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Szene-Aufruhr "Ein Großteil der Motorradfahrer lebt eine Teilzeitidentität"

Zwischen Rebellion und dem Wunsch nach gesellschaftlicher Akzeptanz: Die Lärmdebatte wirft ein Schlaglicht auf das Selbstverständnis in der Motorradszene. Soziologe und Motorradfahrer Thomas Alkemeyer wagt eine Analyse.
Zwei von über 1000 Motorradfahrern, die im Fahrzeugkorso durch die Schweriner Innenstadt fuhren

Zwei von über 1000 Motorradfahrern, die im Fahrzeugkorso durch die Schweriner Innenstadt fuhren

Foto: Jens Büttner/ DPA

SPIEGEL: Herr Alkemeyer, nach der Ankündigung des Bundesrates, Motorradfahrten an Sonn- und Feiertagen aus Lärmschutzgründen zu verbieten, sind Zehntausende Motorradfahrer auf die Straße gegangen, um lautstark dagegen zu protestieren. Noch immer schwelt in einschlägigen Foren die Wut über derlei Pläne. Warum sind die Emotionen Ihrer Meinung nach so hochgekocht?

Thomas Alkemeyer: Viele Motorradfahrer fürchten, dass es ihrem geliebten Hobby an den Kragen gehen könnte. Bei einigen geht es aber auch um den Kern ihres Lebensentwurfes. Sie reagieren entsprechend sensibel auf Einschränkungen. Ich fahre selbst Motorrad, hätte aber nie an so einer Demonstration teilgenommen. Ich sehe durchaus ein, dass es gerade in den Alpen ein riesengroßes Problem ist, dass Motorradfahrer an jedem Wochenende durch kleine Dörfer brettern.

SPIEGEL: So werden ja sicher auch andere Motorradfahrer denken. Wieso war die Zahl der Demonstranten trotzdem so hoch?

Alkemeyer: Ich halte es für sehr plausibel, dass die Rückkehr einer sichtbaren und in diesem Fall besonders lautstarken Protestkultur auf den Straßen - trotz aller gravierender Unterschiede in den politischen und gesellschaftlichen Anliegen - etwas mit dem "Mehltau" zu tun hat , der sich laut dem Soziologen Hartmut Rosa in Zeiten der Corona-Pandemie über die Gesellschaft gelegt hat. Er meint einen Verlust sozialer Energie, eine allgemeine Müdigkeit, die man nun abschütteln will. Das Leben verschafft sich wieder Ausdruck, viele Leute haben die Nase voll von Einschränkungen - so berechtigt sie auch sein mögen. Das erklärt womöglich die affektive Energie etlicher gegenwärtiger Straßenproteste.

DER SPIEGEL: Sie haben eben von Lebensentwürfen gesprochen. In den Siebzigerjahren war Motorradfahren und die damit eng verbundene Rockerkultur der Gegenpol zum Spießbürgertum. Heute fahren Kindergärtner, Richter und Bankkaufleute Motorrad. Gibt es derlei so eng mit dem Motorradfahren verbundene Lebensentwürfe überhaupt noch?

Alkemeyer: Wir haben es heute bei dem Großteil der Motorradfahrer mit Teilzeitidentitäten zu tun. Das ist generell ein Kennzeichen unserer modernen, hochgradig ausdifferenzierten und pluralistischen Gesellschaft. Wir können die Woche über im klassischen Sinne Spießbürger sein und uns am Wochenende von dieser Normalität freimachen und ausbrechen, um etwas ganz anderes zu machen, ein anderes Selbstbild zu leben und zu zeigen. Für einige ist das der Wunsch, sich nonkonform und rebellisch zu geben. Sie drücken das dann beispielsweise aus, indem sie entsprechende Lederklamotten anziehen.

SPIEGEL: Sie meinen die sogenannten "Zahnwälte", die sich am Wochenende in Lederkluft auf ihre Harley schwingen? Wo bleibt da die Authentizität?

Alkemeyer: Von uns als modernen Menschen wird erwartet, verschiedene Rollen zu verkörpern. Die Idee, dass man in allen Lebenssituationen immer mit sich identisch sein und die gleiche Haltung einnehmen könne, ist ein Wunschtraum und lässt sich in modernen Gesellschaften nicht realisieren. Die zeitweilige Inszenierung von Authentizität ist ein Ausdruck dieses Traums.

SPIEGEL: Es klingt, als wäre Motorradfahren heute eher Hobby als Lebensentwurf und kurzzeitiges Ventil für Teilzeitidentitäten. Mal ketzerisch gefragt: ist dann Geschwindigkeit - als messbare Größe von Zügellosigkeit - umso wichtiger?

Alkemeyer: Das ist zweifellos für einige Motorradfahrer so. Der Mehrheit ist aber die Geschwindigkeit nicht so wichtig, vielleicht sogar gar nicht geheuer. Die schauen eher skeptisch auf ihre rasenden Kollegen, die an ihnen auf der Landstraße vorbeischießen. Viele wollen durch die Landschaft cruisen, sich den Wind um die Nase wehen lassen, mit anderen eine Pause machen, Geselligkeit erleben. Deshalb ist bei vielen Motorradfahrern auch das Bedürfnis von Anwohnern nach mehr Ruhe nachvollziehbar. Ich bin optimistisch, dass anstelle von Fahrverboten andere Lösungen funktionieren können. Es würde schon viel bringen, wenn man deutlich langsamer durch Ortschaften führe. Und wenn die Industrie Motorräder bauen würde, die leisere Motoren haben. Es muss ja nicht unbedingt gleich ein Elektro-Motorrad sein, das gar keine Töne mehr von sich gibt.

SPIEGEL: Sie würden sich also nicht auf eine Elektro-Harley setzen?

Alkemeyer: Wenn es denn eine Harley sein muss. Ich würde mich draufsetzen, fände es aber nach wie vor gewöhnungsbedürftig. Zum Motorradfahren gehört traditionell ein gewisser Klang. Es würde wahrscheinlich gar nicht so lange dauern, bis der Fahrspaß mit einem E-Motorrad mindestens genauso groß ist, vielleicht sogar noch größer. Aber ich gebe auch offen zu, dass mir der satte Sound meiner Maschine Spaß macht. Ich habe eine alte BMW, die auch ordentlich vibriert und entsprechend tönt. Das ist meine Scheinauthentizität beim Fahren.