Stabschrecken wie Phobaeticus serratipes hier können beachtliche Ausmaße erreichen. Die Weibchen dieser malaysischen Spezies werden über 30 cm lang. Ihre extrem gestreckter Körper lässt kaum Platz für symbiontische Darmbakterien. Daher übernahmen die Stabschrecken kurzerhand die für die Pflanzenverdauung nötigen Gene von den Bakterien.

Foto: Christoph Seiler

Göttingen – Normalerweise geben Lebenwesen ihre DNA durch Fortpflanzung weiter, entlang einer Abstammungslinie und damit gleichsam vertikal. Es gibt allerdings noch einen anderen, horizontalen Weg, zu Genen zu kommen. Dabei tauschen zwei Individuen Erbinformationen direkt aus. Horizontaler Gentransfers insbesondere zwischen höheren Organismen tritt selten auf. Ein anschauliches Beispiel etwa liefert die Erbsenlaus (Acyrthosiphon pisum), eine Blattlausart, deren Farbgebung von Genen für die Carotinoid-Synthese beeinflusst wird, die sie einst von einem Pilz übernommen haben.

Nun hat ein deutsches Forscherteam einen horizontalen Gentransfer zwischen Bakterien und Stabschrecken nachgewiesen. Stabschrecken sind große pflanzenfressende Insekten, die sich zum Schutz vor Fraßfeinden als Äste oder Zweige tarnen. In einer Kooperation zwischen dem Göttinger Evolutionsbiologen Sven Bradler und dem Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena haben die Wissenschafter das Genom von 38 Stabschrecken-Arten untersucht und in deren Erbgut Pektinasen gefunden, die sie eigentlich gar nicht haben dürften.

Pektinasen sind Enzyme, mit deren Hilfe die Insekten Pflanzen verdauen, genauer deren Pektine (festigende Zucker in den Zellwänden von Pflanzen). Da Tiere diese nicht selbst herstellen können, benötigen sie hierfür die Unterstützung von Mikroorganismen im Darm.

Aus dem Erbgut von Darmbakterien

"Um derartige Symbionten, also Organismen, die zum wechselseitigen Vorteil zusammenleben, beherbergen zu können, haben Pflanzenfresser in der Regel Blindsäcke und ähnliche Erweiterungen im Magen-Darm-Trakt entwickelt, allerdings nicht die Stabschrecken", so Bradler von der Universität Göttingen. Deren häufig extrem gestreckter Körper lässt wenig Platz für Darmsymbionten. Diese brauchen die Insekten auch nicht mehr, da sie Pektinasen mittlerweile selbst herstellen können. "Offenbar stammen diese Enzyme aus dem Erbgut ehemaliger Darmbakterien."

Laut der in den "Scientific Reports" veröffentlichen Studie wurden die entsprechenden Gene vor 60 bis 100 Millionen Jahren bei einem Vorfahren der heutigen Stabschrecken von dessen Darmbakterien auf die Stabschrecke übertragen. "Hierbei könnte es sich um ein Schlüsselereignis in der Evolution der Stabschrecken gehandelt haben, denn erst die Unabhängigkeit von den speziellen Bakterien erlaubte es den Insekten, ihre außergewöhnlichen Körperformen hervorzubringen", erklärt Bradler. Horizontaler Gentransfer spielt offenbar eine viel größere Rolle in der Evolution der Lebewesen als bisher angenommen, meinen die Forscher. (red, 27.5.2016)