seiner linken Hand, begleitet von dem Lukas-Stier und dem Matthäus-Engel. Haben wir es bei Petrus mit einem weißhaarigen, ausgezehrten Greis zu tun, dessen natürliche Tonsur wie aufgesetzt wirkt und dadurch regelrecht zum „eye catcher“ wird, so sehen wir Paulus als einen kräftigen Mann in der Blüte seiner Jahre. Neben beiden Apostelfürsten und den Evangelisten-Attributen findet sich jeweils ein sechsflügeliger Seraphim. Bei diesen ranghöchsten Engeln handelt es sich um Lichtwesen, die im Gegensatz zu den vierflügeligen Cherubim trotz ihrer vier Gesichter (in der Regel wird jedoch nur eines dargestellt) eine menschenähnliche Gestalt mit sechs Flügeln aufweisen. In der Regel bedecken zwei das Gesicht, zwei werden für den Flug benötigt und zwei bedecken die Füße. In der Literatur werden der Übereinkunft nach die sechsflügeligen Himmelsboten zumeist als die Cherubim bezeichnet, während die Seraphim lediglich mit vier Flügeln ausgestattet sind. Nicht so in Marienberg, denn hier haben wir es tatsächlich mit sechsflügeligen Seraphim zu tun.

Über der Kante der Apsis wimmelt es in der Kalotte von himmlischen Heerscharen in einem von Sternen übersäten azurblauen Himmel. Alle Engel wenden sich in Dreiviertelansicht der Mandorla zu, wobei die Köpfe bis auf eine Ausnahme auf den Gewölbemittelpunkt ausgerichtet sind. Die gesamte Malerei in der Apsis ist flächig und vollkommen perspektivlos, und die Farbgebung würde ich als lebhaft und streckenweise auch als komplementär beschreiben. Die überlängten Engelsfiguren mit ihren typisierten Gesichtern, verschieden farbig gekleidet mit zum Teil flatternden Unterkleidern, doch ohne sichtbaren Körperkern, ohne Standfestigkeit, in „konsequenter Abstraktion“ möchte man beinahe sagen, manche ein Kreuzstäbchen (Hoheitszeichen) in der linken Hand, jedoch eine jede mit ihrer eigenen diskreten Gestik schweben wie entmaterialisiert in einer Welt jenseits des irdischen Jammertal.

Warum nun so viele „englische Heerscharen“? Schon in frühchristlicher Zeit wurde das Gewölbe eines Kirchenraums als Himmelszeit gedeutet, und so bestimmt schon die Regel des Hl. Benedikt („vom Verhalten beim Chorgebet“) als erste Pflicht die Mönche: „das auf Erden zu vollbringen, was die Engel im Himmel tun!“, nämlich den Lobgesang im Angesicht Jesu. Die Bereicherung der Majestas-Bilder mit Engeln in Apsiden und Gewölben wird in der Kunstgeschichte aber auch auf die pseudo-areopagitische Gedankenwelt zurückgeführt.

Außerhalb der Apsis finden sich im Raum weitere Fragmente von Wandmalereien, darunter auch das ummauerte himmlische Jerusalem, dargestellt in einer Reihung von Engeln, an deren beiden Enden je eine irdische Gestalt mit Kopfbedeckung zu sehen ist: ein Mönch und ein Bischof. Ein weiteres Freskofragment zeigt den Hl. Nikolaus, der arme Mädchen mit goldenen Kugeln als Mitgift versorgt, damit sie heiraten können. (Eine Gedankenwelt, die Ewigkeiten von der unseren entfernt ist!)

Doch wer war nun der Künstler, der diese ursprüngliche Pracht zur Ehre Gottes und zur Erbauung der Mönche geschaffen hat? Da gehen die Meinungen der Kunsthistoriker auseinander, stammt doch der „Plot“ ursprünglich aus Byzanz und hat sich in der Spätantike mit den aus Süditalien stammenden Benediktinern (Benediktinische Malerei) bis in das hohe Mittelalter über Europa, also auch nördlich der Alpen, ausgebreitet. So könnte der Maler durchaus aus Schwaben stammen, wie auch aus der Lombardei, wie ebenfalls vermutet wird. Auf jeden Fall nimmt die Vinschgauer Malschule, so die Kunstgeschichte, hier ihren Anfang.

Anneliese Beck

• Lit. Helmut Stampfer, Hubert Walder: Die Krypta von Marienberg im Vinschgau, Bozen 2002